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Cold Case

Anthologie
von

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Winter. Momente der Zeitlosigkeit

Der Wind spielte in ihrem Haar und liess es in der Wintersonne glänzen wie gesponnenes Gold.
 

Der Vergleich war alt und abgedroschen und dennoch der einzige Vergleich, der ihm in den Kopf kam, wenn er seine Partnerin ansah. Lilly Rush hatte Haare, die, wenn sie diese offen trug, geradezu dazu einluden, mit der Hand hindurch zu streichen. Man konnte sich bildlich vorstellen, wie weich und sanft das Gefühl sein würde, wenn man sie berührte und ihren zarten Duft einatmete.

Vielleicht war das ein Grund gewesen, warum sie sie immer zu einem strengen Knoten aufgesteckt getragen hatte.

Und jetzt, wo sie sie offen trug, keimte in ihm erneut der Wunsch auf, es zu berühren. Lil zu berühren. Deshalb hielt Scotty Valens gebührenden Abstand zu seiner Partnerin.
 

„Hi, Scotty.“

„Lil.“
 

Drei Buchstaben aus seinem Mund, seine wortkarge Begrüßung für die Frau, bei der Worte längst nicht ausreichen würden, um sie zu beschreiben. Drei Buchstaben für die Frau, die keine Worte benötigte, um ihn zu verstehen.

Sie lächelte ihr übliches, distanziertes Lächeln, welches er in so viele Nuancen einordnen konnte. Heute war es... entspannt. Eindeutig entspannt. Automatisch verschwand die Anspannung auch aus seinen Gliedern.
 

„Wie läuft es so?“

„Gut. Du solltest wieder zurückkommen.“

Lil lächelte wieder und warf ihr Haar zurück.

„Was war das denn? Werde ich etwa vermisst?“

Eine Geste, die er nur zu gut kannte. Scotty schluckte, weil der Kloß, der in seiner Kehle saß und ihn zu ersticken drohte, sich zu verdoppeln schien.

„Vielleicht ist das nicht die beste Zeit, um eine Auszeit zu nehmen“, wagte er sich zaghaft vor.

„Ach was!“

Geringschätzig musterte sie ihn.

„Du hast gerade selbst gesagt, dass alles in Ordnung ist. War das etwa gelogen?“

„Natürlich nicht. Klar kommen wir zurecht. Es ist nur nicht mehr so wie früher.“

Ein Schulterzucken.

„Damit kommt ihr schon klar.“

Keine Antwort. Sollte er sie anlügen? Sagen, dass nichts in Ordnung war? Dass Vera, Jeffries und Kat ihn in letzter Zeit behandelten, als sei er unfähig, ohne seine Partnerin zu arbeiten? Dass der Boss ihn in sein Büro gerufen hatte, um mit ihm über seine berufliche Laufbahn zu sprechen, und angedeutet hatte, dass er sich aus der Mordkommission versetzen lassen sollte? Dass das Büro ihm ohne Lil unglaublich leer erschien, dass er das Gefühl hatte, dass sie gestorben war, weil niemand mehr ihren Namen aussprach?

Himmel, sie war doch nicht rausgeworfen worden – sie hatte lediglich eine Kündigung eingereicht!

Was war daran so schlimm, eine Zeit lang keine Mörder zu verfolgen, alte Morde neu aufzurollen, keine Verdächtigen zu befragen und keine Zeugen aufzusuchen? Selbst der Chef hatte vor Jahren eine Pause eingelegt und war auf seine Jacht gezogen! Und er war wiedergekehrt. Scotty wusste tief in seinem Inneren, dass Lilly Rush ebenfalls wiederkehren würde. Sie brauchte ihre Arbeit ebenso zum Leben wie das Atmen – und eines Tages würde sie wieder in das Büro spazieren, ihren Mantel über dem Arm, und weiterarbeiten, als wäre sie niemals weg gewesen und als wäre nichts geschehen. Und er würde Recht behalten. Nick, Will und Kat würden sehen, dass Lil keine Verräterin war, dass sie sich nicht vor der Verantwortung gedrückt hatte, dass sie nicht...

Dass sie sie nicht im Stich gelassen hatte.

„Worüber denkst du nach?“

Die Frage, die er so gut kannte. Eine rein rhetorische Frage. Lil wusste immer, worüber er gerade nachdachte, er hatte aufgegeben, sich darüber zu ärgern.

Scotty beschloss, das Thema zu wechseln.

„Ich habe nur überlegt, wie es ist, wenn man eine Auszeit nimmt?“, fragte er stattdessen und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war graublau – die selbe Farbe wie Lils Augen. Aber wohin sonst sollte er schauen, ohne dass es offensichtlich wurde, dass er sie anstarrte? Lil verlagerte ihr Gewicht auf dem hohen Stein, auf dem sie saß.

„Entspannend. Beruhigend. Manchmal...“ Sie schien zu überlegen. Scotty wusste, dass sie nach dem passenden Wort suchte, um möglichst korrekt wiederzugeben, was sie empfand.

„Manchmal nervtötend.“

„Nervtötend?“

„Ja.“

Sie lachte leise und er fiel mit ein.

„Immer dann, wenn man nicht weiß, was man mit seiner Zeit machen soll.“

„Und was machst du den ganzen Tag?“

„Ausschlafen. In Ruhe die Zeitung lesen. Spazierengehen. Aufräumen. Gestern habe ich meine Fenster im Badezimmer geputzt. Vielleicht topfe ich heute meine Pflanzen um.“

Scotty runzelte die Stirn. Er war einige Male bei Lil zu Hause gewesen – aber er konnte sich nicht erinnern, dass er je eine Pflanze auf der Fensterbank gesehen hatte. Lil hatte eindeutig keinen grünen Daumen, so brillant sie auch in anderen Dingen war...

„Was für Pflanzen denn?“

Seine Verständnislosigkeit brachte Lil zum Lachen.

„Mein Katzengras, natürlich. Glaubst du, etwas anderes würde bei mir überleben?“

Jetzt musste er auch lächeln.

„Sehr witzig.“

Jetzt war sie damit daran, das Thema zu wechseln.

„Wie geht es Kat“, fragte sie und wirkte wieder ernst. „Ich habe lange nichts mehr von ihr gehört.“

„Ich dachte, sie hat dich angerufen?“, fragte Scotty überrascht. Lil schüttelte den Kopf.

„Aber vielleicht war ich gerade nicht da. Ich war viel... Unterwegs.“

„Vielleicht hat sie auch mit dem Fall gerade so viel zu tun. Ehrlich, Lil, wir könnten deine Hilfe gebrauchen... Er raubt uns allen den letzten Nerv!“

„Das sagt ihr doch bei jedem Fall.“

„Ja, schon, aber... Wir kommen diesmal wirklich nicht weiter“, beendete er lahm.

Lil blinzelte und schien ihn anzusehen – aber ihr Blick glitt durch ihn hindurch. Er konnte sehen, dass sie mit sich selbst rang. Einerseits wollte sie sich nicht in ihre Ermittlungen in einem laufenden Fall einmischen, besonders jetzt, da sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war und jeder Polizist von Philadelphia sie als Verräterin betrachtete. Andererseits verbot ihr ihre angeborene Neugierde, eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen...

Scotty wartete ab. Er kannte sie so gut... Schließlich siegte ihr Wunsch, Gerechtigkeit zu schaffen.

„Erzähl mir davon.“

Ohne echten Triumph darüber zu verspüren, dass er richtig gelegen hatte – eher mit einem unbestimmten Gefühl des Stolzes – verfiel Scotty in den eigenartigen Singsang, in dem die Detectives ihre Berichte wiederzugeben pflegten.
 

„Claudia Winter, 17 Jahre, Schülerin aus Deutschland.

Kam im Dezember 1997 nach Philly, um ihren Großvater zu finden, Samuel Bergmann. Er war nach dem 2. Weltkrieg mit seinen Eltern aus Schlesien ausgewandert und hat sich hier niedergelassen und geheiratet, eine Veronica Fields aus Virginia. Seine Tochter, Clarissa, und ihr Verlobter, Jace Morgenstern, verschwanden während einer Urlaubsreise in Deutschland 81 spurlos, da es im Ausland geschah, gingen die Behörden dem nicht weiter nach. Sechs Jahre später wurden sie und ihre einjährige Tochter Claudia für tot erklärt, man nahm an, dass sie ausgeraubt, getötet und beiseite geschafft wurden. Ihre Leichen wurden jedoch nie gefunden. 97 ist das Mädchen aufgetaucht und behauptete, sie sei die Tochter von Clarissa und Jace und suche ihren Großvater.“

Lil legte den Kopf schief – sie konnte sich denken, was folgen würde.

„Sie ist tot?“

„Ja. Glatter Schuss durchs Herz – der Pathologe sagt, dass sie es nicht einmal gespürt hat. Keine Spuren am Tatort außer der Kugel, aus einer 36er. Und in ihrer rechten Jackentasche ein vergilbter, unleserlicher Zettel. Irgendwo herausgerissen.“

„Hat die Spurensicherung herausfinden können, was darauf stand?“

„Ja. Es war ein Blatt aus einem Abreißkalender, wie man ihn überall bekommt. Auf ihm stand ursprünglich <Und der Wind in deinem Rücken sein.>“

„Das ist doch...“

„Ein Teil eines irischen Segenswunsches“, bestätigte Scotty.

„Möge die Straße...“

„...Uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein. Ein sehr schöner Segen.“

Scotty nickte.

„Jeffries und Vera haben nachgeprüft: in den letzten Jahren sind solche Abreißkalender mit Sprüchen nur so aus dem Boden geschossen. Es ist unmöglich, das Blatt einem bestimmten Kalender zuzuordnen – besonders, da wir nur einen Teil des Blattes haben.“

Langsam schloss Lil die Augen, um zu überlegen, und öffnete sie wieder.

„Was meint Kat?“

Auf die Instinkte ihrer Freundin konnte man sich eigentlich verlassen.

„Kat denkt, dass das Kind ihren Großvater gefunden hat, dass sie etwas in der Hand hat, das ihm nicht gefällt, und dass er deshalb durchgedreht ist und sie erschossen hat.“

Lil nickte. Sie sammelte Informationen. Sie war auf der Jagd – in ihrem Revier. Scotty dachte nicht daran, sie von ihrer Spur abzulenken.

„Wo habt ihr sie gefunden?“

„Im Delaware.“

Lils Kopf ruckte hoch.

„Ja?“

„Ja.“

„Das tut mir leid.“

Ihre ruhige Stimme brachte ihn aus dem Konzept. Klang er noch immer so verbittert?

„Das braucht es nicht.“

Und er spürte, tief in sich, dass er die Wahrheit sagte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass es ihr wirklich nicht leid zu tun brauchte, dass er darüber hinweg war, was mit Alyssa geschehen war. Die Zeit – sie heilte die Wunden nicht. Aber sie verstrich. Unaufhaltsam.

Dennoch.

Hier, in diesem Moment, mit Lil auf einem Friedhof – warum hielt sie sich an einem Sommertag auf dem Friedhof auf? – fühlte er sich, als stünde die Welt still. Als hielte die Zeit den Atem an... Einen endlosen Moment lang.
 

Lil musterte ihn und er versank in ihren Augen. Dann nickte sie und Scotty wusste, dass sie seine Wahrheit akzeptiert hatte. Mehr brauchte es nicht.

„Sie trug eine Tasche voller Kleidung bei sich“, teilte er seiner ehemaligen Partnerin mit.

„Und ein Rückflugticket nach Düsseldorf – über JFK.“

„Habt ihr den Großvater überprüft?“

„Mustergültiger Bürger. Lebt mit seiner zweiten Frau zusammen, nachdem die erste gestorben ist. Wohl an gebrochenem Herzen über den Verlust von Tochter und Schwiegersohn. Hat weitere 4 Enkel, mehrere Katzen und einen Hund. Saubere Akte, nur einen Strafzettel für Falschparken. Und – er besitzt nicht einmal einen Waffenschein.“

„Den muss er auch nicht unbedingt haben“, gab Lil zu bedenken.

„Der Mann ist ein Feigling. Als wir ihm Bilder von der Leiche gezeigt haben, ist er zusammengebrochen. Der hat nie im Leben einen Mord begangen.“

Lils Stirn legte sich in Falten.

„Vielleicht, Scotty. Vielleicht auch nicht.“

Sie schwieg einen Moment und fragte dann: „Hatte sie Familie?“

„Adoptiert. Ein deutsches Ehepaar, einen älteren Bruder. Sie haben das Kind wohl gefunden und aufgezogen.“

„Haben sie es den Behörden nicht gemeldet?“

„Doch. Aber als keine Vermisstenanzeige aufgegeben wurde...“

„Verstehe.“

„Sie wollen herkommen, um ihren Körper nach Deutschland zu überführen“, fügte Scotty leise hinzu. „Sie scheinen sie sehr geliebt zu haben.“
 

Eine Weile lang schwiegen beide, Lil in ihre Gedanken versunken, Scotty mit dem Gefühl, dass es gut tat, sie endlich wieder denken zu sehen. Wie sehr er es vermisst hatte.

„Was hat sie gemacht, seit sie nach Philadelphia gekommen ist?“, fragte sie plötzlich und er schreckte hoch.

„Wie bitte? Ja. Sie hat in einer Youth Hostel übernachtet, einer recht billigen Absteige, die aber nah an der Adresse ihres Großvaters liegt. Sie hat sich die Stadt angeschaut – das wissen wir von der Empfangsdame, die Claudia die Sehenswürdigkeiten auf einer Karte markiert hat – und ihren Großvater getroffen, und das wissen wir von ihm. Sie hat ihm wohl einen Brief geschickt, hat seinen Namen durch eine Behörde rausgekriegt. Angeblich wusste er also von ihr, aber nicht, dass sie in Philly war. Ihr Besuch kam völlig überraschend.“

„Könnte das ein Motiv gewesen sein?“

„Ich glaube nicht. Warum sollte Samuel Angst vor dem Kind seiner verschollenen Tochter haben?“

„Da ist etwas faul“, sagte Lil leise und zu niemandem bestimmten.

Scotty fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Ja – aber was?“
 

Er hatte sich mehr erhofft. Er war hierhergekommen, weil er gehofft hatte, dass Lil – wie schon so oft – eine Lösung für ihre Probleme finden würde. Dass sie den einen losen Faden im Webteppich der Geschichte finden würde, den sie bisher beständig übersehen hatten.

Aber Lil saß hier, nahm sich eine „Auszeit“ von ihrem Job und genoss den Sonnenschein, der auf ihr Gesicht fiel. Die Blumen zu ihren Füßen leuchteten kurz auf. Was zum Teufel tat sie auf einem Friedhof? Er wusste nur einen Grund, warum sie hierher kommen sollte: Ihre Mutter war hier beerdigt. Aber heute war nicht der Jahrestag von deren Tod. Anscheinend war es eine einfache Laune von ihr gewesen, die sie hierher geführt hatte und die ihm auf seinen Anruf hin vorgeschlagen hatte, sich hier mit ihm zu treffen...

Lil hatte schon immer ihr eigenes Wesen gehabt.
 

„Sag nochmal, Scotty. Was war mit ihrer Mutter?“

Er seufzte. Das hier war sinnlos. Kat hatte Recht gehabt – Lil hatte ihre besten Tage hinter sich. Seit den Ereignissen der letzten Jahre hatte ihr Verstand an Schärfe eingebüßt, wie es schien. Aber wer konnte es ihr übel nehmen? Es war so viel geschehen.

„Clarissa Bergmann. Biologin. Hat Claudia mit etwa 22 Jahren zur Welt gebracht, in einem Krankenhaus in der Nähe von Minneanapolis, wo sie damals studierte und arbeitete. Verlobt zu dem Zeitpunkt mit Jace Morgenstern, einem jüdischen Professor an ihrer Universität. Er war 5 Jahre älter als sie, aber ihre Beziehung hielt selbst über die Geburt von Claudia hinaus und sie hatten beschlossen, im nächsten Jahr zu heiraten.“

„Was ist mit ihm?“

„Tot. Wie auch seine Frau.“

„Hat man ihre Leichen denn inzwischen gefunden?“

„Ja, hat man...“

Scotty stockte.

„Nein“, sagte er schließlich leise. „Sie wurden von den deutschen Behörden für tot erklärt. Man hat ihre Leichen nie gefunden.“

„Könnten sie noch am Leben sein?“
 

Da war es wieder: Der Grund, warum Lil so brillant gewesen war. Oder so brillant war? Sie hatte mit ihrem untrüglichen Spürsinn wieder die eine, winzig kleine Unstimmigkeit gefunden, die die Detectives der Mordkommission nicht hatten finden können. Die sie schlicht und ergreifend übersehen hatten. Deshalb brauchten sie Lil.

Deshalb musste sie wiederkommen.

Und Scotty schämte sich abgrundtief dafür, geglaubt zu haben, dass Lil an Initiative und Schärfe verloren haben sollte.
 

„Was für eine weithergeholte Möglichkeit!“

„Aber immerhin eine Möglichkeit. Vielleicht sind die Morgensterns einfach untergetaucht?“

„Warum hätten sie verdammt noch mal untertauchen sollen?“

„Weil sie bedroht wurden?“

„Aber von wem!“

Scotty warf die Arme in die Luft und erhielt keine Antwort. Er atmete tief ein.

„Du glaubst also, dass Claudias Eltern noch am Leben sind und sich versteckt haben, weil irgendwer hinter ihnen her ist? Und dass deshalb ihre Tochter ermordet wurde?“

Lil zuckte scheinbar unbeteiligt die Schultern.

„Vielleicht wollte man den Aufenthaltsort ihrer Eltern aus ihr herauspressen.“

„Den sie nicht wusste.“

„Nein. Denn sie denkt, ihre Eltern sind tot. Sie lebt bei ihren Adoptiveltern.“

„Also haben ihre Eltern sie zurückgelassen, damit sie nicht in Gefahr geraten würde.“

„Was leider doch geschehen ist, als sie den Namen ihres Großvaters herausgefunden hat und ihn aufgesucht hat.“

„Das bedeutet...“

„Der Mann ist in Gefahr.“
 

Kaum war Lils leise Stimme verklungen, hatte Scotty schon sein Mobiltelefon aus der Jackentasche gerissen, wählte fieberhaft eine Nummer und hielt sich das Gerät ans Ohr.

„Kat! Hör mir gut zu!“

Schnell und eindringlich redete er auf seine Kollegin ein.

„Nein, wartet nicht auf die offizielle Erlaubnis! Holt diesen Mann und seine Familie da raus!“

Wütend klappte er das Telefon wieder zu und rammte es in seine Tasche.

„Aus welchem Grund würde jemand die Bergmanns oder Morgensterns verfolgen?“

Lil legte den Kopf schief. Sie liess sich nicht von seiner Wut aus der Fassung bringen und dafür liebte er sie. Er atmete tief durch und fing sich wieder.

„Clarissa Bergmann hat als Biologin an der University of Minneanapolis an einem Projekt zur Stammzellenforschung gearbeitet...“

Lil schloss die Augen.

„Was haben sie da entwickelt?“, flüsterte sie.

„Es muss etwas wichtiges gewesen sein, wenn sie dafür verfolgt werden“, presste Scotty hervor. Er wollte wieder nach seinem Telefon greifen, liess es aber doch in der Tasche und sah Lil an.

„Ich muss los. Vielleicht gibt es irgendwo Hinweise auf die Forschungsergebnisse... Bisher waren alle Akten für uns nur gesperrt. Vielleicht finde ich einen Richter, der uns die Erlaubnis gibt, die Sicherheitsbeschränkungen aufzuheben. Vielleicht finden wir so heraus, wer die Morgensterns verfolgt, vielleicht können wir so Clarissa und Jace finden, und vielleicht...“

„Sind das nicht sehr viele Vielleichts?“

Lil legte prüfend den Kopf schief. Scotty sah sie ernst an.

„Seit wann lassen wir uns davon entmutigen?“

Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf, breitete sich langsam über ihr gesamtes Gesicht aus und wärmte ihn von innen.

„So kenne ich dich.“
 

Unwillkürlich streckte Scotty die Hand aus, um sie zu berühren.

Lils Ausdruck veränderte sich nicht: noch immer sah sie ihn lächelnd an. Er liebte sie: diese Frau, die ihn ohne Worte verstand, die uneingeschränktes Vertrauen in seinen Charakter und seine Fähigkeiten setzte, die ihm immer half, wann immer er sich verzettelte, immer für ihn da war. Erneut erschien ihm der Moment wie losgelöst von der Zeit, schwebend im Universum... Er und Lil und niemand sonst. Und er liebte sie so sehr.

Er öffnete den Mund, um seine Gedanken auszusprechen, als ein Motorengeräusch hinter ihm laut wurde und die Reifen eines Autos quietschend am Tor zum alten Friedhof hielten.

Als hätte er sich verbrannt, liess er die Hand fallen und fuhr auf dem Absatz herum.
 

Im schwarzen Wagen vor der Einfahrt saßen drei bekannte Gestalten, von denen eine ihm durch das geöffnete Fenster etwas zuzurufen schien.

„Bergmann...“, hallte leise durch die Sommerluft und brachte einen ganzen Schwall an Sorge und Anspannung mit. Scotty fuhr erneut herum, diesmal, um Lil anzusehen. Diese musterte ihn noch immer mit ihrem eigenen, halb spöttischen, halb liebevollen Blick.

„Ich muss los“, sagte er, verbannte die Anspannung aus seiner Stimme und sah sie lächeln.

„Ich weiß.“

„Also dann...“

Mit einem letzten Blick – einem letzten Versprechen – drehte Scott Valens sich endgültig um und stapfte den langen Weg zum Torbogen im Eilschritt hinunter, dem nun hupenden Wagen entgegen. Eine Tür öffnete sich und man winkte ihm ungeduldig. Trotz regte sich in ihm – sie hatten seine Zeit mit Lil gestört – aber er zwang sich, nicht absichtlich langsamer zu gehen. Das Gefühl von Lils Lächeln hinter ihm war übermächtig.

Der Wind rauschte durch die Bäume und strich durch ihr Haar.
 

Im Wagen beobachtete Kat ungeduldig den sich nähernden Scotty und die langen Reihen von alten Grabsteinen hinter ihm, die in der Sonne glänzten. Nervös trommelten ihre Finger auf das Lenkrad.

„Woher wusste er das“, schimpfte sie und es klang mehr wie ein Fluch.

„Verdammt, verdammt, verdammt!“

„Er hatte halt eine Eingebung“, sagte Jeffries ruhig. Er liess sich nie von ihrer Nervosität anstecken und manchmal hasste sie ihn dafür.

„Zum Glück“, brummte Vera mißmutig.

„Ja, zum Glück!“

Kat merkte nicht, dass sie fast schrie.

„Diese Familie hätte in ihrem eigenen Haus in die Luft gesprengt werden können! Hätte er das nicht schneller herausfinden können? Verdammt!“

Ihre Kollegen schwiegen.

Kat holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg.

„Ich frage mich sowieso, warum er ständig hier ist“, brummte sie schließlich wütend. „Warum kann er nicht im Büro arbeiten, wie alle normalen Leute?“

„Ich nehme an, er kommt hierher, um mit Lil zu sprechen“, sagte Jeffries und machte eine Kopfbewegung zum Friedhof hin.

Entgeistert sah Kat ihn an.

„Wie bitte?“

Aber der Blick, mit dem sie den nun angekommenen Scotty nun musterte, war mehr als nur misstrauisch – er war besorgt. Und er spiegelte die selbe Sorge, wie sie auch in Jeffries und Veras Augen zu lesen war.

Scotty bemerkte nichts davon.

„Es hat irgend etwas mit Clarissas Projekt zu tun“, sagte er eilig und warf die Tür hinter sich zu. „Was ist mit der Familie?“

„Hol bitte Luft und fang nochmal ganz vorne an“, grummelte Kat griesgrämig und liess den Motor aufheulen. „Wir sind wohl doch nicht so genial wie du, also lass uns an deinen Gedankengängen teilhaben.“
 

Als das Auto sich in Eile entfernte, warf Scotty einen letzten Blick zurück auf den Friedhof.

Lil saß genau da, wo er sie verlassen hatte: auf dem alten Grabstein. Ihr langes Haar flatterte leicht im Wind. Als er leicht eine Hand hob, lächelte sie und beantwortete die Geste. Die Sonne umtanzte ihre kleiner werdende Gestalt, bis sie nicht mehr zu sehen war.
 

Im Rückspiegel folgte Kat Scottys Blick.

Der alte Friedhof war wie ein Mahnmal: Drohend still und vollkommen leer.



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