Kapitel I - Eine fremde Welt
"Ryan O'Farrell!", rief der Bibliothekar der Anchient Archive Library ungehalten. "Wo ist der Junge schon wieder?", murmelte er missmutig.
Zwischen den Regalen drei und vier tauchte ein dunkelbrauner Lockenkopf auf, der ihn fragend ansah. "Was gibt's denn, Sir?", fragte er. Der dazugehörige Körper erschien, bereits mit einer dicken Winterjacke und Schal bekleidet, auf dem Rücken einen großen, schweren Rucksack. "Ich hab doch eigentlich schon seit einer Stunde Feierabend."
"Du bringst noch schnell diese Bücher hier auf den Speicher", raunzte Mr. Sharp, der Bibliothekar, und drückte ihm einen Stapel alter, bereits teilweise vergilbter Wälzer in die Hand.
"Ja, Sir", sagte Ryan und machte sich auf den Weg zur Registratur. Im hinteren Teil der Bibliothek führte durch ein kleines Papierlager eine schäbige, breite Holzstiege in den Speicher des Gebäudes, in dem alte, zum Teil auch schon unbrauchbare Bücher aufbewahrt wurden. Schwankend stieg Ryan die Treppe hinauf und öffnete mit einiger Mühe die schwere eiserne Brandschutztür. Er legte seine Last auf dem kleinen, wackeligen Holztisch ab und sortierte sie nach alphabetischer Reihenfolge ein.
Warum ließ er sich von dem alten Sharp eigentlich so rumschubsen? Nötig hatte er es eigentlich nicht. Was er an Unterhalt von seinem Erzeuger bekam, hätte ihm gereicht, um über die Runden zu kommen. Doch er wollte sich nicht von dem Alten abhängig machen. Er finanzierte sein Studium selbst, indem er arbeitete und teilte sich seine Wohnung mit einem Kommilitonen namens Shane. Nein, er konnte es sich nicht leisten, den Job hier sausen zu lassen. Lieber herumkommandieren lassen, als bei seinem Vater arschkriechen zu müssen.
Er lud sich seinen Rucksack wieder auf und wollte gehen, da fiel ihm ein dickes, rotes Buch mit einem ziemlich abgegriffenen Ledereinband auf. Hatte er das übersehen oder hatte es schon vorher da gelegen? Er nahm es in die Hand und sah es sich genauer an. Ein goldenes Symbol war darauf zu sehen. Zwar blätterte das Gold schon ab, dennoch wirkte es noch ziemlich prächtig. Es zeigte zwei mächtige Drachenschwingen – zumindest stellte sich Ryan so Drachenschwingen vor. Links der Flügel war eine Sonne, rechts ein Halbmond und in der Mitte ein starker, mächtiger Baum, an dem Ryan glaubte, sogar ein paar Äpfel erkennen zu können.
Während er die Speichertür öffnete, schlug er das Buch auf und suchte einen Titel. Was war das denn für eine Schrift? Sah aus wie alte Runen. Wo kam dieses verdammte Buch her?
Die Eisentür hinter ihm fiel krachend ins Schloss, traf dabei auf seinen Rucksack, der noch halb in den Türrahmen hineingeragt hatte, und schubste ihn nach vorne. Mit den Armen rudernd kämpfte er um sein Gleichgewicht, doch er konnte nicht verhindern, dass er auf den durch viele, viele Schritte glatt gewordenen Stufen den Halt verlor und fiel.
Und fiel… Wie lange eigentlich? Zögernd öffnete er die Augen und kniff sie sofort wieder zusammen. Um ihn herum war nur Schwärze. Das einzige, das er wahrnahm, war das Gefühl des Fallens. War er nun wie Alice im Wunderland in ein Kaninchenloch gefallen ohne es zu merken?
Plötzlich schlug er auf. Er landete hart auf seinem eigenen Rucksack, der ihm halb das Kreuz brach. Schmerz durchzuckte ihn und er schrie auf. 'Wusste gar nicht, dass die Speichertreppe so lang ist', dachte er. Vorsichtig öffnete er erst sein linkes Auge, dann das rechte. Himmel? Wieso war da Himmel über ihm? Noch dazu sternenklar. Ein Komet zog vorbei und einige Sterne schienen sich deutlicher abzuzeichnen als die anderen.
Er fröstelte. Warum war es so kalt um ihn herum? Als er sich mit den Händen aufstützte um sich hoch zu rappeln, da traf es ihn wie ein Hammerschlag. Das war doch Schnee. Fest griff er in die weiße Masse um sich und starrte fassungslos auf das, was sich in seiner Hand befand. Schnee. Kalter weißer Schnee. Er sprang auf und blickte staunend um sich. Überall wo er auch hinblickte war nichts als kaltes Weiß. Am Horizont zeigten sich die ersten Silberstreifen des anbrechenden Morgens. Wo war er hier gelandet? Also eines stand jedenfalls fest: Das hier war mit Sicherheit nicht New York. Ohne den geringsten Plan, wohin er eigentlich ging, stapfte er dem Sonnenaufgang entgegen. Hoffentlich würde er bald jemanden treffen, denn sonst sah es schlecht für ihn aus.
*****
Nifredil ad Alfalas und sein Berater, Mahon gil Alath, waren in einen Bericht vertieft, in dem von der schnellen Vermehrung der Orks in den Bergen die Rede war.
"Beunruhigend", murmelte der König der Elfen. "Sieht aus, als würden wir demnächst wieder in die Schlacht ziehen müssen."
"In der Tat, Majestät", stimmte Mahon zu. "Und dieses Mal wird es kein leichter Kampf werden, sofern nicht noch ein Wunder geschieht. Nicht nur die Orks vermehren sich. Es heißt auch, dass sich die Dunkelelfen dem Feind anschließen wollen."
"Bisher haben sie sich immer neutral verhalten. Unsere Kriege waren ihnen egal. Warum also wenden sie sich plötzlich den Dunklen Mächten zu?", fragte Nifredil ernst.
"Sie müssen einen Anreiz bekommen haben. Wer weiß, vielleicht hat ihnen der Feind ja unser Gebiet versprochen, sollten sie sich ihm anschließen", mutmaßte Mahon.
"Dann müssten sie aber ihre Freiheit aufgeben…", meinte der König nachdenklich.
Auf einmal wurde die Tür zum Thronsaal aufgerissen und ein Bote stürmte herein.
"Herr!", rief er atemlos. "Herr, die Zeichen, die Zeichen, die Zeichen!"
"Du wiederholst dich", meinte Mahon mit monotoner Stimme.
"Verzeiht, General", entschuldigte sich der Bote und beugte das Knie vor seinem Herrscher. "Die Druiden haben soeben eine Nachricht gesandt. Der Stern ist erschienen."
"Der Stern?", fragte Nifredil überrascht.
"Ob das der Grund ist?", fragte Mahon.
"Möglich. Der Stern bedeutet eine große Veränderung", antwortete der König.
"Majestät", wandte sich der Bote an seinen Herrn, "die Druiden sagen, dass der Stern über der Eiswüste erschien. Zudem leuchtete das Sternbild des Drachen heller als jemals zuvor. Sie sagen, der Drachenreiter sei erschienen."
"Der Drachenreiter?", rief Nifredil und auf seinem Gesicht erschien blankes Entsetzen. "Das bedeutet, dass die letzte Schlacht bevorsteht."
"So ist es. Und wenn wir die Zeichen gesehen haben, dann wohl auch unsere Feinde. Wir müssen in die Eiswüste und nach Hinweisen auf den Drachenreiter suchen. Wenn der Feind ihn zuerst findet, ist das das Ende der Hochelfen", sagte Mahon mit düsterer Stimme.
"Wie lange ist es her?", fragte der König den Boten.
"Letzte Nacht, Herr. In den frühen Morgenstunden", antwortete dieser.
"Wir brechen sofort auf", beschloss Nifredil. "Wir nehmen die stärksten und robustesten Pferde. Mahon, veranlasse alles. Wir haben keine Zeit zu verlieren."
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Soweit hierzu. Würde mich freuen, wenn doch ein paar weiterlesen. ^^
Bis dann.