Nudelauflauf
Murrend sah ich auf. Das Schulgebäude war - wie erwartet - grau. Einfach nur grau. Ein großer rechteckiger Block, der lieblos in die Landschaft gestellt war. Der dunkelgraue - ist es nicht erstaunlich wie abwechslungsreich das Farbsortiment ist? - Schulhof war fast schwarz vom nächtlichen Regen. Das große Schultor war verrostet und quietschte mit Sicherheit fürchterlich. Erstaunlich waren die beiden großen Kastanienbäume die sich hinter der Mauer auftürmten und große Schatten auf den dunklen Steinboden warfen. Etwas weiter abseits befand sich ein weiterer Häuserblock, etwas flacher aber um einiges länger. Ich vermutete das dies die Turnhalle sein musste. Sport, schon allein der Gedanke daran lies mich erzittern. Hinter der Turnhalle türmte sich ein Ring von Pappeln auf, der eine Laufbahn und ein Fußballfeld einschloss. Jetzt war die Sandbahn jedoch total verklumpt und schlammig, der Rasen grasgrün und an den Halmen hingen noch die Regentropfen. Das letze Gebäude das sich auf dem Schulgelände befand , war die Aula. Dies war ein - im Gegensatz zum Hauptgebäude und der Turnhalle - sehr farbenfrohes Gebäude. Die Wände waren in einem dunklem blau gehalten auf dem sich dunkelgrüne Ranken zum Dach hinauf wanden. Was der Sinn dieser ganzen Sache war, sollte mir auf ewig ein Rätsel bleiben.
Ich schulterte meine Tasche, verfrachtete meine Hand in die Hosentasche und marschierte geradewegs auf den geometrisch grauen Block zu. Hier war es wie in meiner alten Schule, nur ein wenig größer - schließlich war ich vom Land in die Großstadt gezogen, da durfte es ruhig etwas prunkvoller sein. Ein Läuten ertönte und ich beeilte mich noch rechtzeitig in die Klasse zu kommen. Alle Blicke richteten sich auf mich als ich die graue - sie war sicher einmal weiß gewesen - Schiebetür öffnete und das Klassenzimmer betrat. Ein Raunen ging durch die Reihen, Blicke wurden ausgetauscht und über Bänke hinweg getuschelt. Auch der Lehrer sah mich etwas verständnislos an. Außerdem war mir, als sehe ich in seinem Blick einen Hauch von Mitleid. Er musste mit Sicherheit denken, dass meine Mutter eine schrecklich zerstreute war, die ihren armen Sohn in kaputte Hosen steckte und ihm ein Tuch um die Nase band. Ich musste unwillkürlich Grinsen. Wenn der wüsste...
“Das ist Suzuki-san. Er ist neu in unserer Klasse. Ich hoffe das ihr ihn gut aufnehmt. Suzuki-san, du kannst dich dort hinten hinsetzen.” leise schlurfe ich durch die Reihen meiner neuen Mitschüler, ignoriere ihre staunenden Blicke und lass mich dann auf den leeren Platz in der hintersten Reihe sinken. Mathematik. Ich konnte es nicht. Ich mochte es nicht. Ich wollte es weder können noch mögen. Also schaltete ich auf Durchzug. Doch meine Ruhe sollte nicht lange anhalten. Ich muss zugeben das ich starrende und penetrante Blicke gekonnt ignorieren konnte, aber wenn sich jemand in mein gelangweiltes Sichtfeld schiebt, gelingt auch mir dieses Kunststück nicht mehr. “Was willst du ?” fahre ich das blonde Wesen neben mir an. Er ist erstaunlich klein, und das soll schon was heißen denn eigentlich sind hier alle ziemlich klein. Ich war für einen 4.Klässler nicht besonders freundlich zu meinen Mitschülern, was aber nicht an meinen Mitschülern selbst oder der Tatsache das ich Bindungsängste hatte lag, sondern eher daran das ich lieber allein war. Es war einfacher nicht ständig auf jemanden warten oder sich dessen Gequatsche über Gott und die Welt anhören zu müssen.
Das blonde kleine Zwergending neben mir war ziemlich hartnäckig. Immer noch starrte es mich an, blinzend, ruhig und neugierig. Ich wurde langsam nervös. “Was willst du?” wiederholte ich gereizt und wand dem Kleinen meinen Blick zu. Endlich zeigte er eine Regung. Er lächelte! Verwirrt hob ich eine Augenbraue. Er war mir unheimlich, ich würde ihn meiden. So mein Entschluss. Doch was ich mir als Ziel gesetzt hatte war schwerer zu realisieren als geplant. Er klebte förmlich an mir! Ich ging aufs Klo - er kam mit. Ich ging ins Sekretariat um meinen Stundenplan abzuholen - er folgte mir. Ich studierte den Aushang am schwarzen Brett - er stand neben mir. “Ok, Kurzer jetzt reichts! Hör auf mir nachzulaufen!”
“Nö.”
Es konnte sprechen! Das erste mal das ein Wort diesen kleinen Mund verlies. Zu meinem Erstaunen musste ich zugeben, das seine Stimme nicht annähernd so hoch und quietschig klang wie ich mir das eigentlich vorgestellt hatte. Im Gegenteil, sie war sehr angenehm weich und überhaupt nicht nervig.
“Dann sag mir wenigstens warum du mich verfolgst.”
“Weil ich dich mag.”
“Aber du kennst mich doch gar nicht.”
“Ich will dein Freund sein.”
“Schön für dich.”
“Ich bin Takanori. Nenn mich Ruki.”
“Wieso denn Ruki?”
“Das ist mein Künstlername. Ich werde mal Rockstar.”
Der Junge hatte einen Schuß. Ganz eindeutig. Hallo?! Wir waren in der 4.Klasse! Wie konnte man denn da schon Zukunftspläne haben? Ich war ja schon froh wenn ich wusste wie ich den nächsten Tag verbrachte um nicht bei meiner Oma auf der Couch zu landen um mit ihr alte vergilbte Fotos anzusehen von denen sie schwärmte und immer wieder zwischen ihrem Gebiss “Sie mal wie knackig die Oma da war” hervornuschelte.
Plötzlich griff Rukis kleine Hand nach meiner kleinen Hand und drückte sie ganz fest. Einem Impuls folgend zog ich ihn zu mir und sah zu ihm hinunter. Ich hatte das Gefühl dieses kleine Wesen beschützen zu müssen. Wie machte er das? Diese großen runden Kulleraugen, seine kleinen pummeligen Patschehändchen. All das weckte in mir den Beschützerinstinkt - Bemerke: in der 4. Klasse ... bin ich nicht ein weit entwickeltes Kind?
“Ich mag dich Suzuki-kun.”
“Das klingt doof. Nenn mich Akira.”
“Ist das dein Künstlername?”
“Nein, mein richtiger Name.”
“Du brauchst einen Künstlernamen. Magst du Musik?”
“Ich lerne Bass.”
“Wir gründen eine Band.”
Fragend sah ich ihn an. Wie konnten wir denn eine Band gründen? Ich hatte Hunger. Ein plötzliches unerwartetes Gefühl das meine Magengegend hinaufkroch und immer stärker wurde, je mehr ich darüber nachdachte. Ich wollte nach Hause. Meine Mutter hatte mir Nudelauflauf versprochen und ich konnte die Sauce bereits bis hier hin riechen.
“... und dann starten wir voll durch!” Ich hatte ihm nicht zugehört. Zu schön war die Vorstellung des Nudelauflaufes. Ein unruhiges Zupfen an meinem Ärmel machte mich wieder auf den Zwerg aufmerksam ( ich weiß ich bin gemein, bin ich doch selbst erst 1.32 m groß ).
“Ich komm mit zu dir. Meine Mama muss arbeiten.”
Er sprach das mit so einer Überzeugung aus, das all mein Widerstand schon im Keim erstickt wurde.
“Es gibt Nudelauflauf.”
“Das ist gut. Ich mag Nudelauflauf.”
Und so verließen wir beide, Hand in Hand mit unseren blond gefärbten Schöpfen das Schulgelände. Wir sahen aus wie Brüder und doch kannten wir uns erst seit exakt 6 1/2 Stunden und 20 Minuten.
Es sollte der Beginn einer langen innigen Freundschaft werden.
Der Nudelauflauf war spitze. Ich freute mich darauf.