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Himmel und Erde

Schatten und Licht, Interlude 1
von

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Bereit zum Ausrücken

Trotz der ernsten Situation musste Merle schmunzeln. Während sie sich auf das Anlegen ihrer Weste konzentrierte, spürte sie am Rande ihres Bewusstseins Allens Gedankenwellen, die energisch, beinahe schon verzweifelt durch seine naturgegebene Barriere brachen.

Sie hatte für ihn eine Standardausrüstung der Leibwache des Königs von Farnelia, der sie vor nicht allzu langer Zeit als kommandierende Offizierin gedient hatte, mitgebracht, mit der er sich gerade abmühte. Ihre eigene passte ihr zum Glück noch wie angegossen, obwohl sie sich mitten im Wachstum befand. Allen und sie waren so überstürzt nach Chuzario aufgebrochen, dass er nie und nimmer Zeit für eine Anprobe gehabt hätte. Daher hatte Merle ihm eine Größe nach Augenmaß ausgesucht und eingepackt. Die schwarzen Overalls waren eng geschnitten und vor unterschwelliger Vorfreude hatte sie wohl in eine Ablage gegriffen, deren Inhalt eine Nummer zu klein für ihn waren. Natürlich unbewusst, wie sie beteuerte. Außerdem, so sagte sie sich, handelte es sich um ausgleichende Gerechtigkeit. Schließlich bekam er sie auch zu Gesicht. Manch anderer hatte für diesen Anblick schon mit seinem Leben gezahlt.

Ihr Anzug war jedoch das einzige, was seiner Garnitur entsprach. Während er die Scheide seines Schwertes an einen Gürtel um seine Hüfte band, überprüfte sie den Sitz ihrer zwei Dolche an ihren Oberschenkeln. Ihre Weste war im Gegensatz zu seiner nach hinten hin ebenfalls offen und verbarg zwei Wurfmessermagazine auf ihrem Rücken.

Ihr Ritter war bereit auszurücken. Die Nervosität, mit der er sich vor dem Treffen mit Chuzarios Herrscher hatte herumschlagen müssen, war entweder verflogen oder wurde durch eiskalte Entschlossenheit verdrängt.

„Männer.“, seufzte Merle und versuchte, es ihm gleich zu tun. Von ihrem Spürsinn hingen nicht gerade wenige Leben hab, eigentlich sehr viele, doch so richtig klar geworden war ihr das erst beim Umziehen. Eine Erkenntnis, auf die sie gerne verzichtet hätte.

Gleichzeitig traten sie aus ihren nebeneinander liegenden Zimmern und musterten sich gegenseitig. Wie sie es ihm geraten hatte, hatte Allen seine langen, goldenen Haare zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Merles Bild von seinem Körper, das sie sorgfältig in ihrem Kopf bewahrte, seitdem er ihr an einem Fluss im Wald zwischen Farnelia und Astoria sein letztes Hemd überlassen hatte, wurde nun fast vollständig ergänzt.

Inständig hoffte sie, dass Allen gefiel, was er sah, doch sie hatte ihre Zweifel. Ihre ausgeprägten Muskeln und relativ breiten Schultern entsprachen kaum dem Schönheitsideal einer Frau. Daher war das Lächeln, das sie ihm schenkte, etwas schüchtern.

„Komm!“, forderte sie ihn plötzlich ernst auf und gemeinsam liefen sie zu den Docks für die Schiffe der Staatsgäste, die an den Palast grenzten. Als sie ankamen, sahen sie vor dem Schiff, das Merle während des Fluges von Farnelia nach Chuzario spontan Rasender Falke benannt hatte, fünf Gruppen schwarzgrau gekleideter Männer stehen. Ihre Bewaffnung und Rüstungen erinnerten Merle an die Ausrüstung, mit der Van ausgezogen war, um einen Drachen zu erlegen. Jeder von ihnen trug einen leichten Brustpanzer, ein auffächerbares Schild oberhalb eines Handgelenkes, ein Schwert am Gürtel und eine geladene Armbrust auf dem Rücken. Diszipliniert warteten sechs Männer in jeder Gruppe in einer Linie hinter ihrem Anführer.

„Die Armbrüste könnten uns so manchen Nahkampf gegen die Gezeichneten ersparen.“, meinte Allen, als er die ihnen zur Verfügung stehende Truppen betrachtete.

„Wenn ich sie abdrücke, vielleicht.“, erwiderte Merle und rannte ihrem Schiff entgegen. Schultern strafften sich, als anhielt und den Teamleitern in die Augen sah. „Ich bin Merle de Farnel und sie stehen für eine ungewisse Zeit unter meinem Kommando. Was wissen über unseren Auftrag?“

„Euer Hoheit.“, antwortete der Kommandant der mittleren Gruppe. „Wir sind von seiner Majestät Franziskus über einen Angriff weniger, gefährlicher Individuen informiert worden.“

„Man nennt sie Gezeichnete.“, legte Merle fest. „Sie benutzen die Menschen dieser Stadt als Schild. Wer auch immer von ihnen in Besitz genommen wurde, ist nach derzeitigen Erkenntnisstand verloren und sollte von seinem Leiden erlöst werden. Wer von ihnen sich dazu nicht in der Lage sieht, den Opfern diesen Gefallen zu tun, sollte jetzt gehen!“ Dass niemand aus den Reihen trat, beruhigte Merle nicht wirklich. Die Männer wussten nicht, auf welchen Horror sie sich einließen. Noch wusste es niemand, nicht einmal sie selbst. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Wer verletzt wird, scheidet aus dem Dienst aus und begibt sich selbstständig zu einer Quarantänestation. Keine noch so kleine, aber offene Wunde wird geduldet. Wenn nach einer halben Stunde keine Veränderung eintritt, haben sie Glück und sollten es genießen, indem sie zu ihren Familien zurückkehren und sie beschützen. Das ist ein Befehl!“

Angesichts der ungeheuren Treue der Männer gegenüber König und Krone fand Merle es nötig dies zu betonen.

„Das Team auf meinem Schiff wird dem stellvertretendem Kommandanten Allen Shezar und mir den Rücken freihalten, während die anderen Gruppen unsere Flanken decken. Genauere Anweisungen bekommen sie vor Ort. Noch wissen wir weder, wie viele wir töten müssen, noch wo sie sich befinden, aber jeder Gezeichneter wird es wissen, wenn wir kommen. Uns wird eine Übermacht gegenüberstehen, also bleiben und kämpfen sie zusammen. Das letzte, was ich brauche, sind Helden. Diesen Job übernehme ich!“, verkündete sie und hielt vergeblich nach einem Schmunzeln Ausschau. „Ich weiß, sie haben Fragen, doch für diese bleibt leider keine Zeit. Gehen sie auf ihre Schiffe!“

Schnell und geordnet liefen die Männer auf andere Liegeplätze zu. Merles eigene Gruppe ließ ihr den Vortritt beim Betreten des Falken. Kurz bevor sie die Brücke betrat, drehte sie sich zu dem Kommandanten um, der ihr direkt hinter Allen folgte.

„Die Männer sollen in die Kabinen gehen und sich anschnallen. Die Gurte finden sie unter den Matratzen.“

„Jawohl, Hoheit!“, bestätigte er. „Eine Liste mit den Rufnamen finden sie auf dem Sitz des Kopiloten.“

„Verstanden.“, sagte sie und zog sich mit Allen auf die enge Brücke zurück. Sofort setzte sie sich auf seinem Platz und reichte ihm die Liste.

„Ich brauche fünf Minuten für die Startvorbereitungen. Lern solange die Rufnamen der wichtigsten Einheiten auswendig!“

„Klar.“, versicherte er und nachdem er sich mit der Liste vertraut gemacht hatte, las er sich ausgewählte Namen mitsamt der Funkfrequenzen laut vor. Merles Hände flogen derweil über die Bedienelemente vor ihr. Schließlich wechselte sie den Sitz und ließ ihre Gliedmaßen in die Steuerung des Schiffes gleiten. Nachdem sie die Freigabe von der Abflugkontrolle erhalten hatte, ließ sie die Triebwerke sich warmlaufen.

„Wohin als erstes?“

„Ich hab keine Ahnung. Bis jetzt kamen keine weiteren Einsi...“

Vom Schrecken gelähmt beobachtete Merle, wie Allen auf seine Knie fiel und ohne Widerstand auf Boden aufzuschlagen drohte. Gerade rechtzeitig fing sie sich und stützte ihn ab.

„Was ist los?“, rief sie besorgt.

„Ich weiß nicht. Mir wurde plötzlich schwarz vor Augen.“, sagte er gepresst und hielt geschockt inne. Mit leerem Blick starrte er auf seine Hand. „Ich sehe nichts mehr!“

Merles Verstand arbeitete auf Hochtouren.

„So kann ich dich nicht mitnehmen!“, entschied sie und legte ihn vorsichtig flach auf den Boden. Dann sprang sie in ihren Sitz. Gerade, als sie das Funkgerät aktivieren wollte, hielt seine Stimme sie zurück.

„Warte! Ich sehe Farben. Eine Karte.“, erzählte er verwirrt. „Ein Stadtplan von Sarion, übermalt mit verschieden Farben.“

„Was für Farben?“

„Der größte Teil der Fläche ist blau. Über die Stadt verteilt, erkenne ich rote Punkte. Es sind insgesamt...vierzehn. Sie sind in Bewegung und es breitet sich zusehends ein kräftiger werdendes Orange von ihnen aus.“

„Die Seuchenherde und ihre Erzeuger!“, schlussfolgerte Merle und fluchte. „Können wir dieser Karte trauen?“

„Ich weiß es nicht.“, resignierte Allen. „Ich weiß ja nicht einmal, was mit mir passiert.“

Wenn einmal nicht etwas unter seiner Kontrolle ist..., dachte Merle und beugte sich zu ihm hinab.

„Sobald wir wieder etwas Zeit haben, werde ich Hitomi fragen.“, beruhigte sie ihn. „Ich bring dich jetzt zu deinem Platz.“

„Ist sie nicht mehr beim Volk des Drachengottes?“, erkundigte er sich, während sie ihn aufrichtete.

„Doch, aber...Ich erkläre es dir später.“ Vorsichtig setzte sie ihn ab.

„Rasender Falke, hier spricht Adler Eins in Übereinstimmung mit Adler Zwei. Bitte kommen.“, schallte es auf der Brücke. Merle schaute Allen fragend an, ehe es ihr in den Sinn kam, dass er sie nicht sehen konnte.

„Du solltest besser antworten.“, riet er. „Das sind die Transportschiffe unserer Untergebenen.“

Flink hechtete Merle auf ihre Station und antwortete:„Hier ist der Rasende Falke. Wir hören.“

„Adler Eins und Zwei sind startbereit. Erbitten Anweisungen.“

„Allen, wo ist der nächste Gezeichnete?“

„Zwei Kilometer südlich der Palastmauer in einem Häuserblock.“, informierte er sie.

„Geht es nicht genauer?“

„Wenn du eine Stadtkarte für Blinde dabei hast.“

Mit den Augen rollend machte sie eine Hand frei, langte zu ihm hinüber und vergrub ihre Fingerkuppen unter seinen Handschuh. Eigentlich wollte sie seine Eindrücke in sich aufnehmen, doch sein Verstand brachte ihr überraschend starken Widerstand entgegen.

„Ich will nur sehen, was du siehst.“, versprach Merle. Ihre Stimme war einfühlsam und frei von dem Schmerz, den sie gerade empfand. Entweder vertraute er ihr nicht oder er hatte sie nicht erkannt. Beide Möglichkeiten empfand sie als Rückschlag. „Lass mich bitte rein!“

Allen atmete tief durch. Einen Augenblick später hatte sie freie Sicht. Sie prägte sich die Stelle ein, die er gemeint hatte, und zog ihren Geist und ihre Hand zurück. Dann schaute sie auf die Karte, die neben seinem Sitz lag.

„Adler Eins, fliegen sie folgende Koordinaten an...“



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