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Speechless

von

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Gelangweilt senkte sich ihr Kopf in ihre offene Hand und stütze sich träge ab.

Obwohl geschäftiges Treiben im gesamten Anwesen der Musketiere herrschte, war ihr die Last auferlegt worden, nervenaufreibenden Papierkram zu erledigen. Warum nur, war ihr keine Ausrede gegenüber Tréville eingefallen, als er ihr die Schreibarbeit aufgedrängelt hatte?

Während er sich nun im Louvre amüsierte, dabei wohlwollend verheimlichend, dass er dort nur verweilte in der Hoffnung Madame Gaillard anzutreffen, saß sie nun inmitten des Gemeinschaftsraumes und blätterte desinteressiert durch die vielen Dokumente, die vor ihr lagen.

Als sich herumgesprochen hatte, dass der Kapitän außer Hauses war und noch dazu das Gerücht gestreut wurde, er würde eine ihm bekannte Dame antreffen, waren der Großteil der Musketiere überein gekommen, den Abend und ganz besonders die Nachtwache mit einem Schlückchen edlen Wein zu beginnen und vermutlich mit mehreren leeren Flaschen zu beenden. Schon lange war bekannt, dass der Kapitän in letzter Zeit häufiger als sonst für ihn üblich den Louvre aufsuchte und das konnte nur eine besondere Bewandtnis haben, die Aramis auch noch mit Namen kannte.

Ein hilfloses Seufzen entkam ihren Lippen und wurde von den übrigen anwesenden Musketieren nicht wahrgenommen.

Ihr Blick glitt durch den Raum, vorüber an Luc, der abseits der übrigen Männer an der Wand saß, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und dabei selbst das bunte Treiben der übrigen beobachtete; weiter über den Schäferhund, der sich in der Nähe des brennenden Kamins ein Stückchen Freifläche für sich allein vereinnahmt hatte und selig vor sich hindöste...

Moment. Ein Schäferhund?

De Tréville verabscheute es, Tiere im Anwesen zu wissen. Diese Bande von Musketieren erlaubte sich alles, sobald der Kapitän ihnen auch nur den Rücken kehrte.

Aber die Feuertaufe würde folgen, dem war sich Aramis sicher. Tréville hatte mindestens ein so gutes Gespür und geschärfte Sinne wie ein Hund auf der Jagd nach Vergeltung.

Sie selbst hatte seine Impulsivität schon oft ertragen müssen, was sich in schlechten Zeiten in lautem Schreien ihr gegenüber geäußert hatte und in guten Zeiten in zu harten aber aufrichtig gemeinten Klopfen auf ihre Schulter, um ihr seinen Respekt ihr gegenüber zu zollen. Leider überwiegten die schlechten Zeiten, soviel war sicher. Zuviel Unsinn hatte sie in den letzten Jahren zusammen mit Athos und Porthos angestellt, ganz zu schweigen von den täglichen Sorgen über ihre wahre Identität die sie dem Kapitän seit jeher bereitete...

Ihr Blick suchte weiter den Raum ab, nicht ahnend, dass sie etwas bestimmtes hatte finden wollen.

Vor ihren Augen eröffnete sich das Bild, welches sie innerlich erhofft hatte, zu sehen. Die Beine gelassen übereinander geschlagen, tief in den Stuhl zurückgelehnt und dabei die wohlige Wärme des Kamins zulassend, hatte sich Athos am anderen Ende des Raumes Bequemlichkeit verschafft. Seine Gedanken schienen sich nicht von dem Buch in seinen Händen lösen zu können, kein Muskel regte sich, kein Augenzwinkern war zu erkennen.

Leise fragte sich Aramis, was er wohl wieder lesen mochte. Hatte Athos einmal ein Buch in seinen Händen, das seine Aufmerksamkeit erregte, wurde die Welt um ihn herum zu Eis. Niemand würde ihn dort herausholen können, es sei denn, er selbst witterte Gefahr. Doch das würde im Musketier-Anwesen wohl sehr selten passieren.

Ein wenig schien es sie zu stören, dass er ihr keinerlei Beachtung schenkte, hatte er doch noch hören können, dass Tréville ihr die Dokumente übertragen hatte. Ein wenig seines Mitleids hätte er ihr gegenüber ruhig zum Ausdruck bringen können. Stattdessen genoss er sichtlich die freie Zeit, die ihm für den restlichen Abend zustand, die scheinbar ausschließlich für die Lektüre in seinen Händen vorbehalten war.

Unwillkürlich musste sie an den Abend von D’Artagnans Abschied zurückdenken. Wenn sie im Nachhinein dessen Verlauf betrachtete, kam ihr die erlebte Situation mit Athos beinahe surreal vor. Dabei waren seit seinen Worten nur wenige Wochen vergangen und trotz allem glaubte sie, dass dieser Abend vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Und diese Tatsache machte sie auf eine Art traurig, warum, konnte sie sich jedoch selbst nicht erklären.

Nur wusste sie, dass alles so geschehen war, wie es hatte sollen.

Oder nicht?

Was ließ sie daran zweifeln? Warum konnte sie die Erinnerung an die Aussprache mit Athos nicht mehr loslassen? War es ihre Beunruhigung darüber, dass sie ihr Versprechen ihm gegenüber gebrochen hatte?

Nein, das konnte nicht sein. Er hatte es akzeptiert und ihr keinerlei Vorwürfe gemacht. Er hatte es schließlich verstanden, dass sie ihr Leben als Musketier nicht mehr missen wollte.

Sie konnte auch nicht behaupten, dass sich ihre Beziehung seit dem Geständnis verändert hätte, im Gegenteil, es schien als ob Athos befreiter und ungezwungener mit ihr umging, als es zuvor der Fall gewesen war. Als ob sich sein Vertrauen in sie weiter intensiviert hatte, dabei hatte sie eine Sünde begangen, die einer Freundschaft jegliches Ende bereiten würde. Erreicht hatte sie aber scheinbar das Gegenteil.

Es verwirrte sie und ließ sie zugleich zweifeln. Nichts hatte sich verändert, aber gleichzeitig wieder alles.

Ihre Gedanken verweilten so oft bei ihm, wie noch niemals zuvor. Und als ob er ihre stummen Bekundungen gefühlt hätte, glitt sein Blick für einen Moment von seinem Buch fort, geradewegs in ihre verträumten Augen, die ihn unentwegt gemustert hatten. Ihr Kopf schnellte auf, gab zu erkennen, dass sie sich ertappt fühlte und als ob es ihr nicht unangenehm genug gewesen wäre, spürte sie, wie die Wärme in ihre Wangen stieg und sie erröten ließ.

Doch entgegen aller ihrer Erwartungen, wie er reagieren würde, zeichnete sich ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen ab, bevor er sich wieder den geschriebenen Worten vor sich widmete.

Seine erneut eingenommene ruhige Haltung betrachtend, hatte sie dieses Lächeln von ihm wiedererkannt. Es glich dem, welches sie vor so vielen Jahren bereits einmal bei ihm wahrgenommen hatte.
 

Als sie auf die Dokumente vor sich hinabblickte, fand sie sich in der Zeit von vor sechs Jahren wieder. Unablässig klapperten ihre Zähne aufeinander. Gerade erst war sie in ihr Haus von der Spätschicht heimgekehrt. Den gesamten Weg über hatte sie ein kalter und unbarmherziger Schneesturm begleitet, der den Wind bedrohlich durch die schmalen Gassen von Paris streifen ließ. Es hatte nicht genützt, dass sie ihren Hut tief ins Gesicht gezogen hatte, dass sie mit Hilfe des hochgeschlagenen Kragens ihres Mantels versuchte die ihr entgegenfallenden unscheinbaren Eiskristalle aufzuhalten.

Als sie schließlich ihre Haustür erreicht hatte, hatte sie sich wie ein lebendiger Eiszapfen gefühlt. Von möglichst schneller Hand hatte sie den Kamin entzündet, doch schien es für sie Jahre zu dauern, bis der Raum endlich fühlend an Wärme zugenommen hatte.

Sie hatte noch einige Dokumente auf ihrem Tisch liegen, die es zu bearbeiten galt, als es unerwartet klopfte. Nur dumpf hatte sie es vernommen, toste draußen doch noch stetig der Sturm vor den Fenstern und es war nicht selten, dass sie das Geräusch umgefallener Gegenstände ausgemacht hatte.

Eine leise Vorahnung beschlich sie, wer der ungebetene Gast hatte sein können und sie wurde von ihrer angeborenen weiblichen Intuition mal wieder nicht enttäuscht, als sich ein durchgefrorener Athos in ihrem Türrahmen präsentierte, wohl darauf bedacht das Zittern seines Leibes so gut wie möglich zu verbergen.

Sie winkte ihn an einzutreten, was er dankend annahm.

Kurz verharrte er inmitten des Raumes, um die Umgebung zu mustern. Aramis wusste bereits jetzt warum er gekommen war und sie hoffte, dass das herannahende unaufhaltsame Gespräch sich zu ihren Gunsten entscheiden würde.

„Möchtest du einen Tee um dich aufzuwärmen?“, fragte sie ihn, woraufhin er sich umdrehte und ihr einen verstohlenen Blick zuwarf. Dies war Antwort genug für Aramis „Aha, lieber einen Cognac, ich verstehe schon...“, kurz war sie zur Küche entschwunden und kehrte danach zurück zum Tisch, an welchem Athos bereits Platz genommen hatte.

Während sie die kleinen Schwenker mit der goldbraunen Flüssigkeit füllte, fragte sie „Ich schätze, du bist hier, um mir deine Entscheidung mitzuteilen?“

Sein Blick sagte nichts, ruhte jedoch weiter auf ihr. Erst als er den ersten Schluck des Getränks in sich aufgenommen hatte, richtete er die ersten Worte an sie „Ich möchte ehrlich mit dir sein...“, er nahm einen weiteren Schluck „Ich kann noch immer nicht recht glauben, wer du tatsächlich bist. Ich meine, du gibst dich wie ein Mann, du sprichst und verhältst dich so, du kannst außerordentlich gut fechten und plötzlich vor nicht nahezu einer Woche, erfahre ich durch solch unerwartete Umstände, dass du in Wirklichkeit kein Mann bist. Was soll ich von solch einer Überraschung nur denken, außer dass du Porthos und mich seit Beginn unseres Kennenlernens betrogen hast?“, wieder ein Schluck des edlen Cognacs, Aramis musste bereits nachschenken.

Es war richtig. Die Umstände auf welche Art, Athos die Wahrheit herausgefunden hatte über ihre wahre Identität war keinesfalls die, die Aramis gewünscht hätte. Sie hätte es ihm und Porthos lieber gesagt, vorausgesetzt sie hätte sich jemals in ihrem Leben dazu überwunden. Und das wäre wohl nie der Fall gewesen.

Was geschehen war, war aber nun mal geschehen und nun konnte sie nur hoffen, dass Athos ihr Geheimnis verschlossen bei sich behalten würde, so wie sie ihn darum gebeten hatte. Nun, ihn darum angefleht hatte, würde die Situation vor einer Woche besser beschreiben. Anstatt zu antworten, hatte sich Athos jedoch Bedenkzeit genommen und nun war er bei ihr, um ihr seine Entscheidung mitzuteilen.

Gedankenversunken auf seinen Cognac blickend, murmelte Athos „Du bist eine Frau...“

„Ja...“

„In Männerkleidung...“

„Ja...“

„Bei den Musketieren...“

„Ich unterbreche dich wirklich nur ungern, Athos, aber könntest du etwas sagen, was ich noch nicht weiß?“, fragte Aramis und in jeder anderen Situation hätte sie über das Verhalten von Athos sicher gelächelt, jedoch bestätigte der darauffolgende Blick von Athos ihr, dass ihm nun keinesfalls zum Scherzen zumute war. Und er hatte recht, das wusste sie. Von seiner Entscheidung hing ab, ob sie morgen von den übrigen Musketieren an einen Pfahl gebunden und ausgepeitscht wurde; theatralisch gesprochen, glaubte sie zumindest.

Unerwartet erhob sich Athos und ging zur Eingangstür. Aramis glaubte, in diesem stummen Verhalten seine Entscheidung zu erkennen und freundete sich im Innern bereits mit dem Gedanken an, wieder einmal alles zurücklassen zu müssen, wofür sie so lange gekämpft hatte.

„Erwarte nicht von mir, zukünftig weiter so mit dir zu sprechen, wie es vorher der Fall gewesen war...“, sprach er schließlich mit dem Rücken zu ihr gewandt, was Aramis wieder aufblicken und vor allem hoffen ließ.

Wählte er etwa gerade den anderen Weg? Konnte es sein? Ungläubig starrte sie seiner abweisenden Haltung entgegen, unfähig etwas zu erwidern, was ihm zu verstehen geben würde, dass sie seine Worte wahrgenommen hatte.

Er drehte sich zu ihr um und vollführte eine Tat, die sie so wohl in diesem Moment niemals erwartet hätte – er lächelte.

Augenblicklich fühlte sich Aramis schuldig der Lüge wegen, die sie ihm auferlegt hatte. Es war noch nicht an der Zeit Porthos das Geheimnis anzuvertrauen. Er würde es nicht derartig hinnehmen. Athos’ Entscheidung in dieser Form hatte sie, wenn sie ehrlich war, nicht verdient.

Sie glaubte zumindest etwas von dem gutmachen zu müssen, was sie jahrelang verschwiegen hatte „Möchtest du den Grund erfahren, weshalb ich zu den Musketieren ging?“

„Nein... Vielleicht irgendwann, aber nicht heute...“, war seine kurze aber ernste Antwort hierauf gewesen.

Dies würde einige Monate später in einer Nacht am Lagerfeuer geschehen, was beide zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt hatten. Und es würde eben die Vertrauensbasis zwischen beiden wieder herstellen, die bereits beim ersten Kennenlernen vor vielen Jahren entstanden war.

Die Tür fiel zu. Athos war fort und Aramis allein in ihrer Gedankenwelt zurückgelassen, entsinnend was für einen wahren Freund sie in Athos gefunden hatte.
 

Eine zweite Chance gab es nicht für jeden im Leben...
 

„Also, wenn du diesen Papierkram heute noch erledigen willst, solltest du endlich aufhören vor dich hinzustarren. Du hinterlässt damit nicht gerade einen arbeitswütigen Eindruck...“

Erschrocken fuhr Aramis zusammen und fand sich in der Gegenwart wieder. Als sie die Zeitreise durchlebt hatte, war ihr nicht bewusst geworden, wie sich Athos zu ihr gesetzt hatte.

Sprachlos starrte sie ihn an.

Das musste aufhören. Wo war ihre Schlagfertigkeit geblieben? Mehr und mehr begann sie an sich selbst zu zweifeln, was sie von all den Ereignissen der letzten Wochen halten sollte.

Den Kloß in ihrem Hals herunterschluckend, zuckte sie mit den Schultern „Es war ja auch nicht gerade hilfreich von dir gewesen, dass du nichts unternommen hast, als Tréville mir das alles aufbürdete...“

„Weißt du, was ich glaube?“

„Was?“

„Tréville hat nur dir die Arbeit aufgetragen, damit dein loses Mundwerk nicht wieder anfängt zu plappern...“

Dieser Zusammenhang war ihr jetzt doch etwas befremdlich „Wie meinst du das?“

„Ich meine damit, dass Tréville dir keine Gelegenheit geben möchte, in welcher du den anderen Musketieren erzählst, bei wem es sich um seine geheime Liebschaft handelt...“

„Als wenn ich die erste Person wäre, die solche Geheimnisse ausplaudert“, gab Aramis schmollend zurück und konnte nicht glauben, dass man sie für eine Tratschtante hielt.

Siegessicher lehnte sich Athos neben sie zurück in den Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust „Und was war damals, als Porthos ein Verhältnis mit dieser etwas – um es gelinde auszudrücken – reiferen Dame hatte und er uns gebeten hatte, niemanden etwas davon zu erzählen?“

„Das kann man ja wohl nun nicht miteinander vergleichen, Athos! Ich hatte etwas gebraucht, um ihm seinen letzten Streich heimzuzahlen und es war ja wohl mehr als sicher, dass Porthos und diese Dame nicht für die Ewigkeit bestimmt waren...“, ärgerlich wandte sie sich wieder den Dokumenten zu und musste doch zugeben, dass das Ausplaudern dieses Geheimnisses von Porthos nicht unbedingt fair gewesen war. Trotz allem war es zu lustig gewesen, wie Porthos in den darauffolgenden Wochen von den übrigen Musketieren aufgezogen worden war. Damit hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie es ist, ständigen frechen Sprüchen ausgesetzt zu sein. Diesbezüglich hatte sie zu Beginn ihrer Musketierzeit mehr als hart zu kämpfen. Oft genug wäre sie fast daran gescheitert.

„Wie war es in Troyes?“, fragte Athos schließlich, als Stille zwischen ihnen eingekehrt war. Dies veranlasste Aramis die Feder vom Pergament zu nehmen und sich wie Athos in ihren Stuhl zurückzulehnen.

„Es war...“, nachdenklich drehte sie die weiße Feder in ihren Händen und versuchte das richtige Wort zu finden, um ihre letzten Erlebnisse in Troyes zu beschreiben „...fremd. Die Menschen dort haben mich nicht wiedererkannt...“

„Wie könnten sie auch, bei einem Musketier in Uniform?“, schlussfolgerte Athos, der nicht recht verstand, weshalb sie diese Tatsache beschäftigte.

Den Blick dem sie ihm daraufhin zuwarf, ließ die Ahnung in Athos aufkommen, dass er mit seiner Vermutung falsch gelegen hatte; gewaltig falsch gelegen hatte.

Überrascht zu erkennen, dass Aramis nicht als Musketier nach Troyes gegangen war, ließ ihn etwas in sich zusammensinken „Oh... Aha...“, mehr hatte er hierauf nicht antworten können.

„Keine Sorge, Athos, es war einmalig gewesen...“, meinte Aramis schmunzelnd und erkannte dabei nicht, wie viele Gedanken sie damit in Athos hervorgerufen hatte. Sie sich als Frau vorzustellen erwies sich noch immer als schwierig, obwohl er ihr Geheimnis nun schon so lange kannte. Nun zu erfahren, dass sie als Frau in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war, wenn auch nur kurzzeitig, ließ ihn sich etwas verraten fühlen, hatte sie doch noch vor einigen Wochen gemeint, dass sie das Leben eines Musketiers niemals aufgeben würde.

„Ich hatte es getan, weil ich das Grab von Francois besucht hatte...“, rechtfertigte sie sich, da sie anhand seines Gesichtsausdruckes allmählich seine Gedanken erahnte.

Und tatsächlich konnte Athos anhand dieses Geständnisses verstehen, weshalb sie Troyes in dieser Art und Weise aufgesucht hatte „Warum hast du nichts gesagt?“ und am liebsten hätte Athos noch die Worte hinzugefügt, dass er sie gern begleitet hätte, einfach um ihr beizustehen.

„Ich wollte das für mich tun“, murmelte sie und schloss die Augen als Empfindung tiefster Sehnsucht „Ich wollte mit diesem Teil meines Lebens endlich abschließen...“ und als sie ihre Augen öffnete und ihm entgegenblickte, war ihr Ausdruck darin so stark und zielgerichtet wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Mit dem Besuch in Troyes hatte sie sich schließlich endgültig dazu entschieden ihr altes Leben nie wieder aufzunehmen.

Was Athos jedoch nicht ahnte, war, dass diese Entscheidung zu wanken begann, wegen einem Gefühl, dass Aramis noch nicht bereit war zu akzeptieren, geschweige denn zu erkennen.

Für einen kurzen Moment erlaubte es sich Athos ihr länger in die Augen zu schauen, als es für einen guten Freund üblich war.

Seit der Nacht in ihrem Haus, als er sich selbst und ihr Gefühle eingestanden hatte, die ihre Freundschaft zu Fall hätte bringen können, hatte er sich geschworen, alles erdenkliche zu unternehmen, um ihre Freundschaft nicht zu gefährden. Aber Tag für Tag wog die Last schwerer und die Empfindung tiefer, dass es ihm fast gänzlich unmöglich erschien an diesem Versprechen festzuhalten.

Athos bemerkte wie Aramis sein Wesen veränderte, ohne eigenes Zutun. Innerlich wuchs der Wunsch zeitlos in ihrer Nähe zu verweilen. Während sein Verstand mit aller Macht versuchte sich dem zu widersetzen.

Ihm aus der jetzigen Situation heraushelfend, stand plötzlich Porthos vor ihnen. Er ließ ein Stück Pergament auf den Tisch vor ihnen fallen und wollte beinahe sich schon wieder abwenden, als Athos überrascht fragte „Was ist das, Porthos?“

Als dieser sich den beiden daraufhin zuwandte, entging Aramis dessen verärgerter Gesichtsausdruck keineswegs.

„Ein Bote brachte das gerade. Es ist von D’Artagnan. Er lässt ausrichten, dass er bereits wieder aus der Gascogne zurück ist und uns heute Abend in der Schänke nahe seines Hauses treffen möchte...“

Diese Neuigkeit beförderte sofort ein Lächeln auf Aramis Lippen, die nicht damit gerechnet hatte, dass D’Artagnan schon so bald wieder in Paris eintreffen würde.

Porthos hingegen war bereits wieder auf dem Weg den Raum zu verlassen. Sein gesamtes Verhalten erschien Aramis fraglich. Sie beobachtete nachdenklich Athos, der das Schriftstück zur Hand nahm und die Zeilen geschwind überflog „Kommt es mir nur so vor oder verhält sich Porthos mir gegenüber abweisend?“

Dies ließ Athos aufblicken „Hast du ihm mal wieder böses getan, dass er Grund hätte dich so zu behandeln?“

„Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ich es recht bedenke, gab er mir gar keine Möglichkeit dazu, da wir schon seit Wochen nicht wirklich miteinander gesprochen haben...“

Athos zuckte mit den Schultern „Nun ja, du warst ja auch einige Zeit in Troyes, vielleicht hat es sich einfach noch nicht ergeben, dass ihr mal in Ruhe miteinander sprechen konntet. Mir gegenüber ist er jedenfalls normal und er hatte auch nichts wegen dir erwähnt, also glaube ich, dass du dir das womöglich einbildest...“

Aramis schüttelte jedoch widerwillig mit dem Kopf „Aber selbst an dem Abend, als er in meinem Haus übernachtete, war er am nächsten Morgen bereits verschwunden, was mich sowieso mehr als gewundert hatte. Sonst nimmt er doch jede Gelegenheit war, um sich bei mir den Bauch voll zu schlagen.“

Zugegebenermaßen hatte Athos hierauf keine Antwort parat und wenn er ehrlich war, hatte er in den letzten Wochen auch nur das nötigste an Worten mit Porthos gewechselt als üblich. Doch bisher hatte er sich keine Sorgen oder Gedanken darum gemacht, was wohl auch daran liegen mochte, dass Athos derzeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Dies erschien ihm Porthos nun gegenüber ungerecht „Lass uns abwarten, was der Abend bringen mag, wenn endlich die vier Musketiere wieder vereint sind. Bestimmt machst du dir unnötige Gedanken, immerhin gab es in den letzten Wochen viel zu tun...“, mit diesen Worten erhob sich Athos von seinem Stuhl „Soll ich auf dich warten, bevor ich nachher zur Schänke aufbreche?“

Aramis schüttelte als Antwort mit dem Kopf und wies auf die ausgebreiteten Dokumente vor sich „Nein. Ich glaube, dass könnte hier noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, ich werde dann später nachkommen, in der Hoffnung, dass ihr drei noch nicht betrunken unter dem Tisch zum Erliegen gekommen seid.“

„Wie werden sehen...“, erwiderte Athos und machte sich ebenfalls, wie Porthos zuvor, auf den Weg aus dem Raum. Seine Schicht war bereits beendet, weshalb er nun die Gelegenheit wahrnahm noch einmal kurz zu seinem Haus zu reiten, bevor er sich später mit Porthos und D’Artagnan treffen würde.

Als er im Hauptgang des Musketier-Anwesens um eine Ecke bog, stieß er unerwartet mit Kapitän de Tréville zusammen „Excusez-moi, mon Capitaine, das war keine Absicht...“, sprach er augenblicklich und deutete mehr aus Gewohnheit als einer weiteren Entschuldigung eine leichte Verbeugung an. Tréville winkte mit eisernem Ausdruck ab, was Athos erahnen ließ, dass sich die Laune des Kapitäns erheblich verschlechtert hatte seit er zum Louvre aufgebrochen war. Auch diese Tatsache schien eng mit der Bekanntschaft namens Madame Gaillard verstrickt zu sein „Darf die Frage erlaubt sein, ob Kapitän sich nicht wohl fühlen?“

„Weibsbilder!“

„Pardon, wie meinen?“

„Weibsbilder, alle sind gleich, bekommen sie jenes nicht, erhalten wir Männer anderes nicht, immer das gleiche...“, sprach der Kapitän barsch und gab Athos damit nur weitere Rätsel auf, aber eine Vermutung drängte sich bei seinen Worten in jedem Fall auf.

Unbändig erzählte Tréville jedoch weiter, merklich seinem Ärger Luft machend „Weiber verlangen Schmuck, Kleider, Essen, dass man ständig Konversation mit ihnen betreibt und dann verlangen sie wieder Schmuck, Kleider und Essen und zu guter letzt, wenn sie glauben eine gute Partie zu machen, verlangen sie, dass du sie ehelichst, damit die Forderungen sich auch in der Ehe fortsetzen können...“, Athos war sichtlich überrascht seinen Kapitän derart in Rage vorzufinden, einerseits da er kein Geheimnis daraus machte, weshalb er kürzlich öfter als sonst den Louvre aufsuchte, andererseits hatte er doch geglaubt, dass Tréville nach all den Jahren des Kampfes und der Führung eines Regiments nun endlich die richtige Frau gefunden hatte, mit welcher er sich zur Ruhe setzen könnte. Doch scheinbar war Madame Gaillard auf vieles andere bedacht, als darauf Tréville ehrliche Gefühle entgegenzubringen. Dies hatte er sich wahrlich nicht für seinen Kapitän gewünscht, zumal dieser kein Mensch von Oberflächlichkeit war.

„Nicht alle Frauen müssen so sein, mon Capitaine...“, murmelte Athos, worauf er von Tréville einen verständnislosen schließlich aber überraschten Blick erhielt. Tréville wusste seit einiger Zeit, dass neben ihm auch Athos und D’Artagnan das Geheimnis von Aramis kannten und diese Erkenntnis bereitete ihm einige schlaflose Nächte mehr. Er war sicher, dass nicht alle die Täuschung Aramis in dem Maße verkraften würden, wie Athos und D’Artagnan und es schien eine Frage der Zeit, bis Aramis ernsthafte Probleme bewältigen müsste. Erste Bauchschmerzen bereitete ihm schon das Verhalten Athos’ in den letzten Wochen. Er war zu sehr in sich gekehrt und zu unkonzentriert und der eben gesagte Satz bestätigte Trévilles Vermutung, dass dies unmittelbar mit Aramis zusammenhing.

Er würde sich da nicht einmischen. Diese Musketiere waren schließlich alt genug um zu wissen, welchem Schicksal sie entgegentreten wollten.

Mit schütteltenden Kopf und hängenden Schultern ließ er Athos plötzlich wortlos zurück und ging Richtung Aufenthaltsraum der Musketiere. Im ersten Moment über das wandelnde Verhalten des Kapitäns überrascht, betete Athos schließlich, dass die anderen Musketiere keinen Hörschaden in den nächsten Minuten davontragen würden.

Noch auf dem Weg zum Haupteingang vernahm Athos das schallende Geräusch lauter Beschimpfungen, die wie ein Donnergrollen über das Anwesen niedergingen. War da gerade auch eine Flasche zerborsten? Als Athos die schwere hölzerne Eichentüre öffnete, konnte er erst einen Schritt ins Freie tätigen, nachdem ein ängstlicher Schäferhund hinter ihm herannahte und durch den Türspalt sprang, um Zuflucht außerhalb des Hauses zu suchen.
 

Eilig schritt Aramis durch die engen Gassen. Es war bereits dunkel geworden und sie ahnte, dass sie zu dem vereinbarten Treffen mit D’Artagnan und den anderen viel zu spät kommen würde. Dank des Wutausbruchs des Kapitäns – so wie sie es bereits befürchtet hatte – war sie zunächst gezwungen gewesen ihm Rede und Antwort zu stehen, dafür dass sie nichts gegen die abendliche Sauferei der Musketiere während der Dienstzeit unternommen hatte, obwohl sie die Aufsicht inne gehabt hatte. Sie hatte daraufhin erwidert, dass ihr keinesfalls die Aufsicht über die Nachtschicht übertragen worden war, sondern lediglich Dokumente in die Hände gelegt worden waren. Dies hatte Tréville verstummen lassen und Aramis hatte erkannt, dass seine Wut von ganz anderer Natur herrührte und sie leider nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Nichtsdestotrotz hatte er von ihr verlangt, dass sie die Bearbeitung der Dokumente noch an diesem Abend zu beenden hatte. Dem hatte sie sich lieber nicht wiedersetzen wollen, einfach um einen weiteren Tobsuchtsanfall von ihm zu vermeiden. Um so mehr ärgerte sie sich nun, dass sie D’Artagnan erst viel später als die anderen begrüßen durfte.

Schon als sie die Türe zur Schänke aufstieß, kam ihr ein beißender Geruch von Moder gemischt mit Bier entgegen. Die leicht bekleideten Damen, die sich um die männlichen Gäste räkelten und wanden, hatte sie im Laufe der Jahre gelernt zu übersehen. Seltsamerweise war sie einem solchen Anblick heute nicht einmal an dem Tisch der ihr drei bekannten Musketiere ausgesetzt, die schon einige leere Bierkrüge zur Seite gestellt hatten. Sie drängelte sich an den vielen fremden Menschen vorbei ins hintere Eck der Schänke, dabei begleitet von unterschiedlichsten Gerüchen und Geräuschen. Auch dies hatte sie in den letzten Jahren gelernt nicht mehr wahrzunehmen.

Schließlich hatte sie die drei erreicht und stieß D’Artagnan unsanft in den Rücken.

„Na endlich, Aramis! Wir dachten schon, du würdest überhaupt nicht mehr kommen!“, rief D’Artagnan freudestrahlend, sprang auf und umarmte sie fest zur Begrüßung.

„Nachdem Tréville wie ein Drache Feuer spuckte, musste ich alle Dokumente neu aufsetzen, schon allein das hat ewig gedauert“, lachte Aramis und betrachtete sich den jungen Musketier nun eingehender „Ist das Schmutz in deinem Gesicht?“

„Ein Bart“, entgegnete D’Artagnan beleidigt.

„Bist du schon alt genug für einen Bart?“

„Hör auf, Aramis! Constance sagt, es steht mir gut...“

„Constance möchte ja auch, dass du älter ausschaust, als du bist“, witzelte Aramis und hatte sichtlich Freude daran ihn zu verunsichern. Und genau das hatte sie auch geschafft, begann D’Artagnan nun vorsichtig sein Gesicht abzutasten.

Kurz grüßte Aramis die anderen beiden, dabei den abweisenden Blick von Porthos übersehend. Zwar war damit offensichtlich, dass Aramis doch beunruhigt sein sollte, was das Verhalten ihres kräftigen Freundes betraf, aber vorerst würde sie ihre Frustration hierüber und über den Verlauf des Tages herunterspülen. Noch bevor sie ein Handzeichen zur Bestellung des Bieres geben konnte, stand bereits ein voller Krug vor ihrer Nase. Sie bemerkte, dass sie in letzter Zeit zu häufig diese Taverne aufgesucht hatten, kannte die Bedienung doch bereits die Vorlieben der vier Musketiere.

In der ersten Stunde war Aramis nicht zu Wort gekommen. Euphorisch hatte D’Artagnan von seinem Besuch in der Gascogne berichtet und wie überrascht sein Heimatdorf gewesen war, als er plötzlich dieses Monstrum namens Elefant einmarschieren lassen hatte. Viele waren verängstigt in ihre Häuser zurückgewichen, andere hatten gar nicht den Weg räumen wollen. Und seine Großeltern waren einfach nur sprachlos gewesen.

Hin und Wieder kam ein anerkennendes Lächeln seitens Athos und Porthos während seiner Erzählungen und es schien, als würde D’Artagnan alle Erlebnisse bereits ein zweites mal an diesem Abend berichten. Nun ja, das war das Los derer, die einen Freund als erste wiedersahen. Aramis hingegen konnte um so lauter lachen, was jedoch auch den scheinbar unzähligen Bierkrügen auf der Holztafel mit zu verdanken war. Sie konnte nicht genau sagen, wie viel sie getrunken hatte, aber anhand D’Artagnans nicht enden wollenden Redeschwall erkannte sie, dass er ebenso angetrunken war wie die beiden anderen, die teilweise ins Leere griffen, als sie zum Trinken ansetzen wollten.

Irgendwann holte D’Artagnan Luft um eine weitere Bestellung dem Wirt zukommen zu lassen, das war der Moment, den Aramis nutzte, um Porthos gerade heraus zu fragen „Was ist eigentlich mit dir los, Porthos?“

„Was soll schon mit mir sein?“

Er hatte sie nicht einmal angesehen und sein Ton war derart kalt gewesen, dass es für Aramis Empfinden einen Augenblick frostig im Wirtshaus geworden war.

„Nun, da du seit Wochen nicht mehr normal mit mir redest, drängt sich mir die Vermutung auf, dass du wütend auf mich sein könntest. Also sag einfach, was los ist und wir können das klären...“

„Ich glaube nicht, dass sich sieben verschenkte Jahre mit dir bei nur einem Bier klären lassen!“

Krach.

Obwohl irgendwo im Tumult der Schänke nur ein Glas auf den Boden gefallen und zu Bruch gegangen war, glaubte Aramis, dass dies der Eröffnungsschuss zu einer Auseinandersetzung gewesen war, derer sie nicht entrinnen konnte.

D’Artagnan, der glaubte, sich verhört zu haben, senkte ungläubig seinen Arm, der bis eben noch nach dem Wirt gewunken hatte. Er sagte jedoch nichts.

Stattdessen mischte sich Athos ein „Was sagst du da, Porthos? Was ist nur in dich gefahren?!“

„Ich habe erwartet, dass du zu Aramis halten würdest, du hast mich ja schließlich auch jahrelang getäuscht, du Verräter!“

Schlimme Vorahnungen machten sich in Aramis breit, was Porthos mit seinen Äußerungen anvisierte. Und allmählich befürchtete sie, dass an dem Abend in ihrem Haus etwas von ihm gehört worden war, was noch nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war.

Anhand von D’Artagnans Gesichtsausdruck konnte Aramis abschätzen, dass er ebenfalls ahnte wovon Porthos sprach. Hilfesuchend wandte er seinen Blick zu Athos, der jedoch keinerlei Miene verzog.

Nach schier endlos erscheinenden Sekunden sprang Pothos plötzlich ruckartig von der Bank auf, musste sich jedoch am Tisch abstützen, um nicht zu schwanken. Der Alkohol hatte doch kräftiger bei ihm zugeschlagen, als Aramis vermutet hatte.

„Ihr seid wirklich wahre Freunde!“, rief er melodramatisch, was jedoch ein ernster Hinweis darauf war, dass er mehr als wütend war „Jahrelang hab ich euch vertraut, dachte, euch zu kennen...“, sein Zeigefinger kreiste bedrohlich in der Luft zwischen Aramis und Athos „Und dann höre ich nur durch Zufall, wer du eigentlich bist! Dass du in Wirklichkeit eine-...“

Aramis sprang auf „Sag es nicht! Ich bitte dich! Du kannst mich verurteilen, du kannst mich beleidigen, du kannst dich von mir aus mit mir schlagen; alles! Aber bitte, sag es nicht jetzt, nicht hier!“, sie war Porthos zuvor gekommen, bevor er an solch einem öffentlichem Ort, wo die Wände Ohren hatten, ihre wahre Identität herausgeschrieen hätte. Sonst hätte sie es ihm nicht zugetraut, aber Männer konnten unberechenbar unter der Wirkung von Alkohol werden.

Einen Moment schien er darüber nachzudenken, dann senkte sich seine Hand etwas.

„Es tut mir leid, Porthos“, murmelte Aramis, was in dem Tumult der Schänke fast nicht zu hören war.

Athos wollte zu seinem Freund gehen und ihn ebenfalls um Verzeihung bitten, doch so schnell wie ihm diese Idee in den Sinn gekommen war, so schnell war sie ihm aus dem Kopf geschlagen worden; von Porthos selbst.

Von dem schweren Kinnhaken war Athos zu Boden gegangen und konnte nur langsam realisieren, dass ihn sein langjähriger Freund soeben einen Fausthieb versetzt hatte. Schmerzerfüllt rieb er sich sein Kinn und war innerlich froh, dass sein Kiefer nicht gebrochen war.

Besorgt half Aramis Athos wieder auf die Beine und konnte nicht so recht glauben, was sich eben abgespielt hatte.

D’Artagnan hatte zwar sehen können, wie Porthos mit der Hand ausgeholt hatte, doch auch sein Pegel an Alkoholwert im Blute war ausschlaggebend, dass er ihn von seinem Vorhaben nicht rechtzeitig hatte zurückhalten können. Die Faust hatte bereits ihr Ziel getroffen. Etwas geschockt blickte er ebenfalls zu Athos.

Sichtlich in Rage rief Porthos als Verteidigung Aramis entgegen „Dich kann ich ja nun nicht mehr schlagen! Aber Athos hatte es verdient, dafür, dass er ebenfalls dein Geheimnis kannte und nichts gesagt hat!“

Als D’Artagnan dies hörte, wäre er am liebsten im Erdboden versunken; tief zog er den Kopf in seine Schultern in der Angst jeden Moment ebenfalls die Wut Porthos’ zu spüren zu bekommen.

Doch das Schicksal schien sich zu erbarmen, tauchten doch unerwartet einige Männer der Leibgarde Richelieus am Tisch auf „Nun, sieh sich das einer an! Die stinkenden Musketiere sind dabei sich gegenseitig zu hinzuraufen. Das sind wohl die einzigen Kämpfe, die Ihr noch gewinnen könnt unter Eures gleichen, wie mir scheint!“, schallendes Gelächter folgte, während einer der Männer sich in der Nase bohrte und ein anderer sich an Stellen kratzte, die man ungern genauer in Augenschein nahm.

Aramis geriet augenblicklich in Wut. Als wenn Porthos sie nicht schon genug in Rage gebracht hatte an diesem Abend, mussten nun auch noch diese Taugenichtse einen Streit beginnen. Zu allem Überfluss waren sie Zeuge der Auseinandersetzung zwischen Porthos und Athos geworden, was sich nicht gut in dem Klatsch und Tratsch des Königshauses machen würde, zumal der Kapitän davon erfahren würde und sicher den Grund für den Streit erfahren wollte.

Ehe Aramis dem Gespött verbal entgegentreten konnte, meldete sich Porthos bereits wieder zu Wort „Soll ich dir dein dreckiges Grinsen aus dem Gesicht schlagen, du einfältiger Narr?!“

Und bevor alle Anwesenden ihre Handlungen überdenken konnten, was sich aber angesichts der Schwere des verzehrten Bieres sowieso als schwierig erwiesen hätte, wurde das Wirtshaus Schlachtplatz einer der gröbsten Auseinandersetzungen zwischen Musketieren und Soldaten der Leibgarde Richelieus.
 

Nur schleppend kamen sie voran. Sich gegenseitig stützend, murmelten sie halb singend und halb lallend unverständliche Lobeshymnen auf ihr Geschick und ihre Schlagfertigkeit gegenüber Richelieus Männern.

„So gut hab ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt“, lachte Aramis und stolperte erneut über einen Stein in der Dunkelheit, sodass sie Athos wieder auf die Beine ziehen musste „Ja, ich glaube, wir haben uns gut geschlagen. Diese Kerle glaubten doch tatsächlich, dass sie uns besiegen könnten, nur weil wir etwas mehr Bier getrunken hatten. Wie einfältig muss man eigentlich sein?“, witzelte Athos in dem Wissen, dass die Realität etwas anders aussah. Ihrer beider Kleidung war größtenteils zerfetzt und für nichts mehr zu gebrauchen. Die Haare klebten beiden nass im Gesicht vom Schweiß der Anstrengung und sie waren nicht umhin gekommen einige blaue Flecken und Kratzer davon zu tragen. Auch das mühsame Gehen durch die Straßen von Paris war mehr auf den Kampf zurückzuführen als auf Trunkenheit. D’Artagnan und Porthos war es nicht anders ergangen, wobei Porthos sich bereit erklärt hatte den jungen Gascogner nach Hause zu bringen. Nichtsdestotrotz empfanden es Athos und Aramis als einen der besten Abende seit langem, was wohl nicht zuletzt daran gelegen haben mochte, dass nun auch endlich Porthos das Geheimnis Aramis’ entlarvt hatte.

Lügen gab es nun keine mehr.

Sicherlich würde es lange dauern, bis er überhaupt je wieder zu ihr Vertrauen fassen würde, geschweige denn sie als ihm ebenbürtig erachten würde. Aber die Schlägerei der Nacht hatte sie diesbezüglich zumindest wieder ein Stück zusammen geführt, so bizarr das auch klingen mochte.

„Porthos ist einmal dazwischen gegangen, als dieser Hurensohn von Lancée dir einen Stuhl hinterrücks über den Kopf ziehen wollte...“, murmelte Athos ihr zu und erkannte darauf einen sanften Blick in ihren Augen „Ja, auf Porthos kann man sich verlassen, genauso wie auf D’Artagnan und dich...“, flüsterte sie und klang dabei zunehmend schläfriger.

Bei seinem weiteren Gedankengang musste Athos lächeln und schließlich sagte er „Constanze wird außer sich sein, wenn sie morgen früh sieht, was D’Artagnan zugestoßen ist. Dann heißt es bestimmt, wir wären die Aufrührer gewesen und hätten D’Artagnan in die Schlägerei mit reingezogen...“.

„Nein... Wie könnten wir nur?“, erwiderte Aramis ironisch und musste wie ein kleines Kind grinsen. Für den ersten Abend zurück in Paris war es für D’Artagnan sicher nicht das gewesen, was er sich vorgestellt hatte. Für sie selbst war es dafür umso befreiender gewesen.

„Ich hoffe, dass Porthos D’Artagnan nicht den Kopf abschlagen wird, wenn er erfährt, dass D’Artagnan auch die ganze Zeit über Bescheid wusste...“, grübelte Athos, bekam jedoch kaum eine Regung Aramis hierauf als Antwort. Der Schlaf hatte sie fast übermannt und Athos war froh, ihr Haus allmählich am Ende der Straße im Dunkeln zu erkennen. Viel länger hätte er nicht die Kraft aufgebracht, sie durch die Straßen zu ziehen.

Umständlich öffnete er die hintere Eingangstür und trat mit ihr in den Wohnraum ein. Ohne Umwege brachte er sie zur Chaiselongue und ließ sie darauf sinken.

Obwohl er nun eilends seine eigene Wohnung hätte aufsuchen sollen, um sich endlich dem nötigen Schlaf hinzugeben, verharrte er.

Er spürte, dass er sein Versprechen ihr gegenüber brechen würde. Er würde sie nicht mehr als einen guten Freund betrachten können. Eigentlich tat er dies schon lange nicht mehr. Niemand anderes würde sie so sehen, wie er es tat; würde sie bewundern für ihren Kampfgeist, würde sich sorgen, wenn sie sich duellierte, würde selbst glücklich sein, wenn er sie nur einmal lächeln sah. Und dennoch, er würde nie an erster Stelle in ihrem Herzen treten können.

Aus seiner tiefen Sehnsucht heraus, beugte er sich zu ihr hinab und berührte ihre Lippen. Das Verlangen nach ihr zerrte ihn auf und konnte nur sanft gestillt werden in dem Wissen, wie es wäre sie zu küssen. Es fühlte sich für ihn richtig an, als ob es dieses kleine Stück gewesen wäre, was ihm zu seiner vollkommenen Zufriedenheit im Leben gefehlt hatte.

Als er sich von ihr löste, hörte er ihre Stimme, die leise ins Dunkel flüsterte „Dafür dass du mein liebster Freund bist, verzeihe ich dir das, was du eben getan hast...“

Hatte sie es gespürt oder hatte sie nur im Schlaf daher geredet? Er wusste es nicht genau, aber es machte ihm deutlich, dass er niemals wieder die Möglichkeit haben würde, sie als Frau berühren zu dürfen.

Sein Leben würde unglücklich bleiben, immer verzehrend nach der einen Liebe, die niemals erwidert werden würde.

Als er still ihr Haus verlassen hatte, war eine Bewegung im Dunkeln zu erkennen. Ihre Hand strich beinahe ehrfürchtig über ihre Lippen. Sein Kuss war noch immer zu spüren.

Sie würde sich niemals eingestehen, dass es sich gut angefühlt hatte, nach all den vielen Jahren wieder eine sanfte Berührung zu erfahren, die sie als Frau empfinden ließ und dass sie diesen Kuss nur bei Athos und niemandem sonst zugelassen hätte.

Auf ihrer Wange bildete sich eine Tränenspur und Aramis würde nach dieser Nacht ebenfalls wieder in ihr unerfülltes Leben zurückehren, obwohl sie unlängst eine andere Entscheidung hätte treffen können.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Noyn-Sama
2008-10-03T21:23:16+00:00 03.10.2008 23:23
Huhu
Richtig schön deine ff :)
Aramis und Athos sind excht ein süßes paar... bin ja gespannt wies weitergehr =)
Liebe Grüße
Von:  blubbie
2008-05-28T20:16:24+00:00 28.05.2008 22:16
Wunder-, wunderschön! Ich hab mich so gefreut, als ich gesehen habe, dass ein neues Kappi on ist! Habe schon fast die Hoffnung aufgegeben. Es war alles toll beschrieben und sehr gut rübergebracht. Ich konnte mich richtig in "unsere Helden" hinein verstezen. Porthos konnte ich irgendwie ganz gut verstehen. Und Athos und Aramis tun mir beide leid. Bin gespannt, wie sie das geregelt kriegen...oder machst du ein Drama draus?
Freu mich in jedem Fall schon auf die nächsten Kapitel!
LG
Von:  fastcaranbethrem
2008-05-23T14:48:48+00:00 23.05.2008 16:48
schön. das war jetzt ein dahinschmelzendes, seufzendes schön. Das zweite Kapitel ist so ... mh wie beschreibt man das. Die Bezeihung der beiden ist so zart beschrieben, die Nebenhandlungen und die ganze Szenerie einfach schön und passend für diese Zeit nachgezeichnet, dass man wirklich denkt, im 17. Jahrhundert zu sein, die Dialoge sind einfach genial und das ganze Kapitel liest sich so schön wie in Roman ... eigentlich schöner, weil es von unseren "Helden handelt"


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