Ein Tag wie jeder Andere
Hinata tippte mit ihrem Zeigefinger auf einen Raum auf der ausgedruckten Umrisskarte, die vor ihr ausgebreitet lag.
„Dort soll laut dem Informanten ein Tresor stehen, in dem die Pakete aufbewahrt werden.“
Sie waren gerade bei der Planung von Sakuras nächstem Raubzug. Ein hohes Tier bei Hypnosis, dem führenden Drogenkartell, hatte die beiden Hardlinerinnen beauftragt, aus einem Stützpunkt der Blue Fangs Drogen zu entwenden. Bei diesen Drogen handelte es sich um das so genannte ‚Beauty’s Sleep’, kurz B.S., eine neue, synthetisch aufgearbeitete Form von Marihuana. Die Blue Fangs hatten das B.S. von Hypnosis gestohlen, um es zu hohen Preisen zu verkaufen. So oder so ähnlich lautete die Erklärung, die Sakura und Hinata erhalten hatten. Es war Sakuras Gewohnheit, bei jedem potentiellen Auftrag erst einmal nach einer Begründung zu fragen. Hinata prüfte das dann so weit es ging nach. Erst dann entschieden die Beiden, ob sie den Auftrag annehmen würden.
Nun planten sie also eine solche Aktion. Wobei von ‚planen’ nicht unbedingt die Rede sein konnte. Hinata klärte Sakura über die Räumlichkeiten auf, das war alles. Es lief ja eh nie so, wie man wollte.
Sie sahen auf, als die Tür vom Wohnzimmer zur Küche, in der sie sich befanden, sich öffnete. Der Typ, den sie am Vorabend in einer Gasse aufgegabelt hatten, war endlich aufgewacht, hatte ihre Stimmen gehört und war nachsehen gekommen. Jetzt stand er in der Tür und beobachtete die jungen Frauen. Hinata ergriff als erstes das Wort.
„Oh, du bist ja wach! Wie fühlst du dich?“, fragte sie ihn.
„Na ja…“, antwortete er gedehnt. „Könnte besser sein.“
Dann mischte sich auf Sakura ein. „Wie wäre es, wenn du uns erst einmal sagst, wie du heißt, bevor ihr zwei mit eurem Smalltalk weitermacht?“
Der blonde Typ kratzte sich etwas unschlüssig am Hinterkopf. „Naruto… Naruto Uzumaki. Glaube ich jedenfalls…“, sagte er in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er wohl recht verwirrt war. Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: „Mehr kann ich euch leider nicht sagen, ich erinnere mich irgendwie nicht wirklich. Haha... Äh, und ihr seid…?“
„Ach, das ist schon in Ordnung.“, meinte Hinata und lächelte freundlich. „Ich bin Hinata Hyuuga, und das ist-“
„Sakura Haruno.“ Sakura hatte ihre Partnerin unterbrochen, während diese mit der Hand auf sie gewiesen hatte. „Wenn du nur so tust, als wüsstest du nichts, um dich hier einzuschleichen, dann verschwinde“, erklärte sie ernst. Dann wechselte ihr Gesichtsausdruck zu einem Lächeln. „Wenn du es aber ehrlich meinst, dann muss ich wohl sagen: Nett, dich kennen zu lernen!“
In diesem Moment sprang in der Nachbarwohnung der via E-Gitarrenverstärker auf ‚wesendlich zu laut’ getrimmte Radiowecker an. So, wie jeden Tag um halb acht Abends.
„Oh, verdammt…!“, fluchte Sakura leise. „So spät schon! Ich muss los! Kümmere du dich um Naruto, okay, Hina-chan?“ Mit diesen Worten verließ sie das Appartement, nachdem sie sich ihre Waffe geschnappt hatte.
Soeben hatte sie die eigentlich total schüchterne Hinata mit einem Mann allein gelassen. Na ja, okay, gut, der Kerl schien wirklich durcheinander zu sein, außerdem war er verletzt. Es würde schon nichts passieren, zumal Hinata ziemlich gut in Selbstverteidigung war, auch wenn man es ihr nicht ansah. Irgendwie hatte Sakura das Gefühl, dass Hinata diesen Typen mochte, obwohl sie ihn ja gar nicht mal richtig kannte.
Schon bald verlangsamte Sakura ihre Schritte. Sie war so gut wie an ihrem Ziel, der Basis der Blue Fangs, angekommen, also musste sie vorsichtig sein. Wie war das noch gleich? Das Nachbargebäude, rüber auf die Feuertreppe springen… Ja, genau.
Durch ein zerbrochenes Fenster gelangte sie in das besagte nebenstehende Bauwerk, ein altes, heruntergekommenes und unbewohntes mehrstöckiges Wohnhaus, von denen es in dieser Stadt ja so viele gab. Zu ihrer Zufriedenheit stellte sie fest, dass sich außer ihr niemand in dem Haus befand, also brauchte sie hier nicht übermäßig leise zu sein. Sie suchte sich ihren Weg ins Treppenhaus. Zuerst einmal ging sie nur ein Stockwerk höher, um die Gefahr beim herüber springen gering zu halten. Doch sie sah durch das Fenster der Blue Fang-Gebäudes, dass sich dort auf Höhe dieses Stockwerks Leute aufhielten. Also stieg sie die Treppen immer weiter hinauf, bis sie schließlich in einem ‚leeren’ Stock, dem Vierten, ankam. Sie ging zum Fenster, öffnete es und sah hinunter, was sie jedoch gleich bereute.
„Na toll…“, grummelte Sakura leise. „Da sollte ich besser wirklich nicht abstürzen.“
Sie stellte sich auf das Fensterbrett, atmete einmal tief ein und sprang. Zwar erwischte sie das Geländer der rostigen Feuertreppe, doch machte sie dabei deutlich mehr Lärm als geplant. Sie hatte die Entfernung unterschätzt, sodass sie nun regelrecht an der Treppe hing. Diese ächzte, als die Hardlinerin sich hochzog. Zum hochklettern hatte sie nicht viel Zeit, denn ihre Ankunft war selbstverständlich nicht ungehört geblieben.
Sakura lief die Feuertreppe nach oben, kam allerdings nicht weit, da ihr ein Blue Fang entgegenkam. Also wechselte sie die Richtung und wollte nach unten laufen, doch von dort kam ebenfalls eins der Gangmitglieder. Sie war umzingelt. Dann blieb ihr wohl nur eine Möglichkeit: Sie trat das Fenster neben sich ein und hechtete hindurch. Dass sie dabei die Glasscherben am Bein verletzten, schränkte sie zu ihrem Glück nicht allzu sehr in ihrer Bewegungsfreiheit ein. So etwas durfte sie nicht von ihrem Auftrag abhalten.
Durch den Lärm, den sie veranstaltet hatte, angelockt, betrat ein weiterer Blue Fang den Raum, versperrte die Tür und somit ihren einzigen Ausweg.
„Hey, Kleine!“, rief der breitschultrige Gangster. „Das hier ist unser Gebiet!“
„Ich weiß, Dickwanst“, antwortete Sakura gelassen. „Deshalb habe ich ja auch meinen kleinen Schatz hier dabei.“ Mit diesen Worten richtete sie ihre Pistole auf den Kerl. Dieser hob auch sogleich beide Arme.
„Ho! Ho! Immer sachte, Kleine! …Du könntest dich verletzen!“
Links und rechts hinter ihr hörte Sakura das Klicken entsicherter Schusswaffen. Die beiden Blue Fangs, denen sie eben fast in die Arme gelaufen wäre, waren wie sie durch das Fenster hereingekommen. Nun war es Sakura, die die Hände hob, um zu zeigen, dass sie sich ergab. Ihre Pistole hing dabei an ihrem rechten Mittelfinger, der durch den Schutzbogen des Abzugs gesteckt war.
„Na gut“, meinte Sakura in gespielter Resignation. „Jungs, ihr habt gewonnen. Macht mit mir, was ihr wollt.“
Der Kerl vor der Tür grinste dreckig und antwortete: „Jetzt leg noch die Knarre weg und ich komme deiner bitte gerne nach.“
Die junge Frau folgte seiner Anweisung.
„Geht doch.“
Mit einem dreckigen Lachen kam der Kerl auf sie zu. Sie würde ihre Chance nutzen müssen, jetzt oder nie. Genau das tat sie auch: Als der Blue Fang nah genug gekommen war, trat sie ihm mit aller Kraft, die sie mit ihrem verletzten Bein aufwenden konnte, von unten ins Gesicht. Der Hüne ging zu Boden und die hübsche Hardlinerin rannte los. Sie duckte sich unter den Kugeln der anderen beiden Blue Fangs weg. Diese folgten ihr auf den Flur, wo sie dann aber überrascht stehen blieben.
„Die Alte ist weg! Verdammt, das ist alles deine Schuld!“
„Was?! Du hast sie doch verfehlt!“
Sakura beobachtete diesen Streit amüsiert.
‚Idioten’, dachte sie.
Dass die tatsächlich darauf hereingefallen waren… Dabei hatte sie doch einen der ältesten Tricks der Welt angewandt. Der Flur war verhältnismäßig schmal, sodass es ihr nicht schwer fiel, sich so abzustützen, dass sie den Boden nicht mehr berührte. So hing sie nun ein paar Zentimeter unter der Decke und wartete ab. Als sie ihren Moment gekommen sah, ergriff sie die von der schäbigen Decke herabhängende nackte Glühbirne, die behauptete, eine Lampe zu sein, und schwang sich über die Köpfe ihrer Angreifer hinweg. Ihre Landung mochte zwar cool und stylish ausgesehen haben, doch war sie nicht gerade angenehm, denn ihr Bein schmerzte immer noch. Nichtsdestotrotz lief sie den Gang runter. Die Blue Fangs hatten wieder ihre Verfolgung aufgenommen. Deshalb und aus Mangel einer Waffe zur Selbstverteidigung bog Sakura in den nächstbesten Raum ab und verrammelte die Tür hinter sich.
So. Erst einmal nachdenken.
Sie sah sich im Raum um. Es schien sich hierbei um eine Art Abstellkammer zu handeln, jedenfalls stand alles Mögliche dort herum. Nur natürlich keine sinnvolle Waffe. Dann würde sie sich eben etwas Anderes einfallen lassen müssen. Sie hatte auch schon eine Idee, was. Sie schnappte sich einen alten Eimer, dessen eigentlicher Verwendungszweck ihr nicht ganz klar war, und ein paar Flaschen eines teuren, höchstwahrscheinlich illegal erworbenen Rotweins. Nachdem sie den Wein in den Eimer gegossen hatte, musste sie nur noch abwarten, bis die zwei Idioten vor der Tür dieselbe aufgebrochen hatten. Als dass geschah, kippte Sakura dem vorderen Gangster den Wein ins Gesicht. Dieser taumelte überrumpelt rückwärts, stieß gegen seinen Kollegen und kippte, nachdem das morsche Treppengeländer hinter ihnen nachgegeben hatte, mit ihm zusammen ins Treppenhaus.
Also die Beiden wäre sie schon mal los. Zu ihrer Zufriedenheit stellte Sakura fest, dass sich sonst niemand auf diesem Stockwerk befand. Sie lief hoch in den fünften Stock, denn dort sollte sich nach Hinatas Angabe der Raum mit dem Tresor befinden. Doch schon am oberen Absatz der Treppe erwartete sie etwas, auf das sie gut und gerne hätte verzichten können. Weitere Blue Fangs. Was sie dabei am meisten störte: Diese waren bereits außer Gefecht gesetzt. Jemand war vor ihr hier gewesen, und sie hatte auch schon eine Ahnung, wer. Sie beeilte sich, zu dem Raum zu kommen, der von Anfang an ihr Ziel gewesen war. Der Tresor war offen und leer, bis auf einen kleinen, weißen Zettel, der mit einer ihr durchaus nicht unbekannten Handschrift bedeckt war. Genau das hatte sie befürchtet.
Guten Abend, Meine Herren.
Wie sie sicher schon bemerkt haben, hat ihr Eigentum einen neuen Besitzer gefunden.
gez.: Sasuke Uchiha
Sakura ballte ihre Hände zu Fäusten und knurrte wütend.
„Dieser elende…!“ Sie gab einige nicht gerade damenhafte Flüche von sich. Dieser Kerl war ihr schon wieder zuvorgekommen!
Und, als wäre das nicht schon nervend genug, erschallten in diesem Moment die altbekannten Polizeisirenen.
„Auch das noch!“
Sie war mittlerweile wirklich mies drauf. So oder so, sie sollte hier so schnell wie möglich verschwinden, ehe die Polizei hier auftauchte. Erstaunlicherweise bemerkte sie niemand, während sie die letzten Treppen aufs Dach hinaufstürmte. Die Blue Fangs waren wohl selbst zu beschäftigt mit der nahenden Ankunft ihrer Erzfeinde, als dass sie Zeit hatten, zu überlegen, wer der Anwesenden eigentlich zu ihnen gehörte und wer nicht.
Als Sakura das Dach erreicht hatte, sprang sie von diesem aus auf das Dach des Nachbargebäudes. Die Dächer standen beide etwas über, sodass sie näher zusammen lagen als Fenster und Feuertreppe um vierten Stock, was Sakura den Sprung deutlich erleichterte. Zur Sicherheit überquerte sie dieses Dach und betrat das Nächste, bevor sie die Treppe zurück nach unter nahm und das Gebäude durch den Hinterausgang verließ.
Demotiviert schloss Sakura die Tür der Wohnung von ihr und Hinata auf. Drinnen wurde sie schon erwartet. Doch nicht nur von Hinata. Nein, dieser Naruto-Typ war auch noch da. Allem Anschein nach verstand dieser sich gut ihrer Partnerin.
Hinata brauchte nicht zu fragen, um zu sehen, dass bei Sakuras Auftrag etwas schief gelaufen war. Sie fragte nur: „Wie immer?“
Und mit einem Seufzen drückte Sakura ihr den Zettel, den sie im Tresor gefunden hatte, in die Hand und bestätigte: „Wie immer.“
