Aufbruch
Sie haben ihren Entschluss schnell gefasst.
Wer immer auf ihn gewartet hat, wartet umsonst.
Auf sie wartet keiner, sagt sie.
Sie fahren in seinem Wagen, aber eigentlich spielt es keine Rolle, hier existiert weder ein „mein“ noch ein „dein“, außer vielleicht dem einen:
Mein Bruder.
Meine Schwester.
Unser Verbrechen.
Irgendwo, mitten im Wald, halten sie an.
Ihr erster Kuss nach dieser Zeit ist kein geschwisterlicher.
Nach der ersten Welle der Begierde, der sie einfach nachgegeben haben – die warnende Stimme der Vernunft haben sie schon seit Jahren zum Schweigen gebracht, ihm fiel das leichter als ihr – halten sie inne.
Sie lächelt.
Er nicht, er kann nicht. Hat es wieder einmal verlernt.
Später, als sie neben ihm zusammengekauert auf dem sonnigen Waldboden schläft (sie hat in der letzten Nacht schlecht geschlafen), erinnert er sich daran. Lächeln. Er hat es schließlich einmal gekonnt.
Er fühlt sich ruhig.
Genau wie damals, als sich alle Welt über ihre Beziehung empörte.
Er hat nicht gelernt, sich darum zu scheren, was andere von ihm denken.
Trotzdem – und erst jetzt fühlt er einen Anflug von Trotz, vermischt mit der Trauer über das, was sie hätten haben können – trotzdem kann er nicht umhin, zu denken: Was kann man ihnen zum Vorwurf machen?
Sie wussten es nicht.
Die schlechteste Seifenoper könnte es nicht besser inszenieren: nach der Geburt getrennt, die eine bei der Mutter, der andere beim Vater, der sich bald eine neue Frau nimmt.
Aufgewachsen, ohne zu wissen, dass sie doppelt existieren.
Sich in der Schule wieder getroffen, sich nie besonders nahe gestanden: erst gegen Ende der High School fingen sie an, mit einander auszugehen.
Ein harmloser Ausdruck, muss er jetzt zugeben.
Körperverwandtschaft.
Die Seelenverwandtschaft kam später.
Und dann?
Ein missgünstiges Geschick macht sie zu Blutsverwandten. Alles, was man ihnen vorhalten kann, ist, dass sie ihr Spiel weiter trieben, über den Punkt der Unwissenheit hinaus.
Bis es bekannt wurde.
Skandal.
Ein Skandal, den sein Ruf (und seine Firma) beinahe nicht überlebt hätten.
Und eine stille Trennung, bis jetzt.