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Father Dest's Erbe

Fortsetzung zu "Sinnlose Versprechen"
von

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Lang ausgestreckt lag Jason auf seinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen starr zur Decke gerichtet. Die rubinrote Bettdecke bedeckte ihn nur bis knapp über seinen Bauchnabel und hing zur Hälfte über die Matratze hinweg gen Boden. Klassische Musik erfüllte den Raum und brachte ab und an das Mobiliar zum Vibrieren, immer dann, wenn chorale Gesänge oder Schlaginstrumente ertönten. Vor dem Fenster rieselten kleine Schneeflocken zur Erde und mehrten die dünne weiße Schicht auf den Straßen von Asht-Zero. Holly hatte mit ihrer Vermutung Recht gehabt und freute sich nun sicherlich über den ersten Schnee der Saison. Doch Jason warf keinen einzigen Blick auf das Schauspiel der Natur. Er hatte die Flocken noch nicht einmal bemerkt, die vom Himmel stoben. Seitdem er am Morgen aufgewacht war, war er nur einmal aufgestanden, um kurz ins Bad zu gehen und auf dem Rückweg die Musik anzumachen. Das hieß, dass er schon seit gut drei Stunden im Bett lag und sich kaum regte.

Immer wieder rief er sich den Ablauf des Vorabends ins Gedächtnis, doch er konnte sich immer noch nicht erklären, wie er eine Art kleinen Filmriss haben konnte. Die beiden Begegnungen mit Lance blendete er immer wieder gekonnt aus und konzentrierte sich einzig auf das Verlassen von Hollys Wohnung bis hin zu der Hauswand, vor der er sozusagen überfallen worden war. Die Nacht war relativ warm gewesen und er ist einigen Leuten begegnet, die äußerst heiter zu sein schienen. Aber er bekam das dumpfe Gefühl nicht los, dass ihm einige Sekunden oder gar Minuten in seiner Erinnerung fehlten. Er war zwar auf dem Weg nach Hause in Gedanken gewesen, aber selbst dann müsste er gewisse markante Straßenecken vor Augen haben, wenn er die Szene Revue passieren ließ. Bald die halbe Strecke bis hin zum Zusammentreffen mit Lance erschien jedoch maximal verschwommen in seinem Erinnerungsvermögen.

Nie und nimmer hatte er genug Alkohol in seinem Blut gehabt, um dieses Phänomen zu erklären. Er hatte Wein getrunken, aber einfach nicht reichlich genug, um nun nicht ins Grübeln zu geraten. Irgendwie wäre es ihm gerade lieber, er hätte es. Ungewissheit war etwas, was Jason ordentlich stresste. Insbesondere seit seiner Bürgermeisterkandidatur, die ihm so einiges offenbart hatte.

Vielleicht zerbrach er sich gänzlich umsonst den Kopf, doch die Tatsache, dass er glaubte, etwas nicht zu wissen, verunsicherte ihn enorm. Ruhelos zog er immer wieder mit den Zähnen seines Oberkiefers seine Unterlippe ein. Sie sandte bereits Schmerzsignale aus, aber er ignorierte sie.

Obwohl sich der Tag schon fast dem Mittag neigte, wurde es draußen kaum heller. Jasons Schlafzimmer lag in einem Halbdunkel und die musikalische Untermalung verstärkte die elegische Atmosphäre. Alsbald wippte sein rechter Fuß auf und ab, der über dem anderen lag und brachte die Bettdecke zum Rascheln, das jedoch meist in der Komposition von Carl Orffs Carmina Burana unterging. Seufzend wand er sich irgendwann in seinem Bett, doch sein Blick streifte lediglich die Wand, die in diesem Augenblick völlig kalt wirkte. Seit seinem Einzug hatte er sich noch nicht die Mühe gemacht, das Weiß durch Farbgebungen welcher Art auch immer zu durchbrechen. Viel zu sehr war er mit wichtigen Telefonaten beschäftigt gewesen. Und mit Lesen und mit Nachforschungen, mit Denken und Planen. Jason hat sich bisweilen eine vernünftige Basis geschaffen, um Tyrone von Zundersby zum gegebenen Zeitpunkt zu kontrahieren oder – wenn es gut lief – zu stürzen. Und doch war es vermessen zu behaupten, dass Jason allein diese Grundlage für seine Ziele ausreichend genug ausbauen könnte, insbesondere wohl kaum in einem ansprechenden Zeitraum. Und auch nicht mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Weder er als der Sohn von Kelvin Sartaren noch er als Aspir war dazu in der Lage, genügend Geld aufzutreiben oder Artikel schreiben zu lassen, um sein eigenes Netz des Einflusses groß genug zu spinnen. Doch davor schloss Jason lieber die Augen. Dieser Wahrheit bewusst zu sein war eine Sache, doch an ihr festzuhalten eine ganz andere.

Bedächtig schloss er seine Lider und rief sich ein weiteres Mal die gestrige Nacht vor Augen. Nur dieses Mal intensivierte sich seine Erinnerung und er schaffte es nicht, Lance erneut auszublenden. Starke Arme umschlossen ihn und zogen ihn fest an einen warmen Körper, der sich perfekt dem Seinen anpasste. In seinem Nacken begann es zu kribbeln, als er abermals heißen Atem auf ihm spürte. Seine Ohren summten, als er neuerlich die vertraute Stimme – so verzagt sie auch klang – hörte. Erst die Berührung durch Lance hatte ihn in die Realität zurückgeholt. Ein Fakt, der ihn noch mehr beunruhigte. Doch er erklärte immer noch nicht, was vorher geschehen war, dass ihm sein Nachhauseweg so unwirklich erschien!?

Es quälte ihn. Unwissen war eine wahre Tortur für ihn. Und dass er Lance in jeder Faser seines Körpers spürte, verbesserte seinen Zustand auch nicht. Holly hatte erkannt, wie sehr ihn die Trennung von Lance belastete, auch wenn er alles daran getan hatte, es sich nicht anmerken zu lassen und seine Gefühle zu verdrängen. Doch tief in ihm waren sie die ganzen Monate über präsent gewesen, verborgen im Schein des Wunsches, Asht-Zero von der übermächtigen Korruption zu befreien. Sein Verlangen, Tyrone das Handwerk zu legen, entsprang wahrlich seinem Inneren. Doch war es all die Opfer wert?
 

Als er seine Augen wieder öffnete, flackerten seine Lider und offenbarten immer wieder im Wechselspiel ein intensives und ein emotionsloses Braun seiner Iriden.
 

„Ja, ist es“, hauchte er alsbald in die Leere des Zimmers und erhob sich langsam.
 

Wenn er seinen Zielen näher kommen wollte, durfte er nicht den ganzen Tag tatenlos sein. Zudem musste er in etwa einer Stunde zur Firma. Freie Arbeitszeiteinteilung konnte zwar vorteilhaft sein, aber die Arbeit machte sich dadurch dennoch nicht von allein. Er wurde immer noch nicht so gerne dort von seinen Kollegen gesehen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er den Job brauchte, um Killian Frimmingway und all seine Nachfolger, die noch kommen werden, zu bezahlen. Geld war ein Stück Macht. Eines, das er sich nicht nehmen lassen konnte.

Er schüttelte all die Lethargie von sich, die das Gefühl, Lance zu vermissen, lediglich verstärkte. Der Vergangenheit nachtrauern half ihm auch nicht. Und die verschwommenen Momente in seinem Gedächtnis musste er vorerst als Hirngespinst einstufen, selbst wenn er sie eigentlich nicht für unwichtig befand. Doch was brachten ihm hindernde Emotionen, wenn er den großen Clou vor Augen hatte?
 


 

So rannen die Tage ins Land und Jason widmete sich wieder voll und ganz seiner Erbschaft. In der Tat bezeichnete er seine zweite Identität insgeheim als solche. Dass Aspir derweil immer mehr sein Wesen verkörperte und seine Handlungsweise bestimmte, überging er geflissentlich. Aspir bedeutete Stärke, Zielstrebigkeit, Durchsetzungsvermögen und Einfluss. Prädikate, über die er ohne ihn nicht in solchem Ausmaß verfügte.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen las er den neuesten Foreneintrag der Homepage der Stadt. Er hatte am Vortag eigens einen Thread – Verschwindet unser Geld im Nichts? - eröffnet und die Reaktionen waren teils sehr vielversprechend, teils aber einfach nur amüsant. Die einen nahmen seine aufgeworfenen Fragen sehr ernst und sprachen auch den einen oder anderen Punkt an, auf den er selbst noch gar nicht gekommen war, und die anderen wiederum schienen noch nie darüber nachgedacht zu haben, warum sie am Ende des Monats rote Zahlen schrieben. Jason hatte seinen Eintrag eher allgemein gehalten, denn er hatte nicht direkt auf den Fakt anspielen wollen, dass dies alles eine Taktik des Stadtrates war. Solch relativ hohe Gebühren für die Abfallentsorgung oder das Abwasser im Vergleich zu anderen Städten waren im Grunde nicht nötig, um die verursachten Kosten zu decken. Doch Northburg und nun Vanrim achteten sehr genau darauf, dass die Beträge nur minimal zu hoch angesetzt waren, damit erst gar keine Diskussion entfacht würde. Mit kleinen Erhöhungen fanden sich die Menschen meist schnell ab, doch sie hatten allesamt ihre Rechnung ohne Jason Sartaren gemacht. Er hat nun einen weiteren Stein ins Rollen gebracht und die Reaktionen bestätigten ihn nur zu deutlich.
 

Renthouse 10.November 10:47

Hi Leute,

es ist äußerst erbauend, dass ich nicht der einzige bin, dem diese Unerhörtheiten aufgefallen sind. Da wollte ich mit meiner Frau ein Grundstück kaufen und mir sind fast die Augen rausgefallen, als mir der Preis dafür genannt wurde. Der Besitzer wies meine Vorwürfe bescheiden lächelnd zurück, dass er selbst den Gesetzen unterläge. Leute, habt ihr euch mal damit mal beschäftigt? Die Grundsteuer ist der pure Hohn! So toll ist Asht-Zero nun auch nicht. Weder campieren hier irgendwelche hochkarätigen Berühmtheiten noch finden hier alljährlich irgendwelche Festakte statt, die den Preis derart in die Höhe schrauben.

Das kann doch alles nicht wahr sein! Die wollen uns auf ganzer Linie abzocken und denken auch noch, dass wir so blöd sind und das einfach so runterschlucken. Nicht mit mir.

Ach, und auf meine Vorgängerin zu sprechen zu kommen. Letti, meinst du nicht, du bist hier falsch? Mach mal deine hübschen blauen Äuglein auf, Süße, vielleicht siehst du dann, dass die Realität kein Zuckerschlecken ist. Aber vielleicht sollten dir deine Eltern auch einfach die Kreditkarte nehmen.
 

Die Welt geht zugrunde!
 

Mfg,

euer Renthouse
 

Jason scrollte weiter nach unten, ließ Lettis Eintrag geflissentlich an sich vorbeirauschen – und obwohl sie nichts zu sagen hatte, hatte sie eine Menge geschrieben! – und scrollte dann wieder nach oben. Es gab zwei neue Vermerke, die in der letzten Minute erst hereingekommen sein mussten:
 

Zunder 11.November 19:13

Tach auch,
 

was geht denn hier ab? Da komme ich gerade aus dem Urlaub zurück und erblicke einen Thread, der mir aus der Seele spricht. Das ist voll krass. Fielen euch endlich die Schuppen von den Augen, was?

Nein, nein, ich möchte hier niemanden beleidigen, aber schon dieser… ach wie hieß der Typ noch mal???... ihr wisst schon, dieser Typ, der Bürgermeister werden wollte… scheißt drauf, jedenfalls hat der endlich das angesprochen, was gemeinhin bekannt ist. Zumindest in meinen Kreisen. Und alle, die es leugnen, sind Heuchler!

Fuck, ich werde hier doch nicht gleich gesperrt werden?
 

Ganz locker, Kinder!
 

Diese Stadt raubt einem den Verstand. An einem Tag bekommt man Kohle, am anderen ist sie schon weg. Und habe ich was davon? Nee, außer vielleicht ’ner warmen Wohnung. Welch Luxus! Tzz, da braucht man aus beruflichen Gründen ’ne Zweitwohnung und was machen die diätenfressenden Fettärsche? Die ziehen mir alles aus der Tasche, was ich durch meinen Schweiß verdiene. So ein Teufelspack!
 

Warum lassen wir uns das eigentlich gefallen? Na, wann steigt die Revolte?

Seid euch sicher, dass ich euch durch meine Präsenz beehren werde. Da schaut ihr, was? Ja, selbst so ein Penner wie ich kann sich gewählt ausdrücken.
 

Hochachtungsvoll,

der von nebenan
 

The rule 11.November 19:14

Ich bin das Gesetz! Ich horte euer Geld! Und meine Taschen sind groß! Sehr groß!
 

Peace!
 

Als sich Jason vom Monitor abwandte, verdrehte er kurz die Augen. Manche sahen in dem Thread wieder nur die Möglichkeit, sich zu profilieren, aber schon zuckte er die Achseln. Ihm sollte es recht sein. Solange die Diskussion am Leben war, würde der eine oder andere intensiver darüber nachdenken, was in dieser Stadt vor sich ging. Dass Tyrone von Zundersby der Drahtzieher war, musste dafür keiner wissen. Zumindest noch nicht. Erst musste das Feuer zum Brennen gebracht waren, ehe es sich ausbreiten und damit immer größer werden konnte.

Jasons Augen funkelten, als ob sie die lodernde Glut verkörperten. Er stellte sich ans Fenster und sah auf Asht-Zero, das unter einem dichten Regenschleier verborgen war.

Es klingelte.

Sein Blick wanderte hinauf gen Himmel, von dem die nassen Tropfen fielen. Die Wolken hangen schwer und schienen sich immer weiter verdichten zu wollen. Wie sehr er dieses Wetter einmal verabscheut hatte. Doch nun…

Es klingelte erneut.

Doch nun fand er, dass es zur Stadt passte. Asht-Zero und Sonne? Die reinste Antithese in seinen Augen!
 

„Hrmpf“, knurrte er und wand sich vom Fenster wieder ab, als jemand begann, auf seine Wohnungstür einzuschlagen.
 

„Jason?“, drang nun Hollys Stimme zu ihm. „Ich weiß, dass du da bist. Mach auf!“
 

Ruckartig zog er die Tür auf und Holly fiel ihm fast in die Arme. „Was ist denn in dich gefahren?“, fragte er sie ernst und beäugte sie kritisch.
 

„Gott sei dank!“, umfasste sie mit kalten Händen sein Gesicht und zog ihn dann an sich.
 

Ein unterdrücktes Schniefen erfüllte alsbald den Flur und Jason wusste nicht, was sich gerade abspielte.

„Holly?“, schob er sie von sich an und suchte ihren Blick. „Alles okay?“
 

„Das fragst du mich?“, stieß sie schluchzend hervor. „Du gehst nicht ans Handy, du lässt dich tagelang nicht bei mir blicken, meldest dich nicht und du fragst, ob bei mir alles okay ist?“

Mit der flachen Hand schlug sie ihm auf die Brust.

„Und ich, Idiotin, mache mir auch noch Sorgen!“

Als sie seinen verständnislosen Blick sah, schüttelte sie mit dem Kopf und lief dann an ihm vorbei in das nächstgelegene Zimmer. Während sie direkt zum Kühlschrank ging, um sich ein Wasser gegen das Kratzen im Hals zu holen, seufzte sie. Fahrig fuhr sie sich durchs Haar und machte dann den Kühlschrank auf, der lediglich gähnende Leere aufwies.

„Isst du nichts?“, drehte sie sich zu Jason um, der ihr gefolgt war.
 

„Morgen ist auch noch ein Tag zum Einkaufen“, tat er ihre Frage nonchalant ab.
 

Plötzlich knallte sie die Kühlschranktür wieder zu und eilte wie ein Wirbelwind durch die Gegend. Dabei sah sie sich genauestens um, öffnete und schloss Schränke, sah in Dosen und Kannen, und wühlte sogar in Schubfächern.
 

„Kannst du mir mal verraten, was das werden soll?“, versperrte Jason ihr irgendwann den Weg, als sie sich einem Schrank genähert hatte, der sie partout nichts anging.
 

„Geh zur Seite“, erwiderte sie nur und wollte sich an ihm vorbeischleichen. Doch er packte sie am Arm und zog sie zum Küchentisch und zwang sie, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.

„Du tust mir weh“, fauchte sie.
 

Er lächelte. „Du platzt hier rein und durchwühlst meine Sachen, da darf ich doch wohl erst mal den Grund dafür erfahren.“
 

„Du willst es ja nicht anders!“, schnaubte sie weiter, besann sich aber dann eines besseren und atmete erst einmal tief ein. Im nächsten Augenblick prägte Kummer ihren Gesichtsausdruck.

„Nimmst du Drogen oder hortest du irgendwo Unmengen von Alkohol?“
 

„Bitte?“, konnte er ihre Frage kaum glauben. „Wie kommst du nur auf so was?“
 

„Ich habe doch gesehen, mit welchem Schmerz in deinen Augen du letzte Woche meine Wohnung verlassen hast. Und seitdem hast du dich rar gemacht und als du den ganzen Tag nicht auf dem Handy gehört hast, da…“ Sie brach ab und rang nach Fassung. „Jason, wenn du deinen Kummer auf eine Art und Weise verdrängen solltest, die nicht ganz… naja koscher ist, dann redest du mit mir darüber, ja?“
 

Jason wandte sich von ihr ab und schenkte ihr ein Glas Wasser ein, das er ihr anschließend hinhielt.

„Auf was für Gedanken du kommst“, zog er eine Braue nach oben und spürte für einen Moment ihre Finger, als sie ihm das Glas abnahm.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das ihn beschlich, als er Holly so vor sich sah. Den Tränen nahe und regelrecht verzagt. Etwas regte sich in seinem Herzen, das er die letzten Tage nicht verspürt hatte. Es war das Gefühl der Geborgenheit.

Mit einem Mal sank er auf die Knie und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß. Das war eine Geste, die er noch nie zuvor hat durchbrechen lassen. Wie von selbst vergrub sich ihre Rechte in seinem Haar. Und ihm fehlten von jetzt auf nachher die Worte.

Holly war es, die ihm immer noch zeigen konnte, dass er etwas von dem alten Jason in sich trug. In diesem Moment nahm sie eine Rolle ein, die ihr gewiss niemals in den Sinn gekommen wäre. Und doch tat sie genau das unterbewusst, was sie darin noch verstärkte. Sie spendete ihm in gewisser Weise Trost und gab ihm eine Nestwärme, wie sie eigentlich nur Müttern zu Eigen war. Der Vergleich mochte sehr seltsam anmuten…
 

„Ich kann mir gut vorstellen, was du durchmachst, Jason“, erhob sie ihre Stimme ganz sachte. „Immer, wenn ich dir in den letzten Monaten in die Augen gesehen habe, habe ich die Trauer gesehen, die dich innerlich zerfrisst. Außer mir nahm sie anscheinend keiner wahr…“

Ab und an fuhr sie ihm mit der Hand über die Wange. Nebenbei horchte sie auf das unregelmäßige Atmen, das von ihm ausging.

„Ich hatte gehofft, dass du sie überwinden wirst, doch als ich nun seit gut einer Woche nichts von dir hörte,… Ich sehe ja, dass ich mit meiner Hoffnung falsch lag…“

Sie schloss die Augen und senkte ihren Kopf ab, um Jason einen Kuss auf die Stirn zu hauchen.
 

In dem jungen Sartaren herrschte plötzlich Chaos. Er spürte das Blut in seinen Ohren rauschen und sein Herz in seiner Brust pochen. Er fühlte Emotionen, die er für unwichtig erachtet hatte. Doch der andere Teil von ihm, der, der unentwegt an seinem Vorhaben, Tyrone das Handwerk zu legen, festhielt, rief Bilder vor sein inneres Auge, die ihm durch Mark und Bein gingen. Fratzenhafte Gestalten, tiefrotes Blut und sonst nur Schutt und Asche. Zuerst versuchte er, die Bilder zu verdrängen, doch umso dringender er dies tat, umso heftiger wurden sie. Als er Hollys Lippen auf seiner Haut spürte, schreckte er auf und fiel rücklings auf seinen Hintern.

„Jason?“

Hollys Stimme klang wie von weit her und verlor sich in einem Nebel aus Wolken. Gebilde, die hier und jetzt nicht hätten vorherrschen dürfen. Jason richtete sich auf und lief durch den Dunst, versuchte es, mit seinen Händen zu lüften. Sich einen Weg zu bahnen, doch er wurde von den Schwaden immer stärker umhüllt. Schmerzen durchzuckten ihn, obwohl er nur die undurchsichtige Luft berührte. Er wollte aufschreien, doch kein Laut entsprang seiner Kehle.

Der Dunstschleier legte immer fester seine Arme um ihn und drohte ihn zu ersticken. Wie verrückt schlug er um sich und wollte sich wehren, doch die Dunkelheit, die ihn zusätzlich umhüllte, wurde immer verlangender. Sie verlangte nach ihm. Sie verzehrte sich nach ihm. Bis sie siegte…
 


 

„…son?
 


 

Jason?
 


 

… son?“
 

Sanfte Worte, die fast einer Melodie glichen und sich wohlig über die Taubheit legten, die all seine Glieder einnahm. Ein kleiner Lichtstrahl stahl sich in die Finsternis. Erst rechts, dann links. Und dann spürte er eine schleichende Kälte auf seiner Brust. Nur vage und doch glaubte er, nicht zu träumen. Zaghaft schlug er die Augen auf und schloss sie sogleich wieder, als grelles Licht ihn traf.
 

„Jason?“
 

Etwas Warmes strich über seinen Kopf.
 

„Die Werte sind vollkommen normal.“
 

Unwillkürlich versteifte er sich.
 

„Das ist nur Doktor Jensworth.“
 

Erneut öffnete er die Augen und dieses Mal konnte er verschleierte Umrisse wahrnehmen, ehe er sie wieder schloss.
 

„Falls er erneut zusammenbricht, verständigen Sie mich bitte. Dann lasse ich ihm eine Überweisung fürs Krankenhaus zukommen“, wandte sich der Arzt an die brünette junge Frau, die immer noch hinter der Couch kniete und Jason behutsam über den Kopf strich.
 

„Also ist es nichts Ernstes?“, sah sie zu ihm auf.
 

„Sie sagten, er war vollkommen fertig und schien kaum etwas zu essen?“
 

Holly nickte. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich vermute, dass er in den letzten Tagen fast nichts zu sich genommen hat.“
 

„Dann braucht er nur einen Tag Ruhe und jemanden, der darauf Acht gibt, dass er etwas isst“, lächelte er sie freundlich an.
 

„Dafür werde ich sorgen“, versprach sie ihm mit Nachdruck.
 

„Er wird Ihnen dankbar sein.“
 

„Das hoffe ich doch“, blickte Holly zu Jason und lächelte dann Doktor Jensworth an. „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so schnell kommen konnten.“
 

„Auf Wiedersehen“, reichte er ihr die Hand, nachdem er seinen schwarzen Koffer geschlossen hatte, in dem er sein Stethoskop wieder verstaut hatte.
 

„Wiedersehen“, nickte sie ihm zu und hörte wenig später die Haustür, wie sie ins Schloss fiel.

„Jason?“, legte sie ihre Hand nun auf seine Wange.
 

Jason hatte dem Gespräch die ganze Zeit über gelauscht und je mehr Sekunden verstrichen waren, desto klarer war sein Verstand geworden. Die letzten Worte hatte er wieder völlig deutlich vernommen. Langsam öffnete er die Augen ein weiteres Mal, doch dieses Mal machte ihm das Licht überhaupt nichts mehr aus.
 

„Wie geht’s dir?“, fragte Holly nun eine Spur heiterer.
 

Vorsichtig richtete er sich auf und sie nahm umgehend neben ihm Platz. „Gut.“
 

„Wirklich?“
 

Er drehte seinen Kopf ein paar Mal hin und her, rieb sich kurz den Nacken und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. „Ja, wirklich.“
 

Hollys Hände hatte mittlerweile die Seine umschlossen. „Gut“, stieß sie die Luft aus und lächelte ihn dann an.
 

„Mhmm… Eddy wartet sicher auf dich.“
 

„Er weiß, dass ich heute Nacht nicht komme.“
 

„Mir geht’s wirklich wieder gut. Du hast doch gehört, dass meine Werte in Ordnung sind“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Wegen mir braucht ihr nicht auf euch zu verzichten.“
 

„Du wirst mich heute aber nicht mehr los“, zuckte sie gelassen mit den Schultern. „Du gehst jetzt ins Bett und ich koche dir derweil eine heiße Suppe. Irgendwas werde ich in deinen spärlichen Vorräten schon dafür finden.“
 

„Holly…“, setzte er an, doch ein Finger auf seinen Lippen brachte ihn zum Schweigen.
 

„Du gehorchst mir oder ich rufe Eddy an, damit er dich zur Vernunft bringt. Und du willst nicht wissen, wie“, fügte sie zwinkernd an.
 

Er stöhnte, stand aber dann auf und ging wie befohlen ins Schlafzimmer. Doch dort legte er sich nicht ins Bett, sondern er stellte sich ans Fenster, legte eine Hand auf seine linke Brust und sah hinaus.
 

„Schon wieder“, hauchte er. „Schon wieder weiß ich nicht, was mit mir passiert ist.“
 

Der Regen hatte sich zu vorhin noch intensiviert und prasselte nun peitschend auf die Dächer der Stadt. Asht-Zero weilte unter den schweren Wolken verborgen. Und Jason begann bereits erneut zu ignorieren…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2007-10-11T13:28:35+00:00 11.10.2007 15:28
Jason vegetiert wirklich nur noch so vor sich hin.
Und irgendwie hab ich das Gefühl, dass Holly es nur noch schlimmer macht..auf eine gewisse Weise...kann auch sein dass ich mir das jetz nur "einbilde" ^^
Aber dass der Gute die Camina Burana hört find ich geil! xD

greetz Morri
Von:  inulin
2007-10-10T19:01:41+00:00 10.10.2007 21:01
Jason vergisst sich aber auch völlig neben seinen Plänen.
Ich finde in diesem Kapitel zeigst du wirklich ganz stark, wie sich Jason von den anderen abkapselt und sich in seine Welt zurückzieht.. oder so. ^^
Schon erstaunlich was aus dem tatenfrohen jungen Mann geworden ist...
Ich frag mich ja, was ihn noch erwartet.
Und ob Holly es schafft ihn wieder etwas aus sich rauszuholen.


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