closer
„Vielleicht in einem anderen Leben.“ Mike sog tief die kalte Nachtluft ein und ergänzte ein „Oder so.“ Sein Atem kondensierte und bildete durchsichtige, fahle Schlieren in der Luft.
Chesters Mundwinkel zogen sich nach oben. „Du glaubst an so'n Scheiß?“
Mike musste ebenfalls grinsen. „Nicht wirklich.“ Gedankenverloren stieß er mit der Schuhspitze einen kleinen Stein in den Abgrund. Sie waren nun schon das dritte Mal in dieser Stadt und immer waren sie hierher gekommen. Das erste Mal aus Zufall, das zweite Mal aus Interesse und dieses Mal aus Gewohnheit. Die riesige Brücke, auf der sie standen, war in all den Jahren nie fertig gebaut worden. Der Fluss, über den sie führte (oder führen sollte), bestand aus nichts als einem winzigen Rinnsal, im Gegensatz zu dem reißenden Strom, der er einmal gewesen war. Die Brücke endete also mitten im Nichts, kleine Reste von Beton und Mörtel lösten sich hin und wieder ohne ersichtlichen Grund und rieselten in die Schwärze. Es war schwer zu vermuten, wie weit sie sich über dem Erdboden befanden. Die Brücke lag ein wenig außerhalb der Stadt, keine Laternen beleuchteten den Weg und keine Straße führte hier vorbei. Vor ihnen war absolut nichts zu sehen. Es war, als befänden sie sich am Ende der Welt. An einem Ort, der so kalt, so ungastlich und vor allem in einer merkwürdigen Weise unheimlich war, dass es jedem einen eiskalten Schauer den Rücken hinab jagte, wenn er in diese völlige Schwärze sah, die alles Licht zu verschlucken schien. Nur der Wind war zu hören. Er säuselte in den rostigen Bauarbeitsgerüsten, die hier seit Jahren standen und ließ die Isolationsplanen zwischen den Betonplatten hin und wieder leise rascheln. Dennoch konnte man nie genau sagen, von wo die Geräusche kamen, denn das Echo des Flussbettes verwischte alles, was zu hören war.
„Wir sind garantiert weit und breit die Einzigen, die sich immer wieder hierher verirren“, meinte Chester.
Mike nickte abwesend und nahm die Zigarette, die ihm der Kleinere anbot, mit einem dankbaren Brummen an. Die Frage, die der andere ihm vor zwei Minuten gestellt hatte, machte ihn nervös. Er hatte geantwortet so cool er konnte, immerhin war es sicher ein Scherz gewesen. Er wollte sich nicht mehr Gedanken darüber machen, also kickte er abermals ein Stückchen Beton so weit er konnte in die Dunkelheit. Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und erwartete eine Reaktion. Es folgte keine. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in Mikes Magen aus. Um das Schweigen zu brechen, fragte er hastig: „Wo hast du das Bier hingestellt?“
„Hinter dir, du Depp“, war die knappe Antwort.
„Ah...“, machte Mike nervös, hob eine Dose auf und öffnete sie.
Abermals Schweigen.
„Sag mal...“, er nahm einen tiefen Schluck, um Zeit zu gewinnen. „Das war eben doch nicht ernst gemeint, oder?“, fragte er mit einem Seitenblick.
Chester drehte ihm den Kopf zu, rückte die Brille zurecht und grinste.
Erleichtert atmete Mike auf.
„Selbstverständlich war das ernst gemeint.“
Er schluckte.
Der Knoten in seinem Hals löste sich, als Chester ihm lachend mit der Faust gegen die Schulter stieß. „Großer Gott, verklemmt bis dorthin“, lachte er und nahm Mike die Bierdose aus der Hand, um einen großen Schluck zu nehmen.
Der Schwarzhaarige war ratlos. Ein wenig verunsichert lachend nahm er die Dose wieder entgegen. Um genau zu sein hatte er keine Ahnung, was Chester ernst meinte und was nicht. Und wenn man bedachte, dass es hier um eine nicht gerade unwichtige Frage ging, die er eben gestellt hatte... andererseits war das völliger Schwachsinn. Mike war mit einer Frau verheiratet, das bot bereits zwei Gründe, warum diese Frage nicht ernst gemeint gewesen sein konnte, und außerdem... waren sie irgendwie Freunde... oder nicht?
Mike linste kurz hinüber zu Chester, der, inzwischen wieder erstaunlich ernst, in die Finsternis zu ihren Füßen starrte. Völlig absurd.
„Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass große Höhen nichts für mich sind?“, fragte Chester.
„Was?“ Mike war völlig aus dem Kontext gerissen. Andererseits, so ein großer Gedankensprung war es nicht einmal gewesen, schließlich befanden sie sich gerade wer weiß wie hoch über dem Erdboden. „Wieso bist du dann hier?“
„Weil man den Boden nicht sehen kann. Es könnten zwar dreißig Meter sein, aber es ist genauso wahrscheinlich, dass es nur fünf Meter sind.“
Mike sah ihn an. Chesters Blick war mit absolutem Desinteresse auf die Leere vor ihnen gerichtet. Die Hände hatte er in die Jackentaschen gesteckt, die Brauen gehoben, die Augen hinter der Brille ein wenig müde und die langsam verglimmende Zigarette hing lose zwischen den leicht geöffneten Lippen.
Als Mike merkte, dass sein Blick an eben diesen hängen geblieben war, wandte er sich schnell ab. „Ich schätze trotzdem, dass das mindestens zwanzig sind.“
„Du meintest auch, der Flur im Hotel sei hundert Meter lang, dabei waren's keine dreißig.“
Mike grinste ein wenig und stellte fest, dass er das Bier ganz vergessen hatte. Seine Finger wurden langsam taub. Die Kälte drückte ihm das Blut aus den Händen. Die Frage war so gut wie vergessen. Aber leider Gottes nur so gut wie.
Langsam wanderte sein Blick wieder hinüber zu Chester. Dieser schnippte gerade die Kippe in den Abgrund und beobachtete ganz genau, wie weit er den winzigen leuchtenden Punkt, den sie darstellte, sehen konnte, doch die Glut erlosch beinahe sofort in der feuchten, kalten Luft. Er steckte die Hand wieder in die Jackentasche. „Man müsste eine Taschenlampe fallen lassen. Würde länger leuchten“, erklärte er.
Mike hob eine Augenbraue. „Wir könnten auch einfach mal bei Tageslicht herkommen, meinst du nicht?“ Er grinste Chester zu. „Wäre schade um die Taschenlampe.“
Der andere fuhr sich kurz mit der Zunge über die spröden Lippen, bevor er sie zu einem leichten Lächeln verzog. „Ich hab aber keinen Bock, noch mal her zu kommen“, erwiderte er nur.
Der Schwarzhaarige hob die Schultern. „Dann eben nicht, ist doch dein Ding.“
Der Wind trug leise die Geräusche der Stadt an ihre Ohren.
„Ich würde es aber gerne jetzt wissen“, murmelte Chester. „Und das mit dem anderen Leben wäre dann auch geklärt.“
„Was meinst du damit?“ Mike verengte ein wenig die Augen. Er wandte ihm den Kopf zu. Chesters Gesicht wirkte im Zwielicht wie ein Schemen, die Konturen waren schwer zu fassen. Er strich sich durch sein kurzes, helles Haar. Dann seufzte er.
„Komm“, sagte er, packte Mike am Arm und sprang.
---end.