Zum Inhalt der Seite

Parasitäre Lebensform

Schuldig & Aya
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Übergabe

Aya saß auf einer der Bänke, die in dem schmucklosen Laderaum des schwarzen Transporters angebracht waren. Ihm gegenüber saß der Leiter der Wachmannschaft, ein sehniger Mann unbestimmbaren Alters, der ihn vorhin mit leicht irritiertem Blick aufgefordert hatte, hier einzusteigen.
 

Im Moment wirkte er aber kein bisschen misstrauisch, wie Aya beruhigt feststellte. Er sah zwar mit über Jahren antrainierter Wachsamkeit aus dem dunkel getönten Heckfenster des Wagens, um eventuelle Verfolger frühzeitig zu bemerken, wirkte aber ansonsten entspannt. Da war auch nichts. Die Straße, die sie hinter sich ließen, tauchte schon nach wenigen Metern wieder ins Dunkel ein, ohne dass die Lichter eines anderen Wagens dieses monotone Bild zerstört hätten.
 

Auch die anderen Securities wirkten nicht angespannt. Wieso auch, dieser Auftrag war schließlich nicht gefährlich. Eine Übergabe, ein Mord, ein Exempel, mehr war das nicht. Und das Kopfgeld war nicht schlecht.

Es waren keine Schwierigkeiten zu erwarten, sie waren ja in der Überzahl. Sechs Männer hier im Wagen und zwei weitere in Kaikes Limousine, die vor ihnen fuhr. Eigentlich ein Sicherheitsrisiko, dass Kaike mitkam, aber er hatte sich nicht davon abhalten lassen. Aya hatte den begründeten Verdacht, dass Kaike persönlich etwas gegen Schuldig hatte.
 

Also acht gegen zwei, wenn Aya Kaike mitrechnete. Aber die Chancen standen gut, Schuldig und er hatten noch einige Trümpfe im Ärmel, mit denen Kaike nicht rechnete. Und sie waren beide besser ausgebildet als diese Wachleute. Im Notfall traute Aya es sich zu, auch ohne sein Katana und nur mit diesem kleinen Dienstrevolver bewaffnet, mit dreien von ihnen fertig zu werden.
 

Ohne diesen kleinen Winkelzug und die Sprengsätze würde er ihre Überlebenschancen trotzdem deutlich geringer einschätzen.

Was sollte Kaike denn davon abhalten, sie einfach über den Haufen schießen zu lassen, wenn sie so blöd wären, nicht wenigstens für Verwirrung zu sorgen?
 

Der Wagen rumpelte durch eine Reihe von Schlaglöchern, an die sich Aya von der Autofahrt heute Vormittag noch erinnern konnte - allerdings erinnerte er sich an die gefederte Polstersitzversion davon. Egal, ihm konnte es nur Recht sein, wenn Kaikes Leute schon durch die Fahrt kampfunfähig waren.
 

Jedenfalls mussten sie jetzt kurz vor der Brücke sein. Anderthalb Stunden zu früh, wahrscheinlich wollte Kaike ihnen eine Falle stellen. Nun, das würde nicht klappen - zumindest sofern Schuldig es geschafft hatte, sich loszueisen und nicht immer noch sinnlos bei Kaike Grundstück rumlungerte. Aya lächelte innerlich. Vielleicht auch äußerlich, er wusste es nicht genau, aber in dem dunklen Laderaum war das auch nicht so wichtig.
 

Er war froh gewesen, als er Schuldigs Stimme gehört hatte, erleichtert. Erst da war ihm klar geworden, dass er sich tatsächlich Sorgen gemacht hatte, während das Gelände durchsucht wurde.

Natürlich war diese Sorge völlig albern. Schuldig kannte sich auf Kaikes Grundstück einigermaßen aus und war zudem noch Telepath, ein Killer, dem nicht mal Weiß beigekommen war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas passierte, war also praktisch null. Trotzdem - er war froh gewesen.
 

Der Wagen hielt und Aya stieg zusammen mit den anderen Männern aus. Es war kalt und dunkel, nur ein Teil der Brücke schälte sich, von drei Scheinwerferpaaren erhellt aus der Finsternis und schien in der schwarzen Nacht zu schweben. Das Rauschen des Wassers erschien Aya viel lauter als heute Vormittag.
 

Dann sah er zu Schuldig herüber. Der Deutsche lehnte gegen die Fahrertür des Wagens, halb im Dunklen, und strahlte eine Arroganz und Überlegenheit aus, die jeden Gegner - Aya wusste das aus eigener Erfahrung - zur Weißglut treiben und unvorsichtig machen konnte.
 

Offenbar war auch Kaike gegen diese Wirkung nicht gefeit, denn er machte einige unbeherrschte Schritte nach vorn, was die Wachleute sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Über den Lauf seiner Waffe hinweg sah er Schuldig zornig an. "Nenn mir einen verdammten Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle abknallen sollte, du mieser, kleiner Ganove!"
 

~*~
 

"Scheiße, ist das kalt!" Hastig zog Omi seinen Fuß aus dem eiskalten, schlammigen Wasser und setzte seinen Weg am Ufer des Flusses entlang fort.

"Was zur Hölle machen die auch auf einer Brücke?", murmelte Ken.

"Und mitten im Nirgendwo.", ergänzte Yohji.
 

Nach etwas über einer Stunde, hatte es so ausgesehen, als hätte sich das Warten gelohnt. Kaike verließ seinen Wohnsitz mit relativ wenigen Bodyguards und fuhr nicht Richtung Innenstadt, was einen Hit wegen der vielen Menschen schwierig, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte, sondern sogar ganz aus Tokyo heraus.
 

Es war schwierig gewesen, den zwei Fahrzeugen auf den abgelegenen und wenig befahrenen Straßen unauffällig zu folgen, aber dass es schon dunkel war, war von Vorteil gewesen. Dann hatte Kaike eine Absperrung umfahren und Yohji hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet und war in großem Abstand gefolgt. Nach einiger Zeit hatten sie dann schon von Weitem die Lichter auf der Brücke gesehen und waren von der Straße abgebogen.
 

Inzwischen waren sie unter der Brücke angelangt. Das Wasserrauschen übertönte ihre Geräusche als sie geduckt die Böschung hinauf stiegen und Deckung hinter den ersten großen Brückenpfeilern nahmen.

Das nächste Auto, ein schwarzer Transportwagen, stand im Abstand von etwa zehn Metern. Insgesamt waren es drei Wagen, die auf der Brücke geparkt waren. Kaikes silberne Limousine stand wenige Schritte vor dem Transporter, in großem Abstand dahinter blendete sie der dritte Wagen mit seinen Scheinwerfern.
 

Ken deutete mit fragender Miene auf die gegenüber liegende Straßenseite, von der aus man die Szene wahrscheinlich besser überblicken konnte. Omi nickte und die drei kletterten die Böschung wieder herunter, um auf die andere Seite der Brücke zu gelangen, ohne gesehen zu werden.
 

Von hier aus konnten sie alles sehen, was sich auf der Brücke abspielte.

Das dritte Auto hatte Omi heute schon gesehen. Die gut sichtbaren Lackkratzer auf den Seiten zeugten ebenso von der Fahrt durch den Wald wie die Gestalt, die neben dem Wagen stand. Schuldig. Diese Nervensäge lief ihnen in letzter Zeit ganz klar zu oft über den Weg. Aber von Aya war nichts zu sehen. Wenn sie mit Kaike fertig währen, würden sie sich den Telepathen vorknöpfen. Und gnade ihm Gott, wenn der nicht wahnsinnig gute Nachrichten über Ayas Verbleib hatte!
 

Omi machte ein Handzeichen auf die Bodyguards, die seitlich und kurz hinter Kaike standen, und zeigte auf sich und Ken. Dann wies er Yohji Kaike zu. Die beiden nickten.

Einer der Wachleute stand etwas abseits. Nicht so, dass es auffiel, aber sein Tod würde vielleicht erst mal am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Nur einige Sekundenbruchteile, aber auf die kam es meistens an.
 

Omi visierte ihn an, das leise metallische Kratzen, das Kens Bugnukklingen beim Ausfahren machten, im Ohr. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Gestalten von Ken und Yohji leicht duckten, bereit in der nächsten Sekunde loszuschlagen.
 

Weiß griff an.
 

~*~
 

"Nenn mir einen verdammten Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle abknallen sollte, du mieser, kleiner Ganove!"

Schuldig sah seinem wütenden ehemaligen Brötchengeber direkt in die Augen. Menschlich gesehen hatte Kaike nicht viel zu bieten, aber die Art wie er seine Geschäfte machte, hatte Schuldig schon eine Art widerwilligen Respekt abverlangt. Dass er bei dieser Übergabe ein Kopfgeld aus ihn ausgesetzt hatte, zum Beispiel, war - nun ja, nicht unbedingt clever, aber es zeugte doch von Stil. Es war amüsant zu sehen, wie dieser skrupellose Verbrecher wegen ein paar kaputter Möbel und einer kleinen Erpressung so austickte. Nun ja, er hatte eben einen Hang zum Materialismus.
 

Schuldig grinste noch breiter, sich der Wirkung, die das auf Kaike haben musste, wohl bewusst. "Erstens wäre es für dich wohl eher unangenehm, wenn die Infos, die ich hier habe, an die Polizei gingen - und die werden sie bekommen, wenn ich das hier nicht überlebe! Du glaubst doch nicht wirklich, ich wäre so dumm oder lebensmüde, mich nicht abzusichern.

Und zweitens", Schuldig, dessen Gesicht während der letzten Worte ernst geworden war, erneuerte das Grinsen, "könnte ich ja schlecht dein Geld ausgeben, wenn ich tot wäre. Das wäre schon ziemlich ärgerlich für mich."
 

Einen Moment lang wirkte Kaike so, als würde er tatsächlich schießen, und Schuldig machte sich schon darauf gefasst, der Kugel auszuweichen, doch dann ließ der Yakuza knurrend die Waffe sinken. "Du wirst nicht lange Freude an dem Geld haben!", drohte er.

Schuldig stieß sich vom Wagen ab und näherte sich einige Schritte. "Oh doch, ich glaube schon.", meinte er feixend. "Und während du ab und an an mich und meine Kopie der Daten denken wirst, werde ich irgendwo in der Sonne liegen, Caipis schlürfen und keinen Gedanken mehr an den edlen Spender verschwenden."
 

"Und was sind dann meine Sicherheiten?", schnaubte Kaike.

"Du hast mein Ehrenwort.", grinste Schuldig. Kaike setzte zu einer Erwiderung an, aber Schuldig unterbrach ihn, nun ohne jede Spur von Humor. "Das wird dir reichen müssen.", fauchte er. "Ich habe keine Lust auf dieses Affentheater. Diese Scheiße hier dauert schon viel zu lange. Bis jetzt hatte ich ja viel Geduld mit dir, aber ich rate dir, dich nicht mit mir anzulegen! Rück das Geld raus, verpiss dich und zock deine Gangster ab.", zischte er gefährlich.
 

Der Ton schlug an. Kaike zögerte nur noch einen Moment, dann gab er ohne die Waffe sinken zu lassen ein Zeichen und einer der Bodyguards holte eine große, dunkelblaue Sporttasche aus der Limousine.

Misstrauisch überprüfte Schuldig den Inhalt in den Gedanken der Anwesenden. Er runzelte verärgert die Stirn. "Versuch nicht, mich zu verarschen! Ich will die rich-"

Er verstummte plötzlich. Sein Blick ruckte nach rechts, an den Autos vorbei in die Dunkelheit. Die Gedanken von Weiß, die gleiche Szene aus einer anderen Perspektive, die Verteilung der Wachleute. Einer stand etwas abseits.

"RAN, HINTER DIR!"
 

~*~
 

Die Warnung kam zu spät, um Sekundenbruchteile. Omi erkannte den Mann in der Uniform in dem Moment in dem er den Namen hörte, konnte den Dart aber nicht mehr aufhalten.

Er kämpfte das Entsetzen nieder. Es dauerte nur einen Wimpernschlag. Omi schloss die Augen, Bombay öffnete sie. "Angriff."

Weiß stürmte vor.
 

~*~
 

Aya beobachtete wie sich Kaike und Schuldig gegenüberstanden. So wie es aussah, ging alles glatt. Schuldig wirkte so selbstsicher und gefährlich als er Kaike drohte... Aya musste sich zwingen, ihn nicht anzustarren.

Er war so völlig anders. Er war so wie er früher gewesen war. Wenn Aya ihn so sah, loderte alter Hass wieder auf, schwach nur im Vergleich zu damals, aber vorhanden. Und gleichzeitig fühlte er sich von der Selbstsicherheit, der Gefahr, der unterschwelligen Bedrohung, die Schuldig auszustrahlen schien, angezogen.
 

Er war aufgewühlt, konnte sich nicht wirklich auf den Wortwechsel konzentrieren. War Schuldig noch der Gleiche wie früher? Oder hatte er sich geändert? Hatte Aya ihn zu Zeiten von Weiß verkannt, weil er der Feind war? Oder vertraute er ihm jetzt zu leichtfertig? Kannte er diesen Mann eigentlich? Glaubte er nur, ihn zu kennen? Machte Schuldig ihm etwas vor oder dem Rest der Welt?
 

Schuldigs Schrei riss ihn brutal aus seinen Gedanken. Seine Reflexe waren über Jahre trainiert und er hatte sich schon umgedreht und war verteidigungsbereit, noch ehe ihm die Worte wirklich bewusst wurden.

Er erkannte Weiß, wurde aber im selben Moment von einem schweren Gewicht von den Füßen gerissen.
 

Er schlug auf den Asphalt, einer der Securities lag auf ihm, ein vergifteter Dart ragte aus seinem Hals. Schnell schob Aya ihn weg und sprang auf die Füße.

Weiß kämpfte, aber ihre Lage war nicht gut, Schuldigs Schrei hatte die Mannschaft gewarnt und einige der Männer hatten sich hinter den Autos verbarrikadiert.
 

Schuldig stand mit leerem Blick in Richtung Aya da, dann blinzelte er und schickte Aya ein erleichtertes Lächeln. Er stand völlig ohne Deckung und in der nächsten Sekunde waren mehrere Läufe auf ihn gerichtet. Egal wer die Unbekannten waren, die da angriffen, das Kopfgeld wollte man sich nicht entgehen lassen.
 

Aya griff nach der kleinen Fernbedienung in seiner Tasche und zündete die Sprengsätze.
 

Der Effekt übertraf alle Erwartungen. Für eine Zehntelsekunde war es taghell, es knallte, Aya wurde von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert. Mehrere Schüsse lösten sich, gingen aber in der Explosion oder im darauf folgenden metallischen Kreischen der Brückenpfeiler unter. Aya schlug mit dem Hinterkopf auf die Straße auf und verlor das Bewusstsein.
 

~*~
 

Yohji erreichte Kaike als dieser gerade in seinen Wagen flüchten wollte und erdrosselte ihn. Einen Herzschlag später ließen die Explosionen die Brücke erzittern. Ohrenbetäubendes Krachen überschwemmte den Kampflärm. Instinktiv sprang er hinter das Auto, um sich zu schützen. Als er sich Augenblicke später aufrappelte, waren die meisten der Wachleute bewusstlos, einige hatten Ken und Omi schon vor der Detonation getötet.
 

Alles wirkte unnatürlich still. Der Untergrund schwankte verdächtig und Yohji bezweifelte, dass die Brücke noch lange stehen würde. Was zur Hölle war da explodiert?

Er sah sich nach Ken und Omi um. Der Jüngste hatte sich über einen der Securities gebeugt, der bewusstlos auf dem Boden lag. Yohji beeilte sich herüber zu kommen und erkannte Aya, als Omi dem Mann die Mütze abstreifte.
 

Er fragte nicht weiter nach, obwohl schon allein Ayas Aufzug einige Fragen aufwarf, und beeilte sich mit Omi zusammen ihren ehemaligen Leader von der ächzenden Brücke zu tragen.

"Was ist mit dem Schwarz?", fragte er, als sie Aya einige Meter entfernt auf dem Boden ablegten.
 

"Ich weiß nicht." Omi sah zur Brücke zurück. "Lass uns nachsehen. Vielleicht..." Er beendete den Satz nicht, wurde von dem Krachen des brechenden Stahlbetons unterbrochen. Atemlos sah er zu, wie der Mittelteil der Brücke scheinbar träge nach links wegbrach und Kaikes silberne Limousine in den Fluss rollte. Der Stahl kreischte, Wasser spritzte hoch, dann war alles still.
 

"Ich glaub nicht, dass es sicher ist, da rauf zu gehen.", kommentierte Yohji, als sie eine Weile nur schweigend dagestanden hatten. "Ich kann ihn auch nirgendwo sehen."

"Wie ist das passiert?", fragte Ken, der jetzt neben ihnen stand. Yohji zuckte nur ratlos die Schultern.

"Wow", Omi schüttelte den Kopf. "wenn man so was mal in echt sieht..."

Yohji hatte das Gefühl, der Kleine stand unter Schock. "Lass uns Aya ins Krankenhaus bringen."
 

~*~
 

Ein Pfeifen drang durch die Schwärze und weckte ihn. Konnten die das nicht ausmachen? Das hielt ja kein Mensch aus. Sein Kopf dröhnte und sein Hinterkopf fühlte sich an, als ob...

ach ja, richtig. Wie nach einem Zusammenstoß mit einer Straße. Er erinnerte sich wieder. Nicht dass es ihm dadurch in irgend einer Weise besser ging.

Das Pfeifen wurde schwächer, zu einem nervigen Piepen.
 

Neben seinem Bett saß jemand, da war er sich sicher. Woran er das gemerkt hatte, konnte er nicht genau sagen. Er drehte den Kopf, was mit neuerlichen Schmerzen verbunden war, und öffnete die Augen. Viel zu helles Licht. Keine feuerroten Haare.

"Yohji", stöhnte er. Sein Kopf fiel wieder zurück und er versuchte die Übelkeit niederzukämpfen, die bei der Bewegung aufbrandete.
 

"Enttäuschend, nicht wahr?", meinte Yohji trocken. "Gott, ich hab ja nun wirklich nicht mit Begeisterung gerechnet, aber du sagst das, als wäre es ein Verbrechen von mir, hier zu sein."

Aya ersparte sich eine Erwiderung. Dass Yohji dort saß, war zwar tatsächlich enttäuschend, aber dafür konnte er ja nichts. "Wo ist Schuldig?" Seine Stimme klang so ähnlich, wie er sich fühlte - irgendwie zerschlagen. Absolut beschissen, würde Schuldig wahrscheinlich sagen.
 

Yohji warf Aya einen halb neugierigen, halb besorgten Blick zu. "Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht mal, ob er noch auf der Brücke war, als sie einstürzte. Heute Morgen nach Sonnenaufgang waren Omi und Ken noch mal da, aber sie haben nichts gefunden, nicht ein einziges oranges Haar."
 

Aya schwieg einen Moment, fühlte sich auch nicht wirklich in der Lage zu sprechen. Die Brücke war eingestürzt? Omi und Ken hatten nach Schuldig gesucht... "Warum habt ihr -?", er brach ab und schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Vielleicht wäre ihm nicht mehr so schlecht, wenn er sich aufsetzen würde. Er machte einen Versuch, aber ihm wurde schwindlig und er wollte gerade aufgeben, als Yohji ihm half und ihm das Kissen nach oben, hinter den Rücken zog.
 

"Warum wir ihn gesucht haben? Ich weiß nicht genau. Omi hat darauf bestanden, er meinte, Schuldig hätte dir das Leben gerettet."

Sie hatten nichts gefunden. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Aya hoffte, dass es ein gutes Zeichen war. Fast hätte er aufgelacht. Es war zum verrückt werden. Eine Woche, und er konnte sich nicht vorstellen, Schuldig vielleicht nie wieder zu sehen.

Er versuchte, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren, suchte nach fremden, die er vielleicht nur überhört hatte, aber alles was geschah war, dass ihm die Kopfschmerzen deutlicher bewusst wurden. Aber abgesehen davon wurde es besser. Ihm war auch nicht mehr ganz so übel.
 

"Was ist das für ein Pfeifen?"

"Das haben wir alle.", Yohji grinste schief und tippte sich ans Ohr. "Der Arzt meinte, es geht von alleine weg. Bei Omi hat's schon vor einer knappen Stunde aufgehört. Was war das für ein Teufelszeug, das da explodiert ist?"

"BANG Incorporated, nebenbei gebastelt, nur so fürs Privatvergnügen.", meinte Aya sarkastisch.

"Ihr habt die Brücke gesprengt." Aya hatte keinen Schimmer, wie Yohji das meinte, aber diesen Hauch von Anerkennung musste er sich wohl eingebildet haben.
 

Es klopfte und Birman kam herein. "Ich sehe, er ist aufgewacht. Könnte ich kurz allein mit ihm sprechen?"

Yohji warf Aya einen fragenden Blick zu, aber der reagierte nicht. Also ging er mit einem Schulterzucken und einem Lächeln in Birmans Richtung.
 

Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, schwieg die Kritikersekretärin noch einen Moment, dann trat sie einen Schritt näher und lächelte gewinnend. "Ich weiß, du hattest gute Gründe, Kritiker zu verlassen. Aber wir verzichten ehrlich gesagt nur sehr ungern auf einen unserer besten Leute. Wir würden uns freuen, wenn du deinen Entschluss angesichts der neuen Situation noch mal überdenken würdest."
 

Aya schüttelte vorsichtig den Kopf. "Da gibt es nichts zu überdenken. Und so neu ist die Situation auch nicht." Er zögerte, wog den nächsten Satz ab. "Ich will mein Leben nicht verschwenden."

Birman sah ihn nachdenklich an. Sicher, sie war kühl, regelrecht berechnend manchmal, aber nicht ohne Verständnis. Sie setzte sich neben das Bett, auf den Stuhl, auf dem eben noch Yohji gesessen hatte. "Denkst du das wirklich? Hier kämpfst du doch für eine gute Sache. Ist das Verschwendung? Wenn du es dir richtig überlegst, dann ist das doch viel sinnvoller, als irgendwo einfach nur zu arbeiten."
 

Aya starrte sie an. Sie hatte recht, natürlich, aber es war trotzdem nicht das Richtige. Er fragte sich nur nebenbei, wie es kam, dass er dieses Gespräch schon wieder führte.

"Hier kannst du wirklich etwas bewirken. Ihr kämpft für eine bessere Welt. - Ich weiß, das klingt pathetisch, aber...", sie lächelte ein wenig hilflos, aber durch und durch ehrlich, "wir versuchen es."

"Ja..." Aya wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Sie glaubte daran. Er hatte auch daran geglaubt, tat es vielleicht noch immer. "Aber ich kann das nicht. Für irgendwelche Menschen kämpfen... leben... Für Aya, ja. Das hat Sinn gemacht. Aber jetzt? Ich will nicht...", er stockte, beendete den Satz nicht. "Für wen soll ich denn kämpfen? Für irgendwelche Fremden? Hab ich denn nicht genug getan?"
 

Birman schüttelte nur traurig den Kopf. "Weißt du, es ist nie genug. Es gibt immer Ungerechtigkeiten und Menschen, die Hilfe brauchen. Eben deswegen -"

"Und ihr verlangt von mir, dass ich mein Leben für diese Menschen opfere, die ich überhaupt nicht kenne? Ist das nicht ungerecht? Ich bin euch oder der Gesellschaft nichts schuldig! Niemandem bin ich irgendetwas schuldig! Ich habe jahrelang für die Gerechtigkeit gekämpft und alles, was ich geworden bin, ist ein Mörder." Er lachte bitter auf. "Ist das mein Verbrechen? Soll ich diese Schuld abtragen, indem ich für euch kämpfe? Soll ich noch mehr Morde begehen? Ist das die Strafe? Soll ich mich von diesen Sünden mit Blut reinwaschen?!" Er wusste, dass er hysterisch klang. Gott, dieses ganze beschissene Leben machte ihn verrückt.
 

"Beruhige dich, niemand will dich bestrafen. Aber was willst du machen?"

"Ich will..." Ayas Blick wurde unsicher, senkte sich auf die Decke. "Ich will einfach nur für mich leben.", meinte er dann resigniert. "Ganz egoistisch und selbstgerecht. Einfach nur für mich. Ich weiß, das ist wenig gegen die Unschuldigen, Wertvollen. Und ich bin schließlich nur ein Mörder. Und dazu noch ein dummer, selbstsüchtiger, der vom Teufel seine Seele zurückverlangt."
 

"Himmel, Ran! Was geht nur in dir vor?" Sie wirkte ratlos und leicht mitleidig. "Ich sagte, wir sehen es nicht gern, wenn du gehst, aber es steht dir frei. Gott, du hast keine Vorstellung, was mich das bei Kritiker kostet, aber ich finde, du hast das Recht, zu leben wie du willst. Das einzige Problem, dass ich dabei sehe, bist du selbst. Du selbst bist doch derjenige, der dir Vorwürfe macht. Du bist der einzige, der von Bestrafung spricht. Du hast doch eine Zeit lang für dich gelebt, oder? Und warst du glücklich? Oder zumindest glücklicher, als bei Weiß? Ich will nicht abstreiten, dass es mir hauptsächlich um Kritikers Belange geht, aber es war auch nie meine Absicht, dir zu schaden."
 

Beide schwiegen. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Aya wusste nicht, was er denken sollte. Er war sich so sicher gewesen, dass er nicht mehr für Weiß arbeiten wollte, und jetzt hatte Birman mit ihren wenigen Worten all seine Entscheidungen wieder in Frage gestellt. Diese Frau wusste verdammt gut, was umgekehrte Psychologie war. Aber sie hatte ja Recht, er war nicht glücklich gewesen.

"Ich muss darüber nachdenken.", sagte er müde.

"Es ist deine Entscheidung." Sie erhob sich und ging zur Tür. Sie sah noch mal zurück und lächelte. "Es ist jedenfalls schön, dass es dir gut geht. Ich hatte mir Sorgen gemacht, und Weiß auch."
 

~*~
 

Aya saß in seinem Bett und starrte die Wand gegenüber an. Es ging ihm besser. Wenn er still hielt, waren die Kopfschmerzen kaum vorhanden und auch das Piepen hatte nachgelassen. Zwei Gehirnerschütterungen in zwei Tagen. Er wollte gar nicht darüber nachdenken... aber gegen diese hier war die letzte nett gewesen. Von der hatte er ja kaum was gemerkt.
 

Seine Gedanken trieben zu Schuldig, aber er wollte jetzt nicht daran zweifeln, dass der Deutsche noch lebte. Er wollte sich keine Sorgen machen. Natürlich lebte Schuldig. Er würde ihn heute Abend treffen, auf dem Flughafen, ganz wie verabredet.
 

Aber was dann?

Es war nicht so, dass er Zweifel hatte, was ihn und Schuldig betraf. Er glaubte schlicht und einfach nicht, dass es gut gehen konnte. Die Frage war nur, ob er es trotzdem versuchen sollte.

Gestern war er sich noch sicher gewesen, dass er das wollte. Heute war irgendwie wieder alles unklar und schwierig.

War es nicht unfair mit so einer negativen Einstellung an eine Beziehung heranzugehen?
 

Ach, Scheiße. Wenn er ein hervorstechendes Talent hatte, dann war es ja wohl, die Dinge den Bach runter gehen zu lassen, sie - sehr sorgfältig, sehr wirkungsvoll und sehr endgültig - in den Sand zu setzen. So lief sein Leben nun mal. Und wenn es zwischendurch mal so aussah, als wenn nicht alles in einer kompletten Katastrophe enden würde, war er mit hundertprozentiger Sicherheit derjenige, der die Brücke in die Luft jagte. Soviel zum Thema Prognosen.
 

Sich mit Schuldig einzulassen war, von der Seite betrachtet, nur ein Beweis mehr für seine selbstzerstörerischen Tendenzen. Wie krank musste man eigentlich sein, um eine Beziehung anzufangen mit jemandem, den man noch vor nicht allzu langer Zeit mit einem Lächeln auf den Lippen getötet hätte? Andersrum, okay das kam vor, aber die Reihenfolge war bedenklich.
 

Schuldig war immer noch Schwarz, genau so, wie er wohl Weiß bleiben würde - egal ob er tatsächlich zurück ging oder nicht. Letzte Woche hatte er es vielleicht irgendwie vergessen, aber gestern Nacht auf der Brücke, war es wieder klar gewesen. Schuldig war anders gewesen. Er selbst vielleicht auch. Ganz anders als in der letzten Woche.
 

Und dann hatte er ihm das Leben gerettet. Und er hatte gelächelt. Aya konnte es vor seinem geistigen Auge sehen. Aber er hielt es nicht lange aus und öffnete die Augen wieder, starrte lieber die leere Wand seines alten Zimmers an. Er wollte sich keine Sorgen machen.
 

Ein erneutes Klopfen an der Tür riss Aya aus seinen Gedanken. Yohji kam wieder herein. Er hatte Tee mitgebracht. Aya war dankbar für die Ablenkung.

"Wie geht's dir?"

"Besser."

Yohji nickte nicht mal. Er hatte keine andere Antwort von Aya erwartet. Dass er überhaupt eine gab, zeugte schon von guter Laune und Gesprächigkeit - falls man solche Begriffe bei Aya anwenden wollte. "War Birman nett zu dir? Ich hab ihr gesagt, sie soll nett sein."

Aya reagierte nicht, nahm nur eine Tasse und trank. "Was ist mit Ken und Omi?", fragte er dann.
 

"Was soll mit ihnen sein?"

"Warum waren sie noch nicht hier?"

"Ach so", Yohji grinste. "Der Arzt hat gesagt, dass du Ruhe brauchst. Sie halten sich dran."

"So? Und was ist mit dir?"; fragte Aya.

"Du wirst es schon überleben.", meinte Yohji trocken. "Aber ich bin unheilbar neugierig. Was ist das mit dir und Schuldig?"
 

War ja klar gewesen. Ging's nicht noch direkter? Aya seufzte. "Keine Ahnung.", sagte er ausweichend.

Yohji sah ihn völlig verblüfft an. " 'Keine Ahnung'? Das kann ich ja schon fast als Geständnis werten. Was ist mit 'Das geht dich nichts an.' und 'Das ist meine Sache.'?"

Ach ja, richtig. Bei Yohji funktionierte das ja. Nach einer Woche Schuldig hatte Aya die Taktik fast aufgegeben. "Es geht dich tatsächlich nichts an.", antwortete er.
 

"Wirst du zurückkommen?" Aya war sich nicht sicher, was Yohji meinte. Aber eigentlich konnte er nur Weiß meinen, oder?

"Ich weiß es nicht."

"Hm."

Sie schwiegen und tranken Tee und Aya dachte, dass man Yohji eigentlich ertragen konnte, auch wenn er unsäglich neugierig und distanzlos sein konnte. Vielleicht schnitt er auch nur im Vergleich zu Schuldig gut ab...
 

"Glaubst du, dass sich Menschen ändern können?", fragte Aya zu seiner eigenen Überraschung.

"Was meinst du? So wie schöne Frauen, die Jahre nach ihrem Tod auftauchen und versuchen, dich umzubringen?"

"Zum Guten."

Yohji lächelte. "So wie menschliche Eisblöcke, die dir auf einmal aus heiterem Himmel philosophische Fragen Stellen?"
 

Aya schnaubte genervt. "Du bist mir keine Hilfe."

"Das liegt nur daran, dass du keine klare Frage gestellt hast.", grinste Yohji. "Ich nehme an, es geht um Schwarz-Telepathen."

"Du nervst!", zischte Aya und strich alle Gedanken Yohji und seine Erträglichkeit betreffend. Er war wirklich nahe daran, ihn einfach wieder rauszuschmeißen.

"Okay okay, alles rein hypothetisch." Yohji hob spöttisch beruhigend die Hände. Dann zuckte er die Schultern. "Was weiß ich. Menschen ändern sich, Umstände ändern sich, die Menschen, die die Menschen bewerten ändern sich... Maßstäbe andern sich..."
 

Aya ließ sich zurücksinken. Na toll. Und was sollte das jetzt heißen?

"Wann wollt ihr euch treffen?"

Aya sah Yohji verwirrt an.

"Treffen. Du. Die hypothetische Person.", half Yohji nach.

Ayas Gesicht versteinerte wieder. "Wie kommst du darauf?", fragte er abweisend.
 

Yohji seufzte. "Ehrlich, du bist ein begnadeter Lügner. Aber alle Indizien sprechen gegen dich."

Aya zog nur zweifelnd die Augenbrauen hoch. Was sollten das denn bitte für Indizien sein? Er kannte Yohjis Taktiken. Diese hier war pures Raten und ein wenig Bluffen.

"Na schön. Du hast recht. Aber falls du meinen Rat hören willst - schon klar, sag nichts. Ich weiß, dass du ihn nicht hören willst, aber ich werd ihn dir trotzdem geben. - falls du ihn also hören willst: Du solltest ihn wirklich treffen."
 

Aya schwieg. Er war sich sicher, dass Yohji auch weiterreden würde, ohne dass er Interesse zeigte.

"Weißt du, letztendlich ist es doch immer so, dass man nur die Dinge wirklich bereut, die man nicht gemacht hat... obwohl, warte mal, das stimmt nicht wirklich, man kann auch anderes bereuen... - na ja egal. Die Sachen, die man nicht gemacht hat, sind jedenfalls diejenigen, die einen wirklich wahnsinnig machen können, weil man sich immer vorstellt, wie es hätte sein können und man neigt ja zugegebenermaßen zur Idealisierung - jedenfalls kann einen das total fertig machen...Verstehst du?"
 

"Erstaunlicherweise ja.", antwortete Aya trocken. "War's das?"

"Unter anderem." Yohji winkte lächelnd ab. "Ich wollte dir eigentlich nur noch sagen, dass Weiß und das Märtyrerdasein dir ja nicht weglaufen... Und wenn schon mal ein Wunder passiert und Ran Fujimiya jemanden an sich heran lässt, dann..." Yohji runzelte die Stirn und starrte Aya an. "... so gesehen ist das wirklich unglaublich."
 

"Keine Ahnung, was du glaubst, Kudou.", brummte Aya genervt. Er bezweifelt ernsthaft, dass dieses Gespräch noch zu irgendwas führen würde. "Bring mir ein Telefon und dann verschwinde!"

Yohji nickte mit einem schadenfrohen Grinsen, verschwand und tauchte wenig später mit dem Telefon wieder auf. "Wen wollen wir denn anrufen?"

"Wir", antwortete Aya nachdrücklich, "rufen niemanden an. Du gehst, ich telefoniere."

Yohji brummte, schlurfte dann nach einigem Zögern doch noch aus dem Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
 

****************
 

Und wie es Schuldig ergangen ist,

ob Aya es schafft, die bösen Stimmen in seinem Kopf zu ignorieren

und wie das Ganze dann ausgeht,

das erfahrt ihr im nächsten und letzten Teil.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Kralle
2007-04-05T14:48:08+00:00 05.04.2007 16:48
geht das immer so schnell mit neuen kaps??

mfg

Kralle


Zurück