(noch) kein Titel
Es war der zwanzigste August, als Nathaniel sie fand. Die Sonne brannte unermüdlich vom wolkenlosen Himmel und die drückende Hitze war allgegenwärtig.
Er saß auf dem Ast einer Buche, deren Blätter angenehm kühlen Schatten spendeten, und beobachtete sie. Er wusste, dass sie ihn nicht sah, dazu verbargen ihn die Blätter zu gut. Aber er sah sie. Sah jede ihrer Bewegungen. Wie sie lachend dem blonden Jungen zuwinkte, der die Straße entlang kam. Als sie sich bei ihm einhakte und sich anschickte mit ihm fort zu gehen bleckte Nathaniel die Zähne.
Zu gerne wäre er ihr gefolgt, aber dazu hätte er den kühlen Schatten der Blätter verlassen müssen und er hatte keine Tabletten mehr. Ohne diese Tabletten war das Sonnenlicht für ihn… nicht tödlich, aber doch äußerst schmerzhaft.
„Sunny, Rob, Jil, Lil, Lea, Leon!“, rief er. Er benutzte eine Frequenz, die für das menschliche Ohr zu hoch war. „Ich hab sie!“
„Bist du dir wirklich sicher?“ das war Rob.
„Ja bin ich.“, antwortete er genervt.
Ein undefinierbares Pfeifen von Lil, dann: „Das warst du letztes Mal auch.“
Nathaniel seufzte leise. Ja, da hatte sie Recht. Er war sich das letzte Mal so sicher gewesen, dass er den richtigen Menschen gefunden hatte und dann hatte sich herausgestellt, dass nichts mit dem übereinstimmte, was sie über die „Verbindung“, wie sie es nannten, wussten.
Jetzt mischte sich Norrit, den alle nur Sunny nannten ein. „Lil hat Recht, Nat. Das sollte uns nicht noch mal passieren. Wir haben sowieso gerade so viel Ärger mit der VVK.“
Die VVK war eine Gruppe von Menschen, die sich die Ausrottung der Vampire in den Kopf gesetzt hatte. Ihr voller Name war Vampir-Vernichtungs-Kommando. Normalen Menschen war die Existenz von Vampiren nicht bekannt.
Vampire. Menschenähnliche Wesen mit großen, fledermausartigen, spitzen Ohren und roten, gelben oder orangenen Augen. Wesen, mit spitzen Zähnen, die sich von Blut ernährten. Sie waren überall und dank ihrer Fähigkeit menschliche Gestalt anzunehmen blieben sie unentdeckt.
Nathaniel, Robin, Norrit, Liliet, Nijil, Leon und Leala waren allesamt Vampire. Sie waren die VST. Die Verbindungs-Such-Truppe. Diese „Verbindung“, die sie suchten war ein Mensch, der die Bestimmung hatte eine Verbindung zwischen den beiden Rassen – Menschen und Vampire – herzustellen, auch wenn niemand wusste, wie genau das eigentlich funktionieren sollte. Jedenfalls hieß es, dass sie mit Hilfe der Verbindung friedlich mit den Menschen zusammen leben konnten.
Die Mitglieder der VST ernährten sich ausschließlich von tierischem Blut. Dafür hatte Nathaniel gesorgt. Auf ihn hörten sie und ihm gehorchten sie. Er war immerhin ihr Anführer und da war noch etwas Besonderes an ihm: Er konnte nicht sterben. Das hieß, sterben konnte er schon, nur wurde er immer wiedergeboren und er erinnerte sich auch immer an die vorangegangenen Leben. Manchmal fragte er sich, wie oft er eigentlich schon gestorben war, aber er wusste es nicht. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, zu zählen.
Mit einem Seufzen begann er den Baum hinabzuklettern.
„Lil, Rob! Ihr beobachtet sie. Ich komme nach Einbruch der Dunkelheit zu euch.“
„Warum ich?“, kam es sofort von Lil. Sie war noch nicht lange bei der Truppe. Die anderen hätten seine Befehle nie in Frage gestellt.
„Weil ich es sage! Ihr anderen, ich wittere da ein paar VVK-ler. Kümmert euch um sie und sorgt dafür, dass sie verschwinden.“
„Na toll!“, kam es wieder von Lil. „Die dürfen Spaß haben.“
„Lil, es reicht jetzt! Jil… geh’s etwas ruhiger an als letztes Mal, ja? Ich will nicht, dass sich schon wieder jemand verletzt.“
„Ich versuch’s.“
Nathaniel hatte den Boden erreicht und hob witternd den Kopf. Keine Menschen in unmittelbarer Nähe. Darauf bedacht im Schatten zu bleiben ging er zum Eingang des nächstbesten Hauses. Er würde im Inneren auf den Sonnenuntergang warten.
Fast lautlos landete Lil neben ihm. Er hob nur fragend eine Augenbraue und sie grinste ihn an. „Du hast uns gar nicht gesagt, wie sie aussieht, oder wie sie riecht.“
Nathaniel schaute an ihr vorbei und sah Rob, der direkt hinter ihr stand. Er nickte kurz, dann deutete er auf die Bank unter dem Baum. „Da hat sie vorhin gesessen. Sie ist mit einem blonden Menschenjungen zusammen.“
Lil und Rob nickten, dann nahmen sie die Witterung auf und waren von einem Moment auf den anderen verschwunden. Nathaniel lächelte. Sichtschild! Das war Robs spezielle Eigenschaft. Viele Vampire hatten solche Spezialfähigkeiten. Sunny zum Beispiel konnte Gedächtnisse manipulieren, Lea konnte heilen und Lil konnte mit einem einfachen Händeschütteln jemanden töten (dummerweise schüttelt man normalerweise nicht seinem Feind die Hand, bevor man einen Kampf beginnt). All diese Eigenschaften waren äußerst nützlich und hatten sich schon mehrmals als hilfreich erwiesen.
Langsam drehte Nathaniel sich um. Fast hätte er die Frau übersehen, die die Straße entlangkam, hätte nicht der Wind im letzten Moment gedreht und ihm ihre Witterung in die Nase getrieben. Bevor sie ihn sehen konnte trat er einen Schritt zurück und wurde eins mit dem Schatten der Blätter und der Hauswand. Es war kein wirklicher Sichtschild, wie Rob es erschaffen konnte, aber es erfüllte auch so seinen Zweck. Natürlich hätte er ebenso gut eine menschliche Gestalt annehmen können, aber dazu hatte er gerade keine Lust.
Als die Frau vorbei war drückte er leicht gegen die Haustür, die sofort nach innen aufschwang und ihn ins kühle Dunkel des Hauses einließ.
Im Flur roch es leicht muffig. Zögernd ging Nathaniel die Treppe hinauf, wobei er immer wieder witternd die Luft einsog. Es befanden sich keine Menschen im Haus. Sie waren wohl entweder arbeiten oder im Urlaub. Er wählte eine Wohnung im zweiten Stock, die dem Geruch nach zu urteilen, seit mehreren Tagen nicht betreten worden war.
