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Vom Schreiben und Träumen

Eine Sammlung von Kurzgeschichten
von

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Abschied für immer

Vier Monate waren nun vergangen, seit Luce den wohl größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Einen Fehler, den allein er sich zuzuschreiben hatte. Bei dem jegliche Mühen um eine Wiedergutmachung vergebens waren – denn dies lag fernab von allem Möglichen. Doch viel schlimmer als all das war: ein Fehler, der dazu geführt hatte, das Herz einer geliebten Person in tausend Teile zu zerbrechen.
 

Er hatte sie betrogen.

Sie, Theresa, die Frau, die er mehr als alles andere geliebt hatte.

Nein, falsch.

Die er noch immer liebte.
 

Alles hatte sich an einem Freitagabend zugetragen.

Der Abend, den er für gewöhnlich seinen Freunden widmete, sich mit ihnen in seine Stammkneipe begab, zwei oder drei Bierchen trank und nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag endlich zu ein wenig Spaß und Erholung kam.

Doch dieser Abend hatte anders geendet als geplant.

Zwei Frauen hatten sich zu ihnen an den Tisch gesetzt. Sie waren blond, jung und hübsch – aber nichts Besonderes, hatte Luce sich nach seinem zweiten Weizen eingestanden.

Eine der beiden hatte sich mit dem Namen Nancy vorgestellt. Ihrer Erzählung zufolge war sie eine hoch positionierte Sekretärin in einer angesehenen Firma. Vor einem Monat hatte sich ihr Freund, mit dem sie eine dreijährige Beziehung geführt hatte, von ihr getrennt. Sie sei angeblich zu sehr auf ihre Karriere fixiert, hatte er zu ihr gesagt. Seitdem führte sie ein Singleleben und hatte davon berichtet, wie sorglos und frei sie sich jetzt fühlte. Ein Kichern war ihren mit dunkelrotem Lippenstift bemalten Lippen entwichen, als sie erzählte, wie schön es doch sei, das Wochenende mit ihren besten Freundinnen in Bars oder Discos zu verbringen und neue Leute kennenzulernen, statt mit ihrem Freund zu Hause gelangweilt auf der Couch zu sitzen und sich über das Fernsehprogramm, das eingeschaltet war, zu streiten.

Es hatte Spaß gemacht der jungen Dame zuzuhören. Ihre vollen Lippen waren auch während des Sprechens stets zu einem dezenten Lächeln geformt gewesen, das ihr blasses, hübsches Gesicht geziert hatte. Ihre klare, liebliche Stimme war wie der Vogelgesang an einem sonnigen Frühlingstag in seine Gehörgänge eingedrungen, und nachdem er das vierte mit Bier gefüllte Glas geleert hatte, schien er wie von ihr verzaubert gewesen zu sein.

Der Rest war wie von selbst geschehen.

Nancy hatte Luces Hand ergriffen, sich vom Barhocker erhoben und ihn in Richtung Ausgang dirigiert. Es war ihm vorgekommen, als wären nur wenige Minuten vergangen, bis er auf einmal in ihrer stilvoll dekorierten Wohnung gestanden hatte. Mit einem verführerischen Lächeln, das sich auf ihr Gesicht gelegt hatte, war sie auf ihn zugeschritten und ehe er sich versehen hatte, hatte sie auch schon ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihre sündhaft weichen Lippen auf die seine gelegt.

Am nächsten Morgen hatte er sich unbekleidet in einem großen, durchwühlten Bett wiedergefunden – zusammen mit einer Frau.

Eine Frau, die nicht Theresa gewesen war.
 

Es war ein Missgeschick. Ein Versehen. Ein Versehen, das aus Alkohol resultiert und aus dem er nun gelernt hatte. Doch ebenso auch eines, das nicht zu entschuldigen war.

Und deshalb hatte Theresa ihn noch am selben Tag, an dem er es ihr gestanden hatte, verlassen.
 

Vier Monate waren nun vergangen. Vier Monate voller Trauer, Gewissensbissen und der Erkenntnis, dass er sich noch immer zu der schönen Frau mit dem pechschwarzen, langen Haar und den kastanienbraunen Augen hingezogen fühlte.
 

Nein!

Er wollte sie nicht vergessen!

Sie noch nicht loslassen und für immer aufgeben!

Er wollte kämpfen! Kämpfen für sich und die Liebe seines Lebens!
 

Eilig schritt er ins Wohnzimmer und griff ungeschickt nach dem Telefon, in das er die Nummer eintippte, die er schon tausende Male eingetippt hatte und mittlerweile im Schlaf konnte. Ohne zu zögern und darüber nachzudenken, was er überhaupt sagen wollte, drückte er auf die grüne Taste und legte den Hörer ans Ohr. Nachdem dreimal hintereinander das Piepen des Freizeichens zu hören gewesen war, hob endlich jemand ab.

„Hallo?“, ertönte eine raue, aber dennoch freundlich klingende Männerstimme an der anderen Leitung. Ein Mann…. Ein Mann? Warum ein Mann? Wer war er? Und warum nahm er sich einfach die Freiheit, Theresas Anrufe entgegenzunehmen?

„Hallo, hier ist Luce… ist Theresa zu sprechen?“, gab der junge Herr zögerlich und unbeholfen von sich, während sein Herz immer schneller zu schlagen begann.

„…Ja, einen Moment bitte.“

Kurz darauf konnte er hören, wie der Mann die Treppe des Hauses nach oben lief und dann stehen blieb.

„Schatz, da ist jemand für dich am Telefon!“

„Ich komme sofort!“, erklang die warme Stimme seiner Ex-Freundin, doch hatte Luce nach dem letzten Satz, den er von dem Fremden wahrgenommen hatte, bereits die Hoffnung aufgegeben.

„Hallo?“ Theresa hatte den Hörer entgegengenommen und wartete auf eine Antwort. Doch es kam keine. Nachdem sie ein zweites „Hallo“ geäußert und noch immer keine Antwort bekommen hatte, war sie im Begriff aufzulegen, als sie auf einmal ein leises Schluchzen an der anderen Leitung vernehmen konnte. Mit einer besorgten Stimme fragte sie, während sie den Hörer fester gegen ihre Ohrmuschel drückte:

„…Luce?“

„…Theresa… lebe wohl…“

Und mit diesen Worten legte er auf.
 

Er wollte sie nicht vergessen.

Sie noch nicht loslassen und für immer aufgeben.

Er wollte kämpfen. Kämpfen für sich und die Liebe seines Lebens.
 

Doch am Ende war ihm keine andere Wahl geblieben, als Abschied zu nehmen.

Ein Abschied, der endgültig gewesen war.
 

Ein Abschied für immer…
 

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Das ist die allererste fandomunbezogene Kurzgeschichte, die ich je geschrieben habe. xD Dementsprechend ist sie wohl auch. *hust* Nun ja... vielleicht überarbeite ich sie irgendwann mal. :)
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Die Gefangene meiner Selbst

All das Unrecht beging ich,

Um einsam und allein,

Zum Schluss mit meinem größten Feind,

Mit mir selbst konfrontiert zu sein.
 

Es hätte niemals so weit kommen dürfen…
 

Mein Herz - es schlägt schnell. Dodom… Dodom… Immer und immer wieder. Mit voller Kraft hämmert es gegen meine Brust, so stark und brutal, dass ich annehmen könnte, es möchte mich zerreißen und aus mir ausbrechen wie ein Schwerverbrecher aus dem Gefängnis.

Mein Atem - er bleibt mir aus. Immer gieriger ringe ich nach Luft, doch es erscheint, als bekäme ich trotzdem keine. Als läge sich ein Strick um meinen Hals, der sich immer und immer fester zusammenzieht, bis er mir die Luft abschnürt.

Meine Augen - sie weinen nicht. Sie bleiben trocken wie ein in der Sonne liegender Stein, regungslos und starr - es macht mir Angst, in den Spiegel zu sehen und diesem fürchterlichen Blick zu begegnen. Weinen… Es geht nicht. Die Tränen kommen nicht. Ich kann es nicht...

Meine Hände - sie zittern. Kalt wie Eis und taub sind sie, als würden sie mir nicht gehören. Ein winziges Erdbeben herrscht unter der dünnen Haut meiner Fingerkuppen; sie machen sich selbstständig. Sie gehorchen mir nicht.
 

Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr.
 

Hastig durchwühle ich den kleinen Schrank im Bad. Ich weiß nicht genau, wonach ich suche, doch ich weiß, dass ich dieses Etwas finden muss - und zwar sofort! In meiner Hektik schmeiße ich mit der Handfläche einen Becher voller Zahnbürsten um, doch ich ignoriere es; es interessiert mich nicht. Ich werde nervös, und wieder meldet sich mein Herz zu Wort. Dodom… Dodom… Ich höre es ganz deutlich. Es setzt mich unter Druck, es spornt mich an, es zwingt mich, weiterzusuchen… Und droht mir, meinen Brustkorb zu zerreißen, wenn ich es nicht tue. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, und das Blut pocht wie wild gegen meine Schläfen - es schmerzt.

Wie von selbst umschließt meine ungehorsame, fürchterlich kalte Hand den Gegenstand, nach dem ich… nach dem Sie gesucht hat. Mein Herz beginnt zu rasen; es scheint den Augenblick kaum abwarten zu können, so sehr gerät es in Rage. Ich umfasse das kühle Metall, kralle mich daran fest, als wäre es die rettende Hand, die mich aus dem Abgrund in die Sicherheit zieht. Mit aller Kraft presse ich es gegen meinen Unterarm, und dann ziehe ich eine Linie. Ich drücke so feste zu, dass sich meine Fingerknöchel durch die blasse dünne Haut zeichnen. Mein Herz brüllt vor Sehnsucht, die Schlinge um meinem Hals raubt mir den Atem, der Schweiß läuft mir das Gesicht entlang und sammelt sich am bebenden Kinn. Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die krankhaft trockenen Augen zu. Alles zittert und kribbelt in mir, Hitze steigt auf, ich verliere die Kontrolle über meinen Körper - die vollkommene Ekstase. Und dann atme ich auf und lehne mich an der Wand zurück.
 

Dieses Gefühl… Ich brauche es, genauso wie ich die Luft zum Atmen brauche.
 

Die Schlinge um meinem Hals löst, mein Herzschlagrhythmus normalisiert sich, meine Hände durchströmt eine lebhafte Wärme, und als ich mich

(Sie)

im Spiegel betrachte, sehe ich ein dezentes, aber zufriedenes Lächeln auf den trockenen Lippen. Es ziert das Antlitz meines Gegenübers, und der Anblick gefällt mir. Wenn Sie doch nur immer so wunderschön lächeln könnte, statt nur für diesen kurzen Augenblick. Doch es ist ein Augenblick, den ich genieße

(den Sie genießt).

Wir verlangen nach ihm, wir sehnen uns nach ihm, nach diesem berauschenden Gefühl, wie nur ein Säufer oder Fixer es nachvollziehen kann, doch selbst diese Menschen könnten uns niemals verstehen. Könnten dieses Gefühl der Erlösung niemals verstehen, das wir in diesem wundervollen Moment empfinden. Sie und ich, ich und Sie… Nur in diesem einen wundervollen Moment werden wir eins.

Sie - mein größter Feind. Sie - mein bester Freund. Sie - ich?
 

Ich weiß, dass es verrückt ist…
 

Das Glücksgefühl der Erlösung schwindet allmählich. Doch ich koste noch die letzten paar Minuten, die es anhält, aus, atme ruhig und gleichmäßig, fahre mit der schweißnassen Hand durch mein fettiges, dunkelbraunes Haar und lasse die schweren Lider über meine Augen fallen. Es ist wie ein Traum… Ein Traum, aus dem ich nie wieder erwachen möchte. So unfassbar, so unwirklich, so unantastbar… Doch dann wache ich auf.

Schluckend sehe ich mich um und bemerke den Becher, der umringt von drei Zahnbürsten auf dem Boden liegt. Ich gehe auf die Knie, sammle alles auf und stelle es wieder an seinen rechtmäßigen Platz in den Schrank. Ich versuche Ordnung in das Chaos zu bringen, das ich beim hektischen Durchwühlen gestiftet habe, und dann schließe ich die kleine Schublade und widme mich dem Grund für das bereits abgeklungene, berauschende Gefühl.

Die Linie, die ich gezogen habe, streckt sich über mehrere Zentimeter entlang hinweg; sie ist rot, ebenso wie die Flüssigkeit, die aus ihr austritt. Sie fließt meinen Arm entlang, ist stellenweise bereits getrocknet und nur noch eine rötlichbraune Kruste, die ich mit den kurzen, abgekauten Fingernägeln gedankenverloren abschabe. Danach reiße ich ein wenig Toilettenpapier von der Rolle ab, lege es auf die klaffende Wunde, die nicht zu bluten aufhört, und tupfe den roten Lebenssaft immer und immer wieder ab. Es vergehen Minuten, vielleicht zehn, vielleicht auch dreißig, doch ich bin geduldig und warte, bis das Blut vollkommen geronnen ist. Abschließend ziehe ich den Ärmel meines Pullovers zurück über meinen schmerzenden Unterarm und bemerke, dass der Schmerz erst jetzt als wirklicher Schmerz, unangenehm und störend, zu bezeichnen ist. Zuvor habe ich ihn - und es verwundert mich jedes Mal aufs Neue - gar nicht als einen solchen, wenn überhaupt, wahrgenommen…

Ich öffne die Tür und verlasse das Bad… Verlasse den Ort meiner Ekstase. Verlasse Sie.

Und Sie wird wieder zu meinem Feind. Noch nicht sofort, aber bald. Sehr bald.
 

Aber ich kann es nicht beenden. Dieser Wahnsinn beherrscht mich…
 

Am darauffolgenden Tag habe ich Schule.

„Hey, Tessy!“, werde ich von den Mädchen in meiner Klasse freudig begrüßt, und ich schenke ihnen ein sanftes Lächeln.

„Guten Morgen!“

Sie reden mit mir, sie lachen mit mir, sie vergnügen sich mit mir und versüßen meinen Tag - es sind meine Freunde. Doch gleichzeitig sind es Ihre Feinde. Wie alles andere auch auf dieser Welt. Und diese Tatsache macht mich wahnsinnig.

In meinen Freundinnen sieht Sie einen Haufen dummer Weiber, die über mich

(über Sie)

lästern und diese freundschaftlichen Gefühle, die mich so glücklich, gar sorglos machen, nur vortäuschen. In dem Jungen, für den ich schwärme, sieht Sie einen herzlosen Widerling, der nur mit meinen

(mit Ihren)

Gefühlen spielt und lediglich jemand vorgibt zu sein, der er nicht ist. Sogar meine Eltern, die zwar streng sind, sich aber liebevoll um mich kümmern und für mich sorgen, sieht Sie mit völlig anderen Augen und versucht mir einzureden, sie würden mir

(würden Ihr)

alles verbieten und jeglicher Freiheit berauben, die einem Teenager zustünde.

Es ist krank. Sie ist krank. Doch manchmal… Nein, ziemlich oft sogar glaube ich, dass Sie recht hat. Dass ich die Welt zu positiv sehe und die dunkle Seite völlig außer Acht lasse. Und dass mir das zum Verhängnis werden kann.
 

Sie beherrscht mich…
 

Und wenn ich Ihr den Glauben schenke, nach dem Sie so fordernd verlangt… Dann beginnt es wieder… Und alles wiederholt sich. Dodom… Dodom… Ein rasendes Herz. Zitternde, kalte, fremde Hände. Tränenarme Augen. Die Schlinge um meinem Hals. Das Kribbeln, das aufkommende Erdbeben, das meinen Körper in Hast und Ungeduld versetzt. Das Verlangen nach dem Etwas, das mich aus diesem Wahnsinn ausbrechen lässt… Aber mich anschließend zurück in die Realität holt und einsehen lässt, dass ich niemals aus diesem Wahnsinn ausbrechen kann. Dass ich für immer Ihre Gefangene sein werde. Die Gefangene der Person, die sich mir nur durch einen Blick in den Spiegel offenbart… Jedes Mal mit demselben schelmischen, herablassenden Grinsen… Diesem überlegenen, triumphierenden Ausdruck in den kalten Augen, die mir sagen „Du gehörst mir“. Die Gefangene meines größten Feindes.
 

Und Sie wird mich nie wieder loslassen. Nie wieder.
 

Die Gefangene meiner Selbst…
 

Sprichst du von mir,

So meinst du dich,

Der Weg zu dir

Führt über mich.
 

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Hach ja... ein schwieriges Thema. Und eine alte Geschichte.
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Ich bin zu Hause

I'm seeing so much clearer

Looking through your eyes

I could never find a safer place

Even if I tried
 

Das laute, quietschende Geräusch von befahrenen Schienen dringt vom gekippten Fenster hinein in meine Ohren. Das Rattern des Zuges auf den Gleisen ist beinahe genauso unrhythmisch wie das Pochen meines Herzens. Immer wieder höre ich es ungeduldig gegen meine Brust schlagen, als hielte es einen Hammer in Händen und drösche ununterbrochen wie ein Feind auf mich ein, und es wird und wird nicht besser. Mit zusammengepressten Beinen sitze ich in der zweiten Klasse, spiele nervös mit meinen leicht verschwitzten Fingern und werfe ab und zu einen Blick nach draußen. Hinter der hässlich zerkratzten Glasscheibe, in welche anstößige Beschimpfungen eingeritzt worden sind, erstreckt sich eine graue, eintönige Ende Herbst-Landschaft, die den Beginn des bevorstehenden kalten Winters ankündigt. Ein tobender Wind poltert durch die blätterarmen Äste und lässt sie heulen wie ein kleiner, nach seiner Mutter schreiender Säugling. Brutal peitscht er die Regentropfen gegen die Fensterscheibe, an der sie sich wie eine dünne Linie entlang ziehen und das kühle Glas benetzen. Zugleich höre ich, dass die Tropfen wie kleine Wurfgeschosse auf das Dach des Zuges einschlagen, und bei jedem Aufprall hallt ein dumpfes Plätschern durch den Wagon.
 

Ich hasse solches Wetter. Ich hasse den Regen. Und ich hasse es, wenn der Winter vor der Tür steht. Doch noch viel mehr hasse ich, dass ich hier in diesem Zug sitze, beinahe alleine, mir vielleicht mit noch drei, vier weiteren Fahrgästen den großen Wagon teile, und die Zeit einfach nicht vergehen will. Ständig werfe ich einen Blick auf meine silberne Armbanduhr, die er mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat, und stelle immer wieder aufs Neue fest, dass die Zeiger mir einen Streich spielen wollen - nur eine einzige, winzige, unbedeutende Minute ist vergangen. Doch ich weiß, es wird noch über eine Stunde dauern, bis der Zug an der Station, an der ich aussteigen muss, hält - ich werde noch verrückt vor lauter Warten!
 

Fünf Minuten sind vergangen. Unbedeutend.

Ich mag es nicht mehr, hier auf heißen Kohlen zu sitzen und diesem miesen Wetter meine Aufmerksamkeit zu schenken - es gibt so viel Wichtigeres!

Ungeduldig schlurfe ich mit den Fußzehen in meinen weißen Turnschuhen herum und verhake die mittlerweile schweißgebadeten Finger miteinander. Noch immer macht mein Herz keine Anstalten, endlich Ruhe zu geben und seinen lästigen Hammer einzupacken, mit dem es mich bald noch in den Wahnsinn treibt.

Und gleichzeitig fühle ich mich schrecklich einsam. Als wäre ich hier alleine mit den Fahrgästen, die mir fremd sind, in diesem Wagon gefangen, und die Aussicht auf Flucht erscheint hoffnungslos, was mir ein weiterer Blick auf die nicht vorankommenden Uhrzeiger nur bestätigt.
 

Zehn weitere Minuten sind vergangen. Nicht nennenswert.

Um das laute Plätschern auf dem Dach und das noch viel lautere, nervenraubende Pochen meines Herzens zu übertönen, packe ich meinen mp3-Player aus meiner Handtasche und stecke mir ungeschickt die Hörer in die Ohren. Ich schalte ihn an und suche verzweifelt nach irgendeinem hörenswerten Lied, doch ich finde keines. Immer wieder drücke ich mit zittrigem Zeigefinger weiter, weiter und weiter, und die Liedtitel sausen wie zusammenhanglose Buchstaben an meinem Augenpaar vorbei, wirken wie unlesbare Hieroglyphen, die in meinem chaotischen Kopf einfach keinen Sinn ergeben wollen. Schließlich gebe ich die Suche auf und drücke wahllos auf Play, in der Hoffnung, bei der riesigen Auswahl einen Glückstreffer gelandet zu haben.

>I've decided now on every thing for everyone…<, dröhnt es mir durch die Gehörgänge, und mit einem Mal bemerke ich, dass Musik gerade überhaupt keine gute Lösung für mein Problem ist. >...well the nails that slide...< Außerdem habe ich dieses Lied noch nie wirklich leiden können... >…I am left alone and still remains the bitter taste of you…<

Einmal tief durchatmend, mache ich das Gerät wieder aus, ziehe mir ein wenig grob die Kopfhörer aus den Ohren und verstaue den mp3-Player wieder in meiner Tasche.

Zwecklos. Nicht einmal mit Musik lässt sich die Zeit totschlagen. Ich möchte endlich raus hier! Raus aus dieser gottverdammten Einsamkeit!
 

Dreißig weitere Minuten sind vergangen - ich kann es kaum fassen.

Obwohl das Wetter mich nicht interessiert, schaue ich resigniert aus dem Fenster. Der Wind ist stärker geworden, vom Regen ganz zu schweigen. Hoffentlich hat er einen Regenschirm mitgenommen. Hoffentlich friert er nicht. Hoffentlich holt er sich keine Erkältung. Und hoffentlich kommt der Zug endlich an meiner gewünschten Station an, damit er nicht mehr länger warten muss.

Ich konnte Warten noch nie ausstehen. Doch der heutige Tag macht mir klar, wie lästig es in Wirklichkeit sein kann. Im Wartezimmer des Zahnarztes darauf zu warten, bis man nach einstündigem Herumsitzen aufgerufen wird... und darauf zu warten, endlich wieder bei ihm sein zu können... Das ist gar kein Vergleich. Bitte, Zeit, vergeh‘ schneller und erlöse mich endlich!
 

Die letzten zwanzig qualvollen Minuten sind am Uhrzeiger vorbeigezogen - meine Nerven liegen blank...

Die Nervosität packt mich und lässt mich gedankenverloren an meinen Fingernägeln kauen. Meine Fußzehen schlurfen unermüdlich weiter auf der Schuhsohle herum, und das Pochen meines Herzens dröhnt schmerzend in meinem Trommelfell. Meine Augen sind starr aus dem regenbenetzten Fenster gerichtet. Wieder hält der Zug. ‚Hanauer Südbahnhof‘ lese ich auf der Anzeige. Wenige Fahrgäste, unter anderem auch zwei aus meinem Wagon, verlassen den Zug in die langersehnte Freiheit. Gleich bin auch ich dran. Nur noch eine Station... Nur noch eine...

Der Zug fährt noch, aber ich kann es nicht mehr länger ertragen. Ich erhebe mich vom Sitzplatz und bemerke dabei unwillkürlich, dass sich meine Beine wie Wackelpudding anfühlen, auf dem ich stehe und zusammenzubrechen drohe. Doch dies geschieht nicht; ich bleibe aufrecht stehen und greife mit unsicheren Händen nach meinem Koffer, der sich über meinem Haupt auf einer Gepäckablade befindet. Vorsichtig befördere ich ihn zu mir nach unten und schwinge daraufhin eilig meine Handtasche um den Arm. Alles zittert in mir. Meine Finger, meine Knie, meine Füße... Ja, sogar das Blut in meinen Adern.

Eine Ansage ertönt:

‚Nächste Station: Hanauer Hauptbahnhof. Bitte steigen Sie aus - der Zug endet hier.‘

Die Worte ‚Hanauer Hauptbahnhof‘ treffen mich wie ein gleißender Blitz und bahnen sich zuckend einen Weg durch meinen ganzen Körper. Als ich den Griff meines Koffers umfasse und mich zur Tür begebe, bemerke ich, wie schweißgetränkt meine Handfläche ist. Schnell wische ich die unangenehme Feuchte an meiner Jeanshose ab und warte ungeduldig auf das Anhalten des Zuges.

Die Schienen quietschen laut unter meinen Füßen. Der Zug nimmt an Geschwindigkeit ab; langsam tuckert er in die Station ein, auf die ich über eine Stunde lang habe warten müssen. Erwartungsvoll passieren meine Augen die Gesichter der Personen ab, die - sich mit Kapuzen oder Schirmen vor dem Unwetter schützend - draußen stehen und auf ihre Liebsten warten. Und eine dieser Personen, die ich noch immer nicht erspäht habe, wartet auf ihre Liebste. Auf mich.

Noch ein letztes lautes Quietschen verlässt die Gleise, und dann hält der Zug. Bei dem Bremsen wird mein Herz mit einem Mal schwer, unfassbar schwer... Wie ein riesiger Felsbrocken, der in meinem Brustkorb sitzt und schmerzend auf meine Lunge drückt. Ich atme schneller. Unregelmäßiger. Und dann öffnet sich die Tür, und sofort inhaliere ich den süßen Duft der Freiheit, der meine Atemwege... meinen gesamten Körper, ja, sogar meine Seele mit Leben erfüllt.

Ich setze einen Fuß nach draußen und spüre festen Boden unter mir - es fühlt sich unglaublich gut an. Dann huschen meine Blicke wie von selbst durch die kleine Menschenmenge, und als sich auf einmal eine große, mir allzu bekannte Hand in die Höhe hebt und darauf eine wohlklingende, männliche Stimme das Geschwätz aller anderen übertönt und meinen Namen ruft

(kein anderer spricht meinen Namen so aus wie er),

wird mein Herz auf einmal leicht wie eine Feder, als wäre der lastende Stein mit einem Mal von ihm herab gebröckelt. Wie von selbst zaubert sich ein Lächeln auf meine zuvor trockenen, verbitterten Lippen, und dass ich gerade mitten im Regen stehe und pitschnass werde, nehme ich nur halbherzig wahr. Sofort eile ich, meinen Koffer hinter mir herziehend, zu ihm, und ein herzliches Lächeln ziert sein blasses Antlitz. Seine nussbraunen Augen blitzen erwartend auf, und dann breitet er die Arme aus, der Schirm, den er schützend über sich gehalten hat, gleitet aus seiner Hand, und ich lasse mich einfach fallen. Fallen... Nicht in den Abgrund, sondern in seine Arme, die sich um meinen Körper schließen und feste an den seinen drücken.

Von Nervosität, zitternden Fingern und schweißnassen Handflächen ist nun keine Rede mehr. Ich fühle mich wohl und aufgehoben und sicher und geborgen. Ein Gefühl, nach dem mein Innerstes so sehnlichst geschrien und verlangt hat. Ein Gefühl, auf das ich vier unerträgliche Wochen habe warten müssen. Und ein Gefühl, das ich zum Glücklich sein brauche. Das Gefühl, das mich wissen lässt:

Ich bin zu Hause.

Und als hätte er meine Gedanken gelesen, bewegen sich seine Lippen und formen folgende Worte, die mich alles andere vergessen lassen:
 

„Willkommen zu Hause, Schatz.“
 

And I'm here to stay

Nothing can separate us

And I know, I'm ok

You cradle me gently

Wrapped in your arms....
 

I'm home
 

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Schmiiierig kitschig. Es ist mir fast peinlich. xD

Die kursiven Einschübe sind Liedtextfetzen von Fireflights "Wrapped in your Arms".

Das Lied, das die Protagonistin im Zug hört, ist „The Cell“ von The Butterfly Effect.
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Liebes Tagebuch, mein Leben ist vorbei

Liebes Tagebuch,
 

es ist das erste Mal, dass ich so etwas wie einen Tagebucheintrag verfasse. Und wahrscheinlich auch mein letztes Mal. Doch ich halte es nicht mehr länger aus, mich nichts und niemandem annehmen zu können. Ich möchte erzählen... Einfach nur erzählen! Erzählen von dem, was mich plagt. Von dem, was mich in ständige Angst versetzt. Was mich zerbrechen lässt...

Mein Leben. Mein Leben, das kein Leben ist.
 

Dieses sogenannte Leben begann in einer Fabrik. Das erste, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich mit ganz vielen anderen meinesgleichen auf einem Laufband lag. Man hat mir in meine obere Öffnung irgendein seltsames Pulver geschüttet und mich dann verschlossen, damit es in mir drin bleibt. Ich mochte es nicht. Es roch unangenehm. Es roch nach Tod.

Dieser Verschluss, der oben angeschraubt wurde, hatte zugleich einen merkwürdigen metallischen Stiel gehabt, der nach unten verlief. Er sah aus wie eine kalte, eiserne Hand, die sich um meinen kleinen Körper zu legen, ihn zu umfassen und feste zuzudrücken drohte. Ich bekam ein ganz mulmiges Gefühl. Abschließend wurde mir in einer großen Maschine mit einer Art Stempel in gelber Schrift etwas auf den Bauch gedruckt. Es war eine Nummer und noch irgendetwas anderes, doch das konnte ich nicht lesen. Dann wurde ich zusammen mit den anderen, die so aussahen wie ich, in einen riesigen Raum gebracht, der kühl und feucht war - ähnlich wie ein Keller. Wahrscheinlich war es eine Lagerhalle.
 

Es vergingen einige Wochen. Die anderen und ich hatten viel miteinander gesprochen. Das hatte ich immer sehr genossen. Wir alle wussten nicht, was wir waren. Wozu wir dienten. Inwiefern wir den Menschen von Nutzen waren. Doch wir alle hatten die vage Vermutung, dass es sich dabei um nichts Gutes handelte. Wir wussten auch nicht, weshalb wir das annahmen... Doch irgendwie spürten wir es. In diesem staubigen, kalten Raum. Und es gab nur eine einzige Sache, die uns Trost spendete. Sie war simpel und völlig eindeutig, und trotzdem klammerten wir uns mit aller Hoffnung, die uns gegeben war, daran fest:

Wir waren nicht alleine. Zumindest noch nicht...
 

Eines Morgens öffnete sich das große Tor der Lagerhalle und wir wurden geblendet vom Licht der Freiheit. Es war wundervoll, den Duft des Morgentaus einzuatmen, von dem ich damals nicht einmal den Begriff kannte. Doch dieses Glücksgefühl verging genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Einige Menschen, die eine Uniform trugen, stiegen aus einem großen Feldwagen und kamen auf uns zugelaufen. Sie ergriffen die Kisten, in denen wir uns befanden, und luden uns in ihrem Wagen ab. Nicht alle von uns, aber einige. Die wenigen anderen unserer Freunde blieben im Lager zurück. Doch wir waren uns sicher, dass sie auch bald abgeholt werden würden.

Dann fuhr der Wagen los. Wir versuchten verzweifelt, das Gespräch der Männer in Uniform zu belauschen, doch das Geratter der massiven Räder, die über Steine und Schlaglöcher fuhren, war so laut, dass wir kaum etwas verstehen konnten. Es gab nur ein wirklich bedeutungsvolles Wort, das ich aufschnappen konnte. Ich wusste zwar nicht genau, was es bedeutete, doch es klang laut und brachial und grausam und ohrenbetäubend. Es konnte einfach nichts Gutes heißen.
 

„Krieg“.
 

Es dauerte einige Minuten, vielleicht sogar Stunden, bis der Wagen endlich hielt und wir anscheinend angekommen waren. Die Männer stiegen aus, nahmen unsere Kisten und trugen sie in ein kleines Gebäude. Es sah von innen ähnlich wie die Lagerhalle aus, nur mit dem Unterschied, dass sich hier auch andere Gegenstände außer unseresgleichen aufhielten. Wir verweilten dort einige Tage, und die Zeit zog und zog sich. Erfreulich war, dass ich die Chance bekam, andere Gegenstände kennenzulernen und mich mit diesen zu unterhalten. Es war sehr interessant, von Hämmern berichtet zu bekommen, wie sehr sie es verabscheuten, von den Menschen gegen Wände oder Holz geschlagen zu werden und dass es ihnen jedes Mal aufs Neue leid tat, gegen ihren Willen auf hilflose Nägel einzudreschen. Oder die Fernrohre, die einzig und allein zum Erspähen von irgendetwas dienten, doch so genau konnten sie mir das auch nicht erklären.

Und dann waren da noch die Gewehre. Die Gewehre, die alles veränderten.
 

Es war ein regnerischer Tag - die Tropfen schlugen brachial auf dem Dach über uns auf und durch das Fenster konnte ich so manche himmelzerreißende Blitze erkennen -, als eine der Schusswaffen mich in die grausame Wahrheit einweihte, die mir bestimmt war. Das Gewehr, mit dem ich sprach, war alt und abgenutzt - es musste schon fürchterlich viel gesehen und erlebt haben. Ich konnte dem, was es sagte, Glauben schenken - doch ich wünschte, es wäre anders. Es berichtete mir von dem ersten Einsatz, den es hinter sich gebracht hatte.

Einer der uniformierten Menschen hatte es aus der Lagerhalle entwendet und war in einen Geländewagen gestiegen. Die Fahrt hatte nicht einmal eine Stunde betragen, doch die Zeit war nur sehr langsam herumgegangen. Als der Wagen endlich gehalten hatte, waren der Mann und dessen Freunde, die auch alle Gewehre bei sich getragen hatten, ausgestiegen. Sie hatten angeblich alle gezittert und ein verbissenes Gesicht gemacht... Als hätten sie Todesangst. Und dann waren sie auch schon gefallen - die ersten Schüsse. Das Gewehr hatte damals, ebenso wie ich, nicht gewusst, für welchen Zweck es geschaffen worden war. Doch bei seinem ersten Einsatz hatte es die erschreckende Realität eingeholt. Der Uniformierte hatte es nach vorne gerichtet und den Finger auf eine Art Hebel, der unterhalb angebracht worden war, gelegt. Er hatte gezielt. Durch das Gestrüpp hindurch auf irgendetwas, das dahinter verborgen gelegen hatte. Und dann hatte er den Hebel betätigt, und eine plötzliche, unerträgliche Hitze hatte sich im Lauf des Gewehres breitgemacht, als auf einmal eine Kugel herausgeschossen gekommen war und das Angezielte getroffen hatte.

Es war ein Mensch gewesen, durch dessen Brust die Kugel gefeuert worden war. Ein Mensch in Uniform. In einer anderen Uniform als der, der geschossen hatte. Er hatte stark geblutet... ein leises Röcheln von sich gegeben... und dann war er gestorben.
 

Das Gewehr verstummte. Auf solch harte Weise zu erfahren, für was es erschaffen war, musste ein wirklicher Schock sein. Doch dann, nachdem es sich gesammelt hatte, sah es mich an, zögerte, und dann fragte es mich, ob ich denn wüsste, was meine Aufgabe wäre. Als ich verneinte, schwieg es erneut. Und eine schreckliche Vorahnung traf mich wie einen Schlag. Wieder begann es zu erzählen. Es sagte, es hätte bei einem seiner Einsätze beobachtet, wie ein Gegenstand meinesgleichen von einem Menschen benutzt worden war. Er hatte den metallischen Hebel, der mir schon immer sehr bedrohlich vorkam, umgelegt und meinen Freund in ein bereits zerstörtes Gebäude, in dem sich anders Uniformierte versteckt hatten, geworfen. Der Mann war in Deckung gegangen und einige Sekunden waren vergangen... Bis es einen lauten Knall gegeben hatte - eine Explosion. Mein Freund war gestorben. Und mit ihm die Menschen, auf die er geworfen worden war.
 

Nun liege ich hier, zusammen mit meinen Kameraden sowie neugewonnenen Freunden, in dieser undichten, hölzernen Hütte... und denke nach. Denke nach über mich und mein Schicksal, das meinen Tod, das den Tod anderer bestimmt, und verzweifle. Ich habe die Menschen noch nie verstehen können. Immerzu reden sie von belanglosen Dingen, reden und reden, doch das, was aus ihren Mündern dringt, ergibt wenig Sinn. Aber jetzt hat sich mein Bild von ihnen noch einmal immens verändert.

Menschen... sind grausam.

Menschen töten Menschen... Ihresgleichen, nur weil sie eine andere Uniform tragen. Erschaffen sogar Gegenstände, die ihnen dieses grausame Schlachtwerk erleichtern - ich verstehe es einfach nicht. Was ist das nur für eine Welt, auf der so schreckliche Dinge geschehen? Doch mir bleibt keine andere Wahl, als mich meinem Schicksal zu fügen.

Ich: Geboren, um zu sterben. Und: Geboren, um zu töten.
 

Mein erster und wahrscheinlich letzter Eintrag in dich, liebes Tagebuch. Ich weiß nicht, wann es so weit ist. Wann sie kommen, um mich zu holen. Wenn dieser Tag kommt, werde ich dich hier liegen lassen, in der Hoffnung, dass die Wahrheit weitervermittelt wird. Die Wahrheit aus meiner Perspektive. Die Wahrheit des Schicksals.
 

Des Schicksals einer Handgranate.
 

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Ziemlich alte Geschichte, die nach Überarbeitung schreit...^^'
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Unsichtbar

Deine wurstigen Finger zittern, als du dir gedankenverloren die Kleidung vom Leib streifst, im Begriff, eines der schrecklichsten Rituale des Alltages hinter dich zu bringen. Zuerst den knielangen, weiten Rock, der deine fleischigen Schenkel wie eine plumpe Aubergine aussehen lässt. Dann den verwaschenen, gestreiften Filzpulli, der deine Figur mit seiner hässlichen Naht und seiner mattgräulichen Farbe unelegant verschleiert. Abschließend entledigst du dich deiner Unterwäsche, hebst deinen rechten Fuß - du zögerst einen Augenblick -, dann steigst du unter die Dusche. Den verkalkten Duschhals in seiner Halterung lassend, drehst du das Wasser auf und wirst von einem kalten Strahl überrascht, der wie ein Platzregen auf dich niederprasselt, und du zuckst unwillkürlich zusammen. Du spürst deine Hände beben, als du nach der Seife greifst, diese fest umklammerst - ja, beinahe so fest, als hinge dein Leben davon ab -, die schreckliche Prozedur dann aber fortführst und den glitschigen Gegenstand über deine bleiche, schwammige Haut reibst - es widert dich an. Als du deinen linken Arm ausstreckst und ungeschickt nach deinem Nivea Hair Care Volumen Shampoo tastest, fällt die babyblaue Tube fast von der Ablage, doch umfasst du sie gerade rechtzeitig und drückst den dickflüssigen Inhalt heraus. Ein furzendes Geräusch ertönt aus der Öffnung, während du den letzten Rest auf deine Handfläche laufen lässt und diese zu deinem straßenköterblonden Haar, das in nassem Zustand an graubraune Betonsteinfarbe erinnert, führst. Angeekelt verteilst du die schmierige Masse auf deinem Kopf. Einzelne Haarsträhnen wickeln sich um deine Finger, sind dünn und glanzlos, strohig und brüchig, und du atmest einmal tief durch, um bei Verstand zu bleiben, denn der Tag hat dich bereits jetzt, am frühen Morgen, an deine Grenzen getrieben, und der Gedanke an das, was er noch mit sich bringen wird, macht deinen Zustand nicht gerade besser.

In dem Wissen, dass die Misere noch nicht einmal richtig begonnen hat, tapst du unsicher aus der Dusche heraus. Deine massiven Oberschenkel reiben beim Gehen unaufhörlich aneinander und du willst, dass es vorüber geht. Dieses schreckliche Gefühl. Das alles hier.

Widerwillig trittst du dir nun selbst gegenüber, dir, mir, ich, die ich doch eigentlich eine Fremde bin. Eine Fremde, bei der sich seit sechszehn Jahren die Möglichkeit bietet, sie kennenzulernen - doch du willst es gar nicht. Stattdessen starrst du nur in den Spiegel, in deine Augen, die die Meinigen sind, die der Fremden, leer und karg und langweilig braun. Der Duft des Shampoos findet einen Weg in deine Atemgänge, und du findest, dass er gut und abscheulich zugleich riecht. Du hast dich noch nie sonderlich für das, was gerade „in“ ist, interessiert, doch ist dieses Shampoo die bittersüße Ausnahme gewesen. Beinahe alle Mädchen in deiner Klasse benutzen es - du siehst es, wenn du mit ihnen nach dem Schwimmunterricht in die Gemeinschaftsdusche gehst -, und nur aus diesem Grund hast du es dir gekauft. Es hält, was es verspricht (auch wenn das Volumen bei dir nur mäßig zur Geltung kommt) und unbezahlbar ist es auch nicht - und es duftet. Nach Lavendel oder sowas Ähnlichem. Eigentlich solltest du es mögen. Doch das tust du nicht. Es passt nicht zu dir. Nicht zu dir, deinem Aussehen, deiner Kleidung, deiner Art, deinem Du. Und allein es zu benutzen, widerspricht deiner Absicht, dich von der Fremden,

(von mir)

der du hier und jetzt gegenüberstehst, fernzuhalten, sie abzulehnen und nie - niemals nie, um keinen Preis - kennenzulernen. Du hast deine Prinzipien über den Haufen geworfen, doch nimmst du dich ihnen sofort wieder an - was bist du nur für ein abstruses Balg.

Abwesend fährst du mit deinen Wulstfingern durch das beinahe farblose Haar, das trotz des ach so tollen Nivea-Shampoos keinen Reiz versprüht. Keine Anmut, keinen Glanz, keine Erotik - da ist absolut nichts.
 

Unsichtbar,
 

hörst du mich sagen, und meine Stimme klingt spöttisch.
 

Unsichtbar.
 

Und noch einmal hallt die Stimme in deinem Kopf. Doch wagst du es nicht, dich von mir abzuwenden. Mit leicht zuckenden Lidern starrst du mir ins Gesicht, in das von Akne und Mitessern überflutete Gesicht mit der ovalen Form, den Grübchen, die sich nur bei einem Lächeln, also praktisch nie zeigen, dem unschönen Doppelkinn, das ich mir wegen dir von Zeit zu Zeit angefressen habe. Schon seit langem ersuchst du die Möglichkeit, deinen Frust mit Schokolade und deftigen Mahlzeiten herunterzuspülen, alles Schlechte in deinem prallen Bauch zu ertränken und es nur noch schlimmer werden zu lassen. Absurd. Doch du kannst es einfach nicht lassen.
 

Unsichtbar.
 

Endlich kehrst du mir, der Fremden, den Rücken zu, doch das nur, um nach dem Handtuch zu greifen, es erst über dein Gesicht, dann über den Rest deines dicklichen Körpers zu streichen, fährst dabei von deinen speckigen Unterarmen bis hin zu deinen Brüsten, von denen man nicht sagen kann, ob ihre Größe aus ihrem pubertären Wachstum oder deiner Fettleibigkeit resultiert. Dabei watest du in deinem Gehirn den Verlauf deines sicherlich miserablen Tages ab, stoßt dabei auf eine ganze Reihe von wunderschönen Lilys und Marys und Susans, die ihre heißgeliebten und allerseits beliebten Julians und Simons und Phillips fragen, ob sie nicht Lust hätten, mit ihnen auf den Abschlussball, der nächstes Wochenende stattfindet, zu gehen. Mit einem selbstbestätigenden Grinsen auf den Lippen würde Julian/ Simon/ Phillip ein „Warum nicht?“ entgegnen, und schon würden sie alle glücklich sein - alle außer dir.
 

Unsichtbar,
 

würden sie dich einzig und allein mit ihren Blicken schimpfen, weil sie nur deine bloße, plumpe, langweilige Hülle, doch eben auch nur das sehen können, genauso wie du auch nichts anderes als das - dieses dicke, tollpatschige Mädchen mit dem starren Blick - sehen kannst.

„Unsichtbar...“, verlässt es murmelnd deinen Mund, während du ein letztes Mal die Fremde

(mich)

anstarrst - ausdruckslos, doch irgendwie auch verängstigt -, und wenn du sie ansiehst, siehst du im Grunde nur dich selbst, dein verkommenes, abstoßendes Selbst, das dir fremder ist als jeder andere, fremder, als jeder Fremde dir fremd zu sein vermag.

Du drehst dich um. Wendest dich von dir selbst ab. Stopfst deine Korpulenz in die hässliche, aber unauffällige Kleidung, wagst es nicht, zurückzublicken, und bereitest dich mental darauf vor, dich der Hölle des Alltages zu stellen, wie du es schon verdammte sechzehn Jahre lang getan hast.
 

Unsichtbar,
 

ruft dir die Stimme aus dem Spiegel, die Stimme in deinem Kopf, meine Stimme noch nach, als du die Tür aufschließt und aus dem Badezimmer schreitest; begleitet von presslufthammerstarkem Herzklopfen, schweißtriefenden Händen und pochenden Schläfen.
 

Du bist das Mädchen, das keiner sieht. Das Mädchen, das keiner sehen will. Das Mädchen, das sich selbst nicht sehen kann. Du bist - und so leid es mir auch tut, aber du bist selbst daran schuld - schlicht und ergreifend unsichtbar.
 

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Und noch so eine ältere Geschichte, die nach Bearbeitung schreit.
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Ich hör' dir gerne zu

Der Gemeinschaftsraum hat weiße hohe Wände. An der Decke hängen schmale Pendelleuchten, wovon eine defekt ist. Der Parkettboden ächzt an einigen Stellen, und er hat dieses Geräusch immer gemocht. Nach dem Mittagessen setzen sich alle an die Tische, spielen Scrabble und all solche Dinge, unterhalten sich über die unfreundlichen Pfleger, die Enkelkinder, die nie zu Besuch kommen, den klumpigen Kartoffelbrei, den es schon wieder gab, das schlechte Wetter und so weiter. Er aber sitzt nur da, an dem Platz in der Nische, neben der immergrünen Pflanze mit den zotteligen Blättern, und schaut aus dem Fenster. Der Wind schlägt Regentropfen gegen die Scheibe. Er tippelt mit den Fingern auf dem Tisch herum, den Blick nach draußen gerichtet. Das Prasseln wird lauter. Er tippelt schneller. Der Wind reißt Blätter von den Bäumen. Er hält die Finger still. Er lächelt matt und schließt die Augen.

Er geht nach draußen.
 

Er atmet ein. Die Luft ist feucht. Er schaut zum Himmel. Der Regen fällt ihm ins Gesicht. Er geht in die Knie, fährt mit den Fingern durch das Gras und streift die Tropfen ab, die wie Perlen auf den Halmen haften. Dann läuft er zur Fichte, die er vom Fenster aus sehen kann, und streicht über die rotbraune Rinde. Sie fühlt sich rau an. Ein Holzsplitter bleibt in seinem Finger hängen. Behutsam entfernt er ihn und steckt den Finger in den Mund. Unter der Fichte liegen viele Zapfen, die ihm jetzt auffallen. Er hebt einen vom Boden auf. Der Zapfen ist eiförmig und liegt gut in der Hand. Er tastet die einzelnen Schuppen ab, die am Ende dichter werden. Dann hält er den Zapfen unter seine Nase - ein herber Geruch. Im Frühjahr duften die Zapfen frisch und süßlich. Er schaut sich um und läuft noch ein Stück weiter, zu der Birke, die schon fast kahl ist. Die nassen Blätter auf dem Boden schimmern. Er schaut nach oben und bemerkt, dass der Regen nachgelassen hat und die Sonne zwischen den Wolken hervortritt.

Er dreht sich zum Altenheim. Ein graues Gebäude mit rissigen Wänden und rostigen Balkonen. Er rollt den Zapfen in seiner Hand und streicht über die Schuppen. Dann legt er ihn ins Gras und läuft zurück.
 

»Wirklich?« Die Pflegerin packt die Bettdecke an den Enden und schüttelt sie durch. »Und was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin zur Fichte gelaufen.«

»Die, die man vom Gemeinschaftsraum aus sehen kann?«

Seine Augen strahlen. Die Pflegerin geht zu ihm und legt ihren Arm um seinen Rücken. Die Räder rollen ein Stück nach vorn. Mit dem anderen Arm greift sie unter seine Kniekehlen und hebt ihn aus dem Rollstuhl.

»Ja, genau die! Ich habe ihre Rinde angefasst und auf der ganzen Wiese lagen die Zapfen. Sie haben ganz herb gerochen, aber im Frühling, da duften sie.«

Er legt die Arme um ihren Hals, um sich festzuhalten.

»Na, was Sie alles machen!«

Die Pflegerin legt ihn auf das Bett und deckt ihn zu. Sie schenkt stilles Wasser in das Glas auf dem Nachttisch und reicht es ihm.

»Und wenn man draußen ist, sind die Blätter der Birke noch viel bunter.«

»Na, so was.«

Die Pflegerin lächelt freundlich, während er das Glas austrinkt. Sie nimmt es ihm ab und stellt es zurück auf den Nachttisch. Er versucht, sich auf die Seite zu drehen. Seine Beine sind zu schwer. Er bleibt auf dem Rücken liegen.

»Morgen gehe ich wieder spazieren.«

»Aber natürlich.« Die Pflegerin geht zur Tür. »Gute Nacht. Und träumen Sie schön.«

Sie macht das Licht aus.
 

Am nächsten Abend sitzt er im Gemeinschaftsraum und schaut aus dem Fenster. Im Dunkeln kann er nur die Silhouetten der Äste sehen, die sich im Wind bewegen. Der Mond scheint schwach durch die Wolken.

Er hört das Parkett, dreht sich um und sieht Marta. Sie setzt sich zu ihm. Ein zotteliges Blatt der Pflanze neben ihr berührt sie im Nacken. Sie streicht es mit dem Finger weg.

»Na, so ganz allein?«

»Ich war draußen spazieren. Vorhin, als es noch hell war.«

Sie sieht ihn an. Ihre Hände liegen ruhig auf dem Tisch.

»So?«

»Die Blätter sind fast alle von den Bäumen gefallen. Sie sind ganz bunt. Und ach, wenn doch Frühling wäre, dann würden die Zapfen wie frische Blumen duften.«

Sie lächelt.

»Möchtest du morgen nicht mitkommen?«

»Du weißt doch, das geht nicht.«

Er rollt ein Stück näher an den Tisch heran. Das Parkett ächzt unter den Rädern.

»Das sagst du immer, wenn ich dich frage. Aber warum denn nicht?«

»Es geht einfach nicht. Du kannst die Spaziergänge nur alleine machen.«

Er mustert ihr Gesicht.

»Aber ich hör‘ dir gerne zu, wie du von deinen Spaziergängen sprichst«, sagt sie schnell und steht auf. »Gute Nacht.«

Sie läuft zur Tür und der Boden ächzt unter ihren Füßen. Dann fällt die Tür zu. Er tippelt mit den Fingern auf dem Tisch herum, den Blick nach draußen gerichtet. Tropfen prasseln gegen die Scheibe. Er tippelt schneller. Der Wind reißt die letzten Blätter von ihren Bäumen. Er hält die Finger still. Er lächelt matt und schließt die Augen.

Er geht nach draußen.
 

Am nächsten Morgen geht Marta zu seinem Zimmer und klopft. Er reagiert nicht. Sie öffnet die Tür und starrt in das Zimmer. Das Bett ist gemacht. Die Jacke hängt nicht mehr am Haken. Der Rollstuhl ist fort. Sie lässt die Tür offen stehen und läuft zum Gemeinschaftsraum. Sie geht an den Platz in der Nische und schaut aus dem Fenster. Die Birke ist kahl. Unter der Fichte ist niemand. Sie eilt zum Fahrstuhl und fährt nach unten. Sie läuft mit großen Schritten auf den Haupteingang zu und reißt beide Türen auf. Der Wind schlägt ihr entgegen. Sie läuft ein paar Schritte auf die Wiese, sieht die Birke und läuft zur Fichte. Sie bückt sich und hebt einen der vielen Zapfen auf, die im Gras liegen. Sie tastet die einzelnen Schuppen ab und hält den Zapfen unter die Nase - ein herber Geruch. Sie lässt den Zapfen fallen und schlingt den Morgenmantel fester zu. Sie geht zurück.
 

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Diese Kurzgeschichte hat - ZOMG! - einen Literaturpreis gewonnen und wurde in der Nagelprobe 27 veröffentlicht:

http://www.amazon.de/Nagelprobe-Preisgekr%C3%B6nte-Wettbewerbs-Literaturforum-Hessen-Th%C3%BCringen/dp/3869061243/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1280495969&sr=1-1

Die Geschichte war hier ursprünglich unter dem Namen "Herbst" online. Dabei handelte es sich um den Vorgänger. "Ich hör' dir gerne zu" ist die komplett überarbeitete Version davon.^^
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Todesmarsch

14:43Uhr, Sonnenschein - Eine Fahrt ins Unbekannte
 

Der große Wagen tuckert über die Schlaglöcher. Sonnenstrahlen prasseln auf die Pritsche. Es ist warm. Die Stille drückt. Ich höre keine Vögel zwitschern, keine Brise durch das Laub wehen. Die uniformierten Männer sitzen zusammen mit mir und meinen Freunden auf der Ladefläche. Sie schweigen.

Ich bin beunruhigt. Ich schaue nach oben und versuche die Fahrt zu genießen. Ich weiß nicht, wo es hingeht. Die uniformierten Männer haben nichts gesagt. Aber es ist egal. Der Duft der Feldwiese, die Sonnenstrahlen und der blaue Himmel tun gut. Die Lagerhalle war so staubig.
 

Wir fahren wieder über eines der nervigen Schlaglöcher. Der Wagen wankt hin und her. Plötzlich sagt einer der Uniformierten etwas.

»I-Ich kann das nicht... bitte...«

Ich frage mich, von was er redet. Scheint ja etwas sehr Schreckliches zu sein, so, wie der stottert. Ich schaue in die Gesichter der anderen Männer. Ihre Augen sind ganz groß. Manche glänzen.

»Jetzt reiß dich zusammen! Wir sitzen alle im selben Boot, wir können jetzt nicht mehr zurück!«, brüllt der eine mit den vielen bunten Abzeichen auf der Uniform. Seine Augen glänzen auch.

»Wir möchten alle zurück. Aber es geht nicht... und das weißt du. Das wisst ihr alle.«

Er starrt in die Gesichter der anderen. Er sieht verbittert aus. Dann senkt er den Kopf. Wieder wird es still. Der Wagen tuckert. Menschen sind wirklich seltsam.
 

Die Wolken werden dichter. Sie sehen aus wie ein riesiger grauer Wattebausch. Sie drängen sich vor die Sonne. Der Himmel verdunkelt sich. Ich glaube, dass ein Unwetter bevorsteht.

Plötzlich hält der Wagen an.

Die Männer steigen nacheinander aus. Manche stürmisch, manche zögernd. Ihre Gesichter sind ganz blass. Sie laufen mitten ins Feld hinein. Auf einmal, wie aus dem Nichts, ertönt aus der Ferne ein lautes Rumoren. Und nochmal. Ich ahne nichts Gutes. Als ich nach oben schaue, sehe ich eine Rauchwolke, die sich am Himmel ausgebreitet hat. Eine Explosion?

Der Mann, bei dem ich bin, zuckt zusammen. Dann läuft er mit seinen Kameraden weiter, hält sich geduckt und wird immer langsamer. Jetzt schleicht er nur noch. Ich kann hören, wie etwas in seiner Brust hämmert. Das alles beunruhigt mich.
 

Ich höre schon wieder einen lauten Knall. Die Uniformierten laufen darauf zu. Ich verstehe nicht, warum. Bedeutet eine Explosion nicht Gefahr? Warum rennen sie dann nicht weg?

Jetzt kann ich die Rauchwolken direkt vor mir sehen. Der Krach durch das, was sie erzeugt, ist auch immer lauter geworden. Die Uniformierten bahnen sich einen Weg durch das wuchernde Gras. Das Hämmern will nicht aufhören. Ich höre, wie der Mann, bei dem ich bin, nach Luft japst. Auf einmal sehe ich andere Männer auf uns zulaufen. Ihre Uniform sieht genauso aus. Sie sprechen miteinander:

»Da seid ihr ja endlich!«, sagt ein Fremder. Sein Gesicht ist schweißgebadet.

»Wie ist die Lage?«, fragt der Mann, zu dem ich gehöre. Die anderen bleiben stumm. Dann antwortet einer:

»Nicht gut... wir sind nur noch zu acht.«

»Aber der Feind hat auch einstecken müssen«, sagt plötzlich ein anderer, »wir wissen nicht, wie viele Verluste sie genau gemacht haben. Aber wir haben noch eine Chance. Wir dürfen jetzt nicht schlappmachen!«

Was die Uniformierten sprechen, bringt mich ganz durcheinander. Anscheinend geht es um einen Kampf. Aber was ist mit ›Verlusten‹ gemeint? Ich denke an die Explosionen. Es schaudert mich.

Einer der Uniformierten beantwortet auf einmal alle meine Fragen:

»Es ist Krieg. Das müsst ihr begreifen. Entweder wir sterben oder wir überleben.«

Ich habe mal zwei Männer über dieses Wort sprechen hören, als ich noch in der Lagerhalle war. Ich kenne die Bedeutung. Ich wünschte, ich würde sie nicht kennen.

»Trödelt nicht rum. Wir pirschen uns langsam heran und machen uns das hohe Gras zunutze. Haltet euch immer geduckt, verstanden?«

Die Männer zögern, dann nicken sie. Ihre Augen sind ganz groß. Manche glänzen. Ich weiß jetzt, warum.
 

Die Uniformierten schwärmen aus. Ich frage mich, was jetzt passieren wird. Werden sie gegen andere Uniformierte kämpfen? Dabei haben sie doch solche Angst. Es gibt keinen Grund.

Der Mann, bei dem ich bin, schleicht durchs Gras. Das Hämmern ist lauter geworden. Ich schaue zu ihm auf. Sein Gesicht ist angespannt und blass. Er hat Angst. Ich auch.

Ein Rascheln. Ganz in der Nähe. Der Uniformierte bleibt stehen und horcht auf. Auf einmal legt er die Hand um mich. Sie ist feucht und klebrig. Er rührt sich nicht.

Wieder raschelt es im Gras. Das Geräusch kommt von rechts. Der Mann dreht sich um. Jetzt kann ich einen anderen Mann sehen, der einen Freund von mir umklammert. Nun zieht er meinen Freund aus dem Koppel und legt den Stiel um. Er holt aus und wirft meinen Freund einfach weg. Mitten ins Feld. Ich frage mich, was das soll. Meine Antwort bekomme ich sofort.

Dort, wo mein Freund gelandet ist, macht es einen lauten Knall. Eine graue Wolke steigt auf. Eine dieser, die ich vorhin schon gesehen habe.

Mein Freund hat die Explosion verursacht. Mein Freund... ist explodiert! Und der Mann, der ihn geworfen hat, hat davor diesen Hebel umgelegt. Er hat ihn umgebracht! Aber warum? Hat der Mann, bei dem ich bin, vorhin seine Hand auf mich gelegt, um das Gleiche mit mir zu machen?

Ich werde hier auch sterben. Ich weiß es.
 

Ich höre Schüsse aus der Ferne. Als der Uniformierte weiter durchs Feld schleicht, kann ich einen seiner Kameraden sehen, der ein Gewehr in der Hand hält. Die kenne ich aus der Lagerhalle. Aus ihnen kommen Kugeln geschossen, wenn man ihren Hebel umlegt. Der Mann, bei dem ich bin, trägt auch ein Gewehr bei sich. Er hält es ins Feld gerichtet vor sich. Betätigt hat er es noch nicht.

Gewehre sterben nicht, wenn man ihren Hebel umlegt.

In den Gräsern tut sich etwas. Der Mann fährt um sich und klammert sich an das Gewehr. Ein paar Meter weiter erspähe ich drei Männer, die beieinander stehen. Ihre Uniform sieht anders aus als die der Männer, mit denen ich hergefahren bin.

Der Mann, bei dem ich bin, scheint die drei auch entdeckt zu haben. Er setzt einen Fuß nach vorn. Sind es auch Kameraden? Es hämmert stark.

Der Mann nimmt das Gewehr in die linke Hand. Als er es berührt, zuckt er. Plötzlich umschlingen mich seine verschwitzten Finger. Sie zittern und sind kalt. Das ist ekelig. Dann zieht mich der Mann von dem Gürtel ab. Jetzt liege ich ganz lose in dieser klebrigen Hand. Ich gucke schnell von einer Richtung in die andere. Zwischen den Fingern erkenne ich, wie die drei Männer mich anstarren. Ich weiß, was jetzt passieren wird. Ich-

Der Mann holt aus. Die verschwitzten Finger lösen sich von mir. Ich gleite aus der Handfläche und höre ein Klacken. Ich fliege. Ich sehe die drei Männer näher auf mich zukommen, ich erkenne, dass eigentlich ich auf sie zukomme, ich sehe, wie sich ihr Gesicht verzerrt, ich sehe Angst, ich spüre einen Tropfen, der auf mir zerplatzt, ich sehe auf einmal alles an mir vorbeiziehen, das Fließband, die Kiste, die Lagerhalle, meine Freunde, die Uniformierten, der Weg hierher, einfach alles, und ich weiß, dass es hier endet, dass es für mich und die drei Männer hier endet, ich falle zu Boden und dann-
 

14:58Uhr, schwarzer Regen - das Schicksal einer Handgranate
 

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Die Geschichte entstand für einen Wettbewerb, den der Spiegel veranstaltet hat. Das Thema lautete "15 Minuten". Man sollte nur eine kleine Geschichte schreiben, die beschreibt, was für ausschlaggebende Ereignisse binnen 15 Minuten geschehen können. Dies ist meine Idee dazu.

Dangö für’s Lesen. ^^
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Der perfekte Zeitpunkt

Carlos fickte einen warmen Körper und fühlte nichts. Er kam in ihm. Die Fensterscheibe war beschlagen. Er zog sich zurück, verließ mit einem Satz das Bett und zündete sich eine Zigarette an. Er sah auf das Gesicht herab. Es schaute ihn großäugig an. Carlos behielt den Blick starr auf ihm. Die kleine Schlampe wirkte zerbrechlich.

Carlos grinste. Er wandte sich ab, klemmte die Zigarette zwischen die Lippen und las seine Hose vom Boden auf. Er zog sich an. Die Tür quietschte, als er sie öffnete. Die Tür polterte, als er sie hinter sich zuschlug. Die Holztreppe knarzte unter den Füßen. Qualm entwich seiner trockenen Kehle. Er könnte jetzt einen Drink vertragen. Es war etwa zwei Uhr morgens. Das Licht im Treppenhaus funktionierte nicht. Die Zigarette glühte im Dunkel. Carlos krallte sich ans Geländer und ließ sich von ihm nach draußen führen.
 

Carlos wachte neben einem warmen Körper auf. Zwischen diesem und seinem eigenen lag geschätzt ein Meter. Der Körper war ihm zugewandt. Die Lider zuckten. Carlos drehte sich auf die Seite. Er winkelte den Arm an und bettete den Kopf darauf. Die Spitzen seines kurzen Haars piekten ihm in die Haut. Die fusselige Decke war bis über seine Hüften gezogen. Das Fenster war geschlossen, und ihm war kalt.

Er spürte Fingerkuppen auf seinem Rücken. Die warme Handfläche schloss sich sachte an. Carlos‘ Augen weiteten sich. Dann atmete er aus. Als die Hand den Versuch wagte, sich über die Taille entlang zu seinem Bauch zu tasten, rutschte Carlos ein Stück. Er spürte die Hand nicht mehr. Geschätzt eineinhalb Meter. Es war ein Fehler gewesen, einzuschlafen.
 

Carlos zeichnete Leichen in den Terminkalender. Eine nackte Frau, die an einem Strick baumelte. Ein kleiner Junge, aus dessen Bauchnabel die Spitze eines Messers ragte. Ein alter Mann, der totgeschlagen in seinem eigenen Blut badete.

Carlos besah die Bilder. Er war nicht gut im Zeichnen. Andere Betrachter hätten nicht einmal die Hälfte von dem erkannt, was er darstellen wollte.

Marie betrat das Büro. Sie hatte schon wieder diesen hässlichen Fummel vom Vortag an. Eine graue Hose, die sie mit dem Gürtel bis über den Bauch gespannt hatte. Eine weite Bluse und ein Hemd darunter, um dem Dekolleté so gut wie möglich entgegenzuwirken. Das blonde Haar und die blasse Haut bildeten einen widerlichen Kontrast dazu. Diese Schnepfe legte offensichtlich großen Wert darauf, Carlos nicht zu gefallen.

Eine Sitzung um halb zehn, ein Essen um eins im Lafil, ein Vorstellungsgespräch mit einem unfähigen Bastard um vier, ein Mord um elf und ein Kopfschuss um zwölf. Carlos krakelte die Termine, die Marie ihm durchgegeben hatte, mitsamt seinen eigenen auf den alten Sack in der Blutlache.

Marie ging wieder. Carlos legte den Terminplaner beiseite, starrte auf den kleinen Bilderrahmen, der auf dem Schreibtisch stand, dachte nach, nahm einen Stift und tippte den Bilderrahmen an. Er fiel um. Carlos stellte ihn wieder auf. Er zog den Mantel vom Kleiderhaken, schob den Terminkalender in die Tasche und verließ das Büro.
 

Carlos verfluchte die dunklen Steinchen, die verstreut auf jedem Gehweg lagen. Sie nisten sich im Profil der Schuhe ein, man schleppt sie mit ins Apartment, und schon verteilt man die Sauerei im eigenen Zuhause.

Eisige Luft wehte durch das kurze Haar. Schneeflocken droschen auf Carlos‘ Gesicht ein. Er hob den Arm und hielt ihn wie einen Schild vor die Stirn. Die Sitzung, das Essen und das Vorstellungsgespräch hatte er hinter sich gebracht. Das eine war beschissener als das andere gelaufen. Der Abend war schwarz und kalt. Carlos fummelte den Terminplaner aus der Manteltasche. Er musterte die Einträge auf der Blutlache. Er schlug den Planer wieder zu, packte ihn weg und schaute auf die Armbanduhr.

Der perfekte Zeitpunkt, um einen Mord zu begehen, dachte er und schmunzelte vor Entsetzen.
 

Der Wind trug ein gebrochenes Atmen an Carlos‘ Ohren. Er sah zu Boden und entdeckte einen kleinen Menschen an die Wand eines Spielzeugladens gepresst. Hinter dem Schaufenster leuchtete ein viel zu großzügig geschmückter Christbaum. Carlos blieb stehen. Die Person war deshalb so klein, weil sie ein Kind war. Ein Mädchen, erkannte er bei einem Blick ins farblose Gesicht. Die Lippen waren blau angelaufen. Die braune Decke war um den zitternden Leib geschlungen. Die Zähne klapperten. Aus der Nase lief Rotz. Die grauen Augen glänzten. Carlos warf wieder einen Blick auf die Armbanduhr.

Der perfekte Zeitpunkt, um einen Mord zu begehen.
 

Carlos schaute sich um. Keine Menschenseele. Er ging in die Hocke und suchte unter der Decke die Hand des Mädchens. Er fand sie. Er zog sie zu sich. Er drückte einen Zweihundert-Euro-Schein hinein. Er schloss jeden dünnen Finger einzeln darum. Er legte beide Hände um die winzige Faust.

»Kauf dir was zu essen, Kleines.«

Er ließ die Faust ganz langsam los. Sie war so kalt, und ihm ganz warm. Er stand auf und ging weiter, ohne dem Mädchen ein zweites Mal ins Gesicht gesehen zu haben.

»...v-vielen Dank, mein Herr. Frohe Weihnachten, mein Herr...«
 

Carlos trug die Steinchen ins Apartment. Er streifte die Schuhe im Flur von den Füßen, nahm den Terminkalender zur Hand und klappte ihn auf. Er zog einen Strich durch den vorletzten Eintrag und schrieb etwas darunter. Sein Blick wanderte auf den blutbesudelten Kopf des gezeichneten Mannes, auf dem der null Uhr-Termin stand. Er schaute ein letztes Mal auf die Armbanduhr.

Er ging ins Schlafzimmer und zog die unterste Schublade des Nachtschrankes auf. Seine Hand griff nach dem Revolver und führte den Lauf auf die Mitte der Stirn.
 

Carlos drückte ab.
 

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Ich hab‘ zu viel American Psycho und Gaspar Noé-Filme geguckt...

Diese Geschichte nimmt am diesjährigen Wettbewerb des Jungen Literaturforums teil. Mal schauen, wie weit sie kommt. ;)
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Frühlingsmorgen

Du schlurfst die Treppen des Schulgebäudes entlang nach unten. Als du die Eingangstür aufstößt, donnern dir Bohrgeräusche entgegen, und du fasst dir an die Schläfen, denn du bist müde und kannst diese Lautstärke noch nicht ertragen. Die Bauarbeiter sind schon früh am Werk. Der Wind ist kühl und beißt in den Augen. Du hättest dich wärmer anziehen sollen.

Während du durch den Tunnel gehst, rasen Autos so schnell an dir vorbei, dass du sie nur als bunten Strich wahrnimmst. Wie Luftschlangen, die an einem Ventilator festgebunden sind, sich lösen und davonfliegen, denkst du dir und gehst weiter.

Die Bohrgeräusche schallen durch den Tunnel. Sonne strahlt dir ins Gesicht, als du auf der anderen Seite ankommst. Nur noch wenige Ampeln trennen dich von deinem Ziel. Du verschränkst die Arme vor der Brust und wartest auf Grün. Der Wind wird stärker. Wenn du nach rechts schaust, siehst du kahle Bäume, die aneinandergereiht aus sandigem Boden ragen. Der Wind lässt ihre Äste erzittern. Du suchst an deiner Jacke nach einem Spalt, den du zuknöpfen kannst. Du findest keinen und schlingst dein Halstuch fester um deinen Hals.

Grün. Deine Schritte werden schneller, als du hinter der kleinen Unterführung den Main erspähst. Die mit Graffiti besprühten Mülltonnen ignorierst du und kletterst auf den Wagon, der schon seit Jahren auf den grasbewucherten Schienen steht. Du musterst den Fluss. Büsche und Bäume des gegenüberliegenden Ufers spiegeln sich darin und lassen den Main reiner wirken, als er vermutlich ist. Du schaust zum Himmel empor und beobachtest deinen Atem, der in Rauchschwaden nach oben entweicht und dich daran erinnert, wie kalt ein Frühlingsmorgen sein kann. Die Jogger und Fahrradfahrer nimmst du nur halbherzig wahr. Du schließt die Augen und spürst die Sonne auf deiner Haut. Du lächelst und weißt, dass der Winter vorbei ist.
 

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Im Rahmen des Deutschunterrichts entstanden. Wir sollten rausgehen und uns durch unsere Wahrnehmungen inspirieren lassen.^^
 

Liebe Grüße,

Fujouri

Willkommen in der inneren Wirklichkeit!

Heute stapfe ich auf dem Heimweg das erste Mal durch Schnee. Meine Schuhe sind nicht gefüttert und meine Fußzehen nass. Ich hasse dieses Dreckswetter und trampele den Schnee platt. Endlich endet der Feldweg und ich erreiche den Bordstein, der nicht gänzlich zugeschneit ist. Es kotzt mich an zu wissen, dass das Streuzeug im Profil meiner Sohle hängenbleibt und in wenigen Minuten drei Stockwerke unseres Treppenhauses zieren wird. Ab und zu klopfe ich die Sohle auf dem Bordstein ab, um diesem Unheil vergeblich entgegenzuwirken. Mir wird schnell klar, dass das nichts nützt, also blicke ich mit höchster Konzentration zu Boden und stelle mir die Aufgabe, dem Streuzeug so gut wie möglich auszuweichen. Die Feststellung, dass das unmöglich ist, tritt zu spät ein, nämlich geschätzt eine Nanosekunde vor dem Moment, in dem ich mit vollem Karacho gegen eine Straßenlaterne laufe.

Irgendein asiatisches Gedudel ertönt neben mir. Ich kühle meine schmerzende Nase mit der Hand und lasse mit gesenktem Kopf den Blick umherschweifen. Niemand scheint Zeuge meines peinlichen Auftritts geworden zu sein. Die, die es hätten werden können, stehen im Halbkreis um einen Typen, der die komische Musik angemacht hat. Er beginnt sich dazu grotesk zu bewegen. Ein totaler Freak.

Ich schüttele den Kopf und gehe weiter. Warum ausgerechnet ich?
 

Am nächsten Tag trotte ich auf dem Heimweg den Bordstein entlang und versuche aufmerksamer zu sein, um nicht schon wieder Bekanntschaft mit einer Straßenlaterne zu machen. Ich höre das Schlitzaugen-Gedudel bereits von Weitem. Der Freak von gestern ist wieder da. Ich weiß nicht, warum, aber diesmal bleibe ich stehen und schaue ihm ein wenig zu. Er trägt so eine merkwürdige Hose, die man immer an Sumōringern sieht, und ist von oben bis unten komplett weiß geschminkt. Die knochige Statur und der kahlrasierte Kopf erinnern mich prompt an die Geister aus diesem miesen Horrorfilm ›The Grudge‹. Wenn ich ihn mir so ansehe, wie er sich gespenstisch langsam zu der Musik bewegt, seine Gelenke verbiegt und den Rücken verkrümmt, sodass die Umrisse seiner Wirbelsäule hervortreten, muss ich an eine glitschige Kaulquappe denken, die an Land gespült wurde und erbärmlich dahinvegetiert. Er verzieht den Mund zu einem stummen Schrei und runzelt die Stirn. Wie kann man nur halbnackt im Winter in aller Öffentlichkeit so ein Affentheater veranstalten? Einfach abstoßend.

Ich ziehe Luft durch die Zähne und trotte weiter. Die Schule war scheiße, denn ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Warum ausgerechnet er? Dabei habe ich noch nie mit ihm gesprochen. Und das soll auch so bleiben.
 

Drei Tage sind vergangen, und als ich auf meinem Heimweg den Bordstein entlanggehe, sehe ich wie an den Tagen zuvor den geheimnisvollen Tänzer. Ich bleibe vor ihm stehen, lausche den orientalischen Klängen und beobachte das Schauspiel. Mit geschmeidigen Bewegungen folgt er dem Takt der Musik, hebt den Arm in die Luft und spreizt die grazilen Finger. Er streckt den Oberkörper durch, und das fahle Licht der Straßenlaterne hebt die Konturen seiner Rippen hervor. Plötzlich sinkt er in die Knie, greift sich an den Kopf und verzieht den Mund zu einem stummen Schrei. Er verkrampft die Brauen und legt die Stirn in Falten. Endloses Leid zeichnet sich auf dem verzerrten Gesicht ab. Der schwarze Himmel ummantelt den weißgeschminkten Körper. Ein Tanz der Finsternis.

Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Mir stockt der Atem und mein Herz schlägt schnell. Ich wickele meinen Schal enger um den Hals und gehe weiter. Ich will mit ihm sprechen, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist. Ich fürchte mich davor. Aber wenn ich noch länger warte, platze ich.
 

Fünf weitere Tage sind vergangen, und ich habe mir den Tanz nicht ein einziges Mal entgehen lassen. Heute laufe ich auf dem Heimweg mit zielstrebigen, großen Schritten den Bordstein entlang und werde immer schneller, als ich die angespielten Saiten aus der Ferne höre. Endlich komme ich an und bleibe wenige Meter vor dem Tänzer stehen. Mit geballten Fäusten folge ich dem eleganten Schauspiel und lasse mich mitreißen. Die weiße Haut scheint im Licht der Straßenlaterne zerbrechlich wie Porzellan, und ich möchte sie berühren. Die zugekniffenen Augen entlassen Tränen, die die Wangen entlangfließen und ein Rinnsal bis zum Kinn hinunter bilden. Mir wird schwindelig und ich kralle die Finger in den Stoff meines Mantels. Der Blick des Tänzers kreuzt meinen. Ich sehe ihn. Ich erkenne ihn. Plötzlich sehe ich mich. Ich reiße die Augen auf und taumele ein paar Schritte zurück.

Der Tänzer beendet den Tanz und durchbohrt mich mit seinem Blick. Dann lächelt er und verbeugt sich vor mir. Ich fühle mich wie versteinert und ertappt von mir selbst. Krampfhaft lächele ich zurück, wende mich ab und setze meinen Heimweg fort. Kalte Luft durchrauscht meine Lunge und meine Muskeln entspannen sich. Ängste und Zweifel sind verflogen. Ich werde ihn ansprechen.
 

Am nächsten Tag eile ich auf meinem Heimweg den Bordstein entlang und warte auf die orientalischen Klänge aus der Ferne. Sie bleiben aus. Der Tänzer ist nicht mehr da.

Ich versenke die Hände in den Manteltaschen. Ich atme tief ein und grinse die Straßenlaterne an.

Morgen bin ich mit ihm verabredet.
 

---
 

Boah, das war schwerer zu schreiben, als es wirkt. Dx

Na, wer errät, um welchen Tanz es sich handelt? Tipp: Es ist ein japanischer, unkonventioneller Tanz, ich schätze, so gut wie niemand kennt ihn... aber es gibt im Text ein paar Schlagworte, die man googlen könnte, um sofort auf den Namen zu stoßen. ^.-
 

Liebe Grüße,

Fujouri



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Kommentare zu dieser Fanfic (21)
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Von:  Marge91
2011-04-14T13:04:53+00:00 14.04.2011 15:04
super kapi
mach weiter so
freu mich schon aufs nächste kapi
also schrieb schnell weiter und danke für die ens
benachrichte mich bitte wenn du eine neues kapis schriebst
lg Marge91
Von:  Marge91
2011-02-04T22:57:05+00:00 04.02.2011 23:57
es hat lange gedauter aber jetzt habe ich jedes kapi gelesen
und ich muss sagen
einfach klasse super
schreib schnell weiter
die ganzen kapis sind einfach nur super
lg Marge91

ps. bitte benachrichtige mich wenn es wieter geht und wenn du möchtes kannst du auch mal meine ff's lesen und ein komi hinterlassen ;)
Von:  sunshishi
2010-09-30T15:28:07+00:00 30.09.2010 17:28
Hallo Fujori,

mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Ich fand sie gut durchdacht und sie regte zum Nachdenken an. Die Sache mit dem kranken Herzen und dem Freiheitswillen lässt sich sehr ausschweifend diskutieren... Ich vermute mal, dass er das Leben ohne Freiheit/Freigang nicht als lebenswert erachtet. Und sollte man ihn einsperren im Seniorenheim, würde sein Herz vermutlich an Schwermut zugrunde gehen. Lieber stirbt er in Freiheit.
Ich würde mich natürlich auch über deine Interpretation per ENS freuen^^
Was mich etwas irritiert hat, waren die groß geschriebenen Personalpronomen. Wolltest du damit nur Verwechslung mit anderen vermeiden oder gab es einen tieferen Sinn? Ansonsten kenn ich groß geschriebene Pronomen nur bei Gott... óÒ

Liebe Grüße
SuShi
Von:  Tijana
2010-09-12T16:16:52+00:00 12.09.2010 18:16
Hey :D

Ich fand deine Story wirklich sehr Poetisch. Die Absätze stimmen, man kann den Text sehr flüssig lesen. Fand auch den Charakter des alten Mannes sehr passend. Stur aber weise.
Mich hat nur die weibliche Hauptfirgur etwas verwirrt. War oder ist sie nun eine weitere Bewohnerhin des Seniorenheimes, oder ist sie eine der Pflegerinnen?

grüße
Tijana ^^
Von:  sunshishi
2010-07-24T18:04:31+00:00 24.07.2010 20:04
Hallo Fujouri,

ich finde den Text... kompliziert.
Okay, vielleicht bin ich zu alt dafür... Aber ich war auch mal 16 und war auch nicht mit der Welt zufrieden und Selbstzweifel hatte wohl jeder mal. Dennoch finde ich die Gedanken deiner Protagonistin nicht ganz nachvollziebar. Einerseits scheint sie ihren Körper nicht zu mögen, andererseits denkt sie an nichts anderes. Gerade früh morgens bin ich noch nicht so wach, dass ich eine so genaue Körperwahrnehmung habe.
Später, als sie dann in den Spiegel sieht, ist es nachvollziehbarer. Vielleicht solltest du eine Schlüsselsituation einbauen. Wieso mag sie sich nicht? Wie kommt sie darauf? Mit wem vergleicht sie sich?
Die Angst kommt meines Erachtens nicht sehr gut rüber. Für mich beschreibst du eher Ekel bzw. Verachtung. Oder Selbsthass, wie Vandra meinte.
Angst stellt sich meiner Meinung nach anders dar. Musst du mal selbst drauf achten, wenn du Angst hast (bei einem Horrorfilm, in einer dunklen Gasse, wenn du vor der Klasse sprechen musst, wenn jemand mit einem Baseballschläger vor dir steht und wütend ist, usw.). Dein Puls rast, deine Augen weiten sich, Panik breitet sich in dir aus. Das Adrenalin schießt durch deinen Körper und er bereitet sich auf deine Entscheidung vor: Flucht oder Kampf.
Normalerweise zeigt sich Angst nicht so lethargisch und unbeteiligt. Erst zum Ende zu zeigt sich ein kleines bisschen von der Angst.

Insgesamt fand ich en Text sehr gut geschrieben. Du hast großartige, sprachliche Bilder verwendet, hast deine Protagonistin glaubhaft dargestellt.
Aber ich denke, du hast nicht das Gefühl Angst dargestellt.
Nicht entmutigen lassen. Gefühle sind prinzipiell nicht objektiv zu betrachten. Vielleicht stehe ich mit meiner Meinung ja auch allein da^^

Liebe Grüße
SuShi
Von:  Vandra
2010-07-08T21:32:57+00:00 08.07.2010 23:32
Erstens: Wurdest du von Nivea bezahlt? Das ist Product-Placement und seltsamerweise das einzige, das in der ganzen Geschichte so vollständig benannt wird (nebst Namen, die aber eher wenig Bedeutungsvoll scheinen).
Ich rätsle noch ein wenig, wenn ich ehrlich bin - was nicht unbedingt negativ ist.
Persönlich kann ich mit dieser absoluten Abscheu, die wirklich in fast jedem Satz mitschwingt, nicht ganz nachvollziehen. 16 ist ein hartes Alter, aber da ist wirklich nur noch Selbsthass da - in der Geschichte in einer seltsam entkoppelt, eingekoppelten Art. Dieses Gefühl hast du natürlich gut vermittelt. All die Worte und Begriffe, die dafür üblich sind, das Reiben der Oberschenkel aufeinander (nass? Da reibt nicht viel, denke ich - aber das ist wohl wieder Ansichtssache), die fleischigen Schenkel etc. Es trieft aus jedem Satz.
Da fällt mir etwas ein: "Obergiene"? Wenn du nicht "Aubergine" meinst (die Frucht, violett, eiförmig für die Deutschen), bin ich verloren. Und ich glaube ich werde verloren sein...

Ehrlich gesagt würde ich sagen, dass zwar auch die Angst vor der Gesellschaft und deren Meinung da ist, aber in der Geschichte primär eine sekundäre Rolle übernimmt. In Wahrheit schwingt für mich mehr Selbsthass, Abscheu mit. Die Protagonistin macht nicht mal den Versuch sich selbst aufzubauen, oder etwas zu tun, um sich wirklich den anderen anzupassen (gut, bis auf Shampoo). Und man erfährt von ihr - von ihrem distanzierten Ich - auch nicht, wie die anderen sie behandeln. Die sind effektiv für mich auch kaum existent.
Das ist jetzt aber nur meine Meinung...und Interpretation.

Aber das was du vermittelst, vermittelst du einfach bildlich und gut. Was soll ich da noch großartig sagen? Es ist in sich stimmig...und passend.

Ciao
Vandra
Von:  animegirl8
2010-04-28T19:39:30+00:00 28.04.2010 21:39
Ich weiß nicht was ich sagen soll außer das dieser Text die Wahrheit spricht.Versteh das jetzt nicht falsch ich meine damit einfach nur das ich mich sehr gut dort hinein versetzen kann eben weil ich auch gerade in diesem Alter bin und mir eben genau sowas manchmal durch den Kopf geht.
Die Angst vor Ablehnung,der Gesellschaft die einen verurteilt einfach alles was in diesem Text steht kann ich nachvollziehen.
Und genau deswegen finde ich diesen Text so genial.

Weiter so ^^
MfG animegirl8 ^^
Von:  ChasingCars
2009-11-22T16:50:36+00:00 22.11.2009 17:50
Riesen Kompliment!
Ich finde deinen Text ... beängstigend. Deshalb passt das mit der Angst einfach wunderbar. In jeder Hinsicht.
Irgendwie ist es traurig, aber ich kann mich gut in das Mädchen hineinversetzen. Gedanken wie diese gehen einem durch den Kopf mit fünfzehn, sechzehn... Vor allen Dingen, wenn man nicht so richtig in seine Umgebung passen will oder kann. Wenn man im Spiegel eine andere Person sieht, als man eigentlich zu sein glaubt.

"Und wenn du sie ansiehst, siehst du im Grunde nur dich selbst, dein verkommenes, abstoßendes Selbst, das dir fremder ist als jeder andere, fremder, als jeder Fremde dir fremd zu sein vermag."
Das ist mein Lieblingssatz. :) Der drückt so viel Wahrheit aus - Genial.

Du hast so viel Tiefsinn in die3en kurzen Text gebracht, das ist beeindruckend! Ich kann wirklich nur ein pures Lob aussprechen :)
Von:  Engel-Lilith
2009-11-10T17:02:47+00:00 10.11.2009 18:02
Ich finde man kann sich sehr gut in die Person und ihre Gefühlswelt hineinversetzen. Jeder hat irgendwo in sich die Angst von anderen übersehen zu werden. Man muss nicht einmal korpulent sein wie das Mädchen in dieser Geschichte.
Es ist zwar am Anfang der Geschichte wirklich nicht gleich offensichtlich worauf du hinaus willst. Es erschließt sich aber wenn man sich in das Mädchen hineinversetzt.

Von:  Vandra
2009-09-30T18:21:09+00:00 30.09.2009 20:21
"Banal" fand ich den Schreibstil nicht, sondern eher passend zu dem Erzähler. Und dabei ist weder daran, noch an der Grammatik irgendetwas auszusetzen. Tadellos...
Die Idee an sich ist auch klasse.

Was mich ein wenig irritierte, ist das große Hintergrundwissen dieses Gegenstandes und wie er eigentlich dezent zu viel Einblick hat und relativ starke Färbungen in Richtung Gefühle hat (und wieso mag sie die Menschen nicht? Sie haben sie doch erschaffen und viel hatten weder sie noch ihre Kollegen von draußen gesehen etc).
Und ja, man bemerkt eben doch sehr stark, dass du sehr gesellschaftskritisch werden wolltest. Doch das ist in dem Fall kontraproduktiv. Denn indem du die Handgranate die Moral der Geschichte gleich sagen lässt, nimmst du dem ganzen alle Schärfe.
Für mich waren einige Andeutungen auch schon zu deutlich - die Erwähnung des Pulvers in Verbindung mit "Tod" hat mich zwar eher an chemische Kampfstoffe denken lassen, aber ziemlich schnell an etwas in die Richtung (wobei ich zugeben muss, dass ich den Beschreibungen da nicht ganz folgen konnte - von wegen wie das Ding aussieht).
Aber das ist alles mein persönlicher Geschmack. Ich bin auch jemand, der eine Botschaft lieber hat, wenn sie nicht offensichtlich betont wird.

Ciao
Vandra


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