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Sakuya

Last Night
von

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Ruhe

Kapitel 8:

Ruhe
 

Wach wurde ich erst am nächsten Morgen, als die Sonne durch das offene Fenster schien und meine Nase kitzelte. Und natürlich weckte mich der Schrei von Kazuhikos Mutter, der in meine Ohren drang und mich plötzlich aus meinen Träumen riss.

Mit einem Mal saß ich aufrecht im Bett und sah sie ebenso entsetzt an wie Shizuka, die gänzlich entsetzt schien und sie nur mit großen Augen ansah und wieder begann zu zittern. Ich warf einen kurzen Seitenblick auf sie und ertastete unter der Decke ihre Hand, die ich fest drückte. Ihr Körper beruhigte sich ein wenig, doch ihre Augen strahlten dieselbe Unsicherheit und Erschrockenheit aus wie zuvor.

Derweil schrie die Erwachsene immer noch und hatte damit wohl auch den letzten Schlafenden im Haus geweckt. Sie sagte etwas von Unverschämtheit und was Shizuka eigentlich einfiele, wie sie es wagen könnte, lauter wirres Zeug, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand und zuordnen konnte.

Dann sah sie mich an und brüllte mich ebenso an, ich solle sofort den Raum verlassen und wenn sie so etwas noch einmal mitbekäme könne ich nach Hause fahren.

Verwirrt stand ich auf und bahnte mir einen Weg an ihr vorbei, wobei mein Blick auf den Nachttisch fiel und ich erkannte, was letzte Nacht unter der Decke gelegen hatte: Ein altes Fotoalbum. Das war wahrscheinlich der Grund für Shizukas Verzweiflung gewesen.

Als ich die Türe zu Kazuhikos Zimmer öffnete, stand der vor seinem Schrank und schien sich Kleidung für den Tag herauszusuchen. Er blickte auf und sah mich überrascht an.

„Das erklärt natürlich den Lärm am frühen Morgen…“

Fragend sah ich ihn an.

„Wie darf ich das denn deuten?“

„Na, du hast doch bestimmt bei Shizuka übernachtet, nicht? Zumindest habe ich dich nicht mehr wiederkommen hören und als ich heute Morgen wach geworden bin, da war keine Ai-chan da… Nicht das mich das gestört hätte, ich war nur überrascht“, meinte er schnippisch und sah mich dabei nicht an.

„Und du hast immer noch Angst vor mir“, antwortete ich im selben Ton und schritt an ihm vorbei zu meiner Tasche.

„Im Übrigen: Wo und bei wem ich übernachte geht dich absolut nichts an und deine Mutter ebenso wenig, wenn du mich fragst.“

„Willst du schon wieder anfangen zu streiten?“

Erschrocken drehte ich mich um, denn Kazuhiko hatte sich von hinten an mich herangeschlichen und mir die Frage ins Ohr geflüstert.

Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, hatte aber in dem Moment auch keine Lust und Zeit mich wieder mit ihm zu streiten, da das Geschrei nebenan immer noch nicht verstummt war und ich mir Sorgen um meine Freundin machte, der ich nicht beistehen konnte.

Noch mehr in Sorge versetzte mich, dass ich nur die Stimme von Kazuhikos Mutter vernahm, die dann auch plötzlich verstummte, worauf ein Türenknallen folgte und schwere Schritte den Flur entlang stampften und die Treppe hinunterhallten. Kaum war nichts mehr zu hören, stürmte ich aus „meinem“ Zimmer zurück in Shizukas, die mich erschrocken anblickte, da sie wahrscheinlich dachte, ihre Quälerin sei noch einmal zurückgekehrt.

Als sie mich erkannte begannen sofort Tränen ihr Gesicht entlang zu fließen, bevor sie aufstand und sich in meine Arme warf.

„Pst, ist ja gut“, flüsterte ich ihr zu und strich ihr über den Rücken, „es ist alles in Ordnung, ich bin jetzt da.“

Es dauerte eine Weile, bis ihre Tränen versiegt waren und sie ruhig in meinen Armen lag. Dann löste sie sich vorsichtig von mir und blickte gen Boden.

„Das ist alles nur meine Schuld, ich hätte dich nicht bitten dürfen hier zu bleiben… Gomen.“

Schmunzelnd blickte ich sie an und hob vorsichtig ihr Kinn mit meinem Zeigefinger an, sodass sie für einen Moment gezwungen war mir in die Augen zu schauen.

„So was kannst auch nur du von dir geben, weißt du das?“

Fragend sah sie mich an und wandte ihren Blick dann wieder ab.

„Hey, du hast mich vielleicht darum gebeten, aber du wurdest doch eben angeschrieen, oder? Und außerdem bin ich freiwillig hier geblieben!“

Das stimmte natürlich nur zur Hälfte, denn irgendwie hatte mich das Mädchen mit ihrer hilflosen Art dazu gezwungen bei ihr zu bleiben, doch wer weiß was passiert wäre, wenn ich nicht dageblieben wäre?

Erneut fiel mein Blick auf das Album, das immer noch auf demselben Platz lag, an den ich es gelegt hatte.

Mit wenigen Schritten hatte ich den kleinen Tisch erreicht und das Buch in die Hand genommen, sodass Shizuka nicht mehr reagieren konnte, um mich daran zu hindern.

„Das war der Grund, warum du gestern so verzweifelt warst, oder?“, fragte ich, während ich das rot eingebundene Buch öffnete und ein wenig darin blätterte.

Es waren die verschiedensten Bilder, erst welche von Shizuka als Baby und kleines Kind, dann welche mit mir, ihren Eltern, meinen Eltern, auch welche mit Kazuhiko. Es wirkte fast wie ein bildlicher Lebenslauf von Shizuka, mit allen wichtigen Personen und Stationen in ihrem Leben. Erster Tag im Kindergarten, Puppenfest, erster Schultag, all solche Dinge eben. Auffällig war, dass auf allen Bildern ausnahmslos alle Personen lächelten und glücklich aussahen.

Ich blickte sie aus dem Augenwinkel an. Das junge Mädchen vor mir nickte nur mit dem Kopf und Tränen stiegen erneut in ihre Augen.

„Hey, das ist doch kein Grund zu weinen, sei froh, dass du solche glücklichen Erinnerungen hast!“

Im selben Moment hätte ich mich für den Spruch ohrfeigen können. Bravo Airashi, das war sehr sensibel! Erinnere sie nur daran, dass es ihr im Moment beschissener nicht gehen könnte!

„Ich… es tut mir Leid, das hätte ich so nicht sagen dürfen… Ich meinte damit eigentlich…“

„Schon gut, ich weiß wie du es gemeint hast“, flüsterte sie leise und starrte ihre Bettdecke an.

„Nein, ist gar nicht gut“, sagte ich, legte das Album auf seinen alten Platz und ging auf Shizuka zu, die ich erneut in den Arm nahm, „ich hätte das so einfach nicht sagen dürfen. Ich meinte damit eigentlich…“

Ja, was meinte ich eigentlich damit? Im Prinzip doch genau das, was ich gesagt hatte… Das es ihr nun beschissen ging und sie sich nur noch an ihren Erinnerungen festklammern konnte.

Ich beendete den Satz nicht und begann stattdessen einen neuen:

„Hör mal, wir haben doch für heute nichts geplant und der „Drache“ ist heute Nachmittag auch nicht da, wie wäre es, wenn wir heute einfach mal ganz allein was unternehmen?“

„Geht nicht, ich muss hier bleiben und wenn der „Drache“ was mitkriegt sind du und ich so gut wie tot…“, antwortete sie nur traurig.

Es blieb einige Zeit still zwischen uns, bis mir auffiel, in welchem Zustand wir uns immer noch befanden: Beide mit unseren Schlafanzügen bekleidet und ein wenig frierend, woraufhin mir die „rettende“ Idee kam.

„Gut, dann bleiben wir heute halt hier…“

„Nein! ICH bleibe hier und ihr unternehmt irgendwas. Ich komme schon klar!“

„… und machen es uns unten auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich“, redete ich unermüdlich weiter, ohne mich von Shizuka unterbrechen zu lassen.

„Dennoch sollten wir uns was anziehen und frühstücken, denn SO wird das Ganze bestimmt nicht gemütlich“, setzte ich noch hinzu und verließ Shizukas Zimmer wieder.

Kazuhiko würde sich heute mit einigen Freunden zum Lernen verabreden und Ôhei und Masaki planten auch schon den Tag, sodass es kein Problem darstellte, dass Shizuka und ich allein waren.

Kazuhiko begegnete mir auf dem Flur und grinste mich breit an:

„Wie eine Glucke…“

Böse funkelte ich ihn an, ging jedoch ohne weiteren Kommentar meines Weges und hörte, wie sich eine Türe hinter mir öffnete.

„Von wegen… selber Glucke…“, murmelte ich und holte mir ein paar Sachen zum Anziehen.

Der Tag verging relativ schnell, Shizuka und ich setzten uns nach dem Frühstück ins Wohnzimmer, wo wir uns ein paar alte Videos ansahen, bevor ihr die Idee kam Kekse zu backen, um ihre Pflegemutter zu besänftigen.

So stellten wir uns in die Küche und schafften es nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich Schokoladenkekse zu backen, die weder verkohlt noch irgendwie angebrannt waren.

Die Eieruhr klingelte und im selben Moment öffnete sich die Haustüre.

Shizuka wollte nachsehen gehen und kam mit Kazuhiko im Arm zurück in die Küche, in der ich noch die letzten Kekse aus dem Ofen holte und auf den Küchentisch zum Abkühlen legte. Das war ein relativ langer Weg, denn auch die Küche war sehr groß. An den Wänden befanden sich Schränke und die Einrichtung an sich, in die Mitte war die Kochnische gestellt worden, in der sich auch der Ofen befand. Ich rutschte mit den Filzpantoffeln ein wenig auf dem weiß gefliesten Boden und sah wieder nur ein Grinsen in seinem Gesicht, als ich mich zu ihm umdrehte.

„Also Ai-chan, ich muss schon sagen… Das Zeug steht dir ziemlich gut.“

Mein Blick verfinsterte sich sofort. Mir war klar was er meinte, schließlich lief ich nicht jeden Tag mit einer rosafarbenen Schürze durch die Gegend.

Ich überging seine Bemerkung einfach und wir ließen den Tag entspannt ausklingen.

Dennoch widerstrebte es mir, Shizuka in der Nacht wieder allein zu lassen, doch sowohl sie als auch Kazuhiko waren vollends dagegen eine weitere Konfrontation mit seiner Mutter zu riskieren:

„Ai-chan, versteh das doch… Wenn sie dich noch mal in meinem Zimmer erwischt, dann kannst du dir direkt ein Ticket nach Kazuoka kaufen!“

Widerwillig gab ich schließlich nach und jeder schlief in der Nacht in seinem Zimmer. Am nächsten Tag war ich ziemlich erstaunt, wie sehr sich meine Freundin gewandelt hatte, denn von der Traurigkeit der letzten Tage ließ sie sich nichts mehr anmerken, vielmehr schien sie richtig entspannt und glücklich zu sein. Einerseits machte mich das natürlich auch froh, auf der anderen Seite jedoch war ich misstrauisch, ob dieses „Glück“, das sie zeigte, echt war und nicht nur gespielt, damit ich mir keine Sorgen mehr machte.
 

Einige Tage später hatte sich Kazuhikos Mutter wieder aus dem Haus entfernt und jenes ihrem Sohn und ihrer neuen „Tochter“ überlassen, die gerade kochte. Vom Küchentisch aus beobachtete ich sie, während ich mein Kinn auf meinen rechten Arm stützte. Doch während des Beobachtens bekam mein Blick etwas Weiteres und ich sah schließlich nur noch durch Shizuka durch, die vor dem Herd stand und in den Töpfen rührte, dann kurz abschmeckte, noch ein paar Gewürze mehr dazugab und schließlich alles noch einmal umrührte. Ich war vollends in Gedanken versunken, sodass ich nicht bemerkte, dass noch jemand die Küche betrat, jedoch in der Türe stehen blieb, die meinem Blick verborgen geblieben war.

Meinen Gedanken kreisten um alles, was bisher passiert war. Das Auftauchen Kazuhikos, der nicht nur Shizukas Cousin irgendeines Grades war, sondern sie auch noch liebte, Shizukas widersprüchliches Verhalten während der gesamten Zeit und ihr Beharren darauf, dass zwischen ihr und ihrem Cousin nichts war, was man auch nur ansatzweise eine Beziehung nennen konnte. Und ihr plötzliches Hängen an der Vergangenheit und den schlimmen Dingen, die ihr widerfahren waren und die sie nun nachdem sie nach Kioto gemusst hatte, wieder eingeholt hatten.

Es war ungewöhnlich für sie, dass sie solchen Gefühlsausbrüchen erlag, wie es in der letzten Zeit häufig passiert war. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich immer noch nicht über alles Bescheid wusste, was hier – und vor allem in ihr – vorging. Ich schloss langsam die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus, da ich kein Stück weiter gekommen war. Was machte ich nur falsch, dass Kazuhiko mehr Ahnung von ihren Gefühlen zu haben schien als ich?

„So nachdenklich Ai-chan?“, riss mich eine männliche Stimme aus den Gedanken. Noch bevor ich die Augen öffnete und in seine Richtung sah konnte ich sein Grinsen schon vor mir sehen.

„Was dagegen?“, fragte ich, ihn keines weiteren Blickes würdigend und stand auf, um zu Shizuka zu gehen, die gerade den Herd ausmachte und dabei war, Teller aus einem Schrank zu nehmen, während ich zu einem anderen Schrank trat und Besteck aus einer Schublade nahm.

„Masaki und Ôhei essen auswärts“, meldete sich Kazuhiko ungefragt, nicht darauf achtend, das sowohl Shizuka als auch ich nur Geschirr und Besteck für drei Personen aus den Schränken genommen hatten.

„Wissen wir, Kazu-kun“, antwortete ich etwas arrogant und stieß ihn unsanft zur Seite, da er mir im Weg stand, als ich das Besteck auf den Tisch in der Küche legen wollte, da der für uns drei ausreichte.

Ich merkte, dass er etwas auf die „Attacke“ sagen wollte, doch er schien es sich zu verkneifen.

Nachdem ich die Messer und Gabeln ordentlich, und in der richtigen Reihenfolge, auf den Tisch gelegt hatte, drehte ich mich zu ihm um und sah kurz zu Shizuka, die gerade mit dem Beladen der Teller beschäftigt war.

Das folgende Essen lief friedlich ab, nicht zuletzt weil sich Shizuka zwischen uns zwei Streithähne gesetzt hatte und sich mit ihrem Cousin unterhielt. Wieder glitt ich in meine Gedankenwelt und starrte nur vor mich hin, während ich die Spaghetti mit Tomatensoße nur notdürftig um die Gabel wickelte und immer wieder in meinem Essen herumstocherte, ohne auf die beiden zu achten, die lachend vor mir saßen. Lustlos entschloss ich mich schließlich doch noch dazu, die Nudeln in Richtung Mund zu führen, kam aber nicht dazu, denn im selben Moment registrierte Kazuhiko, dass ich auch noch am Tisch saß und sprach mich an.

„Wie sieht das eigentlich mit deinen Hausaufgaben aus? Musst du die nicht auch mal machen?“, fragte er neugierig.

Üblich für Schulen in Japan waren die Hausaufgaben während der Ferien. Im Grunde hatte man niemals richtig frei, immer war man mit arbeiten beschäftigt.

„Weißt du, ich müsste sie machen, wenn ich sie nicht schon einen Monat vor den Ferien gemacht hätte“, antwortete ich ihm so desinteressiert wie möglich und stopfte nun endlich die Spaghetti in meinen Mund, die ich daraufhin langsam und genüsslich kaute, um ihm nicht direkt Rede und Antwort stehen zu müssen.

Wie ich erwartet hatte starrte er mich ungläubig an und seine braunen Augen schienen fast aus ihren Höhlen zu quellen.

„Wie vor einem Monat?“

Nun meldete sich Shizuka wieder zu Wort, die wahrscheinlich einen weiteren – meiner Meinung nach sehr amüsanten – Streit verhindern wollte: „Ich hab dir doch erzählt, dass Ai-chan ziemlich gut in der Schule ist und sich andauernd noch Zusatzaufgaben bei den Lehrern besorgt. Und da ihnen die langsam ausgingen, haben sie ihr schon im Voraus die Hausaufgaben für die Sommerferien gegeben.“

„Wie kann einer so bekloppt nach HAUSAUFGABEN sein? Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben, als nur Schule.“

Das war ein herber Schlag gewesen, den er mir in dem Moment verpasst hatte, denn ich wusste genau, worauf der junge Mann anspielte – auf die Situation vor wenigen Tagen, bei der ich schließlich den Kürzeren gezogen hatte. Doch wie immer versuchte ich so gut es ging meinen Schmerz hinunterzudrücken und möglichst keine Reaktion auf die Bemerkung zu zeigen.

„Tja, dem einen ist das wichtig, dem anderen das“, war schließlich das einzige was mir dazu einfiel und wieder hatte ich das Gefühl, genau das Falsche gesagt zu haben.

Ich behielt das letzte Wort und auch dieser Tag verging ohne weitere Vorkommnisse – mal Kazuhikos und meine kleinen „Diskussionen“ ausgenommen.
 

Am nächsten Morgen wurde ich unsanft aus meinen Träumen gerissen – dabei war ich gerade am Palmenstrand der Bermudas auf- und abgelaufen – als ich meinen Namen laut in meinen Ohren schrillend vernahm, wie einen zu laut gestellten Wecker.

Verschlafen öffnete ich kurz die Augen und sah in das Gesicht meiner besten Freundin, die immer noch an meiner Schulter rüttelte und mich zum Aufstehen zwingen wollte.

„Nicht jetzt – will noch schlafen – lass mich in Ruhe“, erwiderte ich nur kurz und zog die Decke weit über meinen Kopf.

„Hast du vergessen, dass wir heute in den Freizeitpark wollten? Los, aufstehen, sonst wird das wieder alles so knapp.“

Schließlich nahm ich mein Kissen und hielt es fest über meinen Kopf gestülpt, um möglichst nichts mehr zu hören, aber Shizuka ließ mir keine Ruhe.

Ohne Erbarmen zog sie mir Decke und Kissen weg und ich lag nun nur zusammengerollt auf dem Futon.

„Shizuka…“, grummelte ich müde und griff blind nach Kissen und Decke, die mir die Schwarzhaarige jedoch keinesfalls wiedergeben wollte.

„Nichts da, aufstehen! Wenn du nicht aus den Federn kommst, weil du dich bis mitten in der Nacht mit Kazu streitest, kann ich auch nichts dafür!“

Sie klang wie meine Mutter, wenn sie mich am Wochenende dazu bewegen wollte, früh aufzustehen, was ihr so gut wie nie gelang. Doch ich wusste, dass ich gegen Shizuka keine Chance haben würde.

„Das war kein Streit!“, widersprach ich vehement und setzte mich langsam auf, wobei ich meine Arme weit ausstreckte und kräftig gähnte.

„Das war nur eine ‚kleine’ Diskussion“, meldete sich Kazuhiko zu Wort und sah mich grinsend an.

„Ja, lach du nur! Du bist ja gestern mitten in dieser ‚Diskussion’ eingeschlafen! Und ich rede mir den Mund fusselig!“, erwiderte ich wütend und wandte mich beleidigt ab. Allerdings nicht sehr überzeugend, denn mitten im beleidigt sein musste ich erneut herzhaft gähnen.

Nachdem wir alle irgendwie gefrühstückt und unsere Sachen zusammengepackt hatten, stiegen wir in den Bus, dessen Haltestelle unweit von Kazuhikos Haus lag und uns bis zum Freizeitpark bringen würde.

Schon während der Fahrt lehnte ich mich müde an Shizukas Schulter und döste noch ein wenig vor mich hin. Ich hatte in der letzten Nacht wirklich nicht viel geschlafen, als ich das letzte Mal auf den Wecker gesehen hatte, war es bereits vier Uhr gewesen. Und nur vier Stunden später hatte Shizuka mich geweckt.

Mit einem Mal wurde ich aber auch wieder unsanft aus meinem Döszustand gerissen, da meine beste Freundin ohne Vorwarnung aufgestanden war und ich nun fast auf den Sitz neben mir geknallt wäre, wenn ich mich nicht im letzten Moment gefangen hätte. Säuerlich blickte ich sie an, doch sie grinste nur schelmisch und sah mich entschuldigend mit ihrem Dackelblick an.

Obwohl es noch recht früh war, standen vor den Kassen des Parks schon viele wartenden Kunden, sodass wir beschlossen, Kazuhiko solle sich anstellen, während wir uns in die noch wenig wärmende Sonne auf eine kleine Wiese in der Nähe der Kassen setzten. Sofort nahm ich meine Position neben Shizuka wieder ein und döste immer noch ein wenig vor mich hin, während diese sich kein Stück bewegte, sondern stattdessen ihren Kopf gegen meinen lehnte.

„Wie kann ein Mensch mit solch guten Noten, der schon alle Hausaufgaben für die Ferien gemacht hat, so verschlafen sein und nicht aus dem Bett kommen?“, hörte ich Kazuhiko plötzlich wieder. Scheinbar hatte er die Karten schneller bekommen als erwartet und so öffnete ich wieder verschlafen meine Augen und sah ihn fragend an.

„Das ist alles nur Shizukas Schuld…“, antwortete ich, erneut gähnend, „wenn sie mich später geweckt hätte, sodass ich Stress gehabt hätte, dann wäre ich jetzt hellwach. So brauche ich noch ein paar Minuten oder Stunden, bis da oben alles richtig in Gang gekommen ist. Du weißt doch, jedes Genie hat seine Macken…“

Ich hörte Shizuka neben mir seufzen und ich wusste auch genau warum: Ihr gingen die Streitereien von mir und Kazuhiko mittlerweile ziemlich auf den Geist, da sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt fühlte.

„Jetzt sag nicht, dass das nicht stimmt!“, sagte ich zu ihr gewandt und stand schließlich ein weiteres Mal gähnend auf, wobei ich ihr meine Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen, die sie dankend annahm.

Loslassen tat ich ihre Hand jedoch nicht, nachdem sie neben mir zum Stehen gekommen war. Triumphierend zog ich sie hinter mir her und ging in Richtung Eingang, wobei ich neben Kazuhiko herlaufen musste, da dieser die Karten besaß.

Nachdem wir durch den großen Torbogen getreten waren, konnten wir die Achterbahn und einige Imbissbuden schon erkennen, wollten aber nichts überstürzen und orientierten uns zuerst mit einem kleinen Plan des Parks.

Nach ewiglangen Diskussionen und einige Attraktionen später schlug Masaki vor, endlich die „Sensation“ des Parks aufzusuchen, eine ziemlich spektakuläre Achterbahn, die „nichts für schwache Nerven“ war, wie die Schreie der Fahrgäste bewiesen, die immer wieder über unsere Köpfe hinwegrasten.

Ôhei begann mit den Händen abwinkend, sich gegen die Idee, auf dieses „Ding“ zu gehen, aufzulehnen, doch Masaki wollte ihr keine Chance lassen und legte ihr beide Hände an die Taille, um sie so mit sich zum Eingang zu ziehen. Auch Shizuka wollte sich gegen das „Abenteuer“ wehren, doch Kazuhiko und ich ließen ihr keine Chance.

„Kazu-kun, wolltest du nicht ein Foto machen?“, meldete sich Ôhei wieder, nachdem Masaki aufgehört hatte, sie mit sich zu ziehen, nun jedoch die Arme um ihren Körper geschlungen hatte, um sie zum einen nahe bei sich zu haben und sie zum anderen daran zu hindern, dass sie weglief.

Kazuhiko nickte nur stumm und hielt immer noch Shizukas linken Arm mit beiden Händen fest, an dem er sie spielerisch gezogen hatte.

„Dann tu es besser jetzt, ich würde nämlich gerne ein Foto haben, bevor ich mich hier vor all den Leuten übergeben muss!“

Wenig begeistert von dem Vorschlag, ein Gruppenfoto zu machen, stellte ich mich neben Shizuka und Masaki, der Ôhei weiterhin umklammerte, der dies jedoch zu gefallen schien, da sie sich gegen ihren Freund gelehnt hatte und ihre Hände auf seine legte, die auf ihrem Bauch ruhten.

Kazuhiko sprach ein älteres Ehepaar an und bat sie ein Foto von uns zu machen. Dazu zeigte er ihnen kurz, wie die Kamera zu bedienen war und stellte sich dann auf Shizukas andere Seite. Nachdem wir alle nah aneinandergerückt waren und uns so postiert, dass jedermanns Gesicht später auf dem Foto zu erkennen sein würde, lächelten wir alle brav in die Kamera und wartete auf das „Cheez!“ des Mannes, der jene bediente.

Nachdem alles erledigt war, bedankte sich Kazuhiko bei dem Mann und nahm seine Kamera wieder entgegen, während wir anderen uns aus unseren Posen erlösten und auf den Eingang der Achterbahn zuschlenderten. Denn Ôhei und Shizuka hatten mittlerweile begriffen, dass es keinen Sinn mehr machen würde, sich weiter dagegen zu wehren. So warteten wir ungefähr eine halbe Stunde, bis wir endlich die Wagen in Sichtweite bekamen und eine weitere Viertelstunde, bis wir in selbigen saßen. Es waren ganz normale Wagen, wie man sie aus solchen Achterbahnen kennt. Zwei Leute sitzen nebeneinander auf unbequemen, harten Gummisitzen und warten darauf, dass ebenso unbequeme Bügel von oben herunterfahren, die wie ein „U“ geformt sind und sich über die Schulter legen, wobei sie den Kopf dann durch die Öffnung frei lassen. An dem Bügel befinden sich dann kalte Metallgriffe, an denen man sich bei Bedarf festklammern kann. Damit auch während der Fahrt kein Bügel einfach wieder aufgeht, werden sie unten durch Gurte noch einmal zusätzlich gesichert.

Shizuka saß neben mir und hatte einen angsterfüllten Blick nach vorne, während ihr bei dem Gedanken, dass es gleich losging, jegliche Farbe aus dem Gesicht wich und sie fast weiß neben mir saß.

Verzweifelt versuchte ich ihr Mut zuzusprechen, doch viel half das nicht. Doch Shizuka schien nicht die einzige mit Angst zu sein, denn Masaki redete ebenso heftig auf Ôhei ein, die hinter mir saß und – für sie untypisch – kein Wort herausbrachte. Auch von Kazuhiko, der sich vor Shizuka postiert hatte, war nichts zu hören. Mit einem schrillen Pfeifton wurde der Beginn der Fahrt angezeigt und im selben Moment bewegten sich die Wagen schon langsam einen Berg hoch, während unter uns das Zahnrad ratterte.

Shizuka wich die letzte noch verbliebene Farbe aus dem Gesicht, kurz bevor die Wagen losgelassen wurden und sich selbstständig ihren Weg nach unten bahnten, in einen Looping und einen zweiten. Ich hatte es kaum realisiert, da standen wir schon wieder und wurden einen weiteren Berg hinaufgezogen, bevor es wieder in einige Schrauben und Loopings hinunterging.

Die Fahrt war schnell beendet, hatte jedoch bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. So kamen Shizuka und Ôhei käseweiß aus dem Eingang „geschlappt“ und ließen sich auf die nächstbeste Bank fallen. Masaki setzte sich sofort neben Ôhei und legte ihr einen Arm um die Schultern, bevor er sie an sich zog, sodass die Oberschülerin sich schnell zu erholten schien und wieder Farbe bekam. Auch Shizuka erholte sich langsam wieder. Den Kopf gesenkt saß sie zusammengesunken auf der Bank und ihr Haar hing ihr wild vor dem Gesicht, sodass ich mich genau vor sie hockte und ihr meine Hand auf die Schulter legte.

„Hey, alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich besorgt und ärgerte mich, dass ich sie dazu überredet hatte, mit auf die Achterbahn zu kommen.

Schließlich setzte sich auch Kazuhiko auf die Bank und sah ebenso besorgt das Mädchen vor mir an, das immer noch mit herabhängendem Kopf vor mir saß. Sie hatte meine Frage mit keiner Geste und keinem Wort beantwortet, setzte sich aber plötzlich aufrecht hin und stand ruckartig auf, sodass ich noch einen Moment vor ihr hockte und nun zu ihr aufsehen musste. Sie war immer noch blass, auch wenn nicht mehr so schlimm, wie noch vor einigen Minuten. Ohne auch nur etwas Weiteres zu sagen, ging sie los. Überrascht folgten wir ihr so schnell es ging und schon bald hatten Kazuhiko und ich sie wieder eingeholt. Einige Schritte liefen wir drei nebeneinander her, bis ich Shizuka plötzlich vor mir auf dem Boden liegen sah. Ich hatte erst gar nicht realisiert, was vor wenigen Sekunden passiert war, doch wie im Reflex hockte ich neben ihr und drehte sie auf den Rücken. Sie hatte doch nur kurz die Augen geschlossen! Und fest zeitgleich hatten einfach ihre Beine nachgegeben und sie auf den Betonboden fallen lassen, zwar sich noch mit den Händen abfangend, aber nicht mehr mit der Möglichkeit sich aus der darauf folgenden Ohnmacht zu helfen.

Vorsichtig bettete ich ihren Kopf auf meinen Schoß und rief immer wieder ihren Namen, wobei ich sie immer wieder leicht auf die Wange schlug, um sie wieder ins Bewusstsein zurückzuholen. Es dauerte eine ganze Weile, doch schließlich öffnete die Schwarzhaarige unter mir vorsichtig die Augen und sah mich wehleidig an.

Sie wollte sich aufrichten, doch anstatt sie gewährend zu lassen drückte ich sie langsam wieder an den Schultern nach unten und bettete ihren Kopf erneut auf meinen Beinen.

Erst jetzt sah ich auf und bemerkte, dass auch Ôhei und Masaki neben Shizuka standen, während Kazuhiko sich neben ihre Beine gehockt hatte und diese mit seinem Rucksack ein wenig höher lagerte, damit ihr Kreislauf wieder in Schwung kam, der wohl für einen Moment ausgesetzt hatte.

Doch irgendwann wurde es dem Mädchen zu peinlich, dass sie auf dem Boden lag und sie setzte sich mit meiner Hilfe langsam auf, wobei ich stützend hinter ihr saß. Dankbar lehnte sie sich an mich und sah mit einem „Mir geht’s gut, keine Sorge“ in die Runde.

Misstrauisch legte ich ihr eine Hand auf die Stirn, die ich schnell wieder zurückzog.

„Von wegen dir geht es gut!“, erwiderte ich leicht angesäuert. „Du bist eiskalt und zudem pitschnass geschwitzt! Du bleibst jetzt erstmal hier sitzen.“

Masaki und Ôhei gingen und holten etwas zu trinken für Shizuka, die nun wie ein Häufchen Elend vor mir hockte und sich immer noch gegen mich lehnte.

Es dauerte einige Minuten, bevor wir uns einverstanden erklärten sie aufstehen zu lassen, um damit den Nachhauseweg anzutreten.

Shizuka ging langsam neben mir, während ich eine Hand auf ihren Rücken legte und sie damit vorsichtig weiter nach vorne schob.

Im Hause Matsuya angekommen verfrachteten Kazuhiko und ich das Mädchen sofort in ihr Bett und ließen sie für den Rest des Tages nicht ein einziges Mal aus den Augen, was ihr gar nicht zu gefallen schien. Immer wieder wollte sie aufstehen und umherlaufen, doch diesmal waren Kazuhiko und ich uns einig, dass es besser wäre, wenn sie vorerst im Bett liegen bliebe.

Shizuka erholte sich schnell wieder, doch ebenso schnell verging auch der Rest der Ferien und schließlich kam der Tag, vor dem sie und ich uns so sehr gefürchtet hatten – der Tag der Abfahrt. Ich würde einfach wieder nach Hause nach Kazuoka fahren und sie hier in Kioto lassen müssen.

Der Morgen verlief ziemlich schleppend, keiner schien Lust zu haben auch nur irgendetwas zu tun. So frühstückten wir eine geschlagene Stunde, aßen dabei aber jeder höchstens ein Brötchen. Auch das Packen fiel mir persönlich sehr schwer, sodass ich Ewigkeiten zu brauchen schien, bis alles wieder in meiner Tasche verstaut war.

Leider kamen wir trotzdem eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof an, doch diese halbe Stunde schien zu vergehen wie fünf Minuten.

Ich wollte nicht gehen!

Ich wollte in Kioto bleiben, dass mussten alle gemerkt haben, aber ich konnte und durfte nicht.

Shizuka und ich sahen uns während des Wartens oft sehr lange an. Ob die anderen es bemerkten weiß ich nicht, aber mir war es auch egal. Schließlich kam die Ansage, dass nun der Zug nach Tokio einfahren würde, der auch in Kazuoka hielt.

Schnell verabschiedete ich mich von Kazuhiko, der sich daraufhin mit Ôhei und Masaki beschäftigte, die sich schon von Shizuka verabschiedet hatten. Jene fiel mir ohne große Worte zu verlieren einfach nur in die Arme und klammerte sich an mich.

Es war wie eine Art stummes „Geh nicht“, doch wir beide wussten, dass ich zu gehen hatte – ob ich wollte oder nicht.

Ihr Körper bebte leicht und ich bemerkte die Tränen, die ihr langsam die Wangen hinab liefen. Plötzlich griff sie mit einer Hand in ihre Jackentasche und zog ein kleines Couvert hervor, das sie mir stolz überreicht.

„Aber erst zu Hause aufmachen, ja?“

Hoffnung lag in ihrem Blick, eine Hoffnung, die ich in diesem Moment nicht deuten konnte, genau wie das andere, das ich in ihrem Blick sah.

„Versprochen!“

Ein weiteres Mal fiel sie in meine Arme und drückte ihren Körper fest an meinen, bevor sie sich nach Einfahren des Zuges endgültig von mir löste und sich neben Kazuhiko stellte.

„Na dann, macht es gut!“, rief er uns noch hinterher, als unser Trio in den Zug einstieg.

Ich drehte mich nicht mehr um, da ich wusste, dass auch Shizuka sich schon umgedreht hatte und aus dem Bahnhof lief.

Wie gerne aber hätte ich mich umgedreht und wäre ihr hinterhergelaufen, mit ihr mitgekommen und hätte sie nie wieder losgelassen? Etwas verwirrt von meinen ganzen Gedanken und Gefühlen, die in den letzten Minuten meinen Körper durchfahren hatten ließ ich mich auf einen freien Platz im Zug nieder und starrte zum Fenster hinaus.

„Shizuka…“



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