May Hopkins private Ermittlungen
Rally konnte nicht sagen, wie lange sie bereits ohnmächtig war,
als sich eine vertraute Stimme in ihren traumlosen Schlaf schob:
"Hey Rally! Wach auf! Frühstück steht auf dem Tisch!"
Ganz langsam öffnete sie die Augen. Es war May, die da rief. Sie
selbst lag zuhause in ihrem Bett. "Morgen May", sagte Rally, und
stand langsam auf. Sie fühlte sich wie ausgepumpt.
"Mannohmannohmann. Du siehst vielleicht aus", meinte May. "War
wohl ne wilde Nacht, was?"
"Ne wilde Nacht?", fragte Rally. Allmählich kam die Erinnerung
zurück. "Ne wilde Nacht. Ja, kann man so sagen."
Sie ignorierte Mays fragenden Gesichtsausdruck, und ging zur
Küche. Doch May liess nicht locker:
"Sag mal, wo bist du eigentlich gewesen? Und warum hast du dich
nicht gemeldet? Ich hab mir Sorgen gemacht, verdammt noch mal!"
"Später, später", versuchte Rally zu beschwichtigen. Sie hatte
noch nicht alle Gedanken beisammen. May liess sich nicht beirren:
"Und dann kommst du nach Hause, ohne ein Wort zu sagen. Hätte ich
heute Morgen nicht zu dir ins Zimmer geschaut, wüsste ich nicht
einmal, dass du hier bist."
Rally stöhnte. Ein Streit mit May war jetzt wirklich das letzte,
was sie gebrauchen konnte. "Ich bin nicht hergekommen", sagte
sie, "ich wurde hergebracht."
May erkannte, dass sie jetzt nichts von Rally erfahren würde. Sie
zuckte mit den Schultern, und folgte Rally in die Küche.
Rally stocherte lustlos in ihrem Essen. Sie hatte zwar Hunger,
aber überhaupt keinen Appetit. May verstand. Oder zumindest
glaubte sie, zu verstehen.
"So so", sagte sie, "wir haben einen Kater, was?"
"Seit wann kriegt man von Morphium einen Kater?", erwiderte Rally
missmutig.
"Von... Morphium? Rally, was zum Teufel ist passiert?"
Rally begann zu erzählen. Sie tat dies sehr bruchstückhaft, und
May musste häufig nachhaken. Es ging eine Weile, bis May alles
verstanden hatte.
"Also, fassen wir zusammen:", sagte May schliesslich. "Vector
will Stevenson zu Fall bringen. Er bringt Cogan dazu, Stevenson
zu erpressen. Stevenson will Cogan aus dem Weg räumen, was Vector
zu einer Inszenierung ausnutzt, um die Polizei auf den Plan zu
rufen. Wir schnappen Cogan aber direkt vor der Nase des Killers
weg. Der Plan ist im Eimer. Vector schnappt dich, und liest dir
die Leviten. Ausserdem verlangt er, dass du dich nicht in seinen
neuen Plan einmischst. Richtig so?"
"So ungefähr", bestätigte Rally. In Wirklichkeit war sie nicht in
der Lage gewesen, Mays Zusammenfassung zu folgen.
"Und das bringt uns zur hundert Millionen Dollar Frage: Warum
lässt Vector uns nicht einfach Cogan ausliefern, und dessen
Angaben über Stevenson bestätigen. Dann ginge Stevenson doch
genauso hoch."
Rally nahm einen guten Schluck Kaffee. "Ich vermute, es liegt
daran, dass Vector das Kerosin in Stevensons Labor haben will."
Sie setzte die Tasse ab. "Würde er Stevenson einfach überfallen,
dann würde der natürlich sofort verschwinden. Vector will aber
sowohl das Kerosin für sich, wie auch Stevenson vor Gericht. Also
muss er dafür sorgen, dass die Polizei unmittelbar nach dem
Überfall bei Stevenson auftaucht. Geht er nach seinem Plan vor,
kann er die Reaktion der Polizei einigermassen steuern. Liefern
wir Cogan aus, kann er das nicht. Dann landet das Kerosin in
einem Polizeitresor."
May nickte. "Ja, das macht Sinn." Dann seufzte Sie. "Blöde
Geschichte. Wir sind also zum Nichtstun verdammt."
"Wer sagt das?", fragte Rally. Sie hatte mittlerweile ihre Sinne
genug beisammen, um ihrer Stimme eine unüberhörbare Schärfe zu
verleihen.
"Was willst du denn machen?", erwiderte May resigniert.
Rally gab sich ungerührt. "Vector einen Strich durch die
Rechnung", sagte sie.
May zog die Augenbrauen hoch.
"Mir einfach so seinen Willen auf zu zwingen. Das könnte ihm so
passen."
Das brachte May ins Grübeln. Klar, Rally liess sich nicht gerne
zu etwas zwingen. Aber sie hatte es auch schon geschehen lassen,
wenn die Chancen schlecht standen. Es seie denn...
"Ah, alles klar. Du willst nicht, das Vector das Kerosin erhält",
meinte May triumphierend.
Rally schaute May verblüfft an. May hatte Recht. Aber bisher war
es nicht einmal Rally selbst aufgefallen. "Ja, stimmt wohl",
meinte sie etwas verlegen.
"Und was willst du mit dem Kerosin machen? Es verbrennen?"
"Verbrennen? Der Gedanke ist gar nicht so übel."
Eine halbe Stunde später war ein grundlegender Plan gefasst:
Bevor Vector seinen Überfall startete, wollten Rally und May eine
Bombe in den Lagerraum des Drogenlabors schmuggeln. Während des
Überfalls würde sie dann gezündet. Für Vector würde es aussehen,
als wäre die Bombe von Stevenson selbst, der die Drogen lieber
vernichtete, als sie sich klauen zu lassen. May war auf dem Weg
zum Laden, um Cogan Frühstück zu bringen, und um das 'sind
Fischen'-Schild an die Tür zu hängen. Anschliessend wollte sie
sich um die Bombe kümmern. Rally zog sich derweil an. Sie trug
noch immer den Pyjama, in den sie Vector gesteckt hatte. Ihre
alten Kleider hatte er ihr nicht mitgegeben. Als Rally ihr
Halfter anlegen wollte, merkte sie, das noch ein paar andere
Dinge fehlten. "Mist. Er hat meine Waffen einbehalten", fluchte
sie. Rally legte das Ersatzhalfter an. Dann ging sie zum
Waffenschrank hinüber. Sie würde sich eben mit der zweiten
Garnitur begnügen müssen. Ihr Blick schweifte über die Auswahl.
Dann nahm sie eine P210 in die Hand. Mit einigen schnellen
Bewegungen prüfte sie den Zustand der Mechanik. Zufrieden lud sie
die Pistole, und setzte sie ins Halfter ein. "Eine gute Waffe",
dachte sie sich. "Aber kein Vergleich zu einer CZ-75." Ihr Blick
verdüsterte sich. Die CZ würde sie zurückerhalten. Koste es, was
es wolle.
"Was!?"
Cogan glaubte sich verhört zu haben. Musste er tatsächlich noch
zwei Tage in diesem Loch verbringen?
"Jetzt reg dich mal wieder ab", wandte May ein. "Glaubst du, es
macht uns Spass, dich hier unten durchzufüttern?"
Cogan brummte irgend etwas unverständliches. Dann fragte er:
"Habt ihr meine Angaben überprüft?"
"Ja, haben wir", bestätigte May.
"Warum liefert ihr mich dann nicht einfach aus. Wenn ihr meine
Angaben bestätigt, habe ich nichts mehr vor Stevenson zu
fürchten."
"So einfach ist das nicht. Da ist noch eine dritte Partei
involviert."
Cogan stutzte. "Eine dritte Partei? Wer denn?"
May grinste, und schüttelte den Zeigefinger. "Neugier tötet die
Katze".
Cogan gab auf. "Noch zwei Tage in diesem Loch", brummte er.
"Ich würde dir die Zeit ja gerne versüssen", meinte May lächelnd,
"aber ich muss mich leider beeilen."
Cogan sah überrascht hoch, doch May war bereits gegangen, und
hatte die Tür wieder abgeschlossen. Sie war tatsächlich in Eile.
Schliesslich musste sie sich noch um die Bombe kümmern.
Rally war ebenfalls mit Vorbereitungen beschäftigt. Um bei
Stevenson einsteigen zu können, würden sie die Umgebung etwas
unter die Lupe nehmen müssen. Damit Vector sie nicht gleich
wieder einsackt, hatte sie ein paar Verkleidungen besorgt. Sie
hatte dafür den Bronco nehmen müssen, da Vector den Cobra
ebenfalls nicht zurückgebracht hatte. Ein Umstand übrigens, der
Rally beinahe zum explodieren brachte. Als sie aber gerade die
Karte studierte, um möglich Zu- und Abfahrtswege zu finden, hörte
sie plötzlich ein Motorengeräusch, das ihr sehr bekannt vorkam.
Sie rannte die Treppe herunter, und stürmte auf die Strasse.
Tatsächlich: Da stand ihr Cobra. Vom Fahrer war allerdings keine
Spur. Rally besah sich den Wagen. Er hatte keinen Kratzer. Auch
die Rückscheibe war ausgewechselt worden. Auf dem Beifahrersitz
lag eine Kiste. Rally wollte sie sich ansehen, doch die Türen
waren verschlossen. Schliesslich war da noch eine Notiz an der
Frontscheibe. Rally las:
"Sehr geehrte Miss Vincent. Tut mir leid, das wir so spät dran
sind. Wir hatten leider Schwierigkeiten, ein passendes
Rückfenster zu finden. In der Kiste auf dem Beifahrersitz
befinden sich ihre Sachen von gestern. Der Schlüssel liegt im
Briefkasten. Mit freundlichen Grüssen Hal Vector."
Rally starrte auf das Papier. "Der will mich wohl fertigmachen",
sagte sie leise.
Kenichi Takizawa, genannt Ken Taki, war ein begnadeter
Bombenbauer. Er hatte früher für die Mafia gearbeitet, sich aber
erfolgreich von seiner Vergangenheit getrennt. Er war Mays
Lehrmeister was Bomben betrifft... und ihr fester Freund. Nun,
wer May ein bisschen kennt, wird sich vielleicht wundern, dass
sie einen festen Freund hat. Tatsächlich waren die beiden aber
schon länger zusammen.
"Also", sagte Ken. "Du brauchst eine Bombe zum Ausbrennen eines
Drogenlagers. Und das heute Abend."
"Genau", sagte May fröhlich. Sie sass Ken gegenüber, und hatte
ihm gerade die ganze Geschichte erzählt.
"Unauffällig soll sie natürlich auch sein...", grübelte Ken. "Das
wird ein schönes Stück Arbeit."
"Oooch, das schaffst du schon."
May blickte Ken mit verliebten Augen an. Ken fühlte das bisschen
Widerstand zusammenschmelzen. Es war ohnehin eine interessante
Aufgabe. Denn egal, wie unauffällig die Bombe war: Sobald sie
gezündet wurde, musste sie unweigerlich entdeckt werden. Wie aber
würde man das Personal daran hinderen, das Feuer zu löschen, ohne
gleich das ganze Haus zu sprengen?
May ahnte, worüber Ken nachdachte. "Ich denke, Petroleum wäre
nicht schlecht. Das ist sehr schwer zu löschen. Wenn es eine
Sprinkleranlage hat, wird das sicher lustig."
Ken grinste. Petroleum ist ein Öl, und Wasser in ein Ölfeuer zu
giessen, ist allgemein eine sehr schlechte Idee. Aber er war
nicht überzeugt: "Sie könnten das Feuer immer noch ersticken",
sagte er. "Wenn es ein Kellerraum ist, müssen sie nur die Tür
schliessen und abdichten."
"Wie wärs dann mit Napalm?"
Kenn erwog den Gedanken für einen Moment. Napalm enthält selbst
Sauerstoff. Ein Napalmfeuer kann daher nicht erstickt werden.
Aber dann fiel ihm ein anderes Mittel ein.
"Man könnte es immer noch mit einem chemischen Feuerlöscher
bekämpfen. Aber ich habe eine andere Idee: Aerosol."
May erschrak. "Wie... bitte? Ist das dein voller Ernst?"
"Natürlich", antwortete Ken gelassen.
"Das ist doch verrückt. Da könnten wir ja auch gleich eine
Atombombe rein schmeissen."
"Keine Sorge, May. Wenn ich die Dosis genau berechne, wird
lediglich alles im Raum verbrannt. Und zwar innert Sekunden. Es
besteht nicht die geringste Chance, solch ein Feuer zu löschen."
May war keineswegs beruhigt. Aber sie kannte Kens Fähigkeiten,
und beschloss, darauf zu vertrauen.
Rally war sauer auf Vector. Und zwar vor allem darum, weil Vector
ihr systematisch jeden Grund nahm, auf ihn sauer zu sein. Sogar
die CZ-75 hatte er zurückgegeben: Sie lag in der Schachtel im
Auto. Nur das Verbot, sich in den Fall Stevenson einzumischen,
blieb noch. Um so mehr wollte sie im gerade hier
dazwischenfunken. Damit Vectors Späher sie nicht gleich wieder
entdeckten, zog sie eine Perücke mit langen, blonden Haaren an,
und überpuderte ihre indianische Haut, so dass sie hell erschien.
Bei May war es einfacher. Sie machte sich ihre Kleinwüchsigkeit
zunutze, indem sie Kinderkleider anzog. Diesen Trick hatte sie
bereits mehrmals mit grossem Erfolg angewandt. Dann fuhren die
beiden in Mays Wagen, einem Fiat 500, in die Nähe des
Drogenlabors. Rally lenkte den Wagen. Während der Fahrt prüfte
sie immer wieder, ob ihnen jemand folge. Sie konnte aber
niemanden entdecken. Trotzdem war sie unsicher. Sie parkte den
Wagen etwas Abseits, und liess May hinaus. Dann fuhr sie wieder
weg. May hatte ein Handy bei sich, mit dem sie Rally rasch
herbeordern konnte.
May spazierte etwas durch die Umgebung. In ihrer Verkleidung
konnte sie sich sehr unauffällig bewegen. So konnte sie auch das
Gebäude etwas genauer ansehen. Das Haus war ein alter
Plattenblockbau mit fünf Geschossen. Er war etwa doppelt so lang
wie breit. Vor allen Fenstern waren die Sonnenstoren
heruntergelassen, was das Haus doch recht verdächtig aussehen
liess. Der Haupteingang war in der Mitte einer der langen Seiten.
Wie Rally gesagt hatte, wurde er von einer zivilen Wache bewacht.
Nur das sie jetzt im Innern sass, und durch ein Fenster auf die
Strasse schaute. Auf der anderen Seite des Hauses fand May eine
Feuertreppe. Sie befand sich an der Aussenseite des Hauses, ging
aber nur bis zum ersten Stock herunter. Vermutlich befand sich
dort einmal eine Treppe, die hinunterklappte, sobald jemand von
oben draufstand. Aber das war wohl schon lange her, denn die
abgebrochene Halterung machte den Eindruck, als ob sie schon sehr
lange abgebrochen gewesen sei. May stellte ausserdem fest, das
auch im Erdgeschoss, gleich unter der Feuertreppe, ein Notausgang
existierte. Alles in allem war sie aber noch nicht zufrieden mit
dem Ergebniss ihrer Ermittlungen.
Robert sass hinter dem Fenster beim Eingang. Die Pumpgun hatte er
gegen die Mauer gelehnt. Er hasste den Wachdienst. Es war
schlichtweg langweilig. Nur gelegentlich musste ein allzu
neugieriger Passant abgewiesen werden. Er verstand auch die
Kollegen nicht, die mit umgehängter Waffe und betont ernsthaftem
Gesichtsausdruck, wenn möglich mit Sonnenbrille, im Eingang
standen. Wem versuchten die hier Eindruck zu machen? Und falls
tatsächlich mal etwas passieren sollte... Mit umgehängter Waffe
weithin sichtbar herumzustehen, war, wie sich ein Schild
umzuhängen: "Bitte erschiesst mich". Robert seufzte, und liess
den Blick von der Strasse zum Eingang wandern. Ein kleines
Mädchen stand dort.
Eine Zehntelsekunde später war Robert auf den Beinen. "Da lässt
man mal kurz die Gedanken schweifen, und schon...", dachte er
sich.
"He Mädchen! Da darfst du nicht rein!". Robert versuchte, seine
Stimme grimmig erscheinen zu lassen. Es klappte nicht besonders
gut. Aber es erfüllte seinen Zweck: Das Mädchen schien
eingeschüchtert.
"Tut... tut mir leid", sagte sie leise. "Ich suche meinen Hund."
"Deinen Hund?", fragte Robert überrascht.
"Ja. Er ist mir hier in der Nähe davongelaufen. Haben Sie ihn
vielleicht gesehen?"
Robert schüttelte den Kopf. "Nein, hab ich nicht", sagte er
knapp.
Doch das Mädchen liess nicht locker. "Sicher?", fragte sie. "Er
versteckt sich gerne in Kellern. Könnten Sie vielleicht kurz
nachsehen?"
Im Keller? Stevenson würde niemals zulassen, das dort jemand
herumschnüffelte. Das Drogenlabor und das Lager befanden sich
dort. "Hör mal", begann er, diesmal etwas gereizt, "wenn ich
sage, ich habe keinen Hund gesehen..."
"Hey Robert, sei doch nicht so grob."
Das war Stevenson. Robert verspürte plötzlich den dringenden
Wunsch, irgendwo anders zu sein. Aber er versuchte, sich nichts
anmerken zu lassen.
"Du musst ihn entschuldigen", sagte Stevenson zu dem Mädchen. "Er
ist... wie ein Wachhund eben. Er bellt alle an, die er nicht
kennt." Dann wandte er sich Robert zu: "Hast du sicher keinen
Hund gesehen?"
"Nein Sir", erwiderte Robert, wobei er krampfhaft versuchte,
sachlich zu bleiben. "Wenn hier ein Hund hereingekommen wäre,
hätte ich ihn mit Sicherheit gesehen."
Robert war sich da nicht so sicher, wie er sich gab. Aber vor
Stevenson zuzugeben, dass er möglicherweise einen Hund übersehen
hätte? Unmöglich. Da hätte er sich auch gleich selbst erschiessen
können.
Stevenson schaute das Mädchen mit einem bedauernden Blick an.
"Tut mir leid, aber dann ist er wohl nicht hier."
"Ist schon gut, danke", sagte das Mädchen. "Dann muss ich eben
weiter ersuchen." Sprachs, und war verschwunden.
"Siehst du Robert? So gehts doch auch." Stevenson ging zum
Ausgang. "Jetzt muss ich aber los. Eine nette Party wartet auf
mich."
"Ja Sir", sagte Robert langsam. Er wartete, bis Stevenson
gegangen war. Dann liess er sich in den Stuhl fallen. Es waren
Tage wie dieser, die in ihm den Wunsch weckten, einfach alles
stehen und liegen zu lassen, und zu verschwinden. Hätte er
gewusst, was an diesem Tag noch so alles auf ihn zukam, hätte er
es sogar getan.
May ging wieder zur Rückseite des Hauses. Ihr kleiner Vorstoss
hatte sich gelohnt. Während Sie die Wache mit ihrer Geschichte
über den entlaufenen Hund hinhielt, konnte sie einen Blick ins
Haus werfen. Hinter dem Eingang befand sich ein Raum, in dem die
Wache sass. Hinter dem Raum wiederum war ein Quergang. May konnte
bei ihrem kurzen Rundblick feststellen, dass der Gang an beiden
Enden nicht einfach aufhörte, sondern abbog. Vermutlich ging er
um das ganze Haus herum. Ausserdem fiel May auf, dass im Gang,
gegenüber vom Wachraum, eine Stelle mit einer Holzplatte verdeckt
war. Offensichtlich wurde hier irgendein Durchgang blockiert. Als
sie schliesslich die Wache nach dem Keller fragte, konnte sie an
der Reaktion ablesen, dass sich dort wohl etwas wichtiges befand.
Das hatten sie und Rally bereits vorher vermutet. Aber es war
immer gut, sich sicher zu sein. Alles, was jetzt noch fehlte, war
ein sicherer Eingang. Das Erdgeschoss war May zu gut bewacht.
Also ging sie zur Feuertreppe. Mit Hilfe einer alten Mülltonne
stieg sie hinauf in den ersten Stock. Auf jedem Stockwerk befand
sich eine Plattform. Diese war von einer Tür, und vom Fenster
links daneben (von aussen gesehen) erreichbar. May horchte am
Fenster. Als sie nichts hörte, hob sie vorsichtig eine Lamelle
der Storen an. Im Raum war niemand. Es war ein hübsch
eingerichtetes Büro. "Ist wohl das vom Boss", dachte sich May.
"Gleich bei der Feuertreppe." Sie ging weiter hoch. Das Zimmer im
zweiten Stock enthielt lediglich eine Matraze, die einen
unbequemen Eindruck machte. Die Zimmer im dritten und vierten
Stock waren sogar völlig leer. Schliesslich kam May aufs Dach.
Sie schaute sich um. Es gab einen Eingang hier oben. Ansonsten
war das Dach völlig leer.
Plötzlich klingelte das Handy. May schaute auf die Uhr. Vor fünf
Minuten hätte sie Rally anrufen sollen. Sie nahm den Anruf
entgegen.
"Hallo?", sagte sie mit schuldbewusster Stimme.
May konnte Rally erleichtert aufatmen hören. "Ich wollte nur
wissen, ob es dir gut geht."
"Sorry. Ich hab vergessen anzurufen", entschuldigte sich May.
"Wie immer", seufzte Rally. "Und? Hast du was herausgefunden?"
"Jede Menge."
May fasste kurz ihre bisherigen Beobachtungen zusammen. Dann
folgte eine kurze Pause.
"Okay", sagte Rally schliesslich. "Das reicht. Sag mir, wo ich
dich abholen soll."
"Noch gar nicht", antwortete May. "Erst will ich noch
herausfinden, wie wir reinkommen können."
"Das können wir immer noch heute Abend. Geh kein unnötiges Risiko
ein."
"Ach komm, Rally. Glaubst du, ich sei zum Spass auf das Dach
geklettert?"
"Du bist *was*?! Bist du verrückt? Was machst du, wenn Vectors
Männer dich entdecken?"
"Bisher bin ich noch nicht erschossen worden."
"Sehr witzig. Komm da sofort runter."
"Erst prüfe ich, ob wir ungesehen durch die Dachtür rein können."
"Nein, das tust du nicht! Und schon gar nicht durch die Dachtür.
Die ist noch am ehesten gesichert!"
May überlegte einen Moment. Dann sagte sie: "Stimmt. Ich nehme
einen anderen Weg."
"May war..."
Aber in diesem Moment unterbrach May die Verbindung. Sie war gut
genug, um das durchzuziehen. Und das würde sie Rally jetzt
beweisen.
May stieg wieder in den vierten Stock hinunter. Sie schaute sich
das Fenster an. Die Lamellen der Sonnenstoren liessen sich leicht
anheben. Das Fenster selbst war ein einfaches Schiebefenster. Die
Verriegelung war aber von aussen nur erreichbar, wenn man die
Scheibe zerstörte. May hatte keinen Glasschneider dabei, also
liess sie es bleiben. Sie ging zur Tür. Es war eine typische
Notausgangtür. Logischerweise hatte es aussen keine Klinke. Aber
dort, wo man normalerweise die Klinke vermuten würde, war eine
rostige Metallplatte, die von vier ebenso rostigen Schrauben
gehalten wurde. May hatte immer etwas Werkzeug dabei, um kleine
Bomben bauen zu können. Aus einer ihrer Taschen kramte sie einen
Schraubenzieher hervor. Sie setzte ihn an, konnte die Schraube
aber nicht lösen. Als sie es nochmals mit mehr Kraft versuchte,
brach der Schraubenkopf ab. "Völlig durchgerostet", sagte sich
May. Mit gezielten Schlägen enthauptete sie die drei restlichen
Schrauben. Dann entfernte sie die Platte. Dahinter war ein
Schloss. Offensichtlich diente es dazu, im Notfall die Tür von
aussen zu öffnen.
Tom, Stevensons Sicherheitschef, sass zufrieden in seinem Büro.
Das Labor war geschlossen, die Lieferverträge sistiert, und die
Ware abtransportbereit. Alles war vorbereitet für den Fall, das
sie evakuieren mussten. Aber eigentlich machte er sich keine
Sorgen wegen eines bevorstehenden Angriffs. Stattdessen versuchte
er abzuschätzen, wann er wohl wieder den Normalzustand herstellen
konnte. Daher war er nicht schlecht überrascht, als plötzlich
eines der Warnlichter auf der Kontrolltafel aufleuchtete. Tom
betrachtete die Tafel misstrauisch. Aber es gab keinen Zweifel:
Jemand war im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen!
May hatte keinen Dietrich dabei. Aber Sprengstoff. Und der
verwandelte das Schloss in einen Haufen rauchenden Schrott. Mit
einem Ruck zog May die Tür auf. Natürlich hätte sie auch durch
das Fenster einsteigen können. Aber wenn sie schon etwas
zerstören musste, dann lieber die Tür. Die war bequemer. Hinter
der Tür war ein kurzer Durchgang, der ins Gebäudeinnere zum
Hauptgang führte. May schaute sich um. Auch hier bog der Gang
links und rechts am Gebäudeende zur anderen Gebäudeseite ab.
Anscheinend ging er tatsächlich um das ganze Gebäude. Direkt
gegenüber dem Notausgang war das Treppenhaus. May schaute zum
Notausgang hinüber. Das Schloss, oder was davon übrig war, war
jetzt ziemlich schwarz. Es war zwar ziemlich dunkel bei der Tür,
aber es war trotzdem sichtbar. Eine Patrouille würde es
vielleicht entdecken, und die Tür verbarrikadieren. Andererseits
brauchte May nur die Verriegelung des Fensters daneben zu öffnen,
um problemlos dort einsteigen zu können. Sie betrat also den Raum
neben dem Notausgang. Der Raum war annähernd quadratisch, und
völlig leer. An der gegenüberliegenden Wand sah May das gesuchte
Fenster. Sie wollte bereits zur Tat schreiten, als sie plötzlich
jemanden die Treppe hochrennen hörte. May hechtete zur Tür, und
schloss sie.
"Mist! Schon weg", rief jemand.
"Mann oh Mann", sagte jemand anders. "Einfach aufgesprengt."
"Na schön. Dann suchen wir eben systematisch das Haus ab. Prüf
erstmal den Dachausgang."
"Okay."
May rannte zum Fenster. Diesmal prüfte sie es auf Kabel. Und
tatsächlich: Zwei Drähte führten vom Fenster weg. May kratzte mit
einem kleinen Messer die Isolation von den Drähten. Sie musste
vorsichtig sein, denn die Drähte waren dünn, und sie durfte sie
keinesfalls durchtrennen. Als sie fertig war, nahm sie ein Stück
Schnur, um die blanken Stellen zusammenzubinden. Sie hoffte
inständig, damit den Alarm zu überbrücken... und nicht
auszulösen. Als die Enden sich berührten, hielt sie einen Moment
inne. Entsetzt hörte sie, wie sich Schritte näherten.
Ein Mann riss die Tür auf, und kam mit vorgehaltener Pistole
herein. Es war einer von Stevensons Leuten, der Pech genug hatte,
von Tom angetroffen zu werden, als dieser die Treppe hoch
stürmte. Er sah sich kurz um. Der Raum war leer. Er wollte
bereits wieder gehen, als ihm etwas auffiel: Die Verriegelung des
Fensters war offen. Er ging zum Fenster, öffnete es, und hob die
Lamellen davor an. Es war aber niemand zu sehen. Missmutig
schloss und verriegelte er das Fenster wieder. Dann entdeckte er
Mays Überbrückung. Er nahm ein Messer, und schnitt die Schnur
durch, ohne die Drähte zu verletzen. Schliesslich verliess er den
Raum, und zog die Tür hinter sich zu. "Das Fenster war offen, und
der Alarm überbrückt", sagte er. "Er ist wohl schon weit weg."
Aber da irrte er sich. 'Er' war noch sehr nahe. Als May erkannt
hatte, dass die Zeit nicht mehr reichen würde, um aus dem Fenster
zu fliehen, hatte sie sich einfach hinter die Tür gestellt.
Es dauerte einige Minuten, bis May sich wieder zu bewegen wagte.
Erst, als sie die beiden Männer die Treppe hinab gehen hörte,
wagte sie sich wieder zum Fenster. Sie verband die Drähte wieder,
und kletterte durch das Fenster auf die Feuertreppe. Überrascht
sah sie ihren Fiat an der nächsten Kreuzung. Sie stieg die Treppe
runter, und rannte zum Wagen hinüber.
"Da bin ich wieder!", rief sie, als sie sich auf den
Beifahrersitz setzte.
Rally antwortete nicht. Sie sah May nur durchdringend an.
"Äh, was ist denn?", fragte May etwas verlegen.
"Warum hast du dein Handy abgeschaltet?"
"Na ja, damit es nicht klingelt, während ich drinnen bin."
"Hab ich dir nicht gesagt, dass du das bleiben lassen sollst?"
"Schon. Aber..."
"Verdammt, May, wann lernst du das endlich? Man bringt sich nicht
unnötig in Gefahr."
"Was heisst da unnötig? Die haben eine Alarmanlage installiert.
Wenn wir die erst heute Abend entdecken würden, würden wir ganz
schön in der Scheisse sitzen."
"Und was macht es für einen Unterschied, ob sie dich jetzt
schnappen, oder erst heute Abend?"
"Sie *haben* mich nicht geschnappt."
"Zum Glück nicht, nein."
Rally startete den Motor, und fuhr weg. May war sauer. Nur weil
Rally ein Jahr älter war, musste sie sich noch lange nicht so
rechthaberisch aufführen. Da fiel ihr ein letzter Trumpf ein:
"Ich habe übrigens einen Eingang gefunden."
"So." Rally klang reichlich desinteressiert. Aber May liess sich
davon nicht täuschen.
"Beim Fenster im vierten Stock bei der Feuerleiter habe ich die
Alarmanlage überbrückt. Wir können rein und raus wie es uns
beliebt."
Rally sagte einen Moment nichts. Dann seufzte sie. "Na schön, gut
gemacht. Aber sei in Zukunft vorsichtiger."
"Okay", erwiderte May fröhlich. Aber Rally blieb ernst:
"Die Hauptarbeit steht uns nämlich noch bevor."