Ein Lied in der Erschöpfung
Lost Angel
Kapitel 33 – Ein Lied in der Erschöpfung
Jesko’s PoV
Langsam verwirrte mich Jemils Geruch immer mehr. Doch er gab nicht einmal im
Ansatz den Grund dafür preis. So musste ich es wohl langsam selbst herausfinden.
Auch wenn ich das immer stärker werdende menschliche Aroma einfach nicht
verstehen konnte. Früher hatte ich es nie bemerkt, dass er in irgendeiner Form
einmal seinen Geruch verändert hätte. Vielleicht war ich ihm aber einfach nie so nah gekommen. Und ich war ihm wohl noch nicht nah genug.
Einige Stunden Fußmarsch reichten für Jemil eigentlich schon aus um ihn völlig
zu erschöpfen – auch wenn er es nicht zugeben wollte – und jeder Schritt, der
über seine Kraftreserven ging, war eine Qual für seinen Körper. Man sah es ihm
Tag für Tag mehr an, wie es an ihm nagte. Nur wollte er sich auch einfach nicht
helfen lassen. Egal wie erschöpft er vielleicht war. Und das war er auf alle
Fälle.
Doch er war sich wohl auch der Gefahr bewusst, wenn wir zu lange an einem Ort
bleiben würden. Er war sich im Klaren, wie leicht uns Pio doch aufspüren könnte,
wenn er nur wollte. Und wer weiß, ob ich das nächste Mal wieder schnell genug
zur Stelle war um ihn vor diesem Arsch beschützen zu können.
Doch Jemil konnte doch nicht auch einfach seine Gesundheit vernachlässigen, dass
hatte er doch jetzt schon wegen mir getan. Und ich fühlte mich bei der Tatsache
schon nicht ganz wohl.
„Jemil! Mach etwas langsamer!“ Ich hielt den Vampir am Arm fest. Er hetzte sich
immer weiter voran. Man konnte aber auch kaum mit den anderen mithalten, wenn
man zu lange stehen bleiben würde um zu verschnaufen.
„Ich bin doch gar nicht schnell.“ Merkte er es gar nicht? Er mühte sich doch nur
ab. Nur um nicht zu weit zurückzufallen und den Schutz der Gruppe zu verlieren.
Das musste doch wirklich nicht sein.
„Onkel Jemil!“ Freudig kam Felix auf uns zugelaufen – oder wohl eher auf Jemil.
Der Blonde blieb stehen, als der Kleine die Arme um ihn schlang. Wenn ich nur
gewusst hätte, dass das so einfach war, dann hätte ich es wohl auch gleich
genauso gemacht. Felix schmiegte sich mit kindlicher Zuneigung an ihn. Summte
leise vor sich hin. Und ich sah es an, wie Jemil es genoss. Er mochte den
Kleinen wohl sehr.
„Sotuganai hat gesagt, dass wir uns bald für den Tag fertig machen.“ Der Vampir
gab ein erlösendes Seufzen bei Felix' Worten von sich. Legte noch im selben
Moment die Arme um den kleinen Hybriden, der sich sofort noch enger an ihn
kuschelte.
Ich sah der Szene nur stumm zu. Jemil war bei Felix richtig fürsorglich, als ob
er sein kleiner Bruder wäre. Ich hätte mir eigentlich nie vorstellen können,
dass er so je mit jemanden umgehen könnte. Wenn er mich jetzt streichelte, kam
es mir sogar immer noch etwas seltsam vor.
Sanft löste der Vampir die Umarmung des Jüngeren. „Helfen wir doch einmal das
Lager für heute aufzubauen.“ Ein sanfter Unterton schwamm in seiner Stimme mit.
Etwas irritiert blickte ich Jemil an, wie der sich von dem Kleinen mitziehen
ließ. Dabei hatte der Vampir den Hybriden doch zum Helfen animiert.
Immer noch ganz perplex sah ich den beiden hinterher. Leicht schüttelte ich den
Kopf. Dieses Geräusch hatte ich mir doch jetzt sicher nur eingebildet oder war
es vielleicht von Felix gekommen? Ganz sicher war ich mir nicht. Aber ganz klar
hatte nicht Jemil so herzhaft kurz aufgelacht. Oder vielleicht doch?
Ich lief den beiden erst nach einigen Minuten hinterher. Sonst ließ ich mich
eigentlich nicht so einfach verwirren. Doch jetzt riss mich das völlig aus der
Bahn.
Zusammen sahen Jemil und Felix aber auch wirklich zu süß aus. Vor noch einiger
Zeit hätte ich mir wohl auch nie vorstellen können, dass er mit einem Kind
umgehen könnte.
Auf einer größeren Wiese wurde schon begonnen Zelte aufzubauen. Und einige der
jüngeren Hybride und Werwölfe waren schon zum Schlafen geschickt worden. Nur
noch vereinzelt liefen noch welche der Jüngeren herum.
Mein Blick schweifte über den Platz. Ich war im Grunde nur auf der Suche nach
'meinem' Vampir. Und normalerweise konnte ich ihn sonst mit Hilfe meines
Geruchsinnes ganz leicht aufspüren. Aber sein Aroma irritierte mich ja leider
momentan so extrem. So konnte ich ihn nicht einmal erschnüffeln.
Ich hielt dennoch meine Nase für eine Sekunde in den Wind. Ein Geruch stieg mir
schon in die Nase. Doch es war der falsche.
Felix' Stimme riss mich schlagartig aus meinen Gedanken. Er kam ganz aufgelöst
auf mich zu. Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Was ist denn?“, frage ich ihn verwirrt, als er sich schluchzend an meinem Arm
festhielt und mich wegziehen wollte.
„Onkel Jemil ...“, brachte er nur heraus. Heulte wieder los. Jetzt konnte ich
mir zu mindest im Ansatz vorstellen, was los war.
Um ein halb aufgebautes Zelt scharten sich einige Werwölfe. Wahrscheinlich
hatten die gerade nichts zu tun.
Etwas ruppig kämpfe ich mich durch die Menge. Und natürlich lag dort Jemil.
Eigentlich hätte ich es mir denken können, dass er es einfach nicht so lange
aushalten würde. Sein Körper machte so viel einfach nicht mit.
„Verzieht euch!“, zischte ich und mit der Zeit lichtet sich die kleine Gruppe
wieder. Bis bald nur noch Felix neben mir stand. Ich hatte mich neben Jemil
gesetzt. Sein Kopf lag auf meinem Schoss.
Vorsichtig hob ich den Vampir hoch. „Wart' mal einen Moment“, meinte ich zu dem
kleinen Hybriden, der Jemil immer noch besorgt ansah.
Ich lege den Blonden unter einen nahe gelegenen Baum. So hätte ich ihn für die
nächsten Minuten noch etwas im Augen.
Kurz strich ich Jemil noch über die Stirn. Er war nicht warm, also hatte er sich
wohl wirklich nur überanstrengt. Sein Körper hielt das alles einfach nicht aus.
Im Grunde hatte ich das von Anfang an gewusst. Und das hätte ich auch Sotuganai
klar machen sollen. Doch so weit war ich eben einfach nicht gekommen.
Noch einen Moment fuhr ich über sein weiche Haar, bevor ich mich zu Felix
umdrehte. Der Kleine saß auf dem Boden. Blickte mitleidig zu mir und Jemil
herüber. Einen letzten Blick warf ich noch auf dem Vampir. Dann bewegte ich mich
zurück zu Felix.
Das Zelt stand schnell genug. So konnte ich mich auch bald wieder Jemil widmen.
Der saß mittlerweile unter dem Baum, an dem ich ihn zurückgelassen hatte. Doch
bevor ich überhaupt zu ihm kam, hatte das schon längst der kleine Hybride getan.
Schlang seine Arme um den Vampir.
„Onkel Jemil!“ Krampfhaft klammerte sich der Kleine an den Blonden. Wollte ihn
schon gar nicht mehr loslassen. Erst als ich ihn von Jemil wegzog. Etwas
eingeschnappt sah er mich an.
„Ab ins Bett!“, meinte ich, erhielt darauf aber auch nur einen schmollenden
Gesichtsausdruck.
„Darf ich bei euch schlafen?“, fragte Felix auch schon und ich wollte sofort
ablehnen, doch da bejahte Jemil schon. Völlig geschockt blickte ich den Vampir
an, als er den kleinen einen Stoß in Richtung unseres Zeltes gab. Gerade dieses
hatte Sotuganai eigentlich nur für uns freigegeben, weil ich ihn geradezu darum
angebettelt hatte. Obwohl es eigentlich ohnehin viel zu wenig Platz gab. Und
jetzt musste ich es wieder teilen. Wahrscheinlich sogar Jemil.
Da spürte ich aber schon die sanfte Umarmung des jungen Vampirs um mich. „Ich
mag den Kleinen“, flüsterte er. Es war kaum hörbar und doch fühlte man
regelrecht wie ehrlich er es meinte.
Im ersten Moment hm-te ich nur. Doch dann kam mir ein Gedanke. „Und wie sieht
das bei mir aus?“ So könnte ich ihm wohl das Richtige entlocken.
„Dich auch“, murmelte er. Legte den Kopf dabei an meine Schulter. So recht hatte
das für mich nicht glaubwürdig geklungen.
„Das meine ich ernst!“ Ich zuckte leicht zusammen, als er das von sich gab. Sich
noch enger an mich schmiegte.
Jemil zitterte etwas. Kein Wunder aber auch bei den Temperaturen. Die war er
wohl auch eigentlich gar nicht gewohnt. Im Schloss seines Vaters, irgendwo im
Nirgendwo, wurde aber auch immer gut geheizt, dass hatte ich auch selbst bemerkt.
Mein Blick schweifte in Richtung Horizont. Dort bildete sich gerade ein schmaler
Streifen Licht. Ging also schon die Sonne auf.
„Du gehörst jetzt wohl auch besser ins Bett“, hauchte ich dem Vampir ins Ohr.
Langsam nickte er.
„Kommst du auch mit?“, fragte er, als sich unsere Finger von einander lösten, da
er schon ein Stück vorgegangen war. Ich schenkte ihm ein sanftes Lächeln, das
wohl als Antwort ausreichte. Zumindest schloss ich das grob aus seinem
Gesichtsausdruck. Wirklich Gefühle konnte man da bei ihm irgendwie nie so recht
erkennen..
„Na dann komm!“ Ich nahm Jemil wieder an die Hand. Gefügig kam er auch mit mir
mit.
Ich konnte kurz darauf im Zelt gar nicht so schnell schauen, wie sich der junge
Vampir bis auf die engen Retroshorts auszog und zu Felix, der sich schon unter
die warme Felldecke gekuschelt hatte, kroch.
Eng an eng lagen die beiden nebeneinander, als ich mich zu ihnen gesellte. Sie
wirkten wirklich wie Brüder. Felix vertraute wohl Jemil auch sehr. Sonst würde
er sich aber auch nie so an ihn kuscheln.
Sie flüsterten sich gerade etwas zu, als ich die Arme vorsichtig um den blonden
Vampir legte und ihn leicht zu mir zog. Der kleine Hybride verzog deswegen nur
sein süßes Gesicht. Es passte ihm wohl so gar nicht, dass sich Jemil von ihm
lösen musste.
Doch das interessierte mich einfach einmal nicht. Meine ganze Aufmerksamkeit lag
auf dem jungen Vampir, der sich zaghaft an mich kuschelte.
„Wollt ihr eher allein sein?“, fragte da auf einmal der Hybride. Genauso
verwirrt wie ich blickte auch Jemil in an.
„Wie kommst du denn darauf?“ Irritiert lächelte ich. „Weil ihr was machen wollt,
wobei ihr mich nicht brauchen könnt“, kam da auch gleich die Antwort. Trocken
lachte ich auf. Wie kam der Kleine auf solche Dinge.
„Woher weißt du nur so etwas?“ Liebevoll wuschelte Jemil Felix durch das braune
Haar. Der versuchte sich das natürlich sofort wieder zurecht zu machen.
„Meine Mama und mein Papa haben früher auch immer gekuschelt und dann hat Mama
immer so komisches Zeug von sich gegeben.“ Wie kindlich der Kleine das doch
erzählte und dabei verstand er noch nicht einmal, was seine Eltern da gemacht
hatten. War sich nur so ziemlich darüber im Klaren, dass man ihn dabei nicht
gebrauchen konnte.
„Dafür wäre ich viel zu erschöpft“, seufzte Jemil, bevor ich überhaupt etwas
sagen konnte. Er zog auch schon Felix wieder zu sich. Genüsslich kuschelte der
Kleine sich auch gleich an die Brust des Vampirs.
Und wieder fühlte ich mich fast schon ausgeschlossen. Wie das sprichwörtliche
fünfte Rad am Wagen.
Ich hörte Jemil eine Melodie vor sich hinsummen. Es kam mir vor, als ob er
versuchte sich an den Text eines Liedes zu erinnern. Für einen Moment schloss
ich die Augen. Bemühte mich das Summen einem Lied zuzuordnen. Doch bevor ich
eigentlich darauf kam hörte ich den Vampir schon leise singen.
Schlafe mein Prinzchen, es ruhn Schäfchen und Vögelchen nun.
Abrupt schlug ich die Augen wieder auf. Eigentlich war ich mir gar nicht im
Klaren darüber, dass Jemils Stimme so schön klingen konnte. Und das er singen
konnte, wusste ich auch nicht. Und dann auch noch gerade zu perfekt. War das
denn wirklich der Vampir, der manchmal Werwölfe wie Dreck behandelte? Es konnte
doch gar nicht mehr ein und dieselbe Person sein. Irgendjemand musste mir da
einen anderen Jemil untergeschmuggelt haben.
Selbst mir wurden die Lider schwer, als der junge Vampir seinen sanften Gesang
beendete. Aber ich konnte mich – im Gegensatz zu Felix, der in Jemils Armen
eingeschlafen war – wieder fassen.
Mit offenen Mund starrte ich Jemil an. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen,
dass er so schön singen konnte. Mit so einem intensiven und doch ruhigen Ton.
„Woher kannst du das?“, fragte ich. Meine Augen konnte ich nicht mehr abwenden.
„Meinte Mutter hat es mir früher vorgesungen, als ich noch bei ihr lebte. Ist
schon eine ganze Weile her.“
Er rollte sich mit samt dem kleinen Hybriden auf die Seite. Drückte ihn leicht
an sich. „Das Lied ist das Einzige, an das ich mich noch von meiner Mutter
erinnern konnte“, flüsterte er.