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Liebe macht blind

Die & Kaoru
von

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Holzwege.

Wenn man mich heute danach fragen würde, wie ich gestern ins Bett gekommen bin, wüsste ich wohl keine Antwort darauf. Irgendwie muss mich mein Körper wie auf Autopilot die Treppen hinauf in mein Zimmer getragen haben. Augenscheinlich muss er mich systematisch entkleidet und unter die Dusche und wieder heraus befördert haben, sonst wären die wild verstreuten Kleidungsstücke, die angetrockneten Pfützen auf den Glaswänden, dem Fliesenspiegel, dem Boden, die benutzen Handtücher und die ausgerissenen Haare in ihnen wohl kaum zu erklären.

Wie mein Gehirn mein Fleischgefäß vollkommen geistesabwesend wie einen humanoiden Laufroboter gesteuert hat, ganz ohne jegliche Trunkenheit, ist mir selbst ein Rätsel. Zwar habe ich die Nacht zuvor nicht sonderlich viel geschlafen, aber als hundemüde hätte ich mich gestern auch nicht bezeichnet.

Ich stehe vorm Spiegel in meinem Badezimmer und rasiere mich.

Ob ich gestern womöglich einen Sonnenstich hatte?

Muss man davon nicht kotzen?

Riechen tut es hier jedenfalls nicht nach Kotze. Nur nach Käsefuß aus den Schuhen im Nebenraum.

Ich lege den Rasierer beiseite und beäuge mein frisch erglattetes Gesicht.

Nein, vielleicht hatte ich nur eine Kurzschlussreaktion.

Wer rechnet denn auch damit einer Person zu begegnen, die sich eigentlich am anderen Ende des Planeten aufhalten sollte? So muss es Kyo ergangen sein, als seine Ex plötzlich vor ihm in der Bar stand. Wie aus dem Orbit geschleudert. Kein Wunder, dass da was Seltsames mit den Synapsen abgeht.

Ich krame mein Aftershave hervor.

Wieso ist sie hierher gekommen? Wegen Kaoru? Aber warum ist sie dann weggelaufen? War sie vorher bei Kaoru? Oder war sie nur wegen mir hier? Weiß er überhaupt, dass sie hier ist? Vielleicht sollte ich mal mit ihm darüber reden.

Aus dem Spiegel blinzeln mir zwei kleine Augen entgegen.

Reden...

Mit Kaoru reden.

Können wir später reden? Unter vier Augen. Alleine. Vielleicht in meinem Hotelzimmer?

Aus den kleinen Augen werden auf einmal Vollmonde. Beinahe fällt mir das Aftershave ins Waschbecken.

Ich kann nicht glauben, dass ich das vergessen habe. Meine Hand zittert. Von all den Dingen, die mein dämliches Hirn vergessen muss, muss es ausgerechnet das sein?!

Ich lasse alles stehen und liegen und schlittere ins Schlafzimmer. Irgendwo zwischen all diesem Krimskrams muss mein Handy liegen. Wo ist es hin? Vorhin hab ich doch noch die plärrenden Weckfunktion mit wildem Draufrumtatschen zum Schweigen gebracht.

In meiner Hast reiße ich mehrere Dinge vom Nachttisch. Mein Brillenetui segelt zu Boden, der Inhalt einer Dose überteuerter Pfefferminzbonbons verteilt sich kullernd auf dem Teppich. Als ich alles kreuz und quer beiseite geschoben habe, ohne fündig zu werden, entdecke ich im Augenwinkel mein Handy halb zugedeckt neben meinem Kopfkissen.

Wie im Fieber entsperre ich den Bildschirm. Verpasste Nachrichten... Verpasste Anrufe... Hat Kaoru versucht mich zu erreichen?

Ich scanne meine Notifikationen ab. Eine lange Textnachricht mit organisatorischem Zeug. Eine Erinnerung von Herrn Masuda, dass ein Musikmagazin uns für ein Interview haben will. Der Gitarrist unserer Vorband, der fragt, ob er meine Nummer weitergeben darf. Toshiya, der mir um 2:18 Uhr ein Bild eines verwirrt dreinblickenden Huskys mit den Worten haha das bist du lololol geschickt hat. Eine 0:02 Sekunden lange Sprachnachricht von Kyo. Kein Sterbenswörtchen, nicht eine Silbe, kein einziger Pixel von Kaoru.

Mein Herz sinkt zwei Etagen tiefer.

Hat er mich auch vergessen?

Oder schlimmer noch: Ist er jetzt so wütend auf mich, dass ich ihn versetzt habe, dass er sich aus Trotz nicht bei mir meldet?! Mir hätte gestern Abend ja auch was zugestoßen sein können. Die letzten Personen, die mich lebendig gesehen haben, waren Kyo und Toshiya. Und das war draußen, auf offener Straße. Niemand, der mich kennt, hat mich zurück auf mein Hotelzimmer gehen sehen. Jemand hätte mich entführt haben können! Ich hätte gefesselt und geknebelt auf der schmutzigen Ladefläche eines weißen Vans liegen oder mit dem Gesicht nach unten im Hafenbecken treiben können oder...

Pause. Stopp.

Dies ist nicht die Zeit, in den Zug nach Paranoia einzusteigen. Und auch nicht der Moment, mich kopflos in etwas hineinzusteigern. Nein, diesmal nicht. Es reicht. Diesmal werde ich versuchen das Ganze logisch anzugehen.
 


 

~*~*~
 


 

Doch an diesem Morgen meint es das Schicksal nicht gut mit mir und meiner Logik. Egal an welcher Ecke ich Kaoru begegne, immer ist er in irgendein Gespräch verwickelt oder umringt von einer Schar von Leuten, die ihm weder von der Pelle rücken wollen noch meinen permanenten Stierblick von der Seite zu bemerken scheinen.

"Wenn Blicke töten könnten...", murmelt Toshiya sogar irgendwann schaudernd neben mir, als wir beim Frühstück sitzen und ich seit gefühlt mehreren Minuten stumm und unbarmherzig auf einem belegten Brötchen herumkauend mit starrem Blick in Richtung Kaoru und Fanclub vielleicht zwei Mal geblinzelt habe.

Dabei bin ich überhaupt nicht wütend auf Kaoru. Nur auf alle um ihn herum, die ihn belagern als sei er eine mittelalterliche Festung hinter deren Mauern sich Gold und Edelsteine verstecken. Und ich kann es ihnen nicht mal verübeln, wenn Kaorus Lächeln allein wie das Funkeln eines unbezahlbaren Diamanten ist und das dazugehörige sonore Lachen sich anfühlt, als würde man in ein mit warmer Milch und Honig gefülltes Becken eintauchen.

Während unsere versammelte Frühstücksgemeinschaft drauf und dran ist den Speisesaal zu verlassen, wittere ich meine Chance. Immer noch von dem Grüppchen bestehend aus Mitgliedern unserer Vorband und unserem Staff umzingelt, lässt sich Kaoru in deren Mitte aus dem Raum hinaustreiben. Unterdessen versuche ich mir einen Weg zu ihm zu bahnen. Meine Hand will gerade wie die Kralle eines Greifautomaten nach seinem Handgelenk schnappen, da höre ich Herrn Masuda mit gedämpfter Stimme nach ihm rufen und Kaoru wendet sich von mir ab, ohne von mir Notiz genommen zu haben. Entmutigt lasse ich die Hand wieder sinken.

Das ist die Sache, wenn man mit einer großen Mannschaft umherreist: man ist nie so wirklich allein. Und immer will irgendwer was von einem. Und um mal allein zu sein, müssen entweder widrige Umstände eintreten oder ein Wunder geschehen. Gestern hätten wir allein sein können. Gestern hätte uns niemand mehr stören können. Aber gestern ist vorbei.
 


 

~*~*~
 


 

Zwar bleibt bis zum Auftritt heute Abend viel noch Zeit, aber anders als die relativ entspannten und ungehetzten Tage zuvor, greift jetzt wieder die brutale Realität des Tourlebens. Unser Zeitplan ist vollgestopft. In der Nacht soll es direkt weiter zur nächsten Stadt gehen und somit müssen auch unsere Hotelzimmer bis zum Mittag verlassen und unsere gesamte Crew ausgecheckt sein.

Nachdem ich mein Zeug mehr schlecht als recht zurück in Koffer und Taschen gestopft habe, schleppe ich es mit zusammengebissenen Zähnen über die Treppe nach unten ins Foyer. Dort herrscht bereits reges Treiben. Natürlich wollen außer uns noch andere Leute ihre Abreise antreten. Unter den von unserer schieren Personen- und Gepäckanzahl sichtlich genervten Reisenden befinden sich auch ein paar wenige, die uns neugierige Blicke zuwerfen und von deren Gesichtern viele Fragen abzulesen sind. An diese Blicke gewöhnt, rolle ich meinen Koffer laut klackernd über den marmornen Boden rüber zu Shinya und Toshiya, die vor einer makellos glänzenden Fensterfront gelangweilt auf ihrem Gepäck sitzen, weil alle hoteleigenen Sitzgelegenheiten bereits besetzt sind. Ich tue es ihnen gleich. In dem Moment, wo mein Hintern den Deckel meines Koffers zum Ächzen bringt, schaut Shinya von seiner Lektüre auf.

"Guten Morgen", krächzt er, obwohl wir uns bereits beim Frühstück gesehen haben.

"Guten Tag", erwidere ich, weil es beinahe Mittagszeit ist. "Wo ist Kaoru?"

Beim Eintreten ins Foyer habe ich bereits die gesamte Umgebung nach ihm und seinen schmalen Schultern abgescannt, konnte ihn aber nirgends entdecken. Nicht ausgeschlossen, dass es ihm heute Morgen ganz recht ist, mir nicht über den Weg laufen zu müssen. Oder sich vor mir zu verstecken.

"Noch nicht hier."

Na toll. Missbilligend mit der Zunge schnalzend beginne ich meine Haare mit den Fingern durchzukämmen. Ganz toll. Jetzt wäre doch einer der wenigen Augenblicke, in denen ich ihn vielleicht noch kurz zur Seite ziehen könnte, um mich zumindest ungestört und ungehört bei ihm für mein gestriges Nichterscheinen zu entschuldigen. Und ihn außerdem zu fragen, warum er sich nicht bei mir gemeldet hat. Das wurmt mich auch mit sattem Magen noch. Immerhin hätte mir ja wer weiß was zugestoßen sein kön--

Mir schießen die Tränen in die Augen. Bei der letzten schwungvollen Bewegung hat sich mein Armband in einer Strähne in meinem Nacken verheddert. Ein riesiges Büschel meiner seidigen Haarpracht hängt ausgerissen am versilberten Verschluss. Fluchend vor mich hin grummelnd mache ich mich daran es wieder davon abzuzupfen.

Shinyas Hand berührt mich am Unterarm.

"Hm?", murre ich und lasse die einzelnen Haare einfach neben mir auf den Boden fallen.

"Hm?!", murre ich erneut, weil er mir keine Antwort gibt.

Als ich aufblicke, steht Kaorus Gestalt in Großformat - live und in Farbe und in bunt - vor mir. In aller Seelenruhe stellt er seine Tasche ab und hockt sich neben uns hin, als wäre das das Normalste von der Welt, als wäre ich nicht nach wie vor der absolute Albtraum seines Wachzustandes.

"Wer von euch hat nachher Lust ein Interview zu geben? Kyo hat mir schon eine Abfuhr erteilt."

Eine betörende Wolke, eine Mischung aus Aftershave, Seife und Kaorus ganz eigenem Körpergeruch wabert zielstrebig zu mir herüber. Unwillkürlich atme ich tief ein, fülle meine Lungen damit, bis mir ganz schwummrig von diesem Duft wird und Kaorus Worte wie ein auf dem Boden zerschellendes Puzzle in meinen Gehörgängen verhallen. Wo gerade wieder die altbekannte Aufmüpfigkeit in mir hochkochen wollte, ist diese nun mit einem Mal vollständig verpufft. Fortgerissen von einem Sturzbach aus Erinnerungen starre ich entgeistert auf Kaorus Lippen, die sich in Erwartung auf eine Antwort leicht geschürzt und schon fast zu einem Kussmund geformt haben.

"Na? Keine Freiwilligen?"

"Für welches Magazin war das noch mal?"

"Metal Vision."

"Ach ja. Klar, warum nicht. Vielleicht nicht ganz verkehrt, um vor dem Auftritt noch ein bisschen Zeit totzuschlagen." Toshiya kann ein Gähnen kaum unterdrücken.

"Perfekt. Dann leite ich das weiter." Kaoru und seine Duftwolke ziehen an mir vorbei.

Ich schaue zu Shinya herüber. Shinya schaut nur stumm zurück.

"Häh?", sage ich in den Raum hinein.

Verwundert kratzt sich Toshiya an der Wange. "Hast du deine Nachrichten heute Morgen nicht gelesen?"

"...flüchtig." Vielleicht war ich heute Morgen mit anderen Gedanken beschäftigt.

"Das Doppelinterview", sagt Toshiya, als müsse der Groschen jetzt bei mir fallen, und schlägt träge ein Bein über das andere, aber der Groschen schwebt weiterhin in der Luft.

"Doppelinterview?" Ich krame in meinem Kurzzeitgedächtnis, versuche mich an meinen Posteingang zu erinnern, erinnere mich aber nur an meine Entrüstung über Kaorus Funkstille in eben diesem. "Moment mal, es gibt ein Doppelinterview?"

"Ja?"

"Und du bist dabei? Und wer ist dann der andere? Kaoru, oder was? Und warum fragt er nicht mich?"

"Warum hast du dich nicht einfach freiwillig gemeldet?" Toshiyas Gegenantwort ist so sachlich, so naheliegend, ich kann nicht mal ausflippen.

Anstatt verstrahlt vor mich hinzu schmachten, jedes Mal, wenn Kaoru mir zu Nahe kommt und seine bloße Anwesenheit mir die Sinne vernebelt, hätte ich ihm auch ruhig aufmerksam zuhören können. Immerhin ist es ja nicht so, als hätte er mich von vorneherein von etwas ausgeschlossen.

Ich gehe meine Nachrichten noch mal durch. Tatsächlich steht es da schwarz auf grau, die Information von Herrn Masuda zu dem Interview. Wie konnte mein Gehirn das nur so ausblenden?

Ich ringe mit mir selbst und meinem Stolz. Ich könnte Toshiya darum bitten mit mir zu tauschen. Schließlich erweckt er nicht gerade den Eindruck, als würde er sich sonderlich um diesen Pressetermin reißen. Andererseits scheint Kaoru ohnehin nicht besonders viel daran zu liegen mich dabei zu haben, sonst hätte er mich doch direkt gefragt, oder?

Über die Köpfe der anderen hinweg halte ich nach Kaoru Ausschau. Ein paar Meter von mir entfernt entdecke ich ihn einmal mehr in ein Gespräch mit jemand anderem verwickelt.

Als unsere Truppe zusammengetrommelt wird und wir in Reih und Glied unter lautem Geklapper und Geratter das Hotel in Richtung Bus verlassen, drehen sich die Zahnräder in meinem Kopf noch immer so, als würden sie Sand zu noch feinerem Sand zermahlen.
 


 

~*~*~
 


 

Eins steht fest: Ich muss unbedingt mit Kaoru reden. Ich kann jetzt nicht einfach so tun, als wäre das Kussdebakel im Aufzug nie passiert und zur geregelten Tagesordnung übergehen. Ich muss endlich wissen, was zur Hölle er sich dabei gedacht hat. Was zur Hölle er sich dabei gedacht hat diese Büchse der Pandora in mir zu öffnen. Öl in mein Feuer zu gießen. Einen Ertrinkenden zurück aufs Schiff zu ziehen, nur, um ihn dann erneut ins offene Meer zu stoßen.

Ich muss ihn zu fassen kriegen. Allein. In einem ruhigen Moment.

Aber natürlich gestaltet sich das eingepfercht in eine schaukelnde Tourbusbüchse genauso schwierig wie man es sich vorstellt. Während der Fahrt ist es nahezu unmöglich sich ernsthaft zu unterhalten, und angekommen an der Konzerthalle nimmt der allgemeine Wahnsinn sofort wieder seinen festgelegten Lauf. Ausladen, aufbauen, Soundcheck, Lightscheck, ... Wenn Kaoru mal in Reichweite ist, nie für lange und niemals ohne jemand anderen am Rockzipfel. Unmöglich ihn bei Seite zu ziehen. Nicht, dass man das, was zwischen uns ist - oder vielleicht auch eben nicht ist - mal eben so kurz zwischen Tür und Angel klären könnte.

Zu diesem Zeitpunkt wäre mir jedoch alles recht, um wenigstens ein bisschen Zeit mit ihm zu verbringen. Wenigstens ein Gefühl dafür zu bekommen, wie er gerade zu mir steht.

Verdammt, hätte ich gewusst, dass es sich bei dem Pressetermin um ein Interview mit zwei Personen handelt, hätte ich mir auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen, dicht an dicht mit Kaoru auf hohle, schon tausend mal gehörte Nullachtfünfzehn Fragen zu antworten.

Aber das Innenleben meines Kopfes weist mittlerweile erschreckende Parallelen zu einem Messihaushalt auf. Wichtige Informationen werden einfach achtlos irgendwo hingeschmissen, liegen überall verstreut, und wenn ich sie brauche, finde ich sie zwischen dem ganzen Schrott nicht mehr. Und je mehr Zeit verstreicht, desto fuchsiger werde ich nur. Selbstverständlich hielt es Kaoru nicht für nötig mich explizit zu fragen, ob ich mitkommen möchte. Nicht auszudenken, wenn ich anstelle von Toshiya zugesagt hätte und er sich mit mir hätte rumplagen müssen.

Meine eigene Dummheit anderen in die Schuhe zu schieben, bringt mich auch nicht weiter.
 


 

~*~*~
 


 

Ich lasse mich vom regen Geschehen um mich herum treiben. Mehr wie ein Geist als eine physisch existierende Person. Lungere backstage herum, stehe allen im Weg, weiß nicht so recht, wohin mit mir selbst. Streune in der Halle umher. Stelle mich auf den Balkon, von dem aus man die gesamte Bühne überblicken kann. Sehe mir das Beleuchtungssystem an und wie unser Techniker, die vorprogrammierte Lightshow darauf abstimmt. Beobachte wie der Merchandise-Stand aufgebaut wird. Genehmige mir hinter den Kulissen einen kleinen Snack. Rauche eine im Hinterhof. Drücke auf meinem Handy herum.

Ganz egal, wo ich mich aufhalte, irgendwo fällt irgendwie immer eines meiner Augen auf Kaoru. Doch treffen sich unsere Blicke nie länger als die von zwei aneinander vorübergehenden Fremden.

Mittlerweile bin ich mir unsicher, ob er mich nicht doch absichtlich ignoriert und es ihm ganz gut in den Kram passt, sich nicht mit mir beschäftigen zu müssen.

Mit der aktuellen Ausgabe von Metal Vision vor mir auf dem Tresen sitze ich auf einem der am Boden festgeschraubten Barhocker in der Halle und blättere lustlos durch die Seiten des Magazins. Ohne dem englischen Text oder den Artikeln viel Beachtung zu schenken, überfliege ich nur die Namen der vorgestellten Bands und sehe mir ihre Bilder an. Obwohl der Tresen kurz zuvor auf Hochglanz poliert worden sein muss, ist seine Oberfläche so zerkratzt, man könnte ihm glatt die Zukunft von seinen Furchen und Kerben ablesen. Ich klappe das Magazin zu, trommele eine Weile unschlüssig mit den Fingerspitzen einen mehr oder weniger melodischen Rhythmus auf dem Cover, bevor ich mich schließlich umdrehe und in der Halle hinter mir umschaue. Auf der Bühne sind unsere Leute noch immer fleißig am Werkeln. Jeder scheint in Bewegung zu sein, nur ich fühle mich irgendwie als würde ich auf 0.25 und 144p laufen.

Ich massiere meine pochenden Schläfen.

Kaoru redet jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit mit dem Tontechniker in der hintersten Ecke der Bühne. Mit verschränkten Armen stehen sie einander gegenüber und labern sich gegenseitig Knöpfe an die Backe. Worüber sie reden, kann ich von hier aus nicht ausmachen. Außerdem bin ich mir nicht mal sicher, ob sich Kaoru meiner Anwesenheit überhaupt bewusst ist. Ab und an habe ich ihm durch meine verdunkelten Brillengläser einen verstohlenen Blick zu geworfen, in der Hoffnung den richtigen Moment abpassen zu können, um ihn unter vier Augen zu sprechen. Je länger ich hier hocke, desto matschiger werde ich jedoch in der Birne. Mir dieses behämmerte Magazin noch ein viertes Mal zu Gemüte zu führen, verkrafte ich nicht mehr. Toshiya hat es mir vorhin mit den Worten "Da siehst du, was du verpasst" in die Hand gedrückt, als ich mir einen Kaffee geholt habe. Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden, ob es eine nette Geste war mit der er mir zeigen wollte, dass mir bei diesem Schnarchblatt keine once-in-a-lifetime-Chance flöten gehen wird oder ob er mir damit sagen wollte, dass ich in Zukunft weniger geistesabwesend bei Bandangelegenheiten sein sollte. Wenn ich es mir recht überlege, klingt letzteres doch eher nach Kaoru.

Fuck, was würde ich gerade dafür geben von Kaoru angemeckert zu werden. Irgendeine schnippische Bemerkung. Ein finsterer Blick. Ein Witz auf meine Kosten.

Zwar haben wir uns wohl mehr oder weniger stillschweigend auf Waffenstillstand geeinigt, aber so gar nicht mit einander zu sprechen, fühlt sich merkwürdig an. Wie eine verkehrt herum angezogene Socke.

Ich rücke meine Sonnenbrille zurecht. Der Tontechniker scheint endlich Anstalten zu machen sich aus dem Gespräch auszuklinken. Auch Kaorus Körpersprache kündet von Aufbruchstimmung. Meine trägen Zellen erwachen allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf.

Wie als würde er nur kurz die Uhrzeit checken, leuchtet Kaorus Handydisplay für eine Millisekunde auf und wirft einen blauen Lichtschein in sein Gesicht. Dann wendet er sich dem Bühnenausgang zu.

Plötzlich strömt Adrenalin durch mich durch. Er ist unbegleitet. Keiner eiert ihm hinterher. Das ist meine Chance, mein Moment auf den ich schon den ganzen Tag gewartet habe. Ich muss schleunigst hinterher, bevor ihn wieder irgendein anderer Dullikopf in Beschlag nimmt. In meiner Aufregung katapultiere ich beim Aufstehen das Metal Vision Magazin quer durch den Raum. Ich höre es hinter mir zu Boden flattern. Nichts könnte mich im Augenblick weniger jucken.

Bemüht nicht zu strammen Schrittes hinter ihm herzulaufen, steuere ich auf die Bühne zu. Ich schwinge mich hinauf und nehme den selben Ausgang wie er. Er ist noch nicht weit gekommen. Kaum ein paar Meter vor mir schlendert er nichtsahnend durch die Gänge.

Alles um mich herum wirkt auf einmal wie farbentsättigt, die Leute sind zu einer unscharfen Masse verschwommen, ihre Geschäftigkeit spielt sich nur noch am Rande meines Blickfelds ab.

Ich habe die Verfolgung aufgenommen.

In sicherem Abstand an seine Fersen geheftet, stelle ich Kaoru zwischen den verzweigten Fluren nach wie ein Taschendieb seinem nächsten Opfer. Mehrmals stoße ich dabei beinahe mit jemandem zusammen, muss einem Typ und seiner mit Bierkästen beladenen Sackkarre in Schlangenlinien ausweichen und nur ein paar Zentimeter weiter links und meine Schulter hätte unangenehme Bekanntschaft mit der scharfen Kante einer Betonwand gemacht. Trotzdem gelingt es mir Kaoru als einzigen Farbkleks in dieser mausgrauen Umgebung fest im Blick zu behalten.

Ich sehe ihn eine Treppe hinaufsteigen, die zur VIP-Lounge und den Besprechungsräumen führt und folge ihm ins Obergeschoss. Als ich oben ankomme, hat er längst das Ende des Ganges zur meiner Linken erreicht und ist drauf und dran einen Raum zu betreten. Hastig bringe ich die letzten paar Meter bis zu ihm hinter mich. Meine Hand streckt sich nach der Tür aus, die vor mir ins Schloss zu fallen droht. Doch mitten in der Bewegung gerate ich ins Stocken. Kurz bevor meine Fingerspitzen die Klinke berühren, springt mir das Piktogramm auf der Tür ins Auge. Männertoilette.

Ich bleibe stehen.

Unsicher, ob ich dort tatsächlich hineinmarschieren soll, trete ich auf der Stelle wie ein Ackergaul. Bestimmt hat mich jemand gesehen, wie ich Kaoru nachgelaufen bin. Unmöglich, dass keiner meinen mittelmäßigen Stalkingversuch nicht mitbekommen hat. Ihm jetzt dorthin zu folgen, käme doch sicherlich ziemlich seltsam rüber, oder? Meine Hand schwebt über der Türklinke. Anderseits kennen wir uns schon ewig. Das wäre schließlich nicht das erste Mal, dass wir gemeinsam eine Toilette aufsuchen. Aber wäre dies nicht auch der undenkbar schlechteste Ort, um sich auszusprechen? Was für einen Eindruck würde das bitte auf Kaoru machen? "Hey, ja, Entschuldigung? Könntest du kurz mal deinen Penis wegpacken, ich muss mit dir über meine Gefühle reden."

Mir bleibt das hysterische Lachen quer im Halse stecken. Die Klinke bewegt sich, obwohl ich sie nicht berühre. Kaorus Gesicht erscheint genau vor meiner Nase im Türrahmen.

"Heilige Scheiße, Die! Hast du mich erschreckt!"

Geradezu synchron taumeln wir beide jeweils einen Schritt zurück.

Ich fasse mir an mein heftig schlagendes Herz. "W-wie schnell bist du denn bitte?!", platzt es ungefiltert aus mir heraus, da sich mein Gehirn vor lauter Schock noch im Leerlauf befindet.

"Wie? Was meinst du?"

"Hast du dir deine Hände nicht gewaschen?!"

Verstört wandern Kaorus Augen zu seinen Händen herunter. "Häh?"

Es dauert einige Sekunden, bis er sich meiner Anspielung bewusst wird. "Ach so..." Er räuspert sich. "Ich hab nur in den Spiegel geschaut."

"In den Spiegel?"

"Ja? Warum? Bist du etwa von der Spiegelpolizei?"

Ich fass es nicht. Es ist unser erstes richtiges Gespräch heute und es ist an Dämlich- und Belanglosigkeit kaum mehr zu übertreffen.

"Ich muss gleich zum Interview. Wollte sichergehen, dass meine Haare auch liegen." Sein verlegenes Lachen, die Art wie er sich unbeholfen die Haare übers Ohr streicht, löst schon fast Spontandiabetes bei mir aus.

"Ach ja, das Interview." Nur ungern rufe ich mir das ins Gedächtnis zurück.

"Sorry, du wolltest bestimmt gerade..."

"Was?"

"Hm?"

Wie zwei Grenzdebile starren wir einander an. Es fehlt nur noch der Steppenläufer, der theatralisch zwischen uns durch den Flur weht.

Kaorus Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Wolltest du nicht--?"

"Kaoru-san!"

Noras Stimme hallt von der anderen Seite des Ganges zu uns herüber. Bewaffnet mit einem Notizblock gestikuliert sie hektisch in unsere Richtung. Neben ihr ragt Toshiya auf wie eine dunkle Kirchturmspitze.

"Komme sofort!", ruft Kaoru halblaut zurück, aber seine Augen sind noch immer auf meine Nase geheftet. Hinter seiner gerunzelten Stirn kann ich es arbeiten hören.

Er weiß es. Scheiße, er weiß, dass ich ihm nachgelaufen bin. Dass ich ihn bis auf die Toilette verfolgen wollte. Auch wenn ich das nicht wirklich tun wollte!

Moment mal, bilde ich mir das ein? Ist das da etwa ein Lächeln, das sich um seine Lippen kräuselt?

"Ah ja, soso...", schmunzelt Kaoru vor sich hin und sieht dabei aus wie ein Kätzchen, das gerade mit Sahne gefüttert wurde. Mit befremdlicher Gemächlichkeit schiebt er sich dicht an mir vorbei. "Darüber reden wir später, ja? Versetz mich nicht wieder."

Mir schießt das Blut ins Gesicht. Vielleicht läuft es mir auch aus den Augen. Oder den Ohren. Wer kann das schon sagen?

Perplex, wie angewurzelt, sehe ich ihm nach, doch er dreht sich nicht mehr zu mir um. An der Seite von Nora und Toshiya verschwindet er den Gang runter hinter einer sich schließenden Tür und ich stehe hier immer noch wie der allergrößte Vollhorst an der halbgeöffneten Klotür.
 


 

~*~*~
 


 


 

Ich weiß nicht, was das sollte und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr qualmt mir der Schädel. Und da kokelt wahrlich schon genug Humbug vor sich hin. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schon fast behaupten, Kaoru hätte vorhin mit mir geflirtet. Aber offensichtlich ist die Hölle noch nicht zugefroren und das somit vollkommen ausgeschlossen.

Ich soll ihn nicht wieder versetzen. Als ob ich das mit Absicht getan hätte!

Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand. Mit Sicherheit ist das Interview längst vorbei.

Strenggenommen ist es noch zu früh, um sich für den Auftritt in Schale zu verwerfen, aber auf meiner heutigen to-do-Liste befinden sich nun mal nicht mehr sonderlich viele unabgehakte Punkte und was Sinnvolleres weiß ich beim besten Willen nicht mehr mit mir anzufangen. Nachher komme ich nur wieder auf dumme Gedanken. Also habe ich meinen Arsch im Ankleideraum geparkt, genauer gesagt am Schminktisch, und betrachte mein Gesicht im Spiegel, das zwar optimal ausgeleuchtet ist, aber dennoch müder denn je aussieht.

Aus dem Nachbarraum dringen gedämpftes Gelächter und die dröhnenden Stimmen der Mitglieder unserer Vorband zu mir herüber. Wie gerne würde ich mich jetzt zu ihnen gesellen, ein Bierchen kippen und eine ordentliche Partie Tischtennis mit ihnen auf der Platte nebenan hinlegen. Die Ablenkung könnte ich wirklich gebrauchen. Aber ich habe mir ganz fest vorgenommen auch heute keinen Alkohol zu trinken. Und ich kenne mich mittlerweile gut genug, um mir keinen Meter weit zu trauen. Ich weiß genau, sobald ich auch nur in den Dunstkreis der anderen gelange, läuft es unweigerlich darauf hinaus, dass mir irgendwer eine Flasche in die Hand drückt und ich mich wieder von den anderen mitreißen lasse, meinen Frust in Hopfenkaltschale zu ertränken.

Ich zupfe ein Taschentuch aus der Schachtel neben mir und tupfe damit vorsichtig meine vom Kontaktlinseneinsetzen noch ganz feuchte Wimpern ab. Wie ich so mit geschlossenen Augen dasitze, höre ich hinter mir das Klacken der Tür. Kurzzeitig werden die Geräusche von drüben lauter. Jemand betritt den Raum.

"Ich hab dir 'nen Eiskaffee mitgebracht."

Die Tür fällt zurück ins Schloss und Kyo stellt etwas, das verdächtig nach einem Pappbecher klingt, vor mir auf den Tisch.

Ich öffne ein Auge. "Gar nicht gemerkt, dass du weg warst."

"Nur kurz nach drüben geflitzt." Lässig an seinem Getränk nippend lehnt er sich rechts von mir gegen die Tischkante. "Musste den Hintereingang nehmen. Die Hölle los da draußen."

"Also hast du den unter Einsatz deines Leben für mich besorgt? Sehr aufopferungsvoll."

Kyo angelt sein Handy aus seiner Gesäßtasche und schnaubt. "Ne? Find ich auch."

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Kopfschüttelnd beginne ich mit einem Schwämmchen meine kilometerlangen Augenringe abzupudern. Was vielleicht nicht äußerst sinnvoll erscheint, wenn ich mich später sowieso wieder wie ein Panda anmale. Nach und nach verschwinden die düsteren Schatten unter meinen Augen und auch die restlichen Unebenheiten auf meinem Gesicht werden Schicht für Schicht unsichtbarer. Manchmal wünschte ich, alles würde sich so leicht verbergen lassen. Aber nur, weil etwas gut verborgen ist, heißt das nicht, dass es aufhört zu existieren.

Ich lege den Schwamm beiseite und meine Stirn in Falten, blicke mir selbst im Spiegel tief in die Augen. Hinter mir öffnet sich abermals die Tür. Diesmal ist es Kaoru, der zu uns hereintigert. Ohne sich wirklich zu uns zu drehen oder uns Beachtung zu schenken, steuert er direkt auf den runden Tisch in der Mitte des Raumes zu. Heimlich beobachte ich ihn aus dem Spiegel heraus. Emsig kramt er in seiner Tasche herum. Kurz blitzen eine Haarbürste mit verchromtem Griff und eine Dose Haarspray auf, dann kommt eine Menge Kleidung zum Vorschein.

Neben mir beginnt sich Kyo zu regen, das Scrollen auf seinem Handy hat ein abruptes Ende gefunden. Es verschwindet wieder in den Tiefen seiner Hose. Kyo zieht hörbar die Nase hoch und gibt mir einen Klaps auf die Schulter. "Man sieht sich", sagt er, bevor er mit undechiffrierbarer Miene den Raum verlässt.

Ich blicke ihm nach. Möglicherweise hat er nur ein paar Anstandssekunden gewartet, bis er uns nicht mehr allzu auffällig alleine lassen kann. Eine Undercover-Mission war's jetzt aber auch nicht gerade.

Stillschweigend luschere ich zu Kaoru herüber. Auch er hat Kyo hinterhergeschaut. Ehe sich unsere Blicke treffen können, hefte ich meine Augen zurück auf meine Puderdose.

Zwar wollte ich die ganze Zeit mit Kaoru alleine sein, doch jetzt, wo wir es tatsächlich sind, beschleicht mich eine Art elektrisierende Nervosität, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Ich sollte etwas sagen, aber ich weiß wie. Ich will etwas sagen, aber die Worte zerfallen mir auf der Zunge.

Und so vergehen die Minuten scheinbar in unbehaglicher Stille, obwohl aus dem Nebenzimmer noch immer die Geräusche eines aufgebrachten Urwalds zu uns herüberschallen. Minuten, in denen ich mich äußerlich ungerührt schminke, doch aufmerksam dem Rascheln von Stoff hinter mir zuhöre. Kaoru schlüpft verdeckt vom Raumtrenner in sein Bühnenoutfit.

In unbequemer, beinahe regungsloser Pose vor dem Spiegel hängend ziehe ich meine Augenbrauen nach, während diese Stille langsam ihre unsichtbaren Hände nach mir auszustrecken scheint. Mitleidlos schlingen sich ihre Finger um meinen Hals, drücken mir mit jeder zerflossenen Sekunde mehr und mehr die Luft ab.

"Bist du sauer auf mich?", bricht es aus mir hervor, als ich es nicht länger ertrage.

Aus dem Augenwinkel sehe ich eine nicht definierbare Bewegung hinter mir im Spiegel. Neubekleidet tritt Kaoru aus dem Schatten des Raumtrenners hervor. Mit beneidenswerter Tiefenentspanntheit nähert er sich wieder seiner Tasche auf dem Tisch und wühlt erneut darin herum.

"Sollte ich?"

Nun fokussiert sich mein Blick doch genauer auf ihn. "Das ist keine Frage, die du mit einer Gegenfrage beantworten solltest."

"Frag mich noch mal", erwidert er, ohne von seiner Tasche abzulassen oder aufzusehen.

Ich stöhne genervt. Um ein Haar hätte ich mich vermalt. "Bist du sauer auf mich?"

"Ja."

"Was?" Klappernd lege ich den Augenbrauenstift auf den Tisch und drehe mich zu ihm um, warte auf eine Erklärung, doch da er keinerlei Anstalten macht, das noch weiterauszuführen, werfe ich nach: "Und wieso?"

Hinter all den Haaren kann ich sein Gesicht nicht erkennen, aber selbst über den Tumult von nebenan hinweg höre ich noch seinen Atem, wie er zuerst tief Luft holt und diese kurz darauf wieder laut und kräftig ausstößt. Sein Brustkorb hebt und senkt sich dabei merklich. "Wo soll ich da bloß anfangen..."

"Kaoru."

"Ja?"

"Ob du mich verarschen willst, hab ich dich gefragt."

"Vielleicht."

So ein Drecksack. Spielt schon wieder mit meinen Gefühlen. Manchmal könnte ich ihn echt erwürgen...

"Hilf mir mal mit dem Reißverschluss." Wie als hätte er meine Gedanken gelesen, streicht er sich unvermittelt die Haare aus dem Nacken, um diese hochzuhalten, steht wartend da wie eine Anziehpuppe.

Erst hadere ich mit mir, dann erhebe ich mich aber doch brummelnd und trete hinter ihn, tue, was er sagt, obwohl mein Gehirn kurz darüber nachdenkt ihn tatsächlich an Ort und Stelle zu strangulieren. Anderseits... Wie ferngesteuert greift meine Hand nach dem halbhochgezogenen Reißverschluss, zieht ihn nach unten, statt nach oben, spaltet den Stoff entzwei und entblößt Kaorus blassen Rücken bis zu seiner Hüfte.

"...hoch, Die. Hoch."

Ich versuche nicht mal zu verbergen, dass ich das mit voller Absicht getan habe. "Upps. Mein Fehler."

Vorsichtig, um seine Haut nicht einzuklemmen, ziehe ich den Reißverschluss wieder in die entgegengesetzte Richtung, hoch bis in seinen Nacken, betrachte stumm die gerade Linie seines schlanken Halses. Es fällt mir schwer mich nicht wieder wie heute Morgen von seinem Geruch, seiner Nähe, und vor allem von seiner Wärme berauschen zu lassen. Andächtig streiche ich den Stoff über seinem Rücken glatt. In meinem Kopf sehe ich mich Dinge mit Kaoru anstellen, die weder sanft noch romantisch sind.

"Die... Ich bin dir nicht sauer, dass du gestern Abend nicht aufgetaucht bist", sagt er nichtsahnend von meinen inneren Konflikten.

"Echt nicht? Aber ich-"

Er dreht sich zu mir um. "Lass mich ausreden."

Ich verstumme. Zwischen uns liegt wieder eine Armlänge Platz. Eine kurze Distanz, doch es scheint mir wie ein Graben so tief wie ein Canyon.

"Und ich glaube, du hast da gestern auch etwas falsch verstanden."

"Ach. Hab ich das."

"Ja, hast du." Als er erneut den Mund aufmacht, klingt seine Stimme verändert. "Denke ich."

"Okay, und was wäre das?"

"Naja, ich würd's dir ja jetzt zeigen, aber da du gerade eben erst meinen Reißverschluss so schön hochgezogen hast..."

"Kaoru. Worum geht's?"

"Ich weiß ja nicht, was du dir alles so in deinem Kopf zusammenspinnst-"

Am liebsten würde ich das direkt zurückgeben.

"-aber den Fleck, den du gestern Morgen auf meinem Oberkörper gesehen hast, das ist ein blauer Fleck."

Ich glotze ihn an.

"Kein Knutschfleck."

Warum zum Teufel erzählt er mir das?

"Als wir mit dem Fahrstuhl steckengeblieben sind, weißt du noch?"

Als könnte ich das vergessen.

"Als die ganze Kabine so geruckelt hat, da bin ich gestürzt und auf meine Sonnenbrille gefallen." Seine Hand tippt auf die Stelle auf seinem Oberkörper, dort wo sonst oft seine Sonnenbrille im Kragenausschnitt baumelt.

"Oh", purzelt es mir über die Lippen. Plötzlich komme ich mir so unsagbar dumm vor.

"Ja, nun. Ich wollte nur, dass du das weißt."

Die Stimmen aus dem Flur werden lauter. Mit großem Gepolter schwingt die Tür auf und gleich mehrere Leute platzen zu uns herein. Ich nehme nicht mal wirklich wahr, wer genau es ist. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken wie vom Wind aufgewühltes Herbstlaub umher. Was soll ich mit dieser neu gewonnenen Information anfangen? Was verändert sich durch dieses neu erlangte Wissen? In der vorhin noch so stillen Garderobe ist es laut und hektisch geworden.
 


 


 


 


 

____________

To be (or not to be) continued.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  yamo-chan
2022-09-25T09:08:34+00:00 25.09.2022 11:08
Hi 😊

Ich finde, es gibt jemanden, der viel verdächtiger ist als Miho, aber der Gedanke bricht mir das Herz und ich werde lieber keine Namen nennen.
Dies wirre Gedanken kann ich nur zu gut nachvollziehen 🙈
Obwohl mich alles in dieser FF wahnsinnig triggert und ich fast durchgehend geheult habe, habe ich sie verschlungen und erhoffe mir für den Oktober ein neues Kapitel. 😇
Ich habe übrigens beim lesen die Abstände in denen das geschrieben wurde nicht wahrgenommen .

Grüße
🦎ヤモリ
Von:  motti
2022-09-22T16:30:00+00:00 22.09.2022 18:30
Achterbahn der Gefühle, danke dass wir Did wieder einmal dabei begleiten durften :D


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