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Liebe macht blind

Die & Kaoru
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kommentar:
Ein Update. Jetzt. Nach all den Jahren.
Ähm. Besser spät als nie - das sagt man doch so, oder?
Ich will ehrlich sein, vieles aus den früheren Kapiteln würde ich heute so nicht mehr schreiben und eigentlich war diese Fanfic zu Beginn auch mehr aberwitziger Klamauk als alles andere, aber dennoch hat sie nach wie vor einen großen Platz in meinem Herzen.
Ich würde sie sehr gerne doch endlich zu einem Abschluss bringen.
Auch wenn von den früheren Lesern niemand mehr mitliest. Auch wenn sie bei neuen Lesern vielleicht für Kopfschütteln oder keinerlei Interesse sorgt. Ich möchte sie zu Ende schreiben. Und wenn auch nur für mich selbst.
In diesem Sinne ... ♡
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Die Konkurrenz schläft nicht.

Als ich an diesem Morgen die Augen öffne, kommt es mir vor, als wäre ich aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Tonnenschwer erscheinen mir meine Lider und auch der Schädel dröhnt lauter als sonst. Die vorwitzige blonde Strähne, welche mir quer über das Gesicht fällt, schützt mich nur wenig vor dem in das Zimmer hereinströmende Sonnenlicht. Gott, es ist einfach viel zu grell für meinen übernächtigten Organismus.

Die Szene besitzt allerdings herzlich wenig Märchenhaftes, so wie ich hier quer über das ganze Bett hinweg ausgebreitet, halb bekleidet, mit einer Hose auf halb acht vor mich hin vegetiere. Und da ich nun mal nicht Dornröschen bin, und somit wohl auch früher verrotten würde, als von meinem Prinzen wachgeküsst, kann das nur bedeuten, dass ich immer noch ich und nicht der Protagonist eines kitschigen Liebesromans bin. Verdammt.

Etwas Schlaf aus meiner Wimper wischend und mit einer Hand die Sonne und ihre gratis Laserbehandlung abschirmend, versuche ich mich unter kratzigklingendem Ächzen hochzuhieven, was mir erstaunlich schwerer fällt, als ich es erwartet hätte. Bin halt doch nicht mehr der Jüngste. Und es kommt mir zu diesem Zeitpunkt auch vor, als wären wir bereits seit Ewigkeiten auf dieser Tour. Welcher Tag ist heute nochmal? Meine grauen Zellen befinden sich genauso wie ich noch im Halbschlaf. Dreiviertelschlaf. Wie spät ist es??

Ein gequältes Murren ausstoßend wuchte ich mich auf die Seite. Jeder Wirbel meines Rückens scheint sich gegen mich verschworen zu haben, jeder einzelne schmerzt.

Ein gleißender Lichtstrahl fällt durch die seidigen Vorhänge des Hotelzimmers. In dem sanften Windzug, der sich lautlos durch das weit offenstehende Fenster hereinschleicht, wogen die Falten des Stoffes gegen die Wand wie Wellen an ein Ufer. Der Lichtstrahl führt in einer beinahe senkrecht verlaufenden Linie direkt über mein Gesicht, hinab zu meinen Füßen, die unbedeckt über den Rand des Bettes baumeln. Unbedeckt... Wo ist meine Decke überhaupt? Der frische Morgenwind beschert mir eine Gänsehaut, welche mich diesen Verlust erst bemerken lässt.

Geblendet von diesem unverschämten Lichtschein kneife ich die eben so mühsam aufgestemmten Augen wieder zu. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, ist es noch viel zu früh für mich, um aufzustehen. Aber aus welchem Grund bin ich aufgewacht?

Blind patsche ich dort mit der linken Hand auf dem Nachttisch herum, wo ich mein Handy vermute. Als ich es zu fassen bekomme und auf das Display luschere, erblicke ich anstatt einer Uhrzeit jedoch eine formatfüllende Mitteilung, die mir anzeigt, ich hätte eine neue Nachricht erhalten. Ich schlussfolgere, dass ich wohl vom Vibrieren meines auf stumm geschalteten Handys wach geworden sein muss.

"Weckruf. Heutige Abfahrtszeit: Halb elf."

Typisch Kaoru. Kurz, knapp, informativ. So mag ich das.

Die Uhr zeigt 7:57; ich habe also noch mehr als genügend Zeit zum Duschen und Packen. Und für ein Nikotinfrühstück.

Als ich es nach einigen schwerfälligen Bemühungen schaffe mich aufzurichten und gerade die Beine aus dem Bett schwinge, fährt meine Zungenspitze flüchtig über meine Unterlippe - und genau in dieser Sekunde erhellt ein Erinnerungsblitz meinen wolkenverhangenen Schädel. Ein Erinnerungsblitz so glühend heiß wie die Berührung zweier sich umschlingenden Zungen.

Ich stocke mitten in der Bewegung. Meine Hand, mit der ich vorhatte mich am Bettrand abzustützen, greift ins Leere, rutscht von der Kante und bringt mich vollends aus dem Gleichwicht. Um wortwörtliche Haaresbreite hätte ich mir die Rübe am Nachttisch zerschmettert, doch der aufdringlich plüschige Teppich neben dem Bett empfängt mich mit fürsorglicher Polsterung.

Zeige- und Mittelfinger auf meine Lippen gelegt, starre ich mit weitaufgerissenen Augen ins Nichts.

Kaoru hat mich geküsst.

Kaoru hat mich gestern Nacht... heute Früh...

Er hat mich...

Eine hastige Handbewegung und ein erneutes, dieses Mal wildes Herumpatschen auf der Suche nach meinem Handy später, halte ich das Teil endlich in meinen Händen und überfliege noch einmal die eingegangene Nachricht. Wider meiner Erwartung handelt es sich dabei jedoch nicht um eine SMS von Kaoru. Allerdings ist die Nummer, von der sie verschickt wurde, auch nicht in meinen Kontakten eingespeichert, und so bin ich nun noch viel verwirrter, als ich es vorher war.

Wer hat mir das geschickt? Wessen Nummer ist das? Bandkollegen, Tourbegleiter, selbst die Vorband... Ich pflege es mit jedem Kontakte auszutauschen. Ein prall gefülltes Telefonbuch gehört für mich einfach zum guten Ton. Also muss diese Nachricht entweder von einem Außenstehenden gekommen sein oder einer meiner Mitreisenden hat seit Neustem eine andere Rufnummer und vergessen es mir mitzuteilen.

Das aber mal außer Acht gelassen, ist es schon höchst sonderbar wie dieser "Weckruf" formuliert ist - nämlich genau so, wie es Kaoru sonst zu tun pflegt. Und wenn ich genau so sage, meine ich exakt genau so. Aber es kommt nicht von Kaorus Handy. Denn Kaoru ist einer von denen, die ihre Rufnummer niemals ändern. Auch nach Jahren nicht. Auch nicht, wenn sie den Anbieter wechseln. Eher macht er sich die unnötigen Umstände seine Rufnummer doch irgendwie zum neuen Anbieter mitzunehmen und das alles nur, damit er stets darunter "erreichbar bleibt".

Ich fasse zusammen: Auf meinem Handy befindet sich eine Nachricht, die geschrieben ist, wie eine von Kaoru, jedoch nicht von Kaoru ist. Und wenn sie von ihm geschrieben wäre, am Morgen nachdem er mich geküsst hat, dann...

Obwohl es ihm ähnlich sehen würde. So trocken zu bleiben. So distanziert. So zu tun, als wäre nichts passiert. Einfach mit dem Alltag weiterzumachen.

Aber das will ich im Moment nicht wahrhaben. Gestern war anders. Das, was gestern - vor wenigen Stunden - zwischen uns im Fahrstuhl und auf dem Gang dieses Hotels vorgefallen ist, war so gänzlich anders als alles andere, was je zwischen uns passiert ist. Seine Sanftheit, seine Wärme... Diese Vertrautheit mit der er mich angesehen hat.

Ich lehne mich gegen den Rahmen meines Bettes, die halbherunterhängende Decke als Puffer in meinem Rücken, und kreuze die Beine zum Schneidersitz. Zwischen meinen unruhigen Fingern drehe ich mein Handy hin und her, bin meilentief in einem Ozean aus Gedanken versunken. Vielleicht sollte ich diese mysteriöse Telefonnummer einmal anrufen? Wenn sich dann die verschlafene, samtige Stimme meines Lieblings-Brummbären am anderen Ende melden würde, hätte ich wenigstens sofort Gewissheit.

Meine eigene Idee mit einer Kopfbewegung abnickend, tippe ich kurzentschlossen auf den Rückruf-Hörer neben der ominösen Nachricht und halte mir das Handy ans rechte Ohr. Während ich mich noch seelisch darauf vorzubereiten versuche, was ich wohl sagen könnte, hätte ich gleich wirklich Kaoru an der Strippe, macht es auf der anderen Seite bereits klack.

"Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal."

Ich weiß auch nicht so recht, womit ich gerechnet habe, aber damit wahrscheinlich nicht.

Ernüchtert lege ich auf und lasse das Handy aus meiner geöffneten Hand neben mir auf den Teppich purzeln.

Wer zum Geier hat mir das bloß geschrieben?

Die Zahnräder meines verstaubten Oberstübchens mögen sich an dem Morgen nach einer Sonderfahrt auf dem Spirituosen-Karussell noch nicht wieder auf Normalgeschwindigkeit drehen, jedoch bin ich mir ziemlich sicher, dass hier etwas äußerst Merkwürdiges vor sich geht und ich zur Ausnahme nicht bloß unberechtigte Paranoia schiebe.

Aber was bleibt mir jetzt noch? Was kann ich in diesem Augenblick noch tun?

Ein langer, entnervter Seufzer entspringt den Tiefen meiner verteerten Lungen, die nun heftiger denn je nach einer frühmorgendlichen Kippe verlangen, und so erhebe ich mich vom Boden, schnappe mir die Schachtel Zigaretten und das silberne Zippo-Feuerzeug vom Nachttisch, und trotte leicht schwankend hinüber zum Fenster.

Zwar ist mein Körper regelmäßige Alkoholbetankung mittlerweile gewöhnt, aber in meinen ausgelaugten Knochen steckt an diesem Morgen trotzdem so etwas wie ein leichter Kater.

Nachdem ich den Vorhang beiseite gezogen, das Fenster geöffnet und mir eine angesteckt habe, lehne ich mich über die Fensterbank und blicke, der Sonne entgegenblinzelnd und den Glimmstängel lässig zwischen meine Lippen geklemmt, hinab auf die Stadt. Zweifelsohne: Ein strahlender Morgen, der keinerlei Spuren des gestrigen Wolkenbruchs zurückgelassen hat. Keine Pfütze mehr zu sehen, kein Tropfen mehr auf den Pflanzen, nur eingetrocknete Flecken, Überbleibsel von Rinnsalen auf dem Glas.

Als wäre nichts gewesen.

Ist auch für Kaoru nichts gewesen?

Wo wären wir gelandet, hätte sein Telefon gestern nicht geklingelt?

Wäre dann mehr passiert als nur ein Kuss?

Blaugrauer Dunst einsteigt meinen Lippen. Ich frage mich, was ihn bloß dazu getrieben hat, mich zu küssen. War er womöglich betrunken? Auf mich hat er nicht den Eindruck gemacht, als wäre er es, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob er überhaupt die ganze Zeit über in der Bar herumgehangen hat wie ich, geschweige denn zum Saufen dorthin gegangen ist. Nein, er war bei klarem Verstand, da bin ich mir sicher.

Aber was hat das zu bedeuten?

Nachdem ich endlich in mein Hotelzimmer zurückgekehrt war, bin ich sofort in meine Kissen gefallen und war zugegebenermaßen zu beschäftigt damit meine Matratze abzuhorchen, als dass ich noch eine Sekunde Zeit gehabt hätte, über all das nachzugrübeln, was sich zuvor ereignet hat.

Doch auch jetzt, wo ich die Zeit dazu habe, will mein Verstand es mir nicht erlauben, zu sehr darüber nachzudenken.

Stumm vor mich hinrauchend betrachte ich die knorrige alte Linde, die etwas versetzt vor meinem Fenster majestätisch in den wolkenlosen Himmel hinaufragt. Ein nahezu berauschender Duft geht noch immer von ihr aus, noch immer summt und brummt es lautstark aus ihrer Krone, obwohl ihre blassgelben Blüten bereits verblüht sind. Was versuchen diese vielen Hummeln und Bienen dort noch zu finden? Hungrig umschwirren sie den Baum, der ihnen zu dieser Jahreszeit statt süßem Nektar nur noch den qualvollen Tod schenkt. Von hier oben vermag ich nicht zu erkennen, was sich momentan am Fuße des Stammes abspielt, aber ich weiß es genau. Dort unten werden bereits die ersten liegen. Elendig verhungert. Und dabei duftet es doch so verlockend aus dem Blätterdach.

Mir wird wehmütig ums Herz. Auch ich kreise ausgehungert und emsig um etwas, welches umgeben ist von einer Aura, die meine Sinne betört. Auch ich habe nicht verstanden, dass der süße Geruch nur ein leeres Versprechen ist und meine Tage gezählt sein werden, sollte ich nicht weiterfliegen. Zu einer anderen Blume. Zu einer, die mich nähren wird.

Wenn die Kirschblütenpracht nach wenigen Frühlingstagen in alle Winde verstreut wird, dann empfinden wir tiefe Trauer über den frühen Verlust ihrer Schönheit. Wenn der Lindenblütenzauber Mitte des Sommers abertausende Opfer fordert, vergießt niemand auch nur eine Träne um sie.
 


 

~*~*~
 


 

"Nicht! Runter mit dem Kopf!!"

"Was ist denn?!"

"Ssshhhssshhhssshhhssshhhssshhh!!"

"Jetzt sag mir doch was-- Wmmpf--!"

Es ist 10:20 Uhr. Eigentlich wollte ich nur locker flockig, frisch geduscht und gestriegelt mit meinem Reisegepäck bewaffnet in die Eingangshalle hinunterschlendern, aber noch bevor ich am mir seit gestern Nacht verhassten Aufzug aus der Hölle vorbei und beim Treppenhaus angekommen bin, werde ich urplötzlich am rechten Unterarm gepackt und mit einem gewaltigen Ruck unsanft in einen halbdunklen Seitengang gezerrt von dem keinerlei Türen abführen und nur ein schmales Fenster zum Hinterhof des Hotels hinauszeigt.

Ich und mein Koffer werden gezwungenermaßen gen Boden gezogen, während sich eine große schmierige Hand plump auf mein Gesicht drückt und mir mit eiserner Bestimmung den Mund zupresst. Weitere Worte des Protestes sind bereits drauf und dran aus mir herauszuplatzen, da vernehme ich aus dem Gang, aus dem ich soeben verschleppt worden bin, die mir nur allzu bekannte Stimme unserer Übersetzerin Schrägstrich Roadie-Dame, Nora. Sie scheint jedoch alles andere als guter Laune zu sein, denn neben dumpfen Geräuschen, die wie das Herunterfallen und Umherschleifen einer zu vollen Reisetasche klingen, mischen sich erboste, gemurmelte Worte, die ich zwar nicht verstehen, aber dennoch erahnen kann.

Eine meiner Augenbrauen verselbstständigt sich und wandert in die Höhe, während ich mit einem skeptischen Seitenblick zu Toshiya herüberschiele, der angespannt und wie elektrisiert direkt neben mir hockt und mir noch immer seine Fettflosse auf den Mund drückt. Mit dem erhobenen Zeigefinger seiner freien Hand und einem Flehen in den Augen deutet er mir mich ruhig zu verhalten und weil ich an diesem Morgen nicht den geringsten Drang danach verspüre unnötigen Stress heraufzuprovozieren, spiele ich sein albernes Theater eben mit.

Es dauert nicht lange, da fällt Noras Hotelzimmertür schon ins Schloss und nach einem Rascheln, einem kurzen Ächzen und darauffolgenden entnervten Seufzer kann ich hören, wie ihre Schritte auf dem abgewetzten Teppich immer leiser werden, bis sie schließlich am Aufzug angelangt sein muss, dessen Türen sich nur wenige Augenblicke später rumpelnd öffnen.

Da ich uns nun in Sicherheit wiege, löse ich Toshiyas Beutegreifergriff langsam von meiner Visage, erhebe mich und trete sicherheitshalber gleich einen Schritt zur Seite.

Unterdessen verlässt ein erleichterter Seufzer Toshiyas Kehle; im gleichen Moment in dem sich auch die Türen des Aufzugs wieder schließen.

"Puh... Ein Glück. Sie ist weg." Mit dem Rücken gegen die Wand plumpsend reibt er mit seiner verschwitzten Handfläche nun über seinen Nacken, zerzaust dabei sein schwarzes Haar.

"Warum zum Teufel versteckst du dich vor Nora...?", frage ich und werfe einen kurzen Schulterblick in den Gang, um zu prüfen, ob wir nun wirklich alleine sind.

"Sie ist gar nicht gut auf mich zu sprechen."

Einen Augenblick warte ich schweigend darauf, dass noch etwas kommt, aber als Toshiya keinerlei Anstalten macht, mir den Hintergrund dieser Geschichte zu erläutern, setzte ich nach. "Und warum?"

"Warum... was?"

"Warum ist sie sauer auf dich?"

"Ich hab sie nur nett gefragt, ob sie mir vor der Show noch meine Boots putzen und polieren kann und dann ist sie irgendwie ausgerastet...", nuschelt er und kratzt sich dabei bedröppelt an der Wange.

"Aha?"

"Hat mir so einen giftigen Blick zu geworfen und mich und meine Schuhe einfach stehen gelassen. Ist ja nicht so, als würde ich ihre Arbeit nicht schätzen oder sie unfreundlich behandeln. Weiß gar nicht, was in sie gefahren ist." Er schneidet eine Grimasse. "Hat bestimmt ihre Tage."

"Mmmh..."

"Und jetzt hab ich keine Schuhe."

Ich glotze ihn an wie ein Auto. "Putz sie doch selbst??"

"Kann ich nicht. Die Schuhe sind verschwunden."

"Verschwunden?"

"Ich hab sie erstmal dort stehen gelassen, wollt sie nicht die ganze Zeit mit mir rumschleppen. Und als ich zurückgekommen bin, waren sie nicht mehr da."

"Vielleicht putzt Nora sie jetzt ja doch." Wer's glaubt, wird selig.

"Nie im Leben. Du hast nicht gesehen, wie sie mich angeguckt hat." Er verzieht einen Mundwinkel und blickt nachdenklich drein. "Vielleicht sollte ich ihr mal was schenken oder so. Du weißt schon. So als Aufmerksamkeit."

Ich nicke bestätigend. "Und was machst du wegen deinen Schuhen?"

"Muss ich wohl Stiefel tragen..."

"Zum Glück haben wir ja nur 33 Grad Außentemperatur."

"Leihst du mir deine Sneaker?"

Ein trockenes Lachen verlässt meine Kehle. "Vergiss es."

"Ich leih dir auch immer alles!"

"Du leihst mir nie was."

"Ich hab dir mein Haarshampoo geliehen."

"Das war Kyo."

"Was ist mit mir?" Wie eine Geistererscheinung manifestiert sich aus heiterem Himmel plötzlich Kyos Gestalt im hellen Gang neben uns. Von seiner linken Schulter baumelt eine wuchtig aussehende Markentasche aus schwarzem Leder, in der rechten Hand hält er den Griff seines Rollkoffers. Er erweckt nicht gerade den Anschein, als hätte er vergangene Nacht viel Schlaf abgekriegt. Seine Augen sehen klein und müde aus, seiner Wange haftet noch ein letzter blasser Hauch Himbeerrosa in der Form eines kaum noch zu erahnenden Handabdrucks an.

Erinnerungsfetzen an unsere gestrige Unterhaltung auf dem Hoteldach kehren zurück in mein Gedächtnis. Ich kann mir denken, was ihn wachgehalten hat.

Mit einem Kinnnicken in unsere Richtung sagt er: "Stör ich euch grad bei was? Oder gibt's hier was umsonst?"

Sein Blick fällt auf eine dürre Spinne, die soeben im Begriff ist sich von einem verstaubten Lampenschirm an der Wand abzuseilen. "Gemütlich habt ihr's hier."

"Hast du zufällig noch ein paar Schuhe übrig?", platzt Toshiya direkt mit der Tür ins Haus.

"Für wen?", wirft Kyo beinahe desinteressiert als Gegenfrage zurück und bleibt mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei der Spinne.

"Für mich."

Unweigerlich wandern Kyos Augen jetzt hinab zu Toshiyas Füßen - und wie ich seinem Blick so folge, entdecke ich nun ebenfalls, dass Toshiya momentan überhaupt gar keine Schuhe trägt! Steht der hier doch allen Ernstes mit Socken. Ich fass es nicht.

"Als ob deine Klumpfüße in meine Schuhe passen würden", sagt Kyo trocken und mit einem Schmunzeln, das sich zögerlich um seine Lippen kräuselt, worauf er bloß ein missmutiges Schnaufen von Toshiya erntet, der gleichzeitig zu mir herüberschaut als erwarte er, dass ich ihm nun irgendwie zur Hilfe eile.

Doch ich zucke nur mit den Achseln. "Was denn? Er hat doch Recht."

Vollendens eine Schmollschnute ziehend verschränkt Toshiya die Arme vor der Brust. "Na ganz toll. Hochsommer und ich lauf mit Stiefeln durch die Gegend! Was sollen die Leute von mir denken?"

"Dass deine Füße glühen müssen."

An dieser Stelle kann ich mir mein Lachen nicht mehr verkneifen. Sonst bin immer ich es, der von allen durch den Kakao gezogen wird. Es tut gut, dass auch mal jemand anderes an der Reihe ist.

Angesteckt von meinem Lachen zuckt auch Kyos Mundwinkel immer mal wieder flüchtig in die Höhe, doch kurz darauf haben seine Augen bereits wieder einen neuen Punkt am Ende des Ganges, in der Richtung aus der ich zuvor gekommen war, fixiert. Das Geräusch einer Klinke, die heruntergedrückt wird, und beinahe tippelnd anmutende Schritte erfüllen die Luft.

Da ich mir nach wie vor im schummrigen Seitengang mit der beunruhigenderweise mittlerweile nirgendwo mehr zu entdeckenden Spinne und einem angefressenen, schuhwerklosen Toshiya die Beine in den Bauch stehe, kann ich nicht erkennen, was sich in diesem Moment um die Ecke, nur wenige Meter von uns entfernt, abspielen muss. Ich kann nur verwundert das bizarre Schauspiel auf Kyos Gesicht betrachten, wie seine Miene sich plötzlich verfinstert, seine Kiefermuskulatur sich merklich anspannt.

Ich will gerade selbst einen Blick riskieren und um die Ecke luschern, da spüre ich eine sachte, aber dennoch bestimmte Berührung auf meinem Oberkörper, die mich daran hindert, vorzutreten und mich stattdessen an Ort und Stelle hält. Verständnislos erst Kyos Fingerspitzen auf meiner Brust, dann Toshiya neben mir und schließlich wieder die Fingerspitzen anblinzelnd öffne ich meinen Mund und will gerade nachhaken, was denn los ist, scherzend fragen, ob nun auch er vor Nora auf der Flucht ist, und vorschlagen, dass hier bei uns im Gang noch Platz genug für ihn ist, wenn er ein Versteck sucht, als eine helle Frauenstimme die Stille durchbricht. Eine Stimme so zartschmelzend wie ein Sahnebonbon, das einem langsam auf der Zunge zerfließt.

"Kaoru... Es war so schön dich wiederzusehen... Ich dachte, ich müsste zerspringen vor Sehnsucht, hätte ich gestern Nacht nicht bei dir sein können..."

Das ist doch jetzt ein schlechter Scherz, oder?

Und überhaupt...

Wer redet so?!

Ich vermute, das ist nun wirklich das Letzte, über das ich mir gerade Gedanken machen sollte.

Kaorus warmes, brummendes Lachen, welches ich so sehr liebe, purzelt leise aus seiner Kehle, erfüllt den gesamten Raum und ein glühend heißer elektrischer Schlag zuckt durch mich hindurch. Eine sengende Hitze droht in mir aufzusteigen. In meinen Adern beginnt das Blut zu wallen.

"Na, na, zersprungen wärst du ganz bestimmt nicht."

"Das sagst du, doch mir war ganz elend ohne dich. Sag, wann kommst du endlich heim?"

"Dabei haben wir uns doch erst vor Kurzem gesehen... Hmm." Selbst bis hierher kann ich hören, wie Kaoru die Luft durch seine Zähne einzieht, bevor er nach einer winzigen Pause, in welcher er wohl die Tage im Kopf nachrechnet, antwortet: "Es sind noch vier Konzerte. Also... vor Mitte nächster Woche werde ich nicht zu Hause sein."

Seltsam. Ich könnte schwören Kaoru weiß unsere gesamten Tourdaten, inklusive Reisedauer und Aufenthaltszeit, auswendig, und dennoch gibt er ihr kein konkretes Datum. Nächsten Dienstag. Das weiß sogar ich. Das wird auch sie ganz einfach im Internet nachschlagen können. Was soll die Heimlichtuerei?

"Mitte nächster Woche..." Voller Wehmut wird ihre Stimme beim Wiederholen dieses Satzes immer leiser.

Ich kann das Rascheln von Kleidung hören und suche auf Kyos Gesicht nach einem Mienenspiel, das mir Auskunft drüber geben kann, was dort drüben vor sich geht. Aber seine Züge sind wie im Eis erstarrt.

Die Flammen in meinem Herzen lodern über. Ich muss wissen, was da passiert. Ich muss sehen, was sie tun.

Als ich mich einfach an Kyos ausgestreckter Hand, die mir bisher deutete zurückzubleiben, vorbeischiebe, lässt er mich sang- und klanglos gewähren. Allerdings kann ich im Augenwinkel erkennen wie seine Augenbraue für eine Millisekunde hochzuckt und registriere auch, dass er sich trotz allem nicht von der Stelle bewegt.

Und dann sehe ich es. Sie beide. Kaum einen Steinwurf von uns entfernt.

Kaoru steht nur da, lehnt lässig am Türrahmen, eine halbaufgerauchte Zigarette zwischen seinen Finger. Sein dunkelblauer Bademantel - so einer, den man hier vom Hotel gestellt bekommt - ist halb geöffnet, erlaubt einen Blick auf seinen nackten tätowierten Oberkörper. Seinen Haaren haftet ein letzter Rest Feuchte an. Vor ihm steht die Frau, die ich schon vor ein paar Tagen mit ihm zusammen auf einer Afterparty gesehen habe. Nur, dass ich jetzt nicht sturzbesoffen bin und nur Augen für den Grund meiner schlaflosen Nächte habe. Nein, jetzt ich bin hellwach, bei klaren Verstand, und nehme sie zum allerersten Mal richtig wahr.

Sie ist zierlich. Viel kleiner als Kaoru. Wie schwarze Seide fällt ihr Haar über ihre runden, schmalen Schultern und aus ihrem herzförmigen Gesicht mit den rosa Wangen funkeln zwei strahlend schöne Onyxe. Ihre Kleidung - eine cremefarbene Bluse mit dezentem Spitzenkragen und eine pastellblaue Jeans - ist schlicht, aber fügt sich nahtlos in das Gesamtbild ihres adretten Aussehens ein. Aus den hellen, flachen Sandalen lugen feingliedrigen Zehen hervor, die wie ihre Fingernägel in cremefarben lackiert sind.

Sie ist wirklich verdammt hübsch. Das muss ich neidlos anerkennen, auch wenn mich die Eifersucht in Stücke reißt.

Ihre schlanken Finger haben den Saum von Kaorus Bademantel ergriffen, haben sich tief in den Stoff hineingekrallt. Beinahe flehend, beschwörend sieht sie ihm in die Augen. "Kannst du... Kannst du nicht die Zeit vorspulen?"

Doch Kaoru erwidert nichts darauf, berührt stattdessen ihre Hand und löst behutsam einen Finger nach dem anderen aus seiner Kleidung. "Du wirst noch deinen Flieger verpassen."

Zwar hält er ihre Hand, streichelt einfühlsam mit dem Daumen über ihren Handrücken, und trotzdem vergehen keine zwei Sekunden, da entzieht sie sich seiner Berührung, wie ein scheues Reh vor einem Fremden zurückweicht.

"Denk an mich, wenn ich fort bin." Ihre nun befreite Hand setzt zu einer Bewegung an, doch stoppt kurz vor ihrem Ziel. Für einen Moment schwebt sie knapp vor Kaorus Brust, direkt vor seinem Herzen. Wie gebannt starren sie einander in die Augen. Kaum noch wahrzunehmen, kann ich sie flüstern hören. "Vergiss mich nicht."

Als sie die Hand schließlich zurückzieht, ballt sie sich zur Faust noch bevor sie wieder neben ihrem Körper angelangt ist, nur um sich kurz darauf wieder zu öffnen und nach dem Griff ihres kleinen Rollkoffers zu greifen.

Noch während ich versuche die Bedeutung dieser flüchtigen Geste zu ergründen, kann ich beobachten, wie sich Kaoru von seiner lehnenden Position am Türrahmen gerade aufrichtet, einen letzten, kräftigen Zug von seiner Zigarette nimmt und sich danach rasch in sein Hotelzimmer beugt. Sein ausgestreckter Arm verschwindet im Zimmer und taucht ohne Glimmstängel wieder auf. Die Schultern nach hinten gedrückt, den Rücken halbherzig gestreckt, dreht er sich leicht in unsere Richtung. Inmitten dieser Drehung schlägt sein dunkler Bademantel eine Falte - genau an der Stelle auf seinem Oberkörper, wo noch vor ein paar wenigen Wimpernschlägen so schüchtern und verunsichert ihre Hand schwebte.

Erst kann ich nicht erkennen, was nun aus dem Verborgenen unter dem dicken Frotteestoff zum Vorschein kommt. Beim ersten Betrachten sieht es aus wie ein konturloser violetter Fleck. Ich blinzele ein paar Mal, um es auf die Distanz besser ausmachen zu können, kneife dabei die kurzsichtigen Augen zusammen.

Dann schlägt der Vorschlaghammer der Erkenntnis endlich in meinen dösigen Schädel ein.

Der violette Fleck auf seiner Haut, nein, das blaurote Mal, das Zeugnis seiner letzten Nacht... ist ein Knutschfleck.

Unzählige Gedanken krachen in meinen Kopf wie Sturzbäche, drohen mich hinfortzureißen, hinwegzuspülen. Ich will sie eindämmen, zurückdrängen, doch der Bilderschwall nimmt kein Ende.

Seine Hände an ihrer blassen Haut, seine Lippen auf ihren, ihre Körper eng umschlungen, mit einander vereint, sein erregtes Gesicht... Oh Gott. Mach, das es aufhört. Ich will es mir nicht vorstellen. Ich will das nicht in meinem Hirn, verdammt! Dennoch brennt es sich immer mehr, immer glühender hinein, bis ich glaube, die Bilder sogar hören zu können.

Und bilde ich mir das ein oder kann ich plötzlich ihr süßes Parfüm von dort drüben bis hier hin riechen? Wie es auch an Kaorus Körper haftet. Es beißt in meiner Nase und dreht mir fast den Magen um. Mir ist so kotzelend.

Dieser Flur, dieser Hotelgang, der uns in diesem Augenblick trennt... Ich auf dieser Seite - halb versteckt in einem zwielichtigen Seitenkorridor, hervorlugend wie ein ungebetener Zaungast, der einen intimen Moment zwischen einem Liebespaar mit neidisch sprudelnder Galle in seiner Magengrube beglotzt. Und sie beide auf der anderen - umhüllt in einer Blase, in einer anderen Welt, nur Augen füreinander habend.

Eine unsichtbare Grenzlinie verläuft zwischen uns. Die Distanz wird immer größer. Der Flur zum reißenden Fluss, an dessen Ufer ich nur hilflos dastehen kann. Etwas tief in mir beginnt leise zu zerbröckeln.

"Ich fass es nicht! Es ist halb elf und Kaoru hat noch nicht mal 'ne Hose an!"

Es ist wie als würde man mich aus einem Albtraum reißen. Mit einem Mal scheint der finstere Bann, der mich in diesem absurden Moment gefangen hielt, zerschmettert. Noch völlig benommen von dem, was ich soeben gesehen habe, spüre ich links von mir jemand anderen stehen.

Es ist Toshiya, der aus dem Gang hervorgekrebst gekommen ist, die Arme erneut vor dem Oberkörper verschränkt hat und eine angesäuerte Flunsch zieht. "Und ich hab mich so beeilt aus dem Bett zu kommen!"

Kyos irritierter Blick trifft in dieser Sekunde den meinen und gemeinsam starren wir Toshiya, der offensichtlich nicht den leisesten Schimmer hat, in was für einer Lage wir uns hier befinden, an.

"Bitte was...?"

Mir rutscht das Herz kilometertief in den Marianengraben. Natürlich bin ausgerechnet ich es, den Kaoru zuerst entdeckt und mit streng zusammengezogenen Augenbrauen fixiert. Wie bestellt und nicht abgeholt, hängen wir drei hier wie die Vollpfosten an der Ecke rum. Es wäre kein Wunder, würde Kaoru nun glauben, dass ich hinter dieser morgendlichen Beschattungsaktion stecke.

Nur für den Bruchteil eines Augenaufschlages treffen sich unsere Blicke und doch bricht mir mit sofortiger Wirkung der kalte Schweiß aus. Was Kaoru in diesem Moment empfindet, vermag ich nicht zu sagen. Schon längst sieht er nicht mehr mich, sondern Toshiya an. Diese Eiseskälte mit der er mich unverzüglich komplett auszublenden scheint, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Irgendwo am Grunde der finsteren Tiefsee kann ich mein Herz armselig vor sich hin wimmern hören.

"Ich sagte, du hast ja nicht mal 'ne Hose an!", tönt Toshiya lauter als notwendig durch den gesamten Flur und deutet auf den Bademantel.

"Sagt derjenige, der nicht mal Schuhe trägt."

Auf Kyos trockenen Kommentar entfleucht Kaorus Freundin, die uns nun ebenfalls entdeckt hat und mit großen Augen beobachtet, ein gedämpftes Kichern. Vergeblich versucht sie es hinter vorgehaltener Hand zu verstecken.

"Warum hast du keine...", setzt Kaoru an, schließt jedoch seinen Mund wieder, als er zu bemerken scheint, dass ihn die Antwort überhaupt nicht interessiert. "Egal. Was macht ihr hier alle überhaupt schon um diese Uhrzeit?"

"Häh? Wir fahren doch heute um halb elf los."

"Tun wir nicht? Wir fahren erst nach dem Mittagessen."

"Nach dem Mittagessen? Aber in der Nachricht stand doch halb elf."

"In welcher Nachricht?"

"Die du geschickt hast."

"Ich hab gar nichts geschickt."

Toshiya lässt einen beinahe genervten Seufzer aus und anstatt, dass er einen Bogen um Kyo und mich macht, quetscht er sich einfach ungehobelt mitten zwischen uns beiden hindurch und marschiert mit seinen besockten Patschefüßen geradewegs auf Kaoru zu, um ihm sein Handy unter die Nase zu schieben.

"Das ist nicht meine Nummer", sagt Kaoru nach einem flüchtigen Blick auf das leuchtende Display.

"Häh?"

"Das ist nicht meine Nummer, ich hab das nicht geschickt. Und um die Uhrzeit hab ich noch geschlafen."

"Das stimmt. Wir sind erst um 9 Uhr aufgestanden", bestätigt Kaorus Freundin, die dicht an ihn gelehnt ebenfalls auf das Handy lugt.

Kaoru legt die Stirn in Falten. "Das ist mehr als nur eigenartig. Und ihr alle habt diese Nachricht erhalten, ja?" Er sieht zu uns herüber.

Kyo nickt kurz. Ich gebe nur einen gedrungenen Laut der Zustimmung von mir. Die Hände in den Taschen meiner Jeans vergraben, wende ich die Augen ab, tue so, also würde ich desinteressiert ins Nichts starren, doch in Wahrheit versuche ich bloß Kaorus Blick auszuweichen, der mich unweigerlich früher oder später erneut treffen und mein Herz zu Brei zerquetschen wird.

"Wartet mal kurz hier", höre ich wie von weit her Kaoru sagen und erspähe noch aus dem Augenwinkel, wie er mit diesen Worten plötzlich im Halbdunkel seines Hotelzimmers verschwindet.

Ernsthaft? Lässt der uns jetzt hier tatsächlich mit seiner Herzallerliebsten im Flur stehen? Hilfesuchend wandern meine Augäpfel, ohne dass ich den Kopf bewege, zu Kyo herüber. Um ehrlich zu sein, will ich gerade überall hingucken, nur bloß nicht zu der strahlenden Schönheit, dem karieserzeugenden Karamellsirup - dem Wolf im Schafspelz - aber ich will nicht zu auffällig abweisend erscheinen. Eher wie jemand, der mit seinem Kumpel einen ganz alltäglichen, lässigen "Jaja, so isser, der Kaoru"-Blick austauscht.

Leider ist Kyo unangefochtener Weltmeister im einen-undefinierbaren-Punkt-im-Nichts-Anstarren. Er bemerkt nicht mal, dass ich versuche mit verzweifeltem Blinzeln Morsecodes an ihn zu senden.

Und so legt sich eine wahrlich unbehagliche Stille zwischen uns vier Verlassene.

Zum Glück gibt es immer einen Dummen, der ein so peinliches Schweigen nicht lange aushält und es unter allen Umständen brechen muss.

"Ähm...", beginnt Toshiya und reibt sich verlegen den Nacken. "Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Sorry. Ich bin Toshiya, Dir en grey's Bassist."

"Miho. Kaorus Freundin. Sehr angenehm." Obwohl ich sie nicht ansehe, weiß ich, dass sie sich in diesem Moment höflich verbeugt. Ich höre das leise Rascheln ihrer Bluse.

"Und das da drüben ist Kyo. Weißt du, er singt bei unseren Liedern sogar die Instrumente mit." Toshiya schirmt zwar seine Worte mit der Hand ab, redet aber trotzdem ungeniert in der gleichen Lautstärke weiter.

Auf Kyos Gesicht ist nicht mal der Anflug einer Regung zu erkennen.

"Ach ja!", setzt Toshiya noch lachend nach. "Und die trübe Tasse da hinten ist Die. Aber seinen Namen brauchst du dir nicht zu merken."

"He! Also bitte, ja!!" Vielleicht gehen solche belämmerten Sprüche bei Kyo schon automatisch ins eine Ohr rein und ins andere wieder raus, aber mir platzt gleich die nicht existente Hutschnur, wenn Toshiya hier so strunzdämlich versucht einen auf witzig zu machen, um sich bei Kaorus Freundin einzuschleimen. Wie er hier so mit Salz um sich streut wie der Winterdienst an schneereichen Tagen, stößt bei meinen ohnehin schon geschundenen Gefühlen auf allgemeines schmerzverzogenes Zischen.

Glücklicherweise, bevor ich mich vergesse, kehrt Kaoru mit seinem eigenen Handy in der Hand zu uns zurück. "Mysteriös. Ich hab die gleiche Nachricht erhalten. Vielleicht von Herrn Masuda?"

Noch während ich Toshiya böse anfunkel, dieser nur diebisch zurück grinst, erwacht neben mir Kyo aus seinem Standbymodus. "Der zufällig seine Nummer über Nacht gewechselt hat und jetzt genauso schreibt wie du?"

"Naja, nun..." Nachdenklich kratzt sich Kaoru an seinem Kinnbärtchen. "Ich werde das auf jeden Fall gleich klären, jetzt muss ich erst mal-"

"'ne Hose anziehen?"

Mit etwas säuerlich verzogenem Mundwinkel schaut Kaoru zu Kyo herüber, entscheidet aber diese Bemerkung diplomatisch zu umgehen. "Auch. Aber..." Stattdessen schenkt er seine volle Aufmerksamkeit wieder seiner Freundin und auch ich wage es endlich zu ihr herüber zu linsen.

"Ja, genau." Sie dreht sich zu uns und verbeugt sich tiefer als nötig. "Es hat mich sehr gefreut, euch alle einmal kennenzulernen, aber nun muss ich wirklich los. Bitte kümmert euch gut um Kaoru."

Weil wir alle im Kern drei anständige Kerle sind, verbeugen auch wir uns leicht vor ihr, auch wenn es jeder Faser meines Körpers in diesem Moment mehr als nur widerstrebt.

"Also dann..."

Sofort bereue ich es wieder zu ihr geschaut zu haben.

Schneller als ich meine Augen aus Höflichkeit - so wie Kyo und Toshiya - oder gar aus purem Selbstschutz abwenden kann, muss ich mitansehen, wie sie sich unvermittelt auf die Zehenspitzen stellt und zu Kaoru hinaufreckt. Ihre vollen Lippen hauchen einen zärtlich aussehenden Kuss auf seine Wange.

Fuck, ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie das tun würde. Anderseits bin ich froh, dass sie wohl doch zu schüchtern ist, um Kaoru vor uns dreien ungeniert auf dem Mund zu küssen. Wahrscheinlich würde ich noch an Ort und Stelle in einer Wolke aus purpurner Eifersucht verpuffen. Trotzdem.

Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Weiß nicht, wo oben und unten ist. Vom Grund der Tiefsee dringt ein ersticktes Gurgeln aus dem Häufchen Elend, das einmal mein Herz war.

Ich denke zurück an die Küsse von letzter Nacht. Unsere Küsse. All das, was gestern zwischen uns passiert ist, scheint mir nun so lange her, beinahe so als wäre es nie passiert. Als wäre diese Erinnerung nur einem Fiebertraum entsprungen. Aber es ist wirklich geschehen.

Unbewusst beiße ich auf meine Unterlippe bei dieser Erinnerung.

Die nächsten Sekunden ziehen an mir vorüber wie in Zeitlupe. Dennoch kriege ich kaum mit, was sich um mich herum abspielt. Alle Geräusche scheinen wie verzerrt. Als wäre mein Kopf unter Wasser. Bewegungen passieren, Worte werden gesprochen. Ich fühle mich wie ein Polarbär in der Sahara. So schrecklich, schrecklich fehl am Platz.

Als ich wieder zu Sinnen gelange, erhasche ich gerade noch am Ende des Ganges, wie Kaorus Freundin im Aufzug verschwindet.

"...oder nicht?", höre ich plötzlich jemanden neben mir sagen und der Geruch von scharfem Aftershave, der stechend in meine Nase dringt, katapultiert mich mit einem Satz in die Wirklichkeit zurück.

Ich drehe den Kopf zur Seite, blicke direkt in Kaorus nachtschwarze Augen. "W-was?"

Da steht er und grinst. Warum grinst er mich an? Was hab ich hier eben verpasst? Was will er mir damit sagen?

Verwirrt suche ich nach Antworten in den Gesichtern der anderen. Doch Toshiya grinst ebenfalls bloß wie ein Honigkuchenpferd und aus Kyos ausgesprochen nichtssagendem Schulternheben werde ich auch nicht schlau.

"Naja, jedenfalls hab ich mir das schon gedacht."

Ich weiß, man scherzelt oft darüber, dass ich bereits mit einem Fragezeichen über dem Kopf auf die Welt gekommen bin, aber könnte man ???????? in Worte fassen, würde ich es gerade herausschreien. Wovon zum Geier redet Kaoru?! Da ist man mal eben eine Sekunde geistesabwesend in seiner Eifersucht am Absaufen und dann wird man sofort wieder ausgegrenzt und zum Gespött der gesamten Band gemacht.

Sekunde für Sekunde wird das Grinsen breiter.

Mehr und mehr wünsche ich mir, man könnte am Grinsen ersticken.

"Übrigens..." Kaoru sieht an mir vorbei zu Kyo, der sich wohl ähnlich fehl am Platz fühlen muss wie ich. "Sag mal, hast du dich heute Morgen irgendwo gestoßen? Du bist ganz rot im Gesicht."

Toshiya nickt bekräftigend. "Ja, das ist mir auch schon aufgefallen!"

Wie eine Katze, die kurz vor dem Wegdämmern aus dem Schlaf hochschreckt, zuckt Kyo in sich zusammen. Mit einem rotzigen Murren streicht er eine Hälfte seines blonden Haares platt über seine linke Wange, um den verblassten Abdruck der schmalen Hand mehr schlecht als recht zu verbergen. "Ich weiß nicht, wovon ihr redet...", knurrt er bloß und lässt sich mit abgewandtem Gesicht, an Auffällig-Unauffälligkeit kaum noch zu überbieten, in einen ziemlich durchgesessenen senfgelben Ohrensessel plumpsen, der bereits aus allen Nähten fällt.

Mit vorgeschobener Unterlippe und einem leichten Achselzucken als Reaktion auf Kyo, lässt Kaoru das offensichtlich unangenehme Thema damit fallen. "Naja, wie dem auch sei... Nun sind wir alle wach - und ich weiß nicht, wie es um euch steht - aber ich hab noch nichts zu Futtern gehabt, also warum gehen wir nicht zusammen was essen?"

In der unvermittelten Stille, die auf diese Frage folgt, könnte man meine letzte Gehirnzelle leise dahinscheiden hören.

Ein lachendes Schnauben ausstoßend erwidert Toshiya endlich: "Klar. Aber nur, wenn du dir vorher 'ne Hose anziehst."

Kaoru blickt an sich herunter, als wäre er quasi verblüfft darüber, dass er immer noch seinen Bademantel trägt.

"Zieh du dir erstmal Schuhe an!", meckert Kyo von der Seite und wirft Toshiya was von dem Schaum an die Birne, den er soeben aus dem ramschigen Sessel gepult hat.

"Wenn du mir welche leihst, gerne!" Angesäuert bückt sich Toshiya nach dem Schaumstofffetzen, um ihn aus dem borstigen Teppich zu zupfen und ihn wie einen Flitschstein zurück zu Kyo zu schleudern. Dieser blockt ihn jedoch mit einer flinken Handbewegung ab und somit landet der Fetzen direkt vor Kaorus Füßen.

Er tiefer Seufzer verlässt seine Lippen, das Grinsen ist verschwunden. "Während ihr das unter euch ausmacht, geh ich mich umziehen. Die, kommst du eben mit?" Ohne mich anzusehen, ohne meine Antwort abzuwarten, dreht Kaoru sich um und marschiert wie selbstverständlich in sein Hotelzimmer. Während ich noch bedröppelt im Flur stehe und einen Moment brauche, um seine Worte, seine Aufforderung überhaupt zu begreifen.

Spinn ich jetzt? Hab ich das richtig gehört? Will er, dass ich gleich hier an Ort und Stelle einen Herzinfarkt erleide?!

Sogar Kyo und Toshiya stocken in ihren nicht ganz ernst gemeinten Kabbeleien. Auch ihnen scheint das nicht geheuer zu sein, so wie die mich hier ungläubig angaffen als hätte mich gerade der Papst zu einer Audienz in seinem Privatzimmer im Vatikan eingeladen. Vielleicht ist dieser Vergleich auch gar nicht so weit an den Haaren herbeigezogen...

Schwer schluckend kratze ich all meinen verbliebenen Mut zusammen, versuche mir nicht in meinem Gänsehirn auszumalen, was mich auf der anderen Seite dieser Türschwelle erwarten wird und folge Kaoru.
 


 


 


 


 

____________

To be (or not to be) continued.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  motti
2022-04-27T04:51:02+00:00 27.04.2022 06:51
Also ich mochte die Geschichte unter anderem wegen der teilweise unfreiwilligen Komik, die Dai mitbrachte und dass er trotzdem nicht aufgab.

Jedoch muss ich erstmal nochmal reinlesen, um dieses Kapitel zuordnen zu können. Ich freue mich darauf zu lesen, wie du die Geschichte doch noch zuende bringst.

Liebe Grüße
motti
Antwort von:  peri
29.04.2022 19:41
Liebe motti,
allein die Tatsache, dass du nach all dieser Zeit immer noch Interesse an dieser Geschichte hast, macht mich sehr froh. ♥


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