Vergangenheit und seltsamer Geruch
Lost Angel
Kapitel 31 – Vergangenheit und seltsamer Geruch
Jesko’s PoV
Es musste mich die ganze Zeit im Arm gehabt haben. Sonst wäre ich wohl da draußen
aber auch erfroren.
Doch was hätte ich in diesem Moment anderes tun sollen? Dieses Fledermaus-Vieh
wollte auf ihn losgehen. Da war es doch meine Pflicht in zu beschützen. Und auch
nur das hatte ich getan. Mehr nicht. Nur dieses Vieh von ihm weggelockt. Dass es
auch so stark sein könnte, hätte ich doch nicht ahnen können.
Ich strich dem jungen Vampir über die Wange. Er lag mit dem Kopf auf meinem
Schoss und schlief. Das war aber wohl gerade auch das Beste für ihn. Bis in die
frühen Morgenstunden hatte er hohes Fieber gehabt. Was glaubte er eigentlich, was
ich mir für Sorgen gemacht hatte? Um ihn. Meinen kleinen, blonden Vampir.
Wahrscheinlich hatte er sich dabei gar nichts gedacht und nur versucht mich zu
wärmen. Dabei auf seine eigene Gesundheit überhaupt nicht mehr geachtet. Sich
selbst einfach vernachlässigt. Dass hätte er nicht tun müssen. Ich hätte es
sicher besser überstanden, als er. Devin hatte mir doch damals gesagt, wie leicht
er krank wurde. Und das war auch so. Oft genug hatte ich es jetzt schon
mitbekommen und er wusste es mit Sicherheit auch.
Ich seufzte. Wieso machte er so etwas nur gerade wegen mir? Ich war doch nur sein
kleiner, dummer Werwolf.
„Dummkopf“, murmelte ich, „merkst du denn nicht, was ich für dich empfinde?“ Wenn
er wach gewesen wäre, hätte ich mir das wohl nie sagen trauen. Aber so kam es mir
ganz leicht über die Lippen.
Neben mir regte sich etwas. Gähnte herzhaft. „Na Felix, wieder wach?“ Der kleine
Hybride blickte mich verschlafen an. Sah dann auf der Jemil, der immer noch
friedlich – mit dem Kopf auf meinem Schoss – schlief.
„Geht es Onkel Jemil gut?“, fragte der Kleine. Seine Augen drückten so etwas
Trauriges aus. „So lange er schläft“, erwiderte ich nur. Fuhr mit den Fingern
durch das blonde Haar des Vampirs, der vielleicht deswegen leicht die Nase
rümpfte.
„Ich glaube wirklich, dass er dich ganz doll lieb hat“, meinte Felix auf einmal.
Wieder lag etwas Trauriges in seinem Blick.
„Was schaust du mich denn deswegen so an? Darüber solltest du dich doch
eigentlich freuen!“ Ich wuschelte dem Kleinen durchs Haar. Dadurch hellte sich
sein Gesichtsausdruck aber auch nicht auf.
„Weil ihr gar nicht zusammen sein dürft. Es ist mit Vampiren und Werwölfen, wie
bei Romeo und Julia. Und deren Ende kennst du wohl.“ Er seufzte Herz zerreißend.
Natürlich wusste ich, wie es mit Romeo Montague und Julia Capulet ausging.
Immerhin war das doch, das wohl bekannteste Liebespaar. Aber wieso sollte es mit
uns auch so enden? Wir waren doch kein Paar aus einer Tragödie von Shakespeare.
„Red nicht so einen Mist, Felix!“, murmelte ich. Es würde nie so weit mit uns
kommen. Dafür würde ich schon sorgen. Jemil durfte ganz einfach nicht sterben.
Lieber würde ich das übernehmen und wenn es sein müsste, mich sogar für ihn
opfern.
Etwas regte sich jetzt auch von meinem Schoss her. Wie es aussah wurde auch Jemil
langsam wieder wach. Im ersten Moment rollte er sich aber nur andersherum.
Blickte starr gerade aus, bevor er sich zaghaft aufrichtete. Verschlafen sah er
sich um, bis sich unsere Blickte trafen. Seine Mundwinkel zuckten, als ob er
lächeln wollte, es sich aber scheinbar doch noch einmal anders überlegte.
Wir blickten uns einige Minuten nur schweigend an. Eigentlich wollte ich auch gar
nichts sagen. Mehr als Vorwürfe wären ohnehin nicht dabei herausgekommen und die
wollte ich ihm überhaupt nicht machen.
„Hey“, entfuhr es ihm da fast lautlos, was ich auch nur genauso erwiderte. Viel
mehr viel mir gerade auch gar nicht ein. Doch Jemil unterband es auch, dass ich
weiter sprechen hätte können in dem er sich leicht an mich kuschelte. Leise
kicherte da schon Felix. Mit einem knappen, bösen Blick brachte ich ihn aber
schon wieder dazu, dass er ruhig war.
Schweigend saß der kleine Hybride neben uns und sah dabei zu, wie ich immer
wieder an Jemils Rücken auf und ab strich.
Ein weiteres Mal verging Minute um Minute. Eigentlich hätte ich nicht gedacht,
dass Felix so lange ruhig sein konnte. Mir wäre wohl in seinem Alter längst
langweilig geworden. Dabei wusste ich gar nicht, wie alt er überhaupt war.
Einen Moment überlegte ich noch. Dann fragte ich einfach: „Wie alt bist du,
Felix?“ Der Kleine sah abrupt zu mir. „Sieben“, meinte er dann nur knapp. Senkte
langsam den Kopf wieder. „Ah“, erwiderte ich schließlich. Wendete mich für einen
Augenblick wieder Jemil zu. Immer noch lag er eng an mich gedrückt.
„Und was ist mit deinen Eltern?“ Eigentlich sollte man ja nicht einfach Fragen
stellen. Gerade nicht sollte. Aber es interessierte mich, da ich schon lange
einmal wissen wollte, was mit den Verwandten des Kleinen war.
„Die sind vor drei Jahren gestorben“, antwortete Felix, als ob er es schon
hunderte Male erzählt hätte. Er verzog dabei noch nicht einmal die kleinste
Miene.
Und trotzdem – obwohl es so aussah, als ob es ihm nichts ausmachte – blickte ich
ihn mitleidig an. Damals war ich genauso alt wie er, als ich allein gelassen
wurde.
Meine Mutter starb schon kurz nach meiner Geburt. So wie ich es als Kind
mitbekommen hatte, war ihr Körper einfach noch zu Jung um ein Kind zur Welt zu
bringen. Und mein Vater wurde von Vampiren getötet, als ich vier Jahre alt war.
Eigentlich müsste ich diese Blutsauger dafür hassen. Dafür, dass sie mir den
Letzten genommen hatten, dem ich noch wichtig war. Doch ich konnte nicht.
Der erste halbe Jahr über hatte ich bei einem wirklich grausamen Herrn gelebt.
Die älteren Werwölfe – vielleicht ab 12 oder 13 – hatte er einfach vergewaltigen
lassen. So waren sie bald für jede Arbeit gefügig geworden. Ich war wohl einfach
noch zu klein, als das ich nicht einfach alles für etwas zum Essen getan hätte.
Immer wieder war ich nachts vor lauter Hunger wach gelegen. Jedes Mal hatte ich
auf diese älteren Werwölfe gewartet, die immer etwas zum Fressen dabei hatten.
Zwar wollten sie mir oft nichts abgeben. Doch wenn sie meinen hungrigen Blick
gesehen hatten, bekam ich immer etwas ab.
So hatte ich mich ein halbes Jahr durchgekämpft. Dann wurde ich wohl meinem Herrn
zu sinnlos und er hatte mich verkauft. An Jemils Vater. An den eisigen Blick des
Vampirs konnte ich mich heute noch erinnern. Ich wusste auch noch, dass Jemil
dabei war. Verstollen hatte er mich angegrinst. Und dennoch hatte er sich da
schon genauso edle, wie sein Vater, bewegt.
In Erinnerungen versunken blickte ich auf den Vampir hinunter, der mit dem Kopf
wieder auf meinen Schoss gesunken war. Scheinbar war er auch erneut
eingeschlafen.
„Und wie ist es mit dir?“ Felix lächelte mich etwas schüchtern an. Noch einmal
warf ich einen kurzen Blick auf Jemil. Seufzte leise.
„Mit meinen Eltern sieht es wohl genauso aus, wie bei dir“, meinte ich schließlich.
Lange hatte ich sie nicht und meine Mutter erst recht nicht. Das ich überhaupt so
verdammt warmherzig geworden war.
„Und wie sieht es mit Onkel Jemil aus? Und wie alt seit ihr überhaupt?“, bohrte
da der Kleine schon weiter. Im ersten Moment hob ich aber nur eine Augenbraue.
„Wieso ist er eigentlich immer noch ‚Onkel Jemil’, aber mich duzt du schon?“,
erwiderte ich mit einer Gegenfrage.
Felix Blickte schweifte abrupt zu Boden. „Ist halt so“, murmelte er dann einfach,
„beantwortest du jetzt meine Frage?“
Ich seufzte erst nur knapp. „Jemil hat zumindest noch einen Vater. … Aber der
kann ihn wohl nicht sehr gut ausstehen..“ – Ich seufzte erneut. – „Na ja, und in
Sachen Alter bin ich 16 und Jemil 17.“
Und ein weiteres Mal schweifte mein Blick zu dem jungen Vampir hinunter. Sein
Gesichtsausdruck war völlig entspannt, also träumte er entweder gar nichts oder
einmal etwas Schönes. Letzteres wäre wohl auch endlich einmal nett für ihn. Denn
so wie ich es bis jetzt mitbekommen hatte, litt er häufig unter Albträumen. Immer
wieder wälzte er sich im Schlaf hin und her. Dabei konnte er sich doch nie im
Leben erholen.
Ein eisiger Wind traf mich mitten ins Gesicht. Sofort sah ich auf.
„Sotuganai will dich sprechen, Jesko“, schnaubte ein Werwolf, der gerade das Zelt
betrete hatte. Knapp nickte ich und schob Jemil vorsichtig von meinem Schoss.
„Passt du auf ihn auf?“, fragte ich noch Felix, der das sofort bejahte, bevor ich
mit dem anderen Werwolf mitging.
Ohne auch nur ein Wort verloren zu haben, kamen wir bei Sotuganai an. Genauso
wortkarg verschwand der andere Wolf auch, aber nicht ohne mir einen viel sagenden
Blick zuzuwerfen.
Sotuganai wischte sich eine dunkle Haarsträne aus dem Gesicht, bevor er zu
sprechen begann. Seine Stimm klang einfach nur kalt.
„Wie seit ihr beiden Idioten eigentlich auf die Idee gekommen ohne ein Wort zu
sagen euch einfach aus dem Staub zu machen?“ - Ich senkte nur reumütig den Kopf.
- „Wir hätte euch gut und gerne brauchen können!“ - Abrupt hob ich den Blick
wieder. Scheinbar bemerkte Sotuganai wie verwirrt ich war. - „Dein kleiner Vampir
wird wohl noch von ein paar mehr seiner Sippschaft verfolgt“ - Mila hatten wir
schon gesehen. - „und von denen haben sich einige an meinen Werwölfen und
Hybriden vergriffen!“ Meine Augen weiteten sich. Ich konnte mir vorstellen, was
er meinte.
„Es tut mir leid, aber ... Jemil ist plötzlich in die andere Richtung gelaufen.
Da musste ich ihm hinterher, immerhin ... konnte ich ihn nicht ... allein
lassen.“ Wieder hatte ich den Kopf gesenkt. Sotuganai sah zu mir auf. Er hatte
sich auf eine Decke auf dem Boden in den Schneidersitz gesetzt. Gab ein Seufzen
von sich, das für mich so klang, als würde diese Entschuldigung für ihn reichen.
„Wie geht es ihm?“, fragte der ältere Werwolf, als wir uns einige Sekunden
angeschwiegen hatten. Etwas kam es mir so vor, als ob er mich gerade deswegen
eigentlich holen hatte lassen. Ich überlegte für einen Moment meine Antwort.
„Ganz gut“, erwiderte ich dann schließlich. Leicht bildeten meine Lippen ein
Lächeln. Mehr wollte ich gar nicht von der Freude preis geben, die sich dadurch
in mir ausbreitete, dass es Jemil besser ging.
„Na dann geh wieder, bevor der kleine Felix noch denkt, ich hätte dir sonst etwas
angetan.“ Irritiert blickte ich ihn an. Sotuganai lackte knapp auf. „Er hatte mir
schon damit gedroht, dass er mir etwas antut, wenn ich dich zu sehr zusammen
scheiße“, klärte er mich auf. Ich grinste nur verstohlen. So war der kleine
Hybride also drauf.
Ich marschierte kurz darauf zurück zu meinem und Jemils Zelt. Wahrscheinlich
hatte Felix, wie versprochen, auf den jungen Vampir aufgepasst. Etwas anderes
konnte ich aber wohl auch nicht von dem kleinen erwarten.
„Jesko!“ Kaum hatte ich das geräumige Zelt betreten, stürmte der Hybride schon
auf mich zu. Ich blickte aber an ihm vorbei. Jemil hatte sich aufgesetzt und sah
mich intensiv an. Um seine Beine war eine warme Decke gewickelt und eine zweite
bedeckte seine schmalen Schultern.
Ich löste Felix Umarmung um meine Hüfte. Meine Augen waren starr auf den Vampir
gerichtet. Nahm jede seiner auch nur ach so kleinen Bewegungen war.
„Geht die Sonne schon unter?“ Damit riss Felix mich aus meiner Trance. „Äh, ich
glaube schon“, erwiderte ich knapp. Der kleine Hybride konnte wegen seinem
Vampirteil in sich genauso wenig wie Jemil ins Sonnenlicht.
„Ok, dann lass ich euch allein“, meinte der Kleine freudig und lief nach draußen.
Ich tapste auf Jemil zu. Blickte ihm dabei in die Augen, die eine seltsame
leichten goldene Schimmer angenommen hatten. Vielleicht bildete ich mir das aber
auch nur ein.
Als ich mich neben ihn setzte stieg mir ein eigenartiger Geruch in die Nase. Wie
der Duft von Mensch und Vampir, wobei der menschliche extrem überwiegte. Einen
Moment schaute ich mich um, um herauszufinden woher dieses Aroma kam. Doch es
wirkte, als ob es von Jemil ausgehen würde. Aber das ging eigentlich gar nicht.
Sonst nahm ich bei ihm immer nur den Vampirgeruch war. Somit bildete ich mir das
sicher nur ein.
Ich schlang die Arme um den Blonden, der sich sofort an mich klammerte. Leicht
zitterte er. Was aber schon binnen weniger Sekunden nachließ.
„Ich schätze mal Sotunagai wird jetzt bald los wollen, also sollten wir uns wohl
auch fertig machen.“ Jemil nickte darauf nur langsam. Vergrub aber trotzdem erst
einmal das Gesicht in meiner Halsbeuge.