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Shot

Ich geb mein Leben für dich...
von

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Shot

„Ah… Hi… Hizumi…!“
 

Ich streckte mich Karyu entgegen, wollte schreien und wusste gleichzeitig, ich durfte nicht. Er beugte sich etwas vor und verschloss meine Lippen mit einem Kuss. Ich stöhnte heiser in den Kuss auf, als seine Bewegungen schneller wurden, verkrampfte die Finger in seinem Arm. Spürte, wie er zitterte. „Ich… liebe dich…“, flüsterte er mit kehliger Stimme, dann küsste er mich wieder und ließ mich erst wieder los, als wir gemeinsam den Gipfel unserer Lust erreichten.

Schwer atmend ließ Karyu sich neben mich sinken. Einen Augenblick lang lauschte ich angespannt in die Dunkelheit. Keine Stimmen. Keine Schritte. Alles in Ordnung.
 

Ohne ein Wort zu sagen griff ich nach den Streichhölzern, die auf dem Nachttisch neben dem Bett lagen und zündete eine Kerze an, die das Zimmer in ein schummriges Licht tauchte. Ich legte mich wieder neben Karyu und sofort nahm er mich fest in die Arme, küsste zärtlich meine Lippen. Ich drehte den Kopf zur Seite.
 

„Karyu…“, sagte ich leise. Ich wollte es eigentlich nicht ansprechen, nicht in diesem Moment, in dem ich ihm so nah war, aber wenn nicht sofort, wann dann? Uns blieb keine Zeit mehr…
 

„Mhm?“
 

Ich rückte ein Stück näher zu ihm. Im Kerzenlicht sah ich die Schweißtropfen auf seiner Haut schimmern. „Du hast doch mal gesagt, dass du alles tun würdest, damit wir nie mehr getrennt werden.“ Er nickte. Ich streckte die Hand aus und berührte seine Wange. „Lass uns die Stadt verlassen“, sagte ich nach einer Weile. „Das ist der einzige Weg, das weißt du!“ Er sah mich an, mit weit aufgerissenen Augen.
 

„Du willst… die Stadt verlassen?“ Ich nickte. „Du weißt, dass wir sonst keine Chance haben“, sagte ich. „Sie jagen uns. Sie sind uns immer auf den Fersen und es gibt nur einen Grund, weshalb sie uns noch nicht kalt gemacht haben: Sie haben keine handfesten Beweise.“ „Ja, aber… Vielleicht erfahren sie es nicht“, erwiderte Karyu. „Wir haben uns bis jetzt auch vor ihnen versteckt.“
 

Ich seufzte schwer. Warum, warum konnte er meinen Standpunkt nicht einsehen…

„Bis jetzt, aber wie lange denn noch? Wir können das nicht ewig so weiter führen, irgendwann wird es schief gehen! Und außerdem“, ich machte eine kurze Atempause, „ich hasse es! Verdammt, ich liebe dich und meinetwegen kann die ganze Welt es wissen! Ich will mich nicht verstecken-“ „Sondern davon laufen“, unterbrach er mich. Ich schnappte nach Luft. „Nein!“, entgegnete ich ziemlich laut. „Ich will nur hier raus, aus der Stadt, aus dem Viertel, irgendwohin wo sie uns so tolerieren wie wir sind, verstehst du das nicht? Selbst wenn es für dich davon laufen ist, willst du vielleicht lieber mit ansehen, wie sie uns erwischen und umbringen?!“
 

Auf der Treppe ertönten Schritte. War ich zu laut gewesen? Mit vor Angst geweiteten Augen starrte ich zur Tür. Dann, nach einer Ewigkeit, entfernten die Schritte sich wieder. Langsam atmete ich aus, mein Herz raste. „Man Karyu“, flüsterte ich mit zittriger Stimme. „Du kennst sie. Sie sind nicht die Sorte Menschen, die Witze machen. Die meinen es ernst wenn sie sagen: Ich bring euch um! Und lieber… Lieber gebe ich mein Leben hier auf als dich…“ Ich schluckte. Karyu schwieg. „Bitte“, flüsterte ich. „Dieser Druck, und diese ständige Angst, ich halt das nicht aus…“ Ich brach ab, Tränen liefen mir übers Gesicht. Er nahm mich in den Arm und drückte mich an sich, streichelte sanft über mein Haar und hielt mich so, bis ich mich wieder etwas beruhigen konnte.
 

„Hab keine Angst“, flüsterte er und entfernte mit dem Finger eine Träne aus meinem Augenwinkel. „Hizu, schon gut, ich bin bei dir…“ Ich lächelte schwach, dann kamen mir wieder die Tränen. „Wo willst du denn hin?“, fragte Karyu. „Wir haben doch überhaupt keine Möglichkeit in einer anderen Stadt durchzukommen…“ „Ich hab eine Tante in Pusan“, sagte ich. „Wenn wir bis dahin kommen, können wir erstmal bei ihr wohnen, hoffe ich. Sie wird uns nicht verraten. Sie hat mit meinen Eltern keinen Kontakt.“ Karyu holte tief Luft. „Also gut“, sagte er dann. „Versuchen wir es.“ Ich glaubte mich verhört zu haben… Aber das hatte ich nicht.

Von da an war es beschlossen. Der Gedanke daran die Stadt zu verlassen schwirrte mir schon ewig im Kopf herum, aber ich hatte es vorher nie geschafft, Karyu zu überzeugen. Ich hatte es zwar angesprochen, aber er wart sofort strikt dagegen. Warum ihm die Situation so wenig zu schaffen machte, war mir ein Rätsel. Dabei war es noch gar nicht lange her, dass sein eigener Bruder ihm mit dem Tod gedroht hatte.
 

Wie es dazu kommen konnte?
 

Es gab eine Gruppe bzw. Gang in der Stadt, von etwa zwanzig Leuten, die einen wahnsinnigen Hass auf alle hegten, die anders sind. So wie Karyu und ich, zum Beispiel. Ein ehemaliges Mitglied dieser Gruppe hatte einen oder zwei Monate zuvor einen Jungen mit Asthma durch die Stadt gejagt, bis er ohnmächtig wurde. Er kam ins Gefängnis, der Junge ins Krankenhaus. Sie raubten Leute aus, hinterließen rassistische Graffitis, zündeten leer stehende Gebäude an, schmissen Fensterscheiben in bewohnten Häusern ein und schrieben Drohbriefe an die Politiker. Etwa anderthalb Jahre zuvor hatte es sogar einen Mord an einem Ausländer gegeben, der Täter wurde gefasst und kam lebenslänglich in den Knast. Ein paar Tage war es durch die Medien gegangen, dann war es vergessen. Die Leute verschlossen die Augen vor ihnen. Und sie wurden nie weniger. Wenn sie mal eine Aktion planten, wurde diese nie von allen gleichzeitig durchgeführt, so dass im Fall einer Überführung genug übrig blieben, um neue Mitglieder zu gewinnen. Als wir beschlossen die Stadt zu verlassen, war es gerade ein halbes Jahr her das Karyus Bruder Keita der Gruppe beigetreten war. Ich kannte Keita schon ewig und wusste, dass er früher ganz anders gewesen war. Nett und tolerant. Und dann? Bekam drei Jahre Knast auf Bewährung wegen schwerer Körperverletzung…
 

Keita wusste nicht, dass sein Bruder schwul war und das war auch gut so. Wenn diese Leute es erfahren würden, wenn Keita es erfahren würde, er würde uns töten. Ich war mir dessen immer sicher. Sie konnten töten, das hatten sie bewiesen. Keita glaubte, dass sein Bruder mit einem Mädchen namens Kasumi zusammen war, aber mit der Zeit wurde diese Lüge löchrig. Keita wurde misstrauisch, weil Karyu ihm Kasumi nie vorstellen wollte und weil er seinen Bruder nie mit ihr, dafür verdächtig oft mit mir zusammen sah.
 

Und deshalb wollte ich die Stadt verlassen, so schnell wie möglich. Und endlich hatte er es eingesehen.
 

Tonight we’ll escape, just you and me, we’ll find our peace somewhere across the seas…
 

Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her, warf immer wieder Blicke auf die Uhr. Es wurde und wurde einfach nicht später. Um Mitternacht wollten wir uns am Marktplatz treffen.
 

Um halb zwölf stand ich auf. Anziehen brauchte ich mich nicht mehr, da ich schon angezogen war, meine Sachen standen gepackt neben meinem Bett. Ich wollte nur das Nötigste mitnehmen. Unser Plan war spätestens in zwei Tagen den Hafen zu erreichen, wir hatten all unser Geld für die Überfahrt nach Korea zusammen gekratzt, den Rest würden wir eben durch Arbeit dazu verdienen müssen. Irgendwie würden sie uns schon beschäftigen können.
 

Ich pustete die Kerze auf dem Tisch aus, nahm meine Tasche und öffnete leise die Tür. Lauschte. Kein Laut war zu Hören, bis auf das gleichmäßige Schnarchen meines Vaters. Ich hatte meinen Eltern nichts gesagt. Mir war egal, wie sie reagieren würden, wenn sie sähen, dass ich weg war. Aber es war besser, wenn niemand von unserem Plan wusste, so gab es auch niemanden, der uns verraten konnte. Ich konnte ja immer noch anrufen und sagen, dass ich wohlauf war.

Vorsichtig schlich ich nach unten, öffnete und schloss die Tür geräuschlos. Ich zögerte einen Moment, atmete tief ein uns aus, ehe ich in Richtung Markt losging. Immer wieder drehte ich mich um und erwartete, jemanden zu sehen, aber ich war allein. Als ich den Markt erreichte war ich richtig erleichtert, ich setzte mich auf die Bordsteinkante und stützte den Kopf in die Hände. Schloss für einen Moment die Augen.
 

Tonight we’ll be free… I’ll find us a home… Tonight we will be finally on our own…
 

Nach einer Weile bemerkte ich am anderen Ende des Platzes eine Gestalt. Ich wurde sofort misstrauisch und wich in den Schatten der Häuser hinter mir zurück. Erst als ich Karyu ganz klar erkennen konnte, fiel die Angst von mir ab. „Hey“, flüsterte ich. Im Mondlicht erkannte ich, wie er lächelte, er setzte sich neben mich und küsste mich lange und zärtlich.
 

„Wir haben noch Zeit“, sagte ich. Er legte einen Arm um mich, mein Kopf sank an seine Schulter und plötzlich war ich ihm einfach nur unendlich dankbar dafür, dass er diesen Schritt mit mir machte. „Danke“, sagte ich leise, „dass du das machst.“ Karyu nahm meine Hand und drückte sie. „Ich würde alles für dich tun, Hizumi“, erwiderte er. Ich versuchte im Dunkeln sein Gesicht zu erkennen. Karyu strich sanft über meinen Handrücken. „Ich würde… für dich sterben.“
 

I’ll take the shot for you… I’ll be the shield for you…
 

„Sag so was nicht“, sagte ich ernst. „Bitte…“ Ich spürte Karyus Hand an meinem Nacken und vergrub das Gesicht im Stoff seiner Jacke. „Ich würde mir das nie verzeihen“, murmelte ich an seine Schulter. „Außerdem wirst du nicht sterben! Das werde ich nämlich nicht zu lassen.“ Eine Pause entstand. „Hast du es jemandem gesagt?“, fragte er in die Stille. „Nein“, antwortete ich. „Und du?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, niemandem.“
 

Wir blieben noch ein bisschen auf den Stufen sitzen, bis plötzlich die Turmuhr schlug und wir, von dem plötzlichen Geräusch erschreckt, zusammen fuhren. Es war halb eins. „Lass uns lieber gehen“, sagte ich. Karyu stand auf, reichte mir die Hand und zog mich hoch. Ich ließ den Blick über den Marktplatz schweifen. Diese Stadt, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte, die ich geliebt hatte und die sich gegen uns verschworen hatte… Die Stadt, die unsere Heimat gewesen war.
 

Kurz entschlossen wandte ich mich ab, nahm meine Tasche und ging los. Nach ein paar Schritten war Karyu wieder neben mir und nahm meine Hand, was mich ungemein beruhigte. Der kühle Nachtwind tat gut, denn obwohl es nicht gerade warm war schwitzte ich vor Nervosität. Ich war, obwohl wir alles gut durchdacht hatten, mehr als nervös. Alles nur weil ein Haufen Leute sich von anderen zu stark beeinflussen ließ. Nicht mal die Hälfte, nicht mal ein Viertel von ihnen hatte wirklich etwas gegen uns. Sie ließen sich beeinflussen, sie hatten alle eine Gehirnwäsche verpasst bekommen. Aber irgendwann musste es doch auch mal reichen… Oder musste erst wirklich was Schreckliches passieren, damit ihnen die Augen geöffnet wurden? War ein Mord denn noch nicht genug?
 

Enough of the fight, enough of the fuss, I’ll be awake if he finds us…
 

„Was ist wenn sie uns sehen?“, fragte Karyu plötzlich in die Stille. Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht wissen, was dann war. Aber ich wusste es. „Sie… werden uns nicht finden“ Und wenn doch?, sagte eine Stimme in meinem Kopf. „Nein“, sagte ich laut. Karyu sah mich überrascht an, aber ich sagte weiter nichts dazu. Sobald wir den Hafen erreicht und das Schiff nach Pusan gefunden hatten, würden sie keine Chance mehr haben uns zu finden.
 

„Vorhin hat… mein Bruder mich angesprochen“, sagte Karyu leise und es war eindeutig wie schwer es ihm fiel, das auszusprechen, was darauf folgte. „Warum?“, fragte ich. „Er sagte… dass ein Kumpel von ihm oder einer von dieser Gang… Er hat eine Pistole und er wird keine Angst haben, sie zu benutzen.“ Ich zuckte zusammen. Diese Leute gehörten nicht in den Knast sondern in die Irrenanstalt… Die waren alle geisteskrank!
 

„Und dann sagte er, er weiß, dass ich gerne und oft mit dir zusammen bin und dass er sich fragt, ob ich nachts vielleicht nicht bei Kasumi bin, sondern bei dir…“ Mir wurde heiß. Er ahnte es, er spürte, dass da was zwischen uns war… „Er sagte auch, wenn er rauskriegt, dass sein Bruder ein verfluchter Arschficker ist, dann…“ Karyu schnippte mit den Fingern. „Dann bringt er mich eigenhändig um.“
 

Ich schloss die Augen und versuchte ruhig zu bleiben, aber ich war total geschockt. Was ist das für eine Welt, in der sich Geschwister gegenseitig erschießen?
 

„Hat er das echt gesagt?“, fragte ich, obwohl ich es eigentlich nicht bezweifelte. Karyu nickte niedergeschlagen. „Wortwörtlich.“ Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ich hätte gern etwas gesagt um ihn aufzumuntern, aber ich konnte nicht. Die Worte haben mich ebenso getroffen wie Karyu. Jeder Angriff gegen ihn war auch einer gegen mich.
 

„Wenn wir… wenn wir erstmal weg sind, dann wird so was nicht mehr passieren…“, sagte ich und fummelte dabei an meinem Mantel herum. Karyu blieb kurz stehen, sah mich forschend an. „Weißt du“, fragte mich schneidend, „das sicher? Woher willst du wissen ob es in den anderen Städten nicht genauso ist, oder sogar noch schlimmer?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „aber ich hoffe es.“ Er wandte sich ab, ging langsam weiter. „Hoffen…“, murmelte er, als wäre es was Abartiges. „Es kann viel passieren, Hizumi. Nächste Woche, morgen, heute, alles kann passieren. Und es muss nicht unbedingt positiv sein.“ „Karyu!“, rief ich verärgert. „Halt endlich den Mund, wenn du so pessimistisch bist!“ „Ich bin nur realistisch“, fauchte er mich an. „Wenn du nicht glaubst, dass es gut wird, warum kommst du dann mit?“, entgegnete ich bissig. Karyu blieb stehen, sein Blick war kalt. „Verdammt“, sagte er gefährlich leise. „Weil ich dich so sehr liebe.“
 

Hatte ich das etwa bezweifelt?
 

„Es… tut mir Leid“, flüsterte ich. „Es ist einfach… Ich hab Angst, Karyu! Um dich… und um uns…“ Er fuhr mir sanft durchs Haar. „Ich bin doch bei dir“, sagte er und ich musste lächeln. „Und ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert“, fügte er hinzu und ich konnte nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen.
 

Enough of the hell, enough of the pain, I won’t let him touch you, I love you…
 

Karyus Hand war an meinem Nacken, er zog mich an sich und küsste mich. Wir verschmolzen völlig in dem Kuss und bemerkten nicht, wie hinter uns plötzlich etwa zehn Menschen aus der Dunkelheit auftauchten. Plötzlich hallte ein Geräusch durch die leeren Straßen, dass Geräusch einer leeren Bierdose die jemand in unsere Richtung gekickt hat und die einige Meter von uns entfernt liegen bleibt. Wir fuhren auseinander, die Blicke in die Richtung gerichtet, aus der das Geräusch kam. Unklar erkannte ich die Silhouetten von den Verursachern. Eine davon kam mir bekannt vor. Sie sah Karyu ähnlich, nur größer und kräftiger…

„Scheiße…“, hörte ich ihn flüstern. Ich wagte kaum mehr zu atmen. Karyus Augen huschten in eine andere Richtung. Wir standen am Ende von einer breiten Straße, von der viele kleine Seitengassen abzweigten, von denen dann wieder neue abgingen, bis sie irgendwann in Sackgassen endeten. Der Weg zurück in den Teil der Stadt in dem man noch auf Menschen hoffen könnte, war blockiert. Wir saßen in der Falle.
 

Needless to say, I’ll stand in your way…
 

„Lauf“, flüsterte Karyu mir ins Ohr. „Lauf Hizumi, so schnell du kannst…“ Ich hatte verstanden. Wir verharrten einige Sekunden wie zwei Statuen, dann ließen wir unsere Taschen fallen und rannten blindlings in eine der Gassen. Hinter uns hörte ich die Schritte unserer Verfolger. Sie schrieen irgendwas, was kann ich nicht hören konnte. Immer wieder jagte mir die Frage durch den Kopf, wie sie uns nur finden konnten. Jemand musste uns verraten haben, aber wer…?
 

Ich hatte keine Zeit, mir weiter Gedanken zu machen. Die Schritte hinter uns kamen näher. Karyu und ich bogen in eine enge Seitengasse ab, liefen sie bis ans Ende durch und gelangten zu einer etwas breiteren Straße. Ich drehte mich um, hörte die Schritte in Entfernung. „Karyu, sie sind hinter uns!“, flüsterte ich panisch. Wir liefen die Straße entlang, lugten vorsichtig in jede Seitenstraße und jeden dunklen Hauseingang, an dem wir vorbeikamen.
 

„Hier rein“, zischte Karyu plötzlich und zog mich am Ärmel in eine der engen Gassen. Sie war vollkommen in Schatten getaucht. Wir kauerten uns hinter ein paar Mülltonnen an die Hauswand, versuchten wieder regelmäßig zu atmen. Meine Lungen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment zersplittern.
 

„Warum“, murmelte ich vor mich hin und auf einmal fingen meine Augen an zu brennen. „Warum, warum…“ In mir zog sich alles zusammen und am liebsten hätte ich geschrieen. Mein Atem klang pfeifend. Karyu zog mich an sich und drückte meine Hand. Plötzlich ließ er sie los und presste mir eine Hand vor den Mund. Reflexartig wollte ich sie weg schlagen, aber er hielt mich fest. Zum Glück, wie ich kurz darauf feststellte, denn in diesem Moment tauchten unsere Verfolger am Ende der Straße auf. Sie schauten in unsere Richtung, aber der Schatten und die Mülltonnen versteckten uns recht gut. Und dann… gingen sie weiter. Eine unglaubliche Erleichterung überkam mich. „Komm“, raunte Karyu und zog mich hoch. Kaum waren wir jedoch ein paar Meter gegangen, ertönte hinter uns ein Schrei.
 

„Da sind sie!“
 

Blindlings rannten wir wieder los, es war egal wie sehr unsere Lungen schmerzten, egal wie unsere Füße und Beine wehtaten oder schon taub wurden, Hauptsache weg. Karyu hielt mich immer noch an der Hand und ich ließ mich von ihm ziehen, in die nächste Gasse.
 

Eine Sackgasse.
 

Wir blieben so abrupt stehen, dass ich fast vornüber gefallen wäre und starrten die blanke Hauswand an, die sich vor uns auftürmte. Eine einsame Straßenlaterne tauchte den Ort in ein unangenehmes Dämmerlicht. „Nein“, flüsterte Karyu und ich hatte nie jemanden ein Wort so voller Angst und Hilflosigkeit aussprechen hören.
 

„Hallo, Bruderherz…“
 

Erschrocken wirbelten wir herum. Karyus Bruder und sieben andere näherten sich uns langsam. Anstatt meine Hand loszulassen, drückte Karyu sie jetzt noch fester. Sein Blick galt ausnahmslos Keita, der ihn feindselig angrinste.

„Ich hab’s doch immer gewusst“, sagte Keita selbstzufrieden. „Du bist nichts als eine verdammte, kleine Schwuchtel.“ Ich riskierte einen kurzen Blick in Karyus Gesicht. Seine Miene war hart, verachtend, aber standhaft. „Woher weißt du es?“, fragte er ruhig. Sein Bruder kam noch etwas auf uns zu, musterte mich kurz abfällig, dann wandte er sich wieder an Karyu. „’n Freund von mir hat euch am Markt beobachtet“, sagt er. „War ziemlich eindeutig.“
 

Am Markt, schoss es mir in den Sinn, da war ich es, der warten wollte… War alles nur meine Schuld? War ich, der immer nur ein friedliches Leben gewollt hatte, nun dafür verantwortlich, dass sie uns doch gefunden hatten?
 

„Du hast erreicht was du wolltest“, sagte Karyu, ohne den Blickkontakt zu Keita zu beenden. „Jetzt hast du uns.“ „Ich hab…“ Keita unterbrach sich und starrte Karyu entgeistert an. „Ich hab erreicht was ich wollte? Ich will verhindern, dass du den guten Namen unserer Familie in den Dreck ziehst!“ Er drehte sich um und ging zu den anderen zurück, die hinter ihm warteten. „Das will ich erreichen!“, schrie er mit einem irren Leuchten in den Augen. „Ich will, dass du dahin kommst, wo du hingehörst, zusammen mit ihm da!“ Abfällig zeigte er auf mich. „Hörst du mich, Karyu?!“, schrie er. „Ich werd euch beiden Kugeln in den Arsch jagen, auf so was steht ihr doch!!“
 

Es war erniedrigend. Warum tat niemand etwas? Natürlich wusste ich, dass uns hier niemand zu Hilfe kommen würde, aber… Was war das für eine Welt…? Ich spürte, dass es enden würde. Dort, in dieser Sackgasse. Und ich konnte nichts tun.
 

I’ll make it stop, I’ll take the shot… For you
 

„Mach mit mir, was du willst”, sagte Karyu und seine Stimme klang immer noch ruhig und fest, kein Anzeichen von Angst. „Aber lass Hizumi in Ruhe.“ Sag so was nicht, dachte ich. Alles in mir war zusammengekrampft. Wenn das ein Traum war, warum wachte ich dann nicht auf… Ich kann mich nicht erinnern, jemals so schreckliche Angst gehabt zu haben. Karyu tauschte einen flüchtigen Blick mit mir aus und ich sah die Angst in seinen Augen, sowie die Wut und denn Hass den anderen gegenüber. Er hatte gesagt, er würde für mich sterben… So wie ich auch für ihn.
 

„Liebend gerne!“, schrie Keita. Seine Stimme klang merkwürdig verzerrt, sein Gesicht glänzte im schwachen Licht der Laterne. Er hatte auch Angst, vielleicht sogar mehr als wir, das fühlte ich. Trotzdem hatte er dieses irre Grinsen im Gesicht, als er sich an einen großen, muskulösen Typ aus seiner Gruppe wandte und sich von ihm etwas geben ließ.
 

Eine Waffe.
 

Er drehte sich um. „So…“, sagte er und lachte dabei. Er ist irre, dachte ich, er ist wirklich verrückt… „Jetzt bekommst du, was du verdienst…!!“ Er zielte mit der Knarre auf Karyu. Seine Hände zitterten. Er hatte schon einen Finger am Auslöser. Sein Gesicht lief rot an und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Zittern wurde stärker, er biss die Zähne zusammen, aber er drückte nicht ab.

„Worauf wartest du?“, fragte Karyu gelassen. Vielleicht war es seine Ruhe, die Keita so fertig machte. Ich glaube, hätte Karyu seine Angst gezeigt, hätte Keita geschossen. Sein Keuchen wurde lauter, schließlich ließ er den Arm sinken und ließ sich auf die Knie fallen. „Ich hasse dich!“, schrie er wie von Sinnen und jetzt war nicht mehr zu überhören, dass er einen Heulkrampf hatte. „Ich hasse dich, hörst du, ich hasse dich…!!!!“ Er brach ab und schnappte nach Luft.

Wir blieben bewegungslos stehen und jetzt kam Leben in Keitas Anhänger. „Feigling!“, rief einer. „Mach schon! Wirst doch wohl nicht kneifen!“, ein anderer. „Verdammt!“, schrie der, dem die Knarre gehörte. „Gib schon her!“ Er stieß die anderen zur Seite und entriss Keita die Waffe. Dieser schien geistig gar nicht mehr anwesend und murmelte halblaut vor sich hin. „Du kannst es vielleicht nicht, ich aber schon!“
 

Ohne lange zu zögern richtete er die Waffe auf mich. Einen Moment lang traf mein Blick den von meinem Gegenüber. In seinem Ausdruck lag Hass. Und… Angst.
 

I’ll take the shot for you…
 

Langsam legte er den Finger auf den Auslöser. Keita richtete sich langsam wieder auf und beobachtete ihn dabei, schien aber nicht zu verstehen, was geschah. Niemand schien es zu realisieren. Kein Geräusch drang mehr an meine Ohren, ich fühle mich wie betäubt. So als hätte mein Geist meinen Körper vorübergehend verlassen. Sollte dies wirklich das Ende sein?
 

I’ll be the shield for you…
 

Der Knall hallte in der engen Straße wieder, verdoppelt und verdreifacht kam das Echo zurück. Die Scheiben in den Fenstern zitterten und plötzlich roch die Luft nach Schwefel und Rauch.
 

„Hizumi! NEIN!!“
 

Ich brauchte einen Moment um zu begreifen dass Karyu es war, der mich auf den Boden stieß. Ich kam hart mit dem Kopf auf und als ich mir an die Stirn fasste, war da etwas Nasses in meinem Haar. Es musste eine Platzwunde sein, aber ich fühlte keinen Schmerz. Ich richtete mich auf, taumelte, fing mich wieder. In meinem Kopf rauschte es. Der Schuss… Dieser Kerl hatte tatsächlich abgedrückt. Aber er hatte mich verfehlt… Langsam drehte ich mich zur Seite und dann sah ich Karyu. Er lag neben mir. Das Gesicht verzerrt, die Arme gegen die Brust gepresst.
 

Needless to say, I’ll stand in your way, I will protect you and I’ll…
 

„Karyu!“ Ich ließ mich neben ihm auf die Knie fallen, griff ihm unter die Arme und richtete ihn etwas auf. Vorsichtig drückte ich seine Hände zur Seite. Sein Hemd war rot. Neben ihm begann sich eine Lache zu bilden, auch sie war rot. Blut. Alles sein Blut.
 

I’ll take the shot for you…
 

„Karyu, hörst du mich…“, flüsterte ich. Er hustete, das Gesicht vor Schmerz zu einer schrecklichen Grimasse verzogen. „H… Hizumi…“, brachte er hervor, öffnete die Augen ein bisschen, sah mich an. „Versprich mir…“, er hustete wieder, es fiel ihm schwer zu sprechen. Jeder Atemzug war eine Qual. Ich nahm seine Hand in meine. „Versprich mir… dass du überlebst-!!“ Seine Stimme brach ab. Ich hatte Tränen in den Augen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich nicht weinen. Ich zog ihn ein Stück höher und nickte leicht, dann küsste ich ihn sanft auf die trockenen Lippen. Karyu lächelte schwach und ich erwiderte es, dann schloss er die Augen und sank auf mir zusammen.
 

I’ll give my live for you…
 

Ich blieb sitzen, streichelte immer wieder über sein Haar. Er sah aus, als würde er schlafen, friedlich, lächelnd, und ich schwor ihm, ich würde überleben. Auch wenn ich dafür jeden einzelnen Anhänger der Gruppe umbringen musste.
 

Langsam stand ich auf und ging ein Stück auf sie zu. Hasserfüllt starrte ich ihn an, den, der Karyu umgebracht hatte. Auch er schien überrascht, dass er tatsächlich geschossen hatte. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ich konnte nicht sprechen. Starrte ihn einfach nur an. Ich merkte, wie einige von ihnen unruhig wurden. Es schien ihnen nicht zu gefallen, plötzlich einen Mörder unter sich zu haben.
 

„Verschwindet!“, schrie ich endlich, mit einer Lautstärke, die ich mir gar nicht zugetraut hatte. „Verschwindet oder ich bring jeden von euch eigenhändig um!!!“ Meine Stimme überschlug sich. Drei wichen ein bisschen zurück, dann rannten sie los und verschwanden in der Dunkelheit. Neben Keita und dem Mörder waren jetzt noch zwei übrig. „Verdammt“, murmelte einer von ihnen zu Keita. „Man, wir ham einen umgelegt! Ich will nich’ hier sein, wenn die Bullen das rauskriegen…“ Er rannte den anderen hinterher und kurz darauf folgte der andere übrig Gebliebene auch. Jetzt waren wir zu dritt… Der Bruder, der Mörder und der Geliebte.
 

I’ll make it stop…
 

„Verschwindet endlich!!!“, schrie ich und diesmal war ich es, der sich wie ein Irrer anhörte. Der Große machte einen Schritt rückwärts, er schien auch weg zu wollen. Die Fassungslosigkeit stand ihm unübersehbar im Gesicht. Das sollte er erstmal verkraften. Keita jedoch blickte an mir vorbei zu Karyus leblosem Körper. Dann ging er los, stieß mich dabei zur Seite und kniete sich neben ihn.

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie ich und war sofort wieder neben ihm. „Du wolltest ihn umbringen! Tu nicht so, als würde es dir Leid tun!!“ Erschrocken fuhr er hoch, ging rückwärts zu dem anderen zurück, den Blick starr auf Karyus toten Körper geheftet. „Verschwindet, sofort“, sagte ich mit ruhigerer Stimme. Keita taumelte rückwärts. „Die Waffe!“, forderte ich den Kerl auf, der geschossen hatte. Er warf sie mir ohne weiteres vor die Füße, seine Hand zitterte. Ich hob sie auf und richtete sie auf ihn. „Ihr habt nichts als den Tod verdient“, sagte ich und sie stolperten panisch ein paar Schritte rückwärts. Ich legte den Finger auf den Auslöser und schoss zweimal in die Luft. Panik packte sie und sie rannten, so schnell wie sie konnten, aus Angst ich würde sie erschießen. Aber das hätte ich nicht getan. Das hätte mich zu einem von ihnen gemacht.

Die Waffe entglitt meiner Hand, ich setzte mich wieder neben Karyu und schaute ihn an. Dann brach ich über ihm zusammen und endlich konnte ich weinen.
 

I'll take the shot…for you.
 

Ich habe die Stadt nicht verlassen. Ich habe so weiter gelebt wie früher, weil ich es Karyu versprochen habe. Es vergeht kein Tag, an dem ich in Gedanken nicht bei ihm bin. Ich werde die Schuldgefühle mein Leben lang mit mir tragen, das weiß ich. Ich habe die Waffe nicht gehalten und ich konnte nicht ändern, dass wir in diese Welt hinein geboren wurden, die von Hass und Intoleranz regiert wird, aber ich habe Karyu mit meiner Liebe getötet und mit dem Wunsch nach Frieden.
 

Den Mörder haben sie gefasst und ins Gefängnis gebracht. Er sagt, er hätte unter Zwang gehandelt, aber niemand hat es geglaubt. Er wird von einem Psychologen behandelt, da er einen Schock erlitten hat und nicht mehr bei Sinnen ist. Er war einundzwanzig, zu jung für einen Mörder. Die anderen habe ich nie wieder gesehen. Keita hat die Gruppe wieder aufgegeben, was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn seit jenem Vorfall nicht mehr gesehen.
 

Er kam nicht zu der Beerdigung.
 


 


 

*~*~*~*~*~*~*
 

Anm. der Autorin...

Also, geschrieben hab ich diese Geschichte schon vor anderthalb Jahren und zwar innerhalb von vier Stunden oder so. Wie bereits erwähnt basiert sie auf dem Song Shot von The Rasmus, einem Song den ich persönlich sehr genial finde. Nicht nur vom Text her. Aber auch der Text hat mich fasziniert und deshalb wollte ich eine Geschichte schreiben, die auf diesem Song basiert. Damals waren meine Protagonisten noch nicht Karyu und Hizumi, das habe ich erst vor kurzem geändert... (Vergib mir, Karyu!!!!)

Karyus Bruder Keita ist übrigens von mir frei erfunden.

Ich hoffe, es hat euch gefallen!

Eure ergebene Ryuichi

<3



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Mon-Marshy
2007-01-07T16:27:12+00:00 07.01.2007 17:27
wäh, shasu, die is ja schrecklich schön T__T
Von: abgemeldet
2007-01-07T15:43:54+00:00 07.01.2007 16:43
*kurz vor dem heulen ist*
Wow mich hat ne Geschichte noch nie so berührt wie deine. Das war echt super^^
Hut ab *verbeug*


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