Ruiniertes Märchen
Sanft strich der Wüstenwind über meine gepeinigte Haut. Ich war noch immer so erhitzt, dass ich die nächtliche Kälte kaum wahrzunehmen vermochte, die mir in meinem Zustand sicher eine Erkältung einbringen würde. Ebenso wenig verschwendete ich einen Gedanken daran, was mit meinem Körper nach der Freisetzung allen Chakras geschehen würde.
Als wir in der Oase angekommen waren, hatte sich Temari um meine Wunden gekümmert und es Kankuro überlassen, sich mit Gaara anzulegen, der sich weiterhin gegen Hilfe sträubte. Ich erinnerte mich genau an den wehmütigen Ausdruck in ihren sonst so starken Augen, als sie mich versorgt hatte.
„Niemand kann sagen, was mit dir passiert“, hatte sie gesagt. „Vielleicht hast du all dein seltsames Chakra verbraucht und es kehrt nie wieder zurück. Vielleicht bleibst du für den Rest deines Lebens schwach und kränklich, weil dein Körper ohne diese zusätzliche Energiequelle nicht zurechtkommt.“
Ich hatte mich in Schweigen gehüllt und das in den darauf folgenden Stunden stur beibehalten. Ob mein Chakra sich erneuern würde oder nicht, lag nicht in meiner Macht, und ich konnte ohnehin nichts weiter tun, als abzuwarten.
Ich brauchte den Kopf nicht anzuheben, um zu wissen, dass Temari mich seit den drei Stunden, die wir nebeneinander saßen, nicht aus den Augen gelassen hatte. Sie war nicht der Typ, lange mit sich zu hadern, bevor sie etwas aussprach, doch ich war mir sicher, dass sie genau das tat. Mir war nicht nach Mitleid – egal in welcher Beziehung – und ich beschloss, es schnell hinter mich zu bringen.
Ich hob den Kopf und blickte ihr unverwandt ins Gesicht.
„Jetzt komm schon: Sag es einfach.“
Sie versuchte ihre übliche harte Maske aufzusetzen, indem sie ihre Stimme besonders barsch klingen ließ.
„Du weißt selbst, dass du heute mehr als eine Dummheit begangen hast. Widersetzung gegen den Teamführer, Verwendung unerlaubter Technik – in der Tat kein guter Anfang für deine Karriere, aber…“
„Du weißt genau, wovon ich rede“, fiel ich ihr ungeduldig ins Wort.
Sie hob ihr scharf geschnittenes Kinn und sah aus scheinbar irritiert zusammengekniffenen Augen auf mich hinab.
Ich stieß genervt die Luft aus.
„Halt einfach deine Moralpredigt über die Hirnrissigkeit meiner Gefühle für deinen kleinen Bruder.“
Bis zu jenem Augenblick wäre ich jede Wette eingegangen, dass Temari zu keiner nur ansatzweise betroffenen Haltung fähig war. Doch als sie nun in den Schultern einsackte und die Augen niederschlug, saß sie wie jedes andere trauernde fünfzehnjährige Mädchen vor mir. Aus einem unerfindlichen Grund musste ich plötzlich an meinen Bruder und seine so unauthentisch gefasste Haltung denken, die er erst seit seinem Beitritt zur Armee zeigte. Ich denke, dass es keinen Sinn hat, Heranwachsende mit Gewalt zu Erwachsenen erziehen zu wollen, oder gar zu Kampfmaschinen. Und jeder würde mir zustimmen, hätte er den verzweifelten, gebrochenen Glanz in Temaris moosgrünen Augen gesehen, mit dem sie mich nach einigen langen Sekunden des Schweigens bedachte.
„Es tut mir leid“, hörte ich ihre kehlige Stimme sagen.
Sie schlang beide Arme um ihren Oberkörper und atmete lange aus, um Zeit zu gewinnen. Die richtigen Worte zu finden, bereitete ihr sichtlich Mühe.
„Ich sage so etwas nicht oft, also hör genau zu“, begann sie schließlich. „Gaara ist mein jüngerer Bruder und doch hatte ich seit ich denken kann, Angst vor ihm. Aber er ist und bleibt mein Bruder, darum wollten sowohl ich als auch Kankuro nur das Beste für ihn. Wir waren schon froh, als er trotz Vaters Verbannung zurückkehrte, doch dass er dich mitbrachte, war mehr, als wir je zu hoffen gewagt hätten.“
„Und weil du so glücklich über meine Anwesenheit warst, hast du mich wie ein Stück Dreck behandelt“, funkte ich sarkastisch dazwischen.
Ihre Lautstärke schoss augenblicklich in die Höhe.
„Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten, wenn ich mit dir rede!“, fauchte sie, für kurze Zeit ganz die Kunoichi. „Du hast dich schlimmer als der schwächlichste Zivilist aufgeführt, was sollte ich da bitte denken? Kankuro hat die Initiative ergriffen, aber ich hätte nichts anderes getan, wenn ich früher geahnt hätte, wozu du fähig bist.“
„Was gibt es daran zu entschuldigen?“ Ich verstand noch immer nicht, worauf sie hinauswollte.
„Dass Kankuro alles in seiner Macht stehende getan hat, um euch einander näher zu bringen. Und ich entschuldige mich, weil ich dasselbe getan hätte.“
Ich schluckte beim Gedanken an Kankuros ständige Anspielungen und Neckereien. An den vergangenen Valentinstag, an dem die ganze Katastrophe Formen angenommen hatte – es war alles von ihm geplant gewesen. Er hatte mich nicht demütigen wollen, es war ihm um etwas gänzlich Anderes gegangen.
„Wir wollten nicht, dass es so endet. Wir hatten gehofft, es könnte für euch beide gut ausgehen. Aber dich als Werkzeug zu benutzen, war nicht richtig.“
„Eine Kunoichi ist ein Werkzeug, damit muss ich leben“, sagte ich, um von ihrer eigentlichen Aussage abzulenken.
„Auch dafür muss ich mich entschuldigen, denn auch das hat Kankuro eingefädelt. Er hat Vater auf alle erdenklichen Weisen angefleht, dass er dich die Ausbildung machen lässt. Ansonsten hätte es dir freigestanden, als Zivilist zu leben, oder sogar das Land zu verlassen.“
Das traf mich in der Tat unvorbereitet. Ich starrte sie ungläubig an und rang nach Worten.
„Gibt es irgendetwas, das ich seit meiner Ankunft getan habe, ohne dass es einer von euch beiden geplant hat?“
„Nichts Grundlegendes. Alles war darauf abgestimmt, dich Gaara näher zu bringen.“
Ich schluckte schwer und ging die vergangenen Monate – zumindest die, die ich in geistiger Anwesenheit verbracht hatte – noch einmal durch. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass all dies für mich zurechtgelegt worden war.
Sie räusperte sich.
„Es ist das Mindeste, dass wir dir freistellen, jetzt zu gehen, wo immer du hin möchtest. Vater stellt sich bestimmt nicht quer.“
Mein Verstand hatte dieses Angebot kaum durchdacht, da lag mir die Antwort bereits auf der Zunge.
„Nein.“
Es war ihr anzusehen, dass sie das nicht erwartet hatte; Temari zog beide Augenrauen hoch und setzte zum Sprechen an, doch ich kam ihr zuvor.
„Mag sein, dass Kankuro deinen Vater überredet hat, mich als Kunoichi anzunehmen. Doch auch von mir aus hätte ich alles Menschenmögliche versucht, dies aus eigener Kraft zu erreichen. Es war mein einziger Wunsch, als ich mich damit abgefunden hatte, hier leben zu müssen. Ich wollte es und zwar … um bei Gaara sein zu können.“ Ich sprach langsam und durchdacht, erst bei den letzten Worten schwankte meine Stimme ein wenig. Geständnisse waren nie meine Stärke gewesen.
Ein Lächeln voll Mitleid mit meiner eigenen Dummheit erschien auf meinen Lippen.
„Daher … danke ich dir für das Angebot. Aber du kannst dir sicher sein, dass ich euch eher dankbar bin, als wütend.“
Das Knicken einiger Zweige eines Gebüsches lenkte meine Aufmerksamkeit von Temari ab. Es war dunkel und ich konnte nicht viel erkennen, was im Unterholz vor sich ging, doch für den Bruchteil einiger Sekunden leuchtete ein flammend roter Haarschopf zwischen den Ästen auf. Dann knackte es erneut und die Schritte entfernten sich Richtung Süden, wo sich die Wasserquelle der Oase befand.
Ich war so hastig auf den Beinen, dass meine Knie beinahe nachgaben.
„Entschuldigung, ich muss mal schnell…“, setzte ich an, verstummte bei einem flüchtigen Blick auf Temari allerdings.
Sie lächelte mich offen an und zum ersten Mal schien selbst der letzte Rest an Reserviertheit aus ihr gewichen zu sein. Ihre Augen funkelten amüsiert und ich glaube, das war der Augenblick, ab dem sie mich als Freundin zu betrachten begann.
„Na geh schon. Und wenn er wieder einen auf unerträglich macht, ließ ihm ruhig die Leviten“, sagte sie munter.
Ich erwiderte ihr Lächeln, dann drehte ich mich um und folgte den Schritten, wie ich es einfach tun musste. Ninjas braucht man so etwas nicht zu erklären, sie verstehen auf Anhieb. Trotz der Tatsache, dass er mich als geprügelten Hund zurückgelassen hatte, würde ich nicht zulassen, dass Gaara in seinem Zustand durch die Gegend lief und sich durch seine Sturheit in Gefahr brachte.
Der See lag in einer kleinen Senke, direkt unterhalb des schmalen Sichelmondes, der ihn in silbrigem Glanz erstrahlen ließ. Palmen umringten das Ufer, an deren Stämmen ich sogar einige Wüstenblumen erkennen konnte. Derart viel Leben in der kargen Wüste ist für jeden Menschen aus einer anderen Klimazone eine Augenweide, doch als ich Gaara an ebendiesem Ufer sitzen sah, durchfuhr mich ein bitterer Schmerz, der alles andere verblassen ließ. Am liebsten hätte ich mein Herz verschlossen und mit einem Dutzend Holzbretter vernagelt, doch ich wusste nicht mehr, wie das ging.
Gegen meinen Willen musste ich ihn anstarren, während ich dort stand wie der letzte Idiot. Ich konnte den leisen Windhauch durch sein feuerrotes Haar streichen sehen, erkannte den kalten Glanz seiner Augen und betrachtete den bleichen Kontrast seiner Haut zum blauschwarzen Horizont. Zweifellos hatte er mich bemerkt, doch sein Gesicht gab keine Regung preis.
Endlich – nach einer gefühlten Ewigkeit – trat ich auf ihn zu und lediglich meine zitternden Knie verrieten meine Aufregung.
„Du sollst nicht herumlaufen“, sagte ich weniger tadelnd als beabsichtigt.
Der Blick aus seinen funkelnden Augen war nüchtern. Er hielt es nicht für nötig, sich zu bewegen, als ich zaghaft neben ihm Platz nahm und meine Beine mit den Armen umfasste.
„Ich wüsste mehr als genug Menschen, die erfreut wären, wenn ich noch heute Nacht den Tod fände“, sagte er schroff.
Ein Ruck ging ohne mein Einverständnis durch meine Muskeln. „Nein!“
Er hob den Kopf und musterte mich unbeeindruckt über meinen Enthusiasmus. Dass ich keine Kontrolle über mein Mundwerk hatte, war er gewohnt, doch nicht, dass ich ihn verteidigte.
Sofort senkte ich den Kopf und suchte nach Worten.
„Ich meine ja nur … also … weil…“
„Weil du mich liebst.“
Das war ein Schock für mich; ich hätte nicht erwartet, dass er es so einfach aussprechen würde. Mir wurde übel und ich presste meine Beine fester an meinen Körper. Irgendetwas musste ich jetzt sagen, doch ich wusste nicht, was. Ich spürte Panik in mir aufkommen und griff nach der einzigen mir bekannten Alternative: Angriff.
„Wehe, du fragst mich jetzt nach dem Grund“, knurrte ich. „Denn das müsstest du eigentlich wissen. Herzlichen Glückwunsch kann ich da nur sagen: Du hast es geschafft, jemanden unwiderruflich an dich zu binden.“
Diese mir gut bekannte Mischung aus Ablehnung und Unverständnis trat in seine Züge, und ich konnte das Seufzen nicht unterdrücken. Derart hirnrissige Dinge kamen eben nur dabei heraus, wenn man sich Sentimentalitäten hingab.
„Für dich ändert sich nichts. Slave bleibt brav dein Untergebener und verfolgt sein Lebensziel: Deinen Ansprüchen gerecht zu werden. Ansonsten werde ich ohnehin von irgendjemandem umgebracht, sei es dein Vater, der mich bestrafen will, oder du selbst, einfach aus einer Laune heraus.“
Meine gefasste, klare Stimme stimmte mich stolz und eigentlich wollte ich das leidige Thema damit beenden. Ich war bereits am Aufstehen, um mich davon abzuhalten, doch noch eine Dummheit zu begehen, aber nicht einmal das wollte Gaara mir gönnen.
„Stopp“, befahl er und als ich nicht gehorchte, griff er schamlos zu seiner Trumpfkarte. „Yuka, bleib stehen!“
Ich hatte mitgezählt: Seit wir uns kannten, hatte er mich genau zweimal beim Namen genannt. Und natürlich verharrte mein hormongesteuerter Körper sofort an Ort und Stelle.
„Sag mir, was Liebe bedeutet.“ Für einen Befehl sprach er ausgesprochen leise und beinahe schon weich, was ich auf simple Verwirrung zurückführte.
Langsam und bedächtig wandte ich ihm den Kopf zu. Ich hatte nicht vorgehabt, ihm eine Antwort zu geben – ich wusste nicht mal eine vernünftige – doch als ich wieder dieses kindliche Unverständnis aus seinen Augen herauslas, wusste ich, dass ich ihn so nicht zurücklassen konnte. Er hatte es verdient, dass ich zumindest den Versuch unternahm, ihm das eine Gefühl nahe zu bringen, das er nie empfinden würde.
„Nun…“, murmelte ich. „Das ist … so wie …“
Ich holte tief Luft und gab einer klassischen Kurzschlussreaktion nach, indem ich mich nach vorn beugte und meine Arme um seinen Hals schlang. Meine Wange passte perfekt in die kleine Kuhle oberhalb seines Schlüsselbeins, meine mit Gänsehaut überzogene Haut auf seine leichenblasse. Die kühle Wüstenluft schien zu wenig zu werden, um meine weit geöffneten Lungen zu fühlen, denn ich öffnete mich mit jeder Faser, um all dies in mich aufzunehmen und für immer zu speichern.
Für den Bruchteil eines Augenblicks war es perfekt – ich nahm seinen Geruch nach Sand in mich auf und verbarg mein Gesicht an seiner Schulter – bis sich die Muskeln unter der schneeartigen Haut mit einem Mal anspannten und sich in einer nicht zu erwartenden Gewalt entluden.
Etwas traf mich knapp unterhalb der Brust und schleuderte mich mehrere Meter weit zurück. Krachend stieß mein Rücken schließlich gegen den Stamm einer Palme und ich sank zu Boden.
„Fass! Mich! Nicht! An!“ Gaaras verbale Ohrfeige hallte schmerzhaft in meinem Trommelfell wider.
Ich rang keuchend nach Atem, der mir in den Lungen brannte. Es kostete mich einige Mühe, den Kopf zu heben, obgleich es besser für mich gewesen wäre, ihm erst gar nicht ins Gesicht zu sehen.
Gaara lag irgendwo zwischen rasendem Zorn und schlichten Wahnsinn. Schüttelkrämpfe erschütterten seinen schmächtigen Körper und ließen ihn wie einen Drogenabhängigen auf kaltem Entzug erscheinen. An seinen nackten Armen standen die feinen Härchen zu Berge, als wollten sie sich gegen jeden Kontakt zu einem anderen Körper wehren. Die jadegrünen Augen waren aufgerissen und wirkten viel zu groß für das schmale Gesicht – genau diese Augen waren es, aus denen er mich anstarrte, völlig außer sich und ganz offensichtlich nicht weit davon entfernt, seinem Dämon zu erliegen. Ich erkannte es an der verkrampften Haltung, mit der er eine Hand auf seine linke Gesichtshälfte presste, als könne er Shukaku dadurch tiefer in sein Inneres zurückzudrücken.
Ich kam so hastig auf die Beine, dass ich beinahe erneut hingefallen wäre und hob beschwichtigend beide Hände, während ich einen Schritt zurücktrat. Die Palme traf schmerzhaft auf meinen Rücken.
„Ist ja gut, alles okay! Ich bin außer Reichweite, ich hab dir nichts getan und daran ändert sich auch nichts! Wenn du willst, bleib’ ich einfach hier stehen und…“
Er gab mir nicht die Gelegenheit, weiter auf ihn einzureden. In grimmiger Selbstbeherrschung kniff er die Augen zu und – was auch immer er tat – es gelang ihm, das krampfartige Zittern Stück für Stück zurückzudrängen. Viel zu früh stand er wieder als derselbe überlegene Ninja vor mir, der er sein sollte.
Ich hatte Angst vor dem, was nun folgen würde. Schreckliche Angst, so unerklärlich es einem auch scheinen mag in Anbetracht all dessen, das ich zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestanden hatte. Rasender Wahnsinn wäre mir immer noch lieber als kühl überlegte Ablehnung.
Doch zu meiner grenzenlosen Überraschung sagte Gaara nichts. Er musterte mich lediglich für einige lange Sekunden, in denen ich jeden Herzschlag bis in meine Fingerspitzen fühlte. Ich stellte fest, dass es wieder einer dieser seltenen Momente war, in denen die eisige Oberfläche seiner Jadeaugen aufbrach und mich in sein Innerstes blicken ließ, doch das kann man beim besten Willen nicht positiv nennen. Eine Emotion, ein Gedanke, ein Entschluss schien den nächsten zu jagen. Es flackerte unverkennbar in seinen Augen und aus dem heillosen Chaos war nichts Beständiges herauszulesen.
Ich dumme, naive Göre hatte ihn in seine wohl größte Seinskrise seit sechs Jahren gestürzt.
Gerade wollte ich meinen dürftigen Beschwichtigungsversuch wieder aufnehmen, da beendete er stillschweigend das heftige Auf und Ab in seinem Innern auf die einzige ihm bekannte Art: Er verschwand in einer Wolke aus Sand.
Ich bleib allein zurück, genau wie immer. Leer brannte meine Wange, die eben noch so perfekt an seine Schulter gepasst hatte. Für mich, korrigierte ich meine Gedanken und sank mit einem tiefen Seufzen zu Boden. Mittlerweile befand ich mich so dicht an dem See, dass ich mit monotonem Gleichmut feststellen musste, dass der glitschige Boden meine hellen Shorts ruinierte.
Ein zynisches Schnauben entwich meinen Lippen bei dem Gedanken daran, wie sorgfältig ich diese Shorts ausgesucht hatte, um Gaara zu gefallen. Ich war unglaublich dumm, genauso jämmerlich wie all die Mädchen, denen ich nie hatte ähneln wollen. Hänge dein Herz an jemanden und du bekommst es niemals zurück.
Trotz schwoll in meiner Brust an und ich beschloss, jetzt sofort ein Zeichen dafür zu setzen, dass ich mich nie mehr derart für ihn verbiegen würde. Ich legte die letzten paar Schritte zum Ufer des Sees zurück und ließ mich ins Wasser gleiten. Es war kühl, jedoch nicht eisig, und tat meinen Verletzungen ebenso gut wie meinem Ego. Die verdammten Shorts waren nun definitiv ein Fall für die Mülltonne.
Gemächlich ließ ich mich auf dem Rücken treiben und blickte in den makellosen Sternenhimmel hinauf. Eines musste man dieser verdammten Welt lassen: Einen solch atemberaubenden Himmel könnte man in Kentucky nicht zu sehen bekommen. Zu Hause, dachte ich automatisch und erstarrte im selben Augenblick.
Das stimmte nicht. Es war absolut lächerlich, mich in mein altes Dasein zurückzuwünschen. Denn als die, die ich nun war, gab es dort keinen Platz mehr für mich.
Langsam und bedächtig sog ich die Wüstenluft in meine Lungen und fühlte mich vollkommen klar. Alles, das ich gesehen oder getan hatte, all die Dinge, die mir widerfahren waren – ich sah sie als Teil eines Ganzen, als Bausteine einer neu zusammengesetzten Existenz, die fest und unwiderruflich auf dieser Erde existierte.
Meiner selbst.
Yuka Ashihira, die furchtbar schlechte Kunoichi mit dem überschäumenden Temperament und der rätselhaften Vergangenheit, war jemand anderes als die streitsüchtige Lacrossespielerin von einst. Und ich gehörte hierhin, egal ob mit oder ohne Gaara.
Diese Erkenntnis erleichterte mir den drauffolgenden Tag allerdings nur bedingt. Nicht nur, dass die Sonne mit üblicher Intensität vom Himmel brannte und der mehrere Stunden lange Marsch nach Suna in meinem Zustand eine fürchterliche Anstrengung darstellte – das alles hätte ich mit Freuden ertragen, wäre ich nicht die ganze Zeit in Gaaras unmittelbarer Nähe gewesen, mit der Gewissheit, ihm ferner nicht sein zu können. Er zeigte nicht einmal mehr seine typische Abneigung gegen mich. Er strafte mich schlichtweg mit Nichtbeachtung.
Ich hatte mich wahrscheinlich nie kleiner und unbedeutender gefühlt als in dem Moment, als ich hinter ihm durch die hohen Stadtmauern schlurfte.
„Ich werde Vater Bericht erstatten; es sollte reichen, wenn ich allein gehe“, sagte Kankuro mit einem nicht zu übersehbaren Seitenblick auf Temari, die mit einem Nicken antwortete. Die beiden verstanden sich ohne Worte: Sie wollten sowohl Gaara als auch mich vor dem Kazekage schützen.
Ohne auf das unwillige Knurren Gaaras zu achten, entfernte er sich mit schnellen Sprüngen.
Ich zwang mich dazu, nicht über Gaara nachzudenken, der von dieser Bevormundung alles andere als angetan sein konnte. Rasch wandte ich mich an Temari und setzte ein Lächeln auf, das sich nur halb so falsch anfühlte, wie es eigentlich war.
„Ich mach’ mich dann auch mal aus dem Staub. Der Lebensmittelhändler meines Vertrauens hat bestimmt schon ein halbes Dutzend Sutras aufgehängt, um für meine Sicherheit zu beten.“ Meine Stimme klang heiter, genau wie es sein sollte, und doch entging mir der mitleidige Zug in Temaris Gesicht nicht, als sie mich mit einem Nicken flüchten ließ.
Ohne einen letzten Blick auf Gaara hastete ich um die nächste Häuserecke und erst dort gönnte ich mir einen tiefen Atemzug. Die Stimme der irrationalen Gefühlsdusseligkeit hämmerte mir hartnäckig ins Hirn, auf der Stelle umzudrehen und mich um Gaara zu kümmern, der sicher noch immer geschwächt war. Doch ich drängte sie mit roher Gewalt in die hinterste Ecke meines Bewusstseins und bewegte mich in die entgegengesetzte Richtung, die nicht einmal zu Kaitos Laden führte. Mir war alles recht, solange ich Gaara fern blieb.
Und tatsächlich – nach einigen Minuten strammen Marschierens und Wiederholen feministischer Parolen kam mir die Aussicht auf ein Dasein als einsame Jungfer nur noch halb so schlimm vor. Ich konnte meine Muskeln lockern, statt sie krampfhaft unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt fiel mir auf, wie ausgelaugt ich war, und dass ich seit dem Frühstück am Vortag nichts mehr zu mir genommen hatte. Ein Stück die Straße entlang verströmte eine Bäckerei himmlischen Geruch, der mich förmlich an meinem Speichel ertrinken ließ.
Übermütig lief ich zu dem Geschäft und brachte bei meinem schwungvollen Eintreten beinahe die Türglocke zu Bruch.
„Ren! Da sind wieder die besoffenen Randalierer aus dem Wellenreich! Tritt ihnen in den Hintern, mach schon!“, trompete eine befehlsgewohnte Stimme durch den weitläufigen Laden, ehe die zugehörige Person sich hinter den schützenden Tresen warf.
Gleichzeitig schoss eine schmächtige Gestalt aus dem Nebenzimmer und stürzte sich mit einem perfekt ausgeführten Roundhouse-Kick im freien Flug auf mich. Stahlgraue Augen suchten meine, doch als er mein Gesicht fand, verwandelte sich seine angestrengt grimmige Miene in pure Überraschung.
Ich war nicht minder überrumpelt, doch wir reagierten, als hätten wir uns abgesprochen: Er spreizte die Beine, um den Kick abzufangen, während ich ihn mit beiden Händen an der Schulter zu Boden drückte. Seine Beine trafen mich an beiden Seiten und brachten mich aus dem Gleichgewicht, sodass wir in einem Wirrwarr aus verdrehten Gliedmaßen zu Boden stürzten.
„Au“, war das Erste, das ich von Ren hörte. Sein Kopf musste irgendwo an meiner Taille liegen; ganz sicher war ich mir allerdings nicht, da mir Sternchen vor den Augen flimmerten.
„Erzähl das meiner Kniekehle, die gerade von deinem Ellbogen aufgespießt wird“, brummte ich und versuchte meine Arme zu bewegen, die ebenfalls unter irgendwelchen Körperteilen eingeklemmt waren.
Hastig versuchte Ren auf die Beine zu kommen und bohrte mir noch einmal sein spitzes Knie in den Solarplexus, ehe er sich endlich ausreichend koordiniert hatte.
Stöhnend rollte ich mich zur Seite und sah zu ihm auf, wie er als das Schuldbewusstsein in Person neben mir hockte.
„Himmel, Yuka, das tut mir so leid! Ich wusste nicht, dass du … also…“ Er stotterte vor sich hin und brachte keinen vollständigen Satz über die Lippen.
„Wenn ihr alle eure Kunden so behandelt, braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn bei euch auch eine Wirtschaftskrise ausbricht.“
Er lachte, wahrscheinlich sowohl über meinen beleidigten Tonfall als auch die ungeschickten Bewegungen, mit denen ich mich aufrappelte. Mein Körper war alles andere als in Bestform.
Auch die Person hinter dem Tresen kam auf die Beine und blickte prüfend zu uns hinüber. Es war ein ebenso schmächtiger Mann wie Ren – sogar die kupferfarbenen Haare stimmten überein. Bei meinem Anblick verzog sich sein fein geschnittenes Gesicht in grenzenloser Überraschung.
„D-Du … D-Du bist doch…“, setzte er stotternd an, doch ich ließ ihn nicht zu einer der weit verbreiteten Bezeichnungen für mich kommen.
„Yuka Ashihira. Mitglied des Genin-Teams um die Geschwister Sabaku no.“
Ich erhob mich möglichst würdevoll und hielt seinem erschrockenen Blick stand. Eigentlich dachte ich, für jede Reaktion gewappnet zu sein, doch als der Bäckermeister nun ein strahlendes Lächeln zeigte und auf mich zusprang, um mir auf die Schulter zu klopfen, konnte ich nicht verhindern, dass mir die Gesichtszüge entgleisten.
„Na, so was! Endlich kommst du mal vorbei! Ren hat so viel von dir erzählt!“
„So viel auch wieder nicht, Vater!“, grummelte Ren, der plötzlich reges Interesse am Fußboden zeigte.
Der Bäcker lachte und machte einen Wink auf seine Auslagen.
„Du bist natürlich ein gern gesehener Gast! Bedien dich ruhig auf meine Kosten!“
„Wirklich? Womit habe ich denn das verdient?“, hakte ich ungläubig nach.
Er grinste viel sagend, wobei sich dieselben Grübchen bildeten, die mir auch bei Ren aufgefallen waren.
„Nun, nachdem Ren erfahren hat, dass du auf dieser hochrangigen Mission bist, war er eigentlich der festen Überzeugung, dich nie wieder zu sehen“, flüsterte er mir zu.
Das war Ren eindeutig zu viel, denn er drängte sich zwischen uns und schob mich Richtung Tresen.
„Erzähl doch erst mal, wie die Mission war!“, sagte er energisch und ließ durchblicken, dass diese Konversation ausschließlich zwischen uns beiden stattzufinden hatte.
Das Grinsen seines Vaters war unverkennbar, als dieser sich gehorsam entfernte.
Ich stürzte mich beretwillig auf ein Brötchen, lehnte mich neben den Tresen und begann zu berichten. Natürlich ließ ich ein kleines Detail aus, doch Ren fand es auch so aufregend genug. Er saß neben mir auf der Theke, ließ die langen Beine baumeln und hörte andächtig zu. Ich hatte vergessen, wie unkompliziert es sein konnte, mit jemandem zu sprechen und sich schlichtweg zu amüsieren. Ren war eine angenehme Gesellschaft und in einem Moment, als er mich aus wehmütigen Augen betrachtete – ich schilderte gerade Gaaras Verletzungen und ließ dabei meine Sorge vielleicht stärker als beabsichtigt durchblicken – fragte ich mich, ob mir nicht eines Tages ein Leben an der Seite eines Jungen wie Ren vergönnt sein würde.
Doch die Antwort eröffnete sich mir im selben Herzschlag. Ich war ebenso abnormal wie Gaara. Wie sollte ich da je zu einem Durchschnittstypen passen?
Und da fühlte ich mich auf einmal ganz furchtbar schlecht, weil ich dennoch hier saß und Hoffnungen schürte.
„Was war mit deinen Verletzungen?“, fragte Ren, da ich mitten in meinem Bericht gestockt hatte.
Ich hob den Kopf und blickte in sein weiches Gesicht.
„Ich liebe Sabaku no Gaara. Er weiß es und er wird mich weiterhin wie den letzten Dreck behandeln.“
Seine Antwort war ein schmales Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.
„Glaubst du, das wüsste ich nicht, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind?“
Das traf mich völlig unvorbereitet. Ich rang nach Atem und musste nach meiner Stimme suchen.
„Du wusstest es schon so lange?“
„Genau genommen hatte ich schon viel früher den Verdacht. Darum wollte ich auch bei der Prüfung mit dir in einer Gruppe sein. Ich wollte wissen, wer so verrückt sein kann, sich auf das Monster einzulassen. Und was soll ich sagen – ich war noch viel verrückter. Ich habe mich in die Irre verliebt, die dem Monster gehört.“
„Entschuldige bitte“, flüsterte ich. Ich wusste, ich sollte jetzt gehen, doch Ren war schneller.
„Wieso? Du bist in meiner Nähe und wir sind Freunde, also was sollte ich mir mehr wünschen? Ich könnte natürlich dem Sandjungen in den Hintern treten, das würde mir große Genugtuung bereiten, aber ich fürchte, da würde ich nicht mehr lebend rauskommen. Außerdem … wissen wir doch beide, dass Märchen nicht wahr werden.“ Er sprach munter und baumelte mit den Beinen und ich konnte ihn dafür nur bewundern.
Langsam nickte ich.
„Das geheimnisvolle Mädchen wird weder zur starken Kämpferin, noch kann sie das Monster besänftigen.“
„Und der strahlende Ritter kann die Prinzessin seiner Träume nicht für sich gewinnen.“
Wir sahen uns an und mussten über die Vertracktheit unserer Situation lachen. Eigentlich hätten wir unter Tränen Abschied voneinander nehmen müssen, doch keiner von uns wollte das. Wir waren weder erwachsen, noch vernünftig und ich war froh darüber. Manchmal ist es gar nicht so verkehrt, das Falsche zu tun, das früher oder später unweigerlich zur Katastrophe führt.
Schließlich sprang Ren von der Theke und kam auf mich zu.
„Lass mich nur eins kurz tun … einfach unter Freunden, die für einander da sind…“, sagte er; dann zog er mich an sich.
Das Lachen blieb mir in der Kehle stecken, denn aus seinen Bewegungen sprach eine ungewohnte Intensität. Ich konnte seine Zuneigung bis in die Fingerspitzen fühlen, so offen und ehrlich hielt er mich in seinen Armen.
„Liebe ist ein Schlachtfeld“, flüsterte er in mein Ohr.
Mit seinen Armen, die locker um meine Schultern lagen, hielt er meinen Kopf an seine Brust gedrückt. Eigentlich hatte ich gerade überlegt, ob das nicht ein wenig zu weit ging, doch bei seinen Worten musste ich lächeln.
„We are young … heardache to heardache, we stay”, sang ich das gleichnamige Lied. Natürlich konnte er diesen Song der 80er kaum gekannt haben, doch genau das mochte ich so an ihm: Er wusste instinktiv, was in mir vorging.
Sanft strich seine Hand über meinen Scheitel.
„Gute Einstellung“, sagte er und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme mitschwingen.
Ich schloss die Augen und hatte gerade angefangen, mich in das wohlige Gefühl, das er mir gab, sinken zu lassen, als mein Nacken zu prickeln begann. Ich wusste, ich befand mich hier im Zentrum der Stadt, wo mich niemand vermuten würde, und mir war ebenso klar, dass besagte Person mir in diesem Leben nie wieder näher kommen würde – und doch hätte ich schwören können, dass es diese eisigen Jadeaugen waren, die sich in diesem Augenblick in meinen Nacken bohrten.