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Die Buchhalterin

von

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Gerettet!

Kiandra hatte Angst. Was wenn Lars sie nun anzeigen würde? Sie war zwar unschuldig und es gab ja auch keine Beweise gegen sie – wie auch? Aber so eine Sache würde ihr trotzdem ewig nachhängen. Niemand würde sie mehr als Buchhalterin einstellen, selbst wenn die Sache am Ende eingestellt würde. Ein kleiner Verdacht würde immer bleiben. Das Einzige, was sie restlos rehabilitieren konnte, war ein Geständnis des wahren Täters. Und das erschien ihr doch recht unwahrscheinlich.

Was würden wohl ihre Eltern sagen? Natürlich würden sie ihr sofort glauben, dass sie unschuldig war, aber was würden sie sagen, wenn sie allein waren? Kiandra hörte förmlich die Enttäuschung in ihren Stimmen und das Mitleid, das war fast noch schlimmer. Und dann sah sie Lars vor sich, den sie liebte, das war ihr inzwischen klar, aber nicht lieben wollte, weil er ihr so wehtat. Das Einzige, worauf sie immer großen Wert gelegt hatte, das Einzige, dessen sie sich ganz sicher gewesen war es zu haben, das Einzige, das niemand in Zweifel stellen durfte - ihre Integrität – war zerstört. Verloren. Für immer. Und Lars war schuld. Wie sollte sie ihn da noch lieben können?

Kiandra verfiel plötzlich in tiefe Lethargie. Selbstmitleid und Hoffnungslosigkeit überkamen sie wie ein Platzregen. Sie fasste einen folgenschweren Entschluss. Wie in Trance verließ sie ihre Wohnung, stieg in ihr Auto und fuhr los. Ohne zu zögern steuerte sie einen bestimmten Ort an, einen Ort, wo sie oft spazieren ging. Ein kleines Dörfchen mit viel Wald, Feldern, sehr viel Charme und einem steilen Abhang.
 

Lars kam gerade bei Kiandras Wohnung an, als sie das Haus verließ. Er sah ihr Gesicht und erschrak. Sie sah aus wie eine lebende Leiche, bleich, vollkommen geistesabwesend und doch so entschlossen. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Er beschloss, ihr zu folgen.

Eine halbe Stunde fuhr er hinter dem blauen Ford her und hatte keine Ahnung, was sie vorhatte.
 

Den Weg fuhr Kiandra wie im Dämmerschlaf. Am Ziel angekommen stellte sie ihren Wagen vor einem kleinen Lokal ab und lief dann den schmalen Weg durch den Wald hinauf auf die Felder. Sie war so geistesabwesend, dass sie ihren Verfolger gar nicht bemerkte.
 

Lars parkte seinen VW neben ihrem Ford und eilte dann hinter ihr her. Er hielt sich aber immer abseits, um sie nicht zu erschrecken. Sie war so blass und wirkte so zerbrechlich. Er fühlte sich schuldig an ihrer Verfassung aber vorerst wollte er nichts unternehmen sondern nur abwarten, was passieren würde. Vielleicht kam sie ja hierher, um nachzudenken? Um zu weinen? Zu schreien? Nein, Lars spürte, dass da mehr war. Er hatte eine schlimme Vorahnung.
 

Als Kiandra die Mitte des Feldwegs erreichte, hielt sie an und besah sich die wunderschöne Landschaft, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Während sie den Weg weiter ging - wie in Zeitlupe bewegte sie sich - spielte sich der heutige Tag immer wieder vor ihrem inneren Auge ab. Ein Tag, der gewöhnlich begonnen hatte und außergewöhnlich enden würde.

Inzwischen hatte Kiandra den Wald und den daran entlang laufenden gepflasterten Weg erreicht. Auf dem bog sie nach links ab und lief bis in den Wald hinein. Sie wusste, wo dieser Weg endete. Und dort wollte sie hin.
 

Lars folgte Kiandra in sicherem Abstand. Er kannte sich dort im Wald nicht aus. Ahnungslos schlich er hinter ihr her und fragte sich, was sie vorhatte.
 

Da war sie! Die steile Wand, an der es nicht mehr weiter ging. Kiandra trat bis an die Kante des Abhangs und sah hinunter. Eine tiefe Schlucht, fast wie in ihrem Traum. Aber hier würde sie kein Wind tragen. Keine Hand würde sie halten, keine Augen sie ansehen. Kiandra sah sich um. Es war niemand zu sehen, auch nicht unterhalb der Schlucht. Sie atmete auf. Niemand sollte sie sehen, niemand sollte miterleben, was gleich passieren würde. Einen Moment schloss sie die Augen und lauschte der Natur. Sie hörte Vögel zwitschern und eine kühle Brise rauschte an ihren Ohren entlang. Sie hörte auch den Regen auf die Blätter der Bäume über ihrem Kopf fallen. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, genauso wie immer im ersten Moment, wenn ihre Musik anfing zu spielen. Sie roch die feuchte kühle Luft des Waldes und war vollkommen entspannt und ruhig. Ihre Sinne waren klar und geschärft. Aber ihr Verstand war wie vernagelt. Wie ein Geist stand sie an der Kante und hob langsam ihre Arme wie Flügel in die Luft. Sie löste ihren Fuß vom Boden, um einen Schritt vorwärts zu machen. Nur einen Schritt und der Rest passiert ganz von selbst, dachte sie.
 

Lars beobachtete aus seinem Versteck hinter einer Tanne, wie Kiandra sich der Kante näherte. Und plötzlich wusste er, was sie tun wollte.

„Nein! Um Himmels Willen, nein!“ stammelte er entsetzt. Kiandra sah sich um und blickte ihm direkt in die vor Angst geweiteten Augen, ohne ihn zu sehen. Sie hob die Arme. Lars rannte los.
 

In dem Moment, als ihr Fuß den Boden komplett verlassen hatte, griff eine Hand nach ihrer und hielt sie fest. Sie wurde von der Kante weggezogen und fand sich auf einmal in einer klammernden Umarmung wieder. Jemand hielt sie fest von hinten umschlungen. Ein angenehmer Duft, den sie kannte, aber nicht einordnen konnte, hüllte sie vollständig ein. „Loslassen, was soll das? Ich werde springen und Sie, wer auch immer Sie sind, halten mich nicht auf.“ Kiandra versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien aber die Arme, die sie hielten, waren einfach zu stark. Da sie keine Möglichkeit hatte, ihren ungewollten Retter anzusehen oder sich zu befreien, blieb sie schließlich ganz ruhig stehen und wartete. Sie wollte einfach so lange warten, bis sie losgelassen wurde und dann schnell wie der Blitz über die Kante hinweg rennen.

Die Minuten strichen dahin. Niemand sprach ein Wort. Kiandra schloss ihre Augen. Die Natur sollte ihre Wirkung nicht verlieren. Der Regen hörte auf. Der Wind ließ nach.

Plötzlich tropfte ihr etwas auf die Wange und lief an ihr hinab bis zum Mundwinkel. Es war heiß und schmeckte salzig, als sie es mit der Zunge berührte. Eine Träne. Nicht ihre.

Auf einmal rasten tausend Gedanken durch ihren Kopf. Wer hielt sie da bloß fest und weinte? Weinte er ihretwegen? Konnte er sie nicht einfach in Ruhe sterben lassen?

Und dann wurde ihr schlagartig bewusst, was sie da sagte. Selbstmord! Die höchste Form von Selbstzerstörung, die ein Mensch sich antun konnte. Sie hatte sich vergessen. Und sie realisierte, wie nah sie an der endgültigen Zerstörung vorbei geschrammt war.

Kiandra begann zu zittern und ihre Knie wurden weich wie Pudding. Aus den Geräuschen des Waldes wurde ein einziges, immer leiser werdendes Rauschen und ihr Blickfeld wurde schwarz. In diesem Schwarz zuckten Blitze und Punkte. Die Realität entglitt ihr. Ohnmächtig sank sie in sich zusammen, mühelos gehalten von den starken Armen, die sie immer noch fest umschlossen.
 

Als Lars bemerkte, dass Kiandra das Bewusstsein verloren hatte, legte er sie vorsichtig auf den Waldboden. Dann stützte er ihren Kopf auf seinen Knien ab und küsste ihre Stirn. Er streichelte ihr über die Haare, immer wieder, und flüsterte dabei unter Tränen: „Es tut mir leid. Fast hätte ich dich umgebracht. Es tut mir alles so unendlich leid. Bitte Kiandra, wach auf!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Caro-kun
2008-10-18T09:08:19+00:00 18.10.2008 11:08
Dieser Moment, dieser inneren Ruhe, wo sie sich quasi damit abgefunden hat zu sterben, … den hast du wahnsinnig gut rüberkommen lassen.

Zum Glück war Lars da und hat sie vor dem Tod bewahrt. Gott sei Dank!

Die paar Sätze, in denen du beschreibst, wie seine Träne auf ihr Gesicht tropft, die fand ich auch noch wunderschön.



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