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Oh, Tannenbaum

Eine Weihnachtskurzgeschichte
von

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„Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätteeer ... Du grünst nicht nuuur zur Sommerszeiit, nein auch im Wiinter wenn es schneiit ...“, kam es von der anderen Straßenseite, läutend aus einem Drogeriemarkt, verziert mit lachenden Plastikweihnachtsmännern und kitschig gestreiften Zuckerstangen und mit Neonlichtern beleuchtet. Eine alte Frau kam gerade heraus, links eine große, bis zum Rand befüllte Plastiktüte mit der Aufschrift „Spielwaren“ und rechts einen rotgrüngestreifter Pappkarton unter den Arm geklemmt. Gleich daneben stand ein kleiner Teeladen, der mich viel mehr interessierte und der in dem Gedrängel der Menschen leider unterzugehen schien. Das kleine Schaufenster war übersichtlich geschmückt in warmen Farben, hölzerne Sterne hingen von oben herab und ein kleines Podest stand dort, überdeckt mit einem rot schimmernden Tuch. Ein junger Mann mit großen Augen und chaotischen Haaren war gerade dabei, dort Schälchen zu positionieren, gefüllt mit Teesorten, die besonders exotisch aussahen. Dann hielt er kurz inne. An das erinnere ich mich besonders gut, denn in dem Moment schien er mir besonders sympathisch zwischen all diesen anderen, die gehetzt von Zeit und sich selbst von einem Laden zum anderen sprangen, um dort ihre letzten Besorgungen für den folgenden Tag zu machen. Weihnachten. Ich gebe ja zu, meine Einstellung und Art der Beobachtung gegenüber den Menschen und Weihnachten ist nicht besonders ... Ich sag mal „positiv“, doch ich hatte die letzten vielen Monate genügend Zeit, um sie zu beobachten und ich habe gelernt, sie zu durchschauen. So viele Eltern, Kinder, Großeltern und Freunde schienen vergessen zu haben, um was es, in diesem Fall bei Weihnachten, eigentlich ging. Ich bin nicht gläubig, Jesus Christus und dieser ganze Kram interessieren mich wirklich nicht, doch dafür das Zusammenkommen, das Wärmegeben, Wohlfühlen und Liebeschenken und so weiter umso mehr ... Wo ist das alles hin? Wenn es mal kein Geschenk gibt von der besten Freundin, dann schreit die junge Frau, vergisst all die schönen Jahre, die meiner Meinung nach genug Geschenk sind, und vielleicht gibt es dann auch ein „Unsere Freundschaft ist hiermit beendet“ ...? Ohje, ich neige zur Übertreibung ... Habe aber eben nicht besonders viel zu tun. Nicht mehr als lieb gucken, frieren und die Hände ausstrecken. Hier sitze ich immerhin schon seit fünf Stunden, davor acht Stunden 300 Meter weiter in der U-Bahn, davor lag ich über die Nacht dort, wo ich sie meistens verbrachte, im Obdachlosenheim.

Jedenfalls schien mir der Teemann in diesem Moment genau diese Gedanken wie ich sie da hatte ebenfalls zu denken und das machte ihn sympathisch. Nicht lange blickte er gedankenverloren aus dem Schaufenster, dann fiel ihm wieder ein, wo er eigentlich war und er fuhr fort.

Ich blickte mich um. Ich sah ein Gewusel aus Gesichtern, Schuhen, Taschen ... Schweifende Blicke zum nächsten Laden und auf die Uhr, die unweit von dem Kirchturm auf uns herabzugrinsen schien. Als wollte sie laut lachend rufen: „Ihr glaubt ja gar nicht, wie amüsant es ist, euch in der Hand zu haben!“

Ein paar Minuten vergingen, bis ich es bemerkte. Ich wurde beobachtet. Der junge Mann war durch das Schaufenster hinter dem Tresen sitzend gut zu sehen, er blickte zu mir herüber, an seinen Fingern rumspielend. Eine Zeit lang hielten wir Blickkontakt und ich ließ mich hinreißen von Freude. Da hatte ich wohl tatsächlich jemanden, entdeckt, der auch fremden Menschen Wärme geben kann? Diese Hoffnung hatte ich auf meiner Suche schon lange aufgegeben ... Vielleicht ja doch nicht berechtigt. Der Braunhaarige schmunzelte, kaum sichtbar für mich, denn es war immerhin die Breite einer Fußgängerzone, die zwischen uns lag. Mir lief ein Schauer über den Rücken, doch dieses Mal nicht aufgrund des eisigen Windes. Mir war wohl dabei, wenn ich den Blick in den Teeladen frei hatte, reckte meinen Hals, wenn immer mal wieder ein Personengrüppchen zum Stehen kam und mir die Sicht verdeckte. Meine Augen ließen sich nicht mehr davon abbringen, herüberzuschauen. Unzählbar viele Gedanken füllten mir den Kopf, verschlossen meine Ohren und mein Gespür für die äußerlichen Begebenheiten, gleichzeitig war er leer und ich fühlte mich dumm. Wie naiv es doch war ... Kurz vor Weihnachten von solch süßem Wasser aus Hoffnungsschimmer zu kosten, ich würde doch eh enttäuscht. Andere vielleicht nicht, damit meine ich die vielen Leute, die seit vielen Stunden schon mein Blickfeld passierten, aber ich schon, denn ich besaß nichts. Schmutz machte meine Hände rau, Knoten zierten mein Haar, Blicke anderer machten mich wertlos.

Der junge Mann hatte sich wieder seiner Arbeit zugewandt, getrieben von einer burschikos wirkenden Frau. Ich nutze die Zeit, in der er abgelenkt war und versuchte schnell meine Zotteln ein wenig zu ordnen und die Kleidung zurechtzuzupfen. Mein Kopf war strikt dagegen, doch mein Körper wollte es so. Kaum sah ich von meinen Fingernägeln auf, da konnte ich ihn nicht mehr sehen. Er stand nicht hinter der Theke, nicht am Schaufenster, er räumte nich die Regale um und er kam auch nicht gerade aus dem Laden heraus. Es war nach 18 Uhr, die Läden am schließen. Die Frau begann, den Boden zu fegen. Verstört schaute ich mich um, denn das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, er sei anders, doch nun war auch er weg, wahrscheinlich in Richtung Familie oder Freunde, nach und nach wurde die Straße übersichtlicher, leerer und kahl, kalt und noch kälter als sowieso schon. Ich stellte mich auf meine wackeligen Beine, ging rüber zum Schaufenster, blickte hinein. Die Dame schien es eilig zu haben und hatte schon das Licht gedämmt. Warum ging auf ein Mal alles so schnell? Vorher ließen sich die Zeiger an der großen Turmuhr ewig Zeit, vielleicht ließen sie ein paar Minuten auch mal mehrmals vergehen und sie schleppten sich langsam dahin. Doch jetzt stand der Längere schon auf der 20 und ließ es sich nicht nehmen, schneller zu ticken.

Ich schlug die Augen nieder, ließ mich wieder auf meine Decke sinken und wickelte mich darin ein. Kalt und allein, als ob das etwas mit Weihnachten zu tun hätte ...

Eine Frau, ich schätzte sie Mitte 40, kam um die Ecke und man konnte sie seufzen hören. Sie blieb kurz stehen um sich zu orientieren, ging dann weiter. Ich gab ihr den Namen Helga, denn ihre schütten Haare, die gräuliche Haut und die Klamotten, die zweifelsfrei von einem Discounter stammten, erinnerten mich an meine Mutter, die den selben Namen trug. Helga kam mir näher und als sie mich bemerkte, wie ich dasaß, beobachtete und wieder anfing zu betteln, da sah sie weg. Ihre Wangen röteten sich und peinlich beschämt ging sie schnellen Schrittes weiter. Doch ich konnte spüren, dass es nicht die Tatsache war, dass sie mir nichts geben konnte, weswegen sie rot wurde, sondern, dass sie es nicht wollte. Sie schämte sich vielleicht fünf Sekunden, weil sie kurz einsehen musste, dass ihr Charakter böse Mängel aufzeigte, doch sie würde es gleich wieder vergessen haben. Ich schrieb ihren Namen auf meine imaginäre Liste, auch sie war nicht anders wie ich fand.

Ich ließ mich in einen schläfrigen Zustand fallen, dachte nach über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, träumte kurz, wachte wieder auf und beobachtete die Zeit, wie sie nun wieder so langsam wie vorher vorankam. Nun war wieder alles wie gewohnt. Der Himmel dunkel und ich einsam, bestimmt saß ich dort noch länger als eine Stunde. Ich machte mich also bereit, in Richtung Heim zu gehen, rollte meine Lumpen in die Decke ein, durchsuchte den Platz, auf dem ich vorher gesessen hatte, ob ich was vergessen hatte, suchte auf der Straße nach verlorenem Geld und steckte schließlich zwei Cent ein. Meine Finger waren kalt und meine Gliedmaßen schwer und taub, ich fühlte mich benommen von all den Gedanken, die ich mir machte, der inzwischen vergangenen Menschenmasse und dem trockenen Dezemberwetter. Eine tiefe Traurigkeit überkam mich. Einsamkeit, mein treuer Begleiter und ungebetener Gast. Grade war ich in eine schmale Seitengasse eingebogen, da rief jemand.

„Hey, du!“

Ich drehte mich um. Etwas weiter weg, aus dem Lichtschatten der Straßenlaternen trat eine Person heraus. Ich war mir nicht sicher, ob ich gemeint war. Wer wollte mich wohl mit Absicht ansprechen, wo doch niemand hier wusste, wer ich war, meinen Namen kannte, niemand mich kennen lernen wollte ...? Ich rührte mich nicht und wartete, bis der Mensch so weit ins Licht gekommen war, dass ich ihn erkennen konnte. Es war der Teemann, einen großen Rucksack auf dem Rücken und ein Lächeln auf den Lippen. Ich umklammerte meine Decke, konnte es nicht fassen. Scheinbar sprach er wirklich mich an, immerhin war ja im Moment auch niemand anderes zu sehen. Ich sagte nichts und wartete ab, was nun geschehen würde.

„Ich habe dich vorhin beobachtet.“, fuhr er fort, kam näher und ließ den Rucksack von seinen Schultern auf den Boden rutschen. „Was möchtest du? Ich habe heißen Tee, Brote, Kekse, Obst ... Kerzen, eine dickere Decke und warme Klamotten. Ich hab heute extra früher aufgehört mit der Arbeit, denn ich dachte mir, dir würde ein bisschen Weihnachtsstimmung gut tun!“
 


 

Merle Schulenburg 12.12.2007



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