Es war eine kalte Nacht im November, als es das erste Mal geschah, und viele andere Male folgten. Und immer wurde es intensiver.
Zuerst war es nur ein Geräusch, das ich hörte, und ein Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz. Dann wurde es immer mehr zu einem Menschen, der dann und wann vor unserem Fenster stand und ins Haus sah. Und irgendwann war er so oft da, dass sich niemand mehr Gedanken um ihn machte.
Außer mir.
Manchmal stellte ich ihm etwas zu essen vor die Tür, manchmal alte Kleider. Er nahm sie mit, um dann wieder zu verschwinden. Und so ging es viele Jahre lang, bis aus dem kleinen Mädchen von sieben Jahren eine junge Frau wurde, die noch niemandem je von ihrem Geheimnis erzählt hatte.
Ich wollte damals weg von unserem Dorf, so unmöglich es auch schien, aber nichts konnte mich aufhalten. Trotz des Verbots meiner Eltern, den nahezu unglaublichen Gerüchten aus dem Dorf und dem schockierten Blick meines großen Bruders zog ich schließlich in die Stadt, wo ich versuchte, mich als Schneiderin zu ernähren.
Eigentlich war es mehr Zufall, wenn auch ein sehr großer. Auf dem Markt, während ich neue Stoffe für meine Schneiderei suchte, zupfte mich ein kleines Mädchen am Ärmel. Und als ich dann in die traurigen grünen Augen sah, die so hoffnungslos zu mir aufsahen, war es zu Ende.
Und dabei hatte es noch nicht einmal angefangen. Ich hatte nicht viel Geld und nicht viel Platz, aber so vieles an diesem Kind erinnerte mich an mich selbst; Waise, zum Betteln gezwungen, ohne Chancen auf ein neues Leben. Und als wäre das nicht schon genug, trug sie das Kleid, das ich damals auch getragen hatte, als mich meine spätere Familie fand - und das ich in meinem kindlichen Wohlwollen dem Fremden mitgegeben hatte.
Was genau mir alles durch den Kopf ging, weiß ich nicht mehr genau. Aber heute sitze ich am Fenster meienr kleinen Schneiderei, höre dem Schneiden des Stoffs zu, den das kleine Mädchen von damals für ihr Brautkleid zurechtschneidet, bevor es zu dunkel wird, sehe hinaus zu den vielen aufziehenden Sternen am Himmel und lächle.
Draußen, unter dem Apfelbaum, steht er, noch so jung wie damals, und lächelt zurück.
Dann trägt der Wind ihn davon.
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Johannes 3,8
Der Wind weht, wo er will, und du hörst seine Stimme. Aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht.
So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.