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Cold Case

Anthologie
von

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Cold Case - Herbst. Zurückgelassen

„Nur weil du mich einmal geliebt hast, musst du mich nicht für alle Zeit lieben“, sagte Lil sanft.
 

*
 

Scotty Valens betrachtete seine Partnerin, die vor ihm am alten, abgenutzten Tisch mit den Kaffeerändern darauf saß. Lilly Rushs Haare waren hochgesteckt, ihr Pony fiel ihr wieder lang ins Gesicht und umrahmte ihr schmales Profil. Lang gefiel es ihm eindeutig besser als damals, als sie es noch kurz getragen hatte – damals.
 

Lil hatte ausgesprochen, was er all die Zeit lang mit sich herumgetragen hatte. Sachlich, ruhig, mit dem kleinen Lächeln auf dem Gesicht, welches sie immer trug, wenn sie ihn durchschaut hatte. Niemand konnte so gut in ihm lesen wie sie. Sie hatte vollkommen Recht, wie immer. Nur, dass er es noch nie gewagt hatte, diese Möglichkeit – diese Tatsache – laut zu äußern. Warum? Vielleicht aus Angst. Wovor? Vielleicht vor der Möglichkeit an sich. Warum? Vielleicht, weil er Angst hatte. Wovor? Vielleicht...
 

Lil war die einzige Person, die so in ihm lesen konnte.

Und Cecilly war eine wunderbare Frau.

Wie lange waren sie bis jetzt zusammen gewesen? Jahre lang. Jahre, in denen er das Zusammensein mit ihr genossen hatte, mit ihr gelacht und geweint hatte, Jahre, in denen er mit ihr geschlafen hatte... Und mittlerweile konnte er sich nicht mehr vorstellen, ohne sie leben zu wollen.

Wenn sie lachte, musste er auch lachen. Ihr Charme, ihre Tatkraft, ihr Witz – alles erinnerte ihn an Elissa und doch nicht an Elissa. Cecilly war so offen und fröhlich, dass er sich manchmal davon überrumpelt fühlte. Aber ihre Offenheit war es, die ihn von Anfang an so angezogen hatte. Die Frau, in die er sich verliebt hatte, hatte er erstmals getroffen, als sie ihn überrumpelt hatte – in seiner eigenen Wohnung. Cecilly war freiberufliche Journalistin und hatte an dem selben Fall recherchiert, den Scotty vor Jahren bearbeitet hatte. Sie hatte irgendwie – sie lachte noch heute darüber und behauptete, sie dürfe ihre Quellen nicht preisgeben – seine Adresse herausgefunden und kurzerhand beschlossen, ihn aufzusuchen, um ein persönliches Statement von ihm zu erhalten. Sie hatte es nicht bekommen, aber sie hatte nicht locker gelassen.

Um es ehrlich zu sagen, hatte Scotty sich damals regelrecht überrannt gefühlt. Die Frau war wie ein Derwisch in seine Wohnung geplatzt, hatte sich geweigert zu gehen, bis er ihr nicht mehr über den Mordfall erzählte. Er hatte es nicht getan, stattdessen mit einer Anzeige gedroht. Hausfriedensbruch. Sie hatte nachgegeben. Hatte ihn stattdessen am Morgen im Büro abgefangen. Nick und Will hatten eine Woche lang darüber gelästert, wie unfähig Scotty sich gezeigt hatte, die kleine, zierliche Frau loszuwerden, die ihn nach Informationen piesackte.
 

*
 

Es war nicht das einzige, was ihn an ihr anzog.

Es war ihre Lebendigkeit, ihr Charakter, die Stärke, die in der kleinen Frau steckte – im Vergleich zu Lil war sie ein Winzling – aber auch ihre Ehrlichkeit, was ihre Schwächen anging. Sie hatte sie niemals versteckt.

Durch ihre Offenheit hatte sie Scotty eine neue Welt gezeigt, eine neue Art zu leben. Eine Alternative zu den dunklen und muffigen Gängen des Archivs, in dem sie ihre Mordfälle heraussuchten, zu der ständigen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, von denen letztendlich nichts erreicht wurde. Eine Alternative zu der nie endenden Konfrontation mit Trauer, Schmerz und Verlust.

Zu Anfang war er sich unsicher gewesen, hatte Schuldgefühle verspürt.

Cecillys Welt unterschied sich so stark von der seinen – war angefüllt mit Freundlichkeit, Hoffnung und Licht – sodass es ihm unmöglich erschien, dass er ein Teil dieses Lebens werden konnte. Er gehörte, genausowenig wie Lil, in eine solche Welt, in der die Tragödien der längst vergessenen Tage wieder aufgerollt wurden, eine Welt, in der Morde im Prinzip so unwirklich erschienen wie Schnee an einem heißen Sommertag. Cecilly liebte fröhliche Themen, Kindergeburtstage, Eröffnungen von Bibliotheken, Schulfeste, Frühlingsanfänge.

Wie konnte er...

Letztendlich hatte ihn jemand praktisch dazu zwingen müssen, sich auf die Beziehung einzulassen – Lil. Wie sie es geschafft hatte, wusste er bis heute nicht so genau, hegte aber den Verdacht, dass sie sich mit Cecilly abgesprochen hatte. Sie hatte immer gewusst, was nötig war, um ihn zu etwas zu bringen, und dafür war er dankbar.

Seitdem war er mit Cecilly Waylandt zusammen und konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so... so frei und glücklich gefühlt hatte. So lebendig.

Cecilly hatte ihn aus den Archiven geholt, hatte ihn praktisch dazu gezwungen, mehr Zeit am Tageslicht zu verbringen. Nahm ihn mit auf Ausflüge, schleppte ihn zu Picknicks und zu Kinovorstellungen und ging mit ihm Essen. Mit ihr waren auch die Ängste verschwunden, die lähmende Vorstellung, sein Leben würde für immer in solchen Bahnen verlaufen wie zuvor. Mit ihr konnte Alyssa in Frieden ruhen. Sie hätte nicht gewollt, dass er sein Leben vergeudete. Lil hatte ihm das so oft gesagt. Es war das einzige Mal, an das er sich erinnern konnte, dass sie jedoch nicht weiter nachgehakt hatte und er ihr nicht geglaubt hatte.
 

*
 

Sie waren zusammengezogen.

Cecilly hatte ihn gefragt, ganz entgegen ihres Charakters. Sie liebte ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit, ihre Rückzugsmöglichkeit. Er hatte eingewilligt, weil er gesehen hatte, wie viel Überwindung es sie kostete und weil es ihm so viel bedeutete. Es war wie ein Wunder, jeden Tag neue Seiten an der Frau kennenzulernen, die er liebte.

Zum Beispiel die Art, wie ihre Haare Morgens nach allen Seiten abstanden, wenn sie aus dem Bett stieg, ihren langen, geflochtenen Zopf, welchen sie nur Nachts trug, irgendwie vollständig aufgelöst.

Wie sie eine definierte Masse an Unordnung kreierte, wenn ihr der Raum zu penibel aufgeräumt erschien.

Wie ihr Laptop jeden Tag an einer anderen Ecke des Raumes stand, weil sie „immer an einer anderen Stelle“ sitzen wollte, wie ihr Shampoo nach Apfelblüten duftete und wie sich ihr kleiner, weicher Körper Nachts an ihn schmiegte.

Wie sie leise seufzte, wenn er sie küsste...

Nur ihr Kaffee war eine ab-so-lute Katastrophe.

Aber sowieso war Lils Kaffee der Beste der ganzen Welt, das stand unverrückbar fest.
 

*
 

Jetzt saß sie – Lil – ihm in der kleinen Küche der Mordkommission gegenüber, an dem alten Tisch, der von seiner ursprünglichen Farbe nichts mehr zeigte. Ihre langen Beine waren übereinander geschlagen, ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet. Ihre blonden Haare glänzten im Licht der grellen Neonröhren.

Sie war in jeder Eigenschaft ein Gegenteil von Cecilly...

Blaugraue Augen bohrten sich in seine, während sie auf eine Antwort wartete. Scotty schreckte auf.

„Wie bitte?“
 

„Nur weil du mich einmal geliebt hast, musst du mich nicht für alle Zeit lieben“, wiederholte sie sanft. Als ihm die Bedeutung ihrer Worte endlich bewusst wurde, sank er tief in seinen Stuhl zurück, aber ihrem forschenden Blick entging nichts.

„Du liebst sie doch. Ihr seid seit mehr als Dreieinhalb Jahren zusammen. Du willst sie doch auch heiraten – warum zögerst du noch?“

Scotty betrachtete konzentriert einen undefinierbaren Fleck auf der Tischplatte.
 

„Ist es so...“ Er räusperte sich hilflos. „War es so offensichtlich?“
 

Lil lächelte nur.
 

Was nicht unbedingt eine Antwort war – und vor allem nicht die, die er sich eigentlich erhofft hatte. Er war so schlau wie zuvor. Lil war seine Partnerin gewesen, seit er aus der Drogenkommission in die Mordkommission versetzt worden war. Sie hatte ihn eingeführt, ihm alles beigebracht, was sie wusste. Im Gegenzug hatte er sein Wissen mit ihr geteilt und durch einige unglückliche Verwicklungen auch Teile seines Lebens. Ein Themenbereich, in dem sie sich immer bedeckt gehalten hatte, weil es in ihrer Natur lag. Dennoch war er nicht umhin gekommen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Genauso wenig, wie er umhingekommen war, in der anscheinend so starken, selbstbewussten und unverletzlichen Frau eine ganz andere Persönlichkeit kennen zu lernen. Vielleicht – vielleicht hatte er sich auch ein wenig in sie verliebt. Vielleicht war das der Grund für seine Beziehung zu Christina gewesen... Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass Lil einmal so wie ihre jüngere Schwester gewesen war. Bevor das Leben seine Grausamkeit gezeigt hatte. Aber war es Liebe gewesen... Oder Freundschaft, oder – er schauderte bei dem Gedanken daran – Mitleid? Oder Liebe?
 

„Lil, ich...“
 

Was sollte er sagen? Dass er sich von ihr nicht angezogen gefühlt hatte? Dass er nun zögerte, die Frau zu heiraten, die ihm einen Antrag gemacht und mit der er seit anderthalb Jahren zusammenlebte, weil er Angst hatte, ihre Gefühle zu verletzen?

Dass es nicht so gewesen war, wie sie dachte? Sie hatte schon Recht.

Dass er sie nie geliebt hatte?

Er hatte es... Glaubte er zumindest.

Dass es keine Rolle mehr spielte?

Es musste eine Rolle spielen, ansonsten wäre er nicht hier und würde sich das Gehirn zermartern, was er sagen sollte.

Also?
 

Langsam atmete er aus, schüttelte den Kopf und begegnete endlich dem Blick aus den unendlich tiefen blaugrauen Augen.
 

„Du hast Recht“, sagte er schliesslich und verzog sein Gesicht zu einem halben Grinsen. Lil schenkte ihm die andere Hälfte.

Da war sie wieder – die unglaubliche Perspektive, mit der Lilly Rush alles wieder ins rechte Lot bringen konnte, was verrückt war. Egal, wie verrückt es war.
 

„Aber du kommst doch zur Hochzeit, oder?“, fragte er.

Lil kreuzte die Arme vor der Brust.

„Nichts könnte mich davon abhalten.“
 

*
 

An dieses Gespräch musste Scotty denken, als er eine Woche vor seiner Hochzeit mit Cecilly an der langen, festlich gedeckten Tafel saß und auf den leeren Platz ihm gegenüber starrte.

„Das Gedeck und die Blumenarrangements sind wirklich wundervoll!“, flüsterte Cecillys Mutter ihm zu und lächelte.

„Die Feier wird perfekt sein!“

Ebenfalls lächelnd stimmte Scotty ihr zu und schob den Gedanken beiseite, dass man doch ein Abendbrot – sei es nun ein festliches oder nicht – nicht unbedingt proben musste... Aber hier hatten die Eltern der Braut nun einmal das Sagen, und es kostete ihn wirklich nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes! Cecilly hatte Tränen gelacht, als er es so ausgedrückt hatte... Und er hatte mitlachen müssen. Ihr Gelächter war so ansteckend.
 

Aber sie hatte wie immer Recht behalten – er langweilte sich kein bisschen. Das Licht, die Farben, die Kerzen – alles war perfekt. Nur übertroffen von Cecilly, die sich neben ihm – in einem atemberaubenden, raschelnden Seidenkleid – mit seinem Bruder unterhielt. Lediglich eine Sache schien zu fehlen... Scottys Stirn runzelte sich und er liess seinen Blick über die besetzten Stühle schweifen, bis er – beinahe unbeachtet und vergessen – ein leeres Gedeck entdeckte. Der dazu passende Stuhl war an die Wand geschoben worden – und fiel dort nicht weiter auf. Anscheinend war einer der geladenen Gäste nicht erschienen... Aber wer?

Cecilly, die sich zu ihm umgedreht hatte, musste seinem Blick gefolgt sein, denn sie legte ihm auf eine irgendwie beruhigende Art und Weise die Hand auf den Arm. Das Prickeln, welches einer Berührung von ihr normalerweise folgte, blieb nun aus, denn ihm wurde kalt.

„Keine Sorge“, hauchte ihre rauchige Stimme nahe seinem Ohr.

„Sie wird aufgehalten worden sein. Bestimmt kommt sie gleich.“
 

Sie. Lil.
 

Lil war nicht da. Wie hatte er dies nicht bemerken können? Die Tatsache, dass seine Partnerin und beste Freundin nicht bei der Probe seines Hochzeitsdinners dabei war, war einfach so seiner Aufmerksamkeit entschlüpft. Wie hatte das passieren können?

Rasch nickte er, als würde er seiner Verlobten Glauben schenken, und hob das Weinglas. Der Chardonnay rann bitter seine Kehle hinunter und vermochte es nicht, das Gefühl hinwegzuspülen, welches ihn mit einem Mal überkam, welches er jedoch nicht einordnen konnte...
 

Durch die Tür am Ende des Saales schlüpfte eine hochgewachsene, schlanke Frau herein und strich einige Strähnen ihres Haares, welche aus dem Knoten entkommen waren, aus ihrem Gesicht. Scottys Partnerin trug ein helles Kleid, welches sie sich ebenfalls abwesend glattstrich. Ihre blaugrauen Augen musterten aufmerksam den Saal und blieben an dem Kellner hängen, der ihr entgegengeeilt kam, um ihr den Mantel abzunehmen. Dann warf sie Scotty einen entschuldigenden Blick zu, eilte zu ihrem Platz und zog den Stuhl an den Tisch heran. Ungefragt und mit großen Augen machten die beiden unreifen Männer zu ihrer Linken und Rechten Platz. Das Lächeln, mit dem sie belohnt wurde, versetzte sie in den Siebten Himmel und Scotty in einen immer unerklärlicher werdenden Gefühlsaufruhr.
 

„Entschuldigt bitte“, sagte sie sowohl zu Scotty als auch zu Cecilly.

„Es gab einen Zwischenfall – ich wurde festgehalten.“

„Das macht doch nichts!“, entgegnete Cecilly und winkte ab. „Sie sind ja jetzt da – das ist die Hauptsache.“
 

Scotty sagte nichts.
 

Lils rote Lippen wurden von der Farbe ihres Kleides nur noch mehr betont.

„Sollten Sie nächste Woche zu spät kommen, werden wir nicht auf Sie warten!“, hörte er wie von Ferne Cecillys Frotzelei, und Lils Antwort:

„Immerhin haben Sie heute mit dem Nachtisch auf mich gewartet. Mehr kann eine Frau nicht verlangen!“
 

Zwei Stimmen erklangen im gemeinsamen Gelächter.

Lil: leise und hell.

Cecilly: laut und herzlich.
 

„Waren Sie an einem Fall?“

„Nicht direkt. Ein alter Kollege meines Chefs hatte eine Bitte... Ich konnte unmöglich gehen, bevor er mich entließ. Das ist das Problem, wenn man für den Staat arbeitet.“

„Sie sollten es in Betracht ziehen, so wie ich freiberuflich zu werden! Ich kann meine eigenen Sachen erledigen, muss niemandem Rechenschaft leisten, rechne meine eigenen Ausgaben ab...“

„Sie können jeden Schreibtischhengst beschimpfen, ohne die Konsequenzen zu fürchten. Das lobe ich mir!“

„Ja, genau so.“

„Ging es um einen Mord? Mit Sicherheit. Darf man nach Einzelheiten fragen?“

„Cecilly, Sie möchten die doch gar nicht kennen.“

„Da haben Sie Recht. Neugierde, schätze ich!“

„Die beste Eigenschaft eines Journalisten.“
 

Das Tiramisu schmeckte stark nach Alkohol. Scotty schob es unauffällig auf die Seite und widmete sich einem Stück Marzipan, welches als Dekoration auf der Torte gelegen hatte. Sein Kopf war völlig leer. In ihm tobte ein Wirbelsturm. Die Nacht vor den großen Fenstern war schwarz.
 

*
 

Irgendwann am Abend blickte er auf und sah das Lächeln auf Lils Gesicht.

Und weil es Lils Lächeln war – das leichte, fast schon spöttische Verziehen des Mundwinkels, das Hervortreten des kleinen Grübchens auf dem Kinn, fast unsichtbar, der Ausdruck mit einer Mischung aus Wehmut und Sehnsucht, Amüsement und Ironie und echter Freundlichkeit...

Weil es Lil war, die ihm gegenübersaß, die gekommen war, obwohl er sie in den Archiven der Mordkommission zurückgelassen hatte, die hier saß und mit der Frau sprach, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte....

Weil es Lil war, die er zurückgelassen hatte, flüsterte er hastig Cecilly eine gemurmelte Entschuldigung ins Ohr, stand abrupt auf und verliess im Laufschritt den Saal.
 

Verwirrte Blicke folgten seinem Abgang.



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