Kap.2
Christian grinste Tore an, als sie, nachdem sie ihn noch einmal umarmt
hatte, mit seinem Großvater im wahrscheinlich überheizten Wohnzimmer, durch
das man zur Küche gelangte, verschwand. "So, wie ich dich kenne, hat sie da
den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Wunder, dass du die Autofahrt noch
überlebt hast. Komm."
Das Zimmer, in das er Tore über eine Wendeltreppe nach oben brachte, war
nicht besonders groß und recht dunkel, dafür aber viel zu warm. Der
hellbraun gefleckte Teppich war vom Alter ausgetreten, aber sauber. Ein
Schrank aus dunklem Holz stand links der Tür, daneben eine Kommode. An der
Wand über dem großen, weißbezogenen Bett hing die gerahmte Kohlezeichnung
eines alten Fachwerkhauses. Schwere, braune Vorhänge, die mehr dem Schmuck
als einem anderen Zweck dienten, reichten bis fast auf den Boden.
"Uh, Oma hat wieder übertrieben. Schön kuschelig warm hier." Christian
lachte. "Richte dich ein, ich bin direkt nebenan. Das Bad gegenüber steht zu
deiner freien Verfügung und ist an dem netten, pausbäckigen Jungen mit dem
Pinkeltopf auf der Tür zu erkennen. Komm einfach rüber, wenn du fertig bist,
dann können wir wirklich noch mal raus."
Tore riss erst einmal das kleine Fenster auf und regelte die Heizung auf ein
Minimum. So wie die Daunenbetten aussahen, würde er sicherlich auch auf dem
Schnee noch warm darunter schlafen können. Als nächstes warf er ein T-Shirt
und eine weite, lange Hose auf das Bett und räumte Pullis und Hosen in die
Fächer des Schrankes, bevor er seine Skihose aufhängte und die warme
Unterwäsche in der Kommode verschwinden ließ.
Mit einem missmutigen Gesichtsausdruck versteckte er die Kondomschachtel aus
der Waschtasche unter seinen Socken in der zweiten Schublade. Er hatte doch
eigentlich etwas ganz anderes vorgehabt. Seufzend brachte er seinen
Kulturbeutel im braun gekachelten Bad unter, wo er sich gleich ein wenig um
seine Frisur kümmerte. Mit etwas Wasser und Energie befreite er die Haare
von dem meisten Gel und versteckte sie dann unter einem rot-grün kariertem
Tuch, das er im Nacken fest zuknotete.
Dann kehrte er noch einmal ins Zimmer zurück und leerte zwei Bücher über
Jugendpsychologie, einen Block und Stifte auf den Fußboden neben das Bett.
Lächelnd setzte er als letztes einen abgegriffenen, weichen Stofftroll mit
rotem T-Shirt und violetten Wuschelhaaren zu den Schlafsachen auf das Bett.
Er erinnerte sich, wie einer seiner Schützlinge auf dem ersten Jugendcamp
ihn in seine Tasche geschmuggelt hatte. Der Troll war von dessen Mutter
handgenäht, das hatte Tore einmal erfahren, als er ihn bewundert hatte, um
zu verhindern, dass andere Jungs sich lustig machten.
Als Tore entsetzt darüber sogar zu dem Wohnhaus des Jungen gefahren war, um
den Troll zurückzugeben, hatte die Mutter des Jungen schlicht gesagt, dass
ihr Sohn den Troll gegen seine Angst vor dem Dunkeln gehabt hatte und sehr
offensichtlich keine Angst mehr habe.
"Behalten sie ihn für den nächsten Jungen, der sich im Dunkeln fürchtet",
hatte sie gesagt und Tore wusste, dass der Junge und vielleicht auch sie
bereits wussten, dass er ihn selber würde brauchen können, mehr als jeder
andere. Nur, dass das Dunkel, vor dem er sich fürchtete, nicht außerhalb
lag, sondern in ihm.
Hastig wendete er sich ab und nahm seine Handschuhe und die dicke Jacke auf,
um damit zu Christian nach nebenan zu gehen, so dass sie sich die Umgebung
ansehen konnte. Er brannte darauf, sich auszutoben.
Auch in Christians Zimmer stand das Fenster sperrangelweit offen, was zur
Folge hatte, dass sich die Temperatur langsam einem normalen Maß näherte.
Christian warf gerade seinen leeren Koffer auf den Schrank aus hellem
Birkenholz, während Nathan, der auf dem Bett saß, mit einer Hand seinen Hund
streichelte.
Er grinste Tore an, als dieser reinkam, registrierte das rot-grünkarierte
Tuch und befand im Stillen, dass es ihm wesentlich besser stand als die
Spikes, nicht, dass er ihm das jemals sagen würde. "Gar gekocht? Ich hatte
die Heizung runtergedreht, bevor ich gefahren bin, um euch zu holen. Aber
Oma scheint gedacht zu haben, ihr werdet erfroren sein, nach der langen Zug-
und dann noch einer Autofahrt."
"Das liegt nur daran, weil sie selber so leicht friert." Christian streckte
sich mit einem Gähnen. "Ich empfehle dir, ein T-Shirt anzuziehen, wenn wir
essen nachher. Das Wohnzimmer kocht genauso. Bist du fertig?"
Tore nickte nur und lockte die hechelnde Hündin zu sich. Grinsend strich er
ihr die Ohren platt an den Kopf und stellte fest, dass Hunde alle gleich
waren. Sie schloss die Augen und leckte ihm einmal durchs Gesicht. Das Licht
draußen wurde gerade leider trüber, und so sprang er gleich wieder auf und
ging aus dem Zimmer. "Dann mal los, bevor es wieder schneit, schaut mir ganz
danach aus."
"Ich mag Schnee auch dann, wenn er noch fällt." Christian grinste, griff
nach seiner blauen Jacke und folgte Tore. Fast zwei Stunden stapften sie
durch das verschneite Dorf, lieferten sich eine wilde Schneeballschlacht,
die nach kurzem Waffenstillstand in eine zweite überging, diskutierten
Professoren und Seminare durch und kamen schließlich ein wenig aufgeweicht
und mit roten Wangen wieder zurück.
Tore fühlte sich zwar ein wenig verfroren und kaum, dass sie den deutlich
wärmeren Flur wieder betraten, auch noch rotgesichtig, aber sein Körper
bedankte sich für die Bewegung und die frische Luft. Im Hausflur schlug
ihnen gleich der Duft von Suppe entgegen, und dies erinnerte Tore daran,
dass sein Magen auch nicht gerade verwöhnt worden war. Doch zunächst mussten
Christian und er aus den Sachen, auch wenn die kleine Oma schon aus der
Küchentür geschossen kam und sie für ihre Pünktlichkeit zum Essen lobte.
Schnell rannte Tore hinter Christian die Treppen zu dem kleinen Zimmerchen
hoch und zerrte sich die Kleidung vom Körper, um sie über einen Stuhl zu
hängen, den er vor die nun angenehm warme Heizung stellte.
Nur noch mit seiner roten, engen Lieblingsshorts und einem orangefarbenes
T-Shirt bekleidet stand er vor dem Schrank und überlegte, welche Hose er
anziehen sollte, als die Oma von unten her rief, dass das Essen auf dem
Tisch stände und sie sich die Hände waschen sollten. /Wie bei meiner Oma.
Wasch dir die Hände, kämm dir die Haare. Wie sieht du nur aus, Junge! Hast
du kein ordentliches Oberhemd für den Sonntag?/
Er grinste und strich das Hemd entlang. /Ordentliches Oberhemd und
ordentliche Hose, check. Immerhin werden die mit Sicherheit zur Kirche
gehen, und da muss ich mit./
Sein Hunger und die gebührende Höflichkeit trieben ihn dann jedoch an.
Hastig zog er sich seine olivegrüne Cargohose mit reichlich Taschen an den
unmöglichsten Orten an, zurrte sie recht niedrig mit einem Gürtel auf seinen
schmalen Hüften fest und stürmte dann sogar vor Christian noch die Stiege
hinunter, um zu sehen, ob er vielleicht den Tisch decken helfen konnte.
Nathan verteilte gerade Besteck neben Tellern mit blauem Zwiebelmuster, als
die Tür geöffnet wurde und jemand mit einem angenehm kühlen Windhauch in den
Raum kam. Dunja bellte einmal kurz zur Begrüßung, was Nathan den Kopf heben
ließ. Einen kurzen Moment lang schaute er Tore an, um sich dann wieder den
Löffeln und Gabeln zu widmen.
/Fehler in der ersten Einschätzung/, dachte er bei sich und seufzte lautlos.
Mit den von frischer Luft und Kälte geröteten Wangen und dem kleinen
Grinsen, das seinen etwas schmolligen Mund umspielte, sah Tore trotz der
Piercings wirklich gut aus. Nathan korrigierte seine Liste der attraktiven
Männer, die Christian magisch anzog, um eins nach oben.
"Kann ich helfen, oder bin ich schon zu spät?" Unsicher streifte Tore den
Wohnraum mit einem Blick und bemerkte mit einem kleinen Lächeln, dass sich
eine Katze faul vor dem Kachelofen ausstreckte.
"Du kannst noch Gläser holen, wenn du magst." Nathan wies auf einen Schrank
in der Ecke, über dem eine große Uhr hing. "Oma trinkt Wasser; Chris, Opa
und ich werden uns wohl am Bier festhalten. Magst du auch eins?"
Tore überlegte einen Moment lang, dann nickte er und ging zu dem Schrank, um
die Gläser vor den Tellern zu verteilen. Der Großvater kam zugleich mit
Christian in den Raum und setzte die Suppenterrine in der Mitte ab. Seine
Frau stellte einen Brotkorb dazu und zeigte Tore, auf welchem Platz er
sitzen würde. Neben Chris und Nathan gegenüber.
Sie beteten kurz und routiniert, dann wurde eine Weile lang schweigend
gegessen, bis die Großmutter mit den Fragen begann. Chris musste vom Studium
erzählen und von seiner freundlichen Freundin; und Tore musste eine Reihe
Fragen beantworten. Er musste noch einmal berichten, wie es dazu gekommen
war, dass er weder bei seinem Vater, noch seiner Mutter, beide geschieden
und neu liiert, das Fest verbringen würde.
Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber schob die Schuld dennoch voll
auf seine Eltern, indem er knapp erzählte, dass diese sich nicht
abgesprochen hatten und jeder ihren Sohn beim anderen vermutete. Um von sich
abzulenken, lobte er erst das Essen und fragte dann nach den lokalen
Bräuchen zum Weihnachtsfest.
Nathan sprach fast gar nicht, sah jedoch immer wieder zu Tore hin und nutzte
die Gelegenheit, als dieser die zahllosen Fragen beantworten musste, um ihn
aufmerksamer zu betrachten. Tores Gesicht war eine Mischung aus weich und
eckig, was ihn faszinierte und den anderen Mann interessanter machte, als es
klassische Schönheit bewirkt hätte. Das kleine, spitze Kinn stand in
Kontrast zu seinen weichen Lippen, die grauen Augen, von geschwungenen
Wimpern umrahmt, und die bogenförmigen Brauen zu den Wangenknochen und der
schmalen Nase. Blonde Haare suchten sich ihren Weg an den Ohren - trotz der
Ringe sehr hübschen Ohren - unter dem Tuch hervor, das er nach wie vor trug.