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Have a little faith

Prison Break (TV-Serie)
von

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part II

Reichlich 60 Stunden später lag Michael Scofield allein in seinem Bett und starrte an die graue Decke seiner Zelle. Das linke Bein hatte er etwas höher gelagert, das rechte angewinkelt und beide Hände lagen ruhig auf Bauch und Brust, die sich gleichmäßig in langsamen Abständen hoben und senkten. Der frische, graue Schlafanzug war kuschelig warm und dennoch konnte er den Frischling nicht vor der Kälte in seinem Inneren schützen. Dabei lief doch eigentlich alles bestens.
 

Er hatte es geschafft. Noch während der ersten Nacht des Einschlusses hatte er dem Schraubenkopf durch unermüdliches Feilen die richtige Form geben können. Ein Blick auf die entsprechende Stelle seines Tattoo am Unterarm, ein Vergleich durch Aufsetzen des Metallstiftes und dann der große Moment. Für Sekundenbruchteile hatte Michael sich ertappt gefühlt und mit klopfendem Herzen innegehalten, als das Gewinde, mit dem das Toilettenbecken an der hinteren Zellenwand befestigt war, sich ächzend und quietschend seinem Herausdrehen widersetzt hatte. In diesem Augenblick war es ihm unmöglich erschienen, dass auch nur ein Mensch in diesem Trakt die verräterischen Geräusche nicht gehört hatte, doch alles war ruhig geblieben und nur einen Atemzug später war der erste Schritt auf seinem Fluchtweg geschafft. Inzwischen hatte Michael sogar schon damit begonnen, die Fugen der Backsteinwand aufzukratzen. Er lag also völlig im Zeitplan, vielleicht ein paar Stunden zurück, aber nicht viel.
 

Dennoch waren in seinen Augen weder Zuversicht noch Zufriedenheit zu erkennen, vielmehr lagen Spuren von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in seinen Zügen. Die Hände des Frischlings zitterten leicht. Doch nicht auf Grund von Zuckermangel durch zu viel Insulin, denn glücklicherweise war er noch rechtzeitig genug an den Insulinblocker gekommen, ohne den er zweifelsohne aufgeflogen wäre. So aber war das Ergebnis des Bluttestes „zu seinen Gunsten“ ausgefallen und hatte ihn eindeutig als Diabetiker ausgewiesen, auch wenn er keiner war. Doktor Tancredis begründeter Argwohn, er könnte fehldiagnostiziert worden sein oder einfach simulieren, war damit vorerst aus der Welt geräumt. Weiteren, regelmäßigen Besuchen der Krankenstation, die für nächste Vorbereitungen seines Ausbruchsplanes zwingend notwendig waren, stand nun, auch ohne dass er seine Gesundheit ruinieren musste, nichts mehr im Wege. Mittlerweile hatte er sogar Zugang zur PI erhalten und Lincoln in seinen Plan einweihen können. Selbst das Objekt mit dessen Hilfe er die Verschwiegenheit und Vertrauenswürdigkeit seines Zellengenossen prüfen wollte, hatte er fast fertig geschnitzt, denn dieser sollte am nächsten Tag in den normalen Vollzug zurückkehren. Und ohne die Sicherheit, dass Sucre ihn nicht bei erstbester Gelegenheit verpfiff, sondern ihm half und für ihn Wache stand, gab es kein Graben in ihrer Zelle, das war Michael klar. Doch da der Puertoricaner seiner Freundin erst kürzlich einen Heiratsantrag gemacht hatte, war er zuversichtlich, dass es auch in Sucres Interesse war, hier schnellstmöglich herauszukommen. Eigentlich lief also alles nach Plan. Alles, bis auf das entsetzliche Hämmern und Brennen in seinem linken Fuß.
 

Hatten Michael nach den Ausschreitungen vor drei Tagen noch Zweifel beschlichen, dass er diesen Hexenkessel vielleicht nicht überleben würde, so kannte er nun zumindest einen Teil der Antwort. Unbeschadet kam er hier niemals raus, so viel war klar ... Sein bandagierter, linker Fuß war auf Kissen vorsichtig höher gebettet und die frische Binde bereits wieder blutdurchtränkt. Michael hatte zwar mehrere Analgetika geschluckt und Doktor Tancredi die Stelle auch lokal betäubt, doch die Schmerzen wollten einfach nicht schwinden. Heftige Stiche und ein ziehendes Brennen durchfuhren seine Zehen in kurzen Abständen. Besonders seine kleine Zehe pulsierte so schmerzhaft, als wäre ihm ein Zehntonner über den Fuß gefahren. Phantomschmerzen wie er nur allzu gut wusste. Michael wagte es nicht, den Kopf zu heben und hinunterzusehen. Er wollte nicht daran denken, wollte verdrängen, doch es gelang ihm nicht. Sein Atem wurde unruhig und ging immer schwerer, je deutlicher die schrecklichen Bilder des Nachmittages wieder wurden.
 

Lincoln wäre so etwas nie passiert, ging es ihm durch den Kopf und seine auf dem Bauch ruhende, rechte Hand krallte sich ängstlich in das Oberteil des wärmenden Schlafanzuges. Niemals! Lincoln hätte gekämpft. Lincoln war groß und stark, ihn hätten sie nicht so einfach überwältigen können. Doch Michael? Im Gegensatz zu seinem Bruder war er normal und nicht sehr kräftig gebaut. Er war ein Denker und kein Boxer, seine Stärke steckte in seinem Kopf, nicht seinen Fäusten. Was hatte einer wie er denn schon entgegenzusetzen?
 

„Nothing“, dachte Michael niedergeschlagen und versuchte das langsam lauter werdende Wimmern des kleinen Jungen in seinem Kopf zu ignorieren.
 

Zu dritt hatten sie ihn angegriffen, dieses feige Mafiapack. Und natürlich hatte der Boss sich nicht selbst die Hände schmutzig gemacht, sondern die Drecksarbeit seinen Handlangern überlassen. Noch immer konnte der Frischling das hämische Lachen des Häftlings, der ihn von hinten festgehalten hatte, dicht an seinem Ohr hören und seine Nackenhärchen sträubten sich. Und noch immer spürte er den Druck an den Oberarmen, derart hart hatte der kräftige Kerl ihn gepackt.
 

Michael war klar gewesen, dass die Sache mit Abruzzi vielleicht nicht so einfach werden würde, wie er gehofft hatte, schließlich ging es hier nicht um irgendwen. Es ging um Otto Fibonacci, den Aussteiger und Verräter, der den großen John Abruzzi zu Fall gebracht hatte. Ein einfacher Angestellter, der ohne es zu ahnen für eine der größten Mafiafamilien gearbeitet und eines Abends seinen Chef bei einem kaltblütigen Mord beobachtet hatte. Jener Fibonacci, der all dies eidesstattlich vor Gericht bezeugt und mit seiner Aussage den damals größten Mafiosi lebenslänglich hinter Gitter gebracht hatte.
 

Es war abzusehen gewesen, dass dieser alles daran setzen würde Fibonaccis Aufenthaltsort zu erfahren, vor allem nachdem seine eigenen Leute den Verräter nie aufspüren konnten und er nun in einem anderen Prozess abermals aussagen sollte. Auch wenn Michael subtil genug vorgegangen war, Abruzzi nicht direkt davon in Kenntnis zu setzen, dass ausgerechnet er, der Neuling in Fox River, genau diese Informationen besaß, war es ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Gefährlich, aber notwendig um in den Trupp der PI aufgenommen zu werden. Dass Abruzzi so schnell zu solch rabiaten Methoden greifen würde, damit hatte Michael allerdings nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, ihm verständlich gemacht zu haben, dass er sich weder von ihm noch von seinen Kumpanen einschüchtern ließ, und auf „diplomatischem“ Wege zu dem dringend benötigten Arrangement mit Abruzzi kommen zu können. Doch wieder einmal musste Michael feststellen, dass menschliches Verhalten nun einmal keinen festen Regeln folgte, sich nicht in Gleichungen fassen ließ und einfach unberechenbar war. Eine äußerst schmerzhafte und zutiefst erschütternde Erfahrung für den jungen Frischling. Er hatte die Wahl gehabt: Otto Fibonacci oder sein Zeh …
 

Michael hatte Monate gebraucht, bis er Fibonaccis jetzigen Aufenthaltsort und seine neue Identität im Zeugenschutzprogramm in Erfahrung gebracht hatte. Zahlreiche schlaflose Nächte, die er vollgepumpt mit Instantkaffee und Fastfood am Telefon gehangen und kreuz und quer durch die Staaten telefoniert oder sich in den Untiefen des world wide web fast verloren hatte. Eine nervenaufreibende Sisyphus-Arbeit, deren sich nicht einstellen wollender Erfolg seinen ausgeklügelten Plan lange Zeit ernsthaft gefährdet hatte. Zu lange, als dass er diese brandgefährlichen Informationen gleich beim ersten Stolperstein auf seinem Weg preisgeben würde. Wenn auch nur ein Wort über seine Lippen kam, bevor er und sein Bruder außerhalb dieser Mauern standen, war sein Plan gescheitert. Dann war nicht nur Lincoln ein toter Mann.
 

Kalter Angstschweiß stand auf Michaels Stirn und er schluckte mehrmals schwer. Sein Atem ging immer schneller, seine Pupillen weiteten sich sichtbar und irrten unruhig umher. Auch wenn er sie scheinbar noch spürte, der Frischling hatte vor wenigen Stunden zwei Zehen verloren und der Schock darüber saß verdammt tief. Das Geräusch der zuschnappenden Schere, die seine Knochen knirschende durchtrennte, hatte sich tief in seinem Gedächtnis eingebrannt und eine weitere, unsichtbare Narbe in seinem Herzen hinterlassen. Einzig der Gedanke an Lincoln, die Angst sein großer Bruder könnte durch seine Schwäche in reichlich drei Wochen auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden und eines qualvollen, langsamen Todes sterben, während 10.000 Volt durch seinen Körper jagten, hatte ihm heute Nachmittag in diesem Schuppen die Kraft gegeben, nicht zusammenzubrechen oder laut zu schreien. Dabei hätte er genau das am liebsten getan, würde es immer noch tun, wäre er allein gewesen und niemand hätte ihn hören können.
 

Noch nie in seinem Leben hatte Michael solch entsetzliche Schmerzen verspürt. Selbst jetzt nach mehreren Stunden und hohen Dosen Xylacane waren sie noch so stark, dass er es nicht wagte sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Seit Minuten schon starrte er nur apathisch vor sich hin und wartete, dass die betäubende Wirkung der Medikamente endlich einsetzte, doch bisher war nichts davon zu spüren. Im Gegenteil: Anstatt sein Leiden zu lindern, schürten sie es weiter. Michael hatte das fremdartige Gefühl, eine Art flüssiges Feuer fließe durch seinen Fuß und das Bein hinauf direkt ins Rückenmark. Jede kleinste Bewegung unterhalb der Hüfte brannte höllisch.
 

Langsam drehte er den Kopf, blickte nun genau auf die Matratze seines Zellengenossen über sich und versuchte die Schmerzen so gut es ging zu ignorieren. Die Erinnerungen ließen sich allerdings nicht unterdrücken, das hatte der Frischling inzwischen eingesehen. Aber vielleicht konnte er Kraft aus ihnen schöpfen. Er hatte Abruzzi die Stirn geboten, war bis zum Schluss unnachgiebig geblieben. Zumindest sollte der Mafiosi jetzt wissen, dass er so nie an seine Informationen kam.
 

„I give you that information, I’m a dead man.” und „It‘s not gonna happen John, it’s not gonna happen“, hatte er Abruzzi eindringlich direkt ins Gesicht gesagt und versucht so selbstsicher und stark wie in dieser Situation noch möglich zu klingen, doch am Ende war ihm nichts geblieben, als seine Schmerzen und Schreie mit aller Macht zu unterdrücken und so gut es ging seine Haltung zu bewahren.
 

Unwillkürlich krallte sich Michaels Hand fester in das Oberteil des baumwollenen Schlafanzuges. Alles um ihn herum war kalt und still. Die Abdrücke seiner Zähne auf der Unterlippe konnte er noch ebenso deutlich spüren wie den festen Griff an den Armen und all die Schreie, die seine Fassade nicht hatten durchbrechen dürfen, hallten nun von jeder seiner Gehirnwindungen wieder, bevor sie langsam in ein vertrautes Weinen und Schluchzen übergingen. Michael hörte es jetzt ganz deutlich, es war direkt hinter ihm. Widerstrebend drehte er sich um und sah, was er im Moment am Allerwenigsten sehen wollte. Der kleine Junge stand in dem gleichen grauen Schlafanzug doch barfuß da und streckte hilfesuchend die Hände nach ihm aus. Ein Anblick, den Michael nur schwer ertragen konnte. Gerne hätte er das weinende Kind fest in die Arme geschlossen, doch er musste stark sein, wenn er überleben und seinen Bruder retten wollte. Und so trat er einen großen Schritt zurück, wandte dem Jungen wieder den Rücken zu und rannte weg, flüchtete sich auf der Suche nach dem Schalter seines Schutzwalls ins Dunkel seiner Gedanken.
 

„Just leave!“
 

Michael schloss die Augen, presste zwei Finger leicht auf seine geschlossenen Lider und unterdrückte aufsteigende Tränen. Er durfte jetzt nicht schwach werden, nicht schon wieder ...
 

Quälend lange drei Minuten dauerte es, bis Michael von zwei Wärtern gestützt endlich die Krankenstation erreichte. Drei Minuten, in denen er das Gefühl hatte, er müsste jeden Moment zusammenbrechen, drei Minuten, in denen er am liebsten sterben wollte und dennoch die ganze Zeit tapfer die Zähne zusammenbiss. Keinen Ton gab der Frischling von sich, keinen einzigen Schrei, nichts außer leisem Stöhnen und Schnaufen. Er blieb stark, seine Fassade intakt, doch sobald sie die Krankenstation erreichten, begann sie zu bröckeln.
 

Kaum dass er auf der Behandlungsliege saß, spürte er erste Tränen seinen Schutzwall durchbrechen. In dem Versuch sie vor den Wärtern zu verbergen, faltete er die Hände vor dem Gesicht und versuchte sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Doch als Doktor Tancredi mit einem besorgten „Let’s have a look at you“ begann, die notdürftig um seinen Fuß gebundene Socke abzuwickeln, verlor er für einen Moment seine beherrschte Haltung. Die Schmerzen waren einfach so überwältigend, dass Michael nicht mehr anders konnte. Aus Angst, die junge Ärztin könnte seinen Fuß unglücklich berühren und ihm noch mehr Schmerzen zufügen, beugte er sich ruckartig nach vorn und umfasste vorsichtig ihre Handgelenke, so wie er damals als kleiner Junge Lincoln hatte abhalten wollen, ihm die Nadel, die er sich in den Fuß getreten hatte, herauszuziehen.
 

„You’re ok, you’re ok“, versuchte Doktor Tancredi ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen, doch tief in Michaels Innerem war wieder dieser Junge, der gegen die Wände seines gläsernen Gefängnisses hämmerte und schrie.
 

„No, I’m not“, schoss es ihm durch den Kopf und deutlich war sein geschocktes Schluchzen zu hören, als die Ärztin behutsam die Socke vollständig entfernte und seinen blutüberströmten Fuß freilegte.
 

Doch dieses Mal war es nicht der kleine Junge, der weinte, dieses Mal war es Michael selbst. Tränen rannen in kleinen Sturzbächen seine Wangen hinunter und zum ersten Mal seit er begonnen hatte, seinen waghalsigen Plan in die Tat umzusetzen, verließen den Frischling seine Kräfte. Das war einfach zu viel, auf so etwas war Michael nicht vorbereitet gewesen. Der Anblick seines verstümmelten Fußes brachte ihn fast um den Verstand und außer Stande, noch länger hinzusehen, legte er sich tief Luft holend zurück und presste die geballten Fäuste auf die Augen und die Lippen fest zusammen, um nicht das letzte Bisschen Beherrschung zu verlieren und loszuheulen wie ein Kleinkind.
 

„Don’t let them see you cry, don’t let them hear you scream, don’t let them know you’re frightened. Show no weakness, be strong! Or things like this will happen again and again and again …”, versuchte Michael sich selbst zur Raison zu rufen. “For Lincoln’s sake: Show no pain!”
 

„What happened?”
 

Doktor Tancredis besorgte Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken und mit einem Schlag war er sich wieder bewusst, was auf dem Spiel stand. Er war hier um seinen Bruder vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren und das konnte er nur, solange er im A-Flügel untergebracht war. Doch die junge Ärztin würde ihn wohl nicht ohne weiteres wieder dorthin zurückkehren lassen. Sie machte sich deutlich Sorgen um ihn, vielleicht sogar mehr als um andere Häftlinge. Wenn sein Plan funktionieren sollte, musste er sie davon überzeugen, dass es ihm gut ging und alles nicht so schlimm war. Seine Wut, seine Angst und seinen Schmerz – er musste alles herunterschlucken und wieder Herr der Lage werden. Einmal tief durchgeatmet und wie auf Kommando entspannten sich seine Gesichtszüge, sogar der Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen.
 

„Nothing“, antwortete er so ruhig und sicher wie möglich.
 

Doch Doktor Tancredi sah ihn eindringlich an: „This isn’t nothing Michael, I need you to tell me what happened?“
 

Natürlich hatte sie Recht, das war nicht nichts. Aber so geschockt der Frischling auch war und so gern er sich ihr in diesem Moment anvertraut hätte, er konnte jetzt nicht reden, wollte nichts erklären und schon gar nicht seine Peiniger preisgeben. Alles, was Michael wollte, war allein sein. Allein in einem dunklen, leeren Raum, in dem ihn niemand sehen oder hören und er seinen Schmerzen hemmungslos freien Lauf lassen konnte ohne vor der Welt sein Gesicht zu verlieren. Doch mehr als alles andere wäre er am liebsten dem Willen des kleinen Jungen, der bereits völlig panisch vor Angst war, gefolgt und hätte in Lincolns starken Armen Zuflucht und Schutz gesucht, so wie er es früher immer getan hatte. Lincoln – er war der einzige Mensch, der ihm jetzt noch hätte helfen können. Ihn zu sehen oder wenigstens seine Stimme zu hören, hätte alles vielleicht erträglicher gemacht ...
 

Michael wollte nicht lügen, nicht Doktor Tancredi gegenüber. Neben Direktor Pope war sie die Einzige in Fox River, die ihm Freundlichkeit und sogar so etwas wie Vertrauen entgegenbrachte. Sie war nett und wirklich fürsorglich, doch egal wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte, sie war und blieb Gefängnisärztin. Und als solche war es ihre Pflicht selbst bei bloßem Verdacht Fälle von Gefangenenmisshandlung umgehend zu melden. Auch war sie sicher clever genug der fadenscheinigen Erklärung, es wäre ein Unfall gewesen, keinen Glauben zu schenken. Was also sollte er sagen, wie sie überzeugen? Unsicher schaute Michael auf und direkt in Doktor Tancredis große, dunkelbraune Augen. Sie wartete auf seine Antwort – eine Antwort, die er nicht geben konnte, nicht geben durfte.
 

Er mochte Sara. Nicht weil sie hübsch oder die Tochter des Gouverneurs von Illinois war. Es war ihre spröde Art, wenn er ihr Komplimente machte oder einen Small-Talk in Gang zu bringen versuchte, die ihn irgendwie anzog. Doch wenn er weiter stumm hier herumlag und sie ihn noch länger mit diesem eindringlichen, fragenden Blick, der ihn trotz aller Schmerzen tief im Herzen berührte, ansah, dann wusste er nicht, was passieren würde. Der Frischling hatte keine Kraft mehr weiter den Starken zu spielen und mit einem Mal wurde ihm alles zu viel.
 

„Don’t make me lie to you“, sprach er fast wahnsinnig vor Schmerzen unbewusst den einzigen Gedanken, zu dem er noch fähig war, aus und kniff die Augen zusammen. „Please!“
 

Bis weit nach Mitternacht lag Michael noch wach und starrte abwechselnd Sucres Matratze oder die Wand an, bis das Analgetikum endlich zu wirken begann. Es war eine echte Erlösung, als die entsetzlichen Schmerzen allmählich nachließen und mit ihnen auch die bedrückenden Erinnerungen und der kleine Junge aus seinem Kopf verschwanden. Michaels Angst war mittlerweile der Sorge gewichen, das Intermezzo mit Abruzzi könnte zu viel Zeit kosten und seinen penibel ausgetüftelten Plan komplett über den Haufen werfen. Ein anderer, beinahe ebenso aufdringlicher Gedanke, war die Befürchtung, dass er sich vielleicht bald mit der Frage konfrontiert sah zwischen Fibonacci und seinem Leben zu wählen.
 

Doch nicht erst dann würde sich noch ein weiteres Problem ergeben. Denn auch wenn seinem Bruder ihm gegenüber früher öfter einmal die Hand ausgerutscht war, hatte dieser bisher noch jeden, der ihn bedroht oder gar verletzt hatte, unangespitzt in den Boden gerammt. Damals am See auf der Beerdigung ihrer Mutter hatte Lincoln geschworen, auf ihn aufzupassen, und sein Beschützerinstinkt war trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, ungebrochen. Lincoln würde es nie hinnehmen, dass man seinem kleinen Bruder zwei Zehen abgeschnitten hatte. Michael konnte sich richtig ausmalen, wie er rasend vor Zorn in seiner Zelle auf und ab ging und schnaubte wie ein wild gewordener Stier, kurz bevor er auf den Torero in der Arena zustürmte. Und so wie er seinen Bruder kannte, würde der auch bei erstbester Gelegenheit genau so auf Abruzzi losgehen, selbst wenn der Raum voller Wärter wäre.
 

Im Moment sollte er sich also weniger Sorgen um sein eigenes als um Abruzzis Leben machen. Doch wenigstens war das ein Problem, welches sich lösen ließ, denn bis jetzt hatte Lincoln noch immer auf ihn gehört. Und Michael würde mit Sicherheit nicht zulassen, dass dieser kleine Zwischenfall seinen wohldurchdachten Plan gefährdete.
 

Bereits am nächsten Morgen stand Michael Scofield schon wieder mit einem Rechen in der Hand im Gefängnishof und verrichtete gemächlich seine Arbeit. Sein linker Fuß schmerzte noch immer und so konnte er kaum auftreten, setzte ihn nur sehr bedacht und ohne Belastung auf. Trotz des Gebots mindestens zehn Fuß Abstand zu wahren, hielt er sich nahe des Zauns, der den Bereich für die Häftlinge des Todestraktes von dem für die normalen Insassen trennte, auf und blickte wiederholt hinüber.
 

Er musste seinen Bruder beruhigen, ihm klar machen, dass es wichtigere Dinge gab als Rache. Lincoln musste begreifen, dass Michael allein klarkam und seine Hilfe nicht brauchte, auch wenn das vielleicht nicht der Wahrheit entsprach. Und obgleich er es immer gehasst hatte, den älteren Bruder für seinen älteren Bruder spielen zu müssen, und darüber fast mit Lincoln gebrochen hätte, es war an der Zeit, dass Michael einmal mehr diese Rolle übernahm. Sein Bruder durfte jetzt bloß nicht durchdrehen ...
 

Nur wenige Minuten später wurde Linc the Sink von einem Wärter auf den Hof geführt und was Michael befürchtet hatte, geschah. Sein Bruder wartete nicht einmal, bis der Wärter ihn aus den Augen ließ, sondern kam schnurstracks auf ihn zugelaufen und krachte mit den Handflächen gegen das Gitter.
 

„I’m gonna kill that scum!“, schnaubte er rasend vor Wut und presste sich so eng an den Zaun, als wollte er hindurch.
 

„You won’t“, antwortet Michael kurz und trocken.
 

Sein Blick wanderte über den Hof zu John Abruzzi, der sich mit seinen Jungs unterhielt und lachte. Lincolns Blick folgte, doch ungleich zorniger als Michaels.
 

„You kill him, you kill our express ticket out of here“, setzte dieser ernst nach.
 

Lincoln sah, wie sein kleiner Bruder vorsichtig den geschundenen Fuß ausschüttelte, wie er dabei für eine Sekunde schmerzhaft das Gesicht verzog und wollte nicht glauben, was er da hörte.
 

„But look what he did to you, Michael“, rief er fassungslos und rüttelte energisch an dem Zaun. „You’re not going to last a second in this place unless I do something about it!“
 

Für einen Moment blickte Michael auf und sah seinem Bruder direkt in die Augen. Beide wussten, dass Lincoln Recht hatte, und für diesen einen kurzen Augenblick war Michael kurz davor schwach zu werden und ihn um Hilfe zu bitten. Doch der Moment ging vorüber, ohne dass der Frischling dem kleinen Jungen in sich nachgab, und mit ihm verschwanden auch seine Angst und seine Zweifel. Stattdessen kehrte dieses unheimliche, selbstsichere Lächeln, das Lincoln schon immer leicht befremdet, ihn manchmal sogar etwas geängstigt hatte, in Michaels Züge zurück.
 

„You ever heard of Top Flight Charters?“, wechselte er abrupt das Thema, ohne weiter auf die Äußerung seines Bruders einzugehen.
 

„Yeah“, antwortete Lincoln überrascht und zog die Stirn kraus.
 

Ruhig und sachlich, fast etwas teilnahmslos sprach Michael weiter: „They operate flights from small airfields across the mid west. Like the one ten miles from here. They’re run by a shell company Abruzzi owns“, fuhr er mit einem Kopfnicken zur Gruppe der Mafiosi fort. „We get him on board there’s going to be a midnight flight waiting for us the night we get outside those walls.“
 

Erneut glaubte Lincoln seinen Ohren nicht zu trauen und schaute seinen kleinen Bruder fassungslos an: „You’re willing to risk the entire escape on a guy you don’t even know?“
 

„Preparation can only take you so far. After that you have to take a few leaps of faith”, war die fast lakonische Antwort des Jüngeren und beiläufig blickte er zu einem der Wachtürme hinauf.
 

Ungläubig starrte Lincoln ihn an. Hatte er sich verhört oder war da eben ein Seufzer in Michaels Tonfall gewesen? Für ihn hatte es ganz den Anschein, als hätte sein kleiner Bruder sich das soeben zum ersten Mal selbst eingestanden. War er wirklich so blauäugig gewesen? Hatte er tatsächlich geglaubt, im Knast würde alles so laufen, wie er es sich vorgestellt, wie er es geplant hatte?
 

„Oh Michael“, dachte er traurig und schüttelte den Kopf, „your faith in the Good in everyone of these bastards’ gonna kill you sooner than later.”
 

Und er? Trug Lincoln nicht auch Schuld an dem, was passiert war? Er hatte versprochen Michael zu beschützen, sich gut um ihn zu kümmern. Er hatte ihm ein besseres Leben ermöglichen wollen. Doch nun stand er ihm hier in Fox River von Angesicht zu Angesicht gegenüber und musste zusehen, wie andere Häftlinge seinen kleinen Bruder misshandelten, während ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden waren. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er dieses Mafiaschwein auf der Stelle dafür bluten lassen, so wahr er Lincoln Burrows hieß. Aber wenn er das tat, dann war Michaels Opfer völlig umsonst gewesen. So sehr es ihm auch widerstrebte, Lincoln sah ein, dass ihm im Moment wohl keine andere Wahl blieb. Dennoch konnte er seine Wut kaum verbergen.
 

„As soon as we’re out of here I’ll take vengeance little brother, I promise!“, schwor er sich.
 

Unfähig Abruzzis Anblick länger zu ertragen, entfernte sich Lincoln vom Zaun und drehte seinem Bruder, dessen Blick bereits nicht mehr auf dem Mafiosi ruhte, für einen kurzen Moment den Rücken zu: „Abruzzi’s a huge leap of faith Michael.”
 

„I’m not talking about Abruzzi. There’s someone else who holds the key to this entire thing. With him it either works or it doesn’t. Problem is, couldn’t know who that is until I got in here.”
 

Im selben Moment betrat Fernando Sucre wie aus dem Ei gepellt in Begleitung zweier Wärter den Hof und Lincoln schoss ruckartig zum Gitter zurück.
 

„Sucre! You can’t be serious! Guy’s a thief Michael, he can’t be trusted.”
 

Doch während sein großer Bruder wie ein nervöser Tiger hinter dem Zaun auf und ab lief, antwortete Michael seelenruhig: „We’re going to have to trust him because he’s my cellmate.“
 

Und er wusste ganz genau, wie er ihn auf die Probe stellen würde. Er hatte seine Selbstsicherheit, seine ruhige Überlegenheit wiedergefunden. Es gab für alles eine Lösung und er, Michael Scofield, würde sie finden.
 

„Have a little faith“, sprach er zu sich selbst und lächelte optimistisch.
 

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Hallihallo und wunderschönen guten Abend! ^.^
 

Es ist geschafft! Nach tagelangem Hadern und Umschreiben, 2 dreistündigen finalen (Korrektur-) Lesungen mit meiner Beta und einer Abendschicht für den letzten Feinschliff ist Kapitel 2 endlich fertig und online!
 

Worüber ich nebenbei gesagt sehr froh bin, da mich gerade der Anfang echt Nerven gekostet hat. In der nun vorliegenden Version ist davon aber hoffentlich nichts mehr zu spüren. Und ab der Hälfte ging's mir dann auch glücklicherweise wieder flüssig von der Hand. ^___^ Kleine Änderungen und Zusatzinfos habe ich mir auch in diesem Kapitel (gerade für "Prison Break Nichtkenner") wieder zugestanden und Lincoln hat nach seiner bloßen Erwähnung in Kapitel 1 auch endlich seinen ersten, "persönlichen" Auftritt. Olé! *gg* Dafür gab's diesmal kein T-Bag, aber ich kann euch versprechen, das ändert sich im nächsten wieder. ;)))
 

Das Kapitel ist insgesamt vll. nicht ganz so gut, wie das erste (Vom Gegenteil lasse ich mich übrigens gern überzeugen! *gg*), doch ich hoffe es hat euch dennoch genauso gefallen.
 

Tja, es ist spät und mehr fällt mir nicht ein. Also ich hoffe ihr hattet "Spaß" beim Lesen, konntet wieder richtig mitfiebern und lasst mir einen kleinen Kommentar da.
 

Vielen Dank, liebe Grüße und eine gute Nacht
 

Noia



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  To-Die-For
2007-10-09T20:38:24+00:00 09.10.2007 22:38
awwww~ *___*
Du hast tatsächlich weitergeschrieben und mir unbeschreiblich viel Freude damit gemacht! ^___^ Vielen lieben Dank! *verbeug*

Gelesen hab ich das Kapitel natürlich sofort, als du mir Bescheid gegeben hast, aber ich komme erst jetzt dazu dir einen anständigen Kommentar da zu lassen! ^-^

hehe =3
und ich bin wieder hellauf begeistert!!! >o<
Dein Stil ist wirklich beeindruckend O___O

Ich mag es vor allem wenn du den kleinen, verletzlichen und ängstlichen Jungen in Michael einsetzt und dann wieder im Kontrast dazu den beherrschten und genialen Michael Scofield, wie wir ihn alle kennen & lieben! ^-^
Hach ~ du kannst die Atmosphäre und dieses Spezielle an Prison Break in deiner FF echt gut einfangen! *__*

Ich hoffe - nein, ich bete! - dass es weitergeht! <3

P.S. Ich freu mich auf den Auftritt von T-Bag! ^///^



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