Ruhepol
Nein, von hier geht’s nur nach Nirgendwo
1. Kapitel – Ruhepol
Die Stille, nach der er sich Zeit seines Lebens gesehnt hatte, brannte in seinen Ohren. Lauter, als jedes Geräusch es könnte. Lauter, als alles , was es auf der Welt gab. Spott, Hohn. Nicht zu vergleichen mit der Stille. Er war es nicht wert, dass jemand mit ihm sprach.
Nichts könnte ihm bei Rosenkreuz helfen? Was sollte ihm helfen? Wer sollte ihm helfen. Seine Kräfte waren schlecht. Bösartig. Sie würden Probleme bringe, so, wie sie es schon sein ganzes bisheriges Leben getan hatten.
Vielleicht… vielleicht wurde ihm verziehen, wenn er normal würde? Vielleicht… Er durfte sie nicht einsetzen. Niemand durfte davon wissen, wie, was er war. Bösartig. Abnormal. Eine Kreatur, die man am besten sofort tötete.
Nicht mehr, als ein Ziel für Steine.
Monster.
Glatte Wände, glatter Boden. Selbst die Decke, die kaum so hoch war, dass er stehen konnte, war glatt. Kalte Wände. Kalter Boden. Kalte Glätte.
Die Handschellen, mit denen man ihm die Hände hinter dem Rücken zusammengekettet hatte, bestanden aus glattem, kaltem Stahl. Nagi fühlte sich, als hätte Rosenkreuz ihn einfach vergessen. Es gab keine Schläge. Keinen Hohn. Keine Befragungen.
Selbst die Gerüche waren aus seiner Welt verschwunden. Der Gestank nach Urin und Kot war irgendwann für ihn… nicht mehr da gewesen.
Das Einzige, was es noch gab, war Geschmack. Nagi biss sich die Lippen blutig, immer und immer wieder. Um etwas zu tun. Um zu wissen, dass es ihn noch gab. Wer Blut in seinem Körper hatte, der lebte. Er hatte diese Erfahrung schon sehr früh gemacht.
Um nicht zu schreien. Zu flehen. Dass man ihn schlug, dass man irgendetwas mit ihm tat. Dass man ihn nicht vergaß. Nagi wimmerte. Schmerz grub sich durch seinen Körper.
Er hatte jegliches Gefühl für die Zeit an diesem Ort verloren. Sie hatte keine Bedeutung mehr. Sekunden, Minuten verstrichen. Bewegungslos. Zeitlos. Er war in seiner Welt gefangen, eine Welt ohne andere Personen.
Stunden. Tage. Wochen. Wie lange? hatte er sich gefragt. Wie lange schon? Wie viel Zeit war schon vergangen? Aber die Fragen waren unwichtig geworden. Zeit war unwichtig geworden.
Er war unwichtig. Immer.
Was war mit den anderen passiert? hatte er sich gefragt? Was war mit ihnen passiert? Aber nicht lange. Er hatte schon bald mit den Fragen aufgehört. Doch diese hier war wichtig! Immer. Doch sie schmerzte. Es tat weh!
So weh… Viel mehr, als sein nun tauber Körper. Viel mehr als Schläge es hätten tun können. So viel mehr…
Schmerz. Schmerz ohne Blut.
Toter Schmerz, der alles in ihm beherrschte.
Nagi kauerte am Boden, Arme und Beine gefesselt. Hunger und Durst waren unreal geworden, genauso wie er selbst. Ein schwaches Tropfen war das einzige Geräusch, das er hörte.
Blut. Blut war… real? Ja. Irgendetwas musste real sein.
Nagi grub seine Zähne in die Wunde, riss schmale Hautfetzen von seinen trockenen Lippen. Nicht trocken. Blutig. Blutvoll. Blutüberströmt. Feucht und warm und lebendig lief es an seinem Kinn hinab.
Tropf.
Tropf.
Tropf.