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Kapitel 21 – Seite an Seite
 

Gelegenheiten zur Rast hatte es auf dem Weg nach Tapion bisher kaum gegeben. Alle Reisenden waren sich einig, dass nach dem längeren Intermezzo bei den Wächtern ausreichend Kraft getankt worden war, um nun eine gewisse Eile an den Tag zu legen. Auf den Rücken ihrer Pferde erging es ihnen zudem nicht wirklich schlecht. Die Tiere selbst zeigten keinerlei Anzeichen von Erschöpfung – ihr Durchhaltevermögen zu strapazieren, bedurfte es weit größerer Anstrengungen. Gut genährt und erholt waren sie die eigentlichen treibenden Kräfte auf dem mühseligen Weg nach Tapion. Allen voran trabte Momo, der leuchtend weiße Hengst mystischer Abstammung.

Peter und Lily, die sich vor einiger Zeit schweigsam an den jungen Franzosen geheftet hatte, bemerkten als erste das ungewöhnliche Gebilde, das sich am Horizont abzeichnete. Die morgendliche Sonne gewährte den beiden einen weitreichenden Blick über das triste Terrain, das nur sehr langsam fruchtbarere Konturen erahnen ließ.

Peter hob die Hand und stoppte Momos Bewegung mit einem leichten Ruck an dessen Zügeln. Das Einhorn reagierte nach wie vor untertänig auf die Order des Reiters und ließ dessen Unerfahrenheit auf diese Weise weniger deutlich erscheinen. Sehr bald hatten die anderen Mitglieder der kleinen Gefolgschaft zu ihm aufgeschlossen. Eine Frage nach den Beweggründen erübrigte sich beim Anblick der trügerischen Oase in der Ferne.
 

„Was ist das?“ fragte Aarve in die Runde. Allerorts begegneten ihm nur zuckende Schultern.
 

„Eine Ruine womöglich“, folgerte Eva nüchtern und logisch.
 

„Nein. Das ist ausgeschlossen.“ Der Älteste war sich seiner Kenntnisse sehr sicher. „So weit draußen haben die Dunkelelfen nichts errichtet.“
 

„Woher willst du das wissen?“ Aarve war durchaus neugierig. „Wie weit reicht ihre Geschichte zurück? Fünftausend Jahre? Zehntausend?“
 

„Wahrscheinlich noch länger.“ Für Lester gab es keinerlei Grund an der eigenen Aussage zu zweifeln. „Mit Ausnahme der Reise nach Panafiel, von der Eva uns allen ja ausführlich erzählte, war es den Dunkelelfen über Jahrtausende bei Strafe verboten, so nahe gen Nordkap Adessas zu reisen. Ein festgeschriebenes Dogma, begründet im Schrecken eines vergangenen Krieges. Und ich bezweifle ebenso, dass wir es hierbei mit noch älterer Architektur zu tun haben, über die wir nun nach so langer Zeit ganz zufällig stolpern.“
 

Aarve schwieg fortan. Was der Mann sagte, klang plausibel. Das Gefühl, belehrt worden zu sein, gefiel dem Heißsporn zwar nicht, jedoch verkniff er sich eine überflüssige Reaktion – dieses Mal.
 

„Wird wahrscheinlich nur ein Findling sein ... vielleicht mehrere“, Viola verstand nicht, warum man überhaupt stoppte. „Es liegt so oder so auf unserem Weg, warum finden wir es nicht einfach heraus? Oder halten wir jetzt bei jedem Gebüsch, das in der Ödnis artfremd wirkt?“
 

„I-ich dachte nur ...“ Peter versuchte sich zu rechtfertigen. Zweifelsohne hatte er keinerlei Hintergedanken gehabt, als er seine Kameraden zum Halten aufforderte.
 

„War nicht böse gemeint, Kleiner.“
 

„Ich sehe es wie Viola.“ Bisher hatte Eva sich schweigsam gegeben. Auch ihr Blick war neugierig gen Norden gerichtet; sie schien gefesselt von dem Anblick. „Was auch immer es ist. Wir werden es uns einfach ansehen.“
 

Etwas schwebte im Klang ihrer Stimme mit. Melancholie womöglich. Peter schien es als einziger zu bemerken; sein Blick löste sich zu keiner Zeit von ihr. In ihren Augen erkannte er große Erwartung.
 

„Tapion ist nicht mehr weit.“ Als sie mit der linken Hand auf eine sich abzeichnete Gebirgsformation in der Ferne deutete, trafen sich die Blicke der beiden. Immer noch nachdenklich gestimmt, nickte sie nur – ihre Art des Lächelns, womöglich. Welche Erinnerungen sie dabei in ihm hervorrief, konnte sie nicht ahnen. „Die Täler sind unser Ziel.“ Und so gab die junge Anführerin der Gruppe erneut die Richtung vor.
 

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Reyne war nervös – voller Erwartungen, die nichts Gutes verhießen. Bald schon würde sie die bestellten Felder vor der Stadt erreichen. Zu dieser Jahreszeit würde sie dann mit Sicherheit Menschen in die Arme laufen. Menschen, die sie nicht kannte. Die Dunkelelfe sorgte sich, welche Reaktion man ihr wohl entgegenbringen würde. Dass sie nichts als schlechte Nachrichten mit sich brachte, verschlimmerte jene Sorgen nur noch.

Die blühenden Kronen einiger Apfelbäume versperrten ihr eine weitreichende Sicht auf die Farm, vor der sie sich befand. Reyne erinnerte sich nur noch schemenhaft an ihren früheren Ausflug in die Stadt und ihre ländlichen Vororte. All jene Bilder hatten eines gemeinsam: Den wundersamen Anblick dieser Früchte tragenden Pflanzen. Die Menschen hatten sie einst angepflanzt. Sie waren so viel schöner als das karge, wuchernde Geäst auf Caims. Überhaupt war alles an dem großen Kontinent, der grünte und vor Leben überquoll, um Vieles faszinierender als die Insel im Osten; zumindest daran konnte sich Reyne dieser Tage noch erfreuen.

Als sich Harad der Farm weiter genähert hatte, erkannte Reyne allmählich die Schemen einiger Zweibeiner: Menschen, ohne Frage, und doch ...

Es war eine ganze Gruppe von ihnen – einige wild gestikulierend. Bald drangen auch die ersten Worte an ihr Ohr, wenn Reyne auch nicht viel aus den Streitgesprächen lernen konnte.

Dann wurde sie von zweien der Männer bemerkt: Sie mühten sich nicht, ihre Pferde zu satteln und machten sich kurzerhand zu Fuß auf den Weg. Eiligen Schrittes näherten sie sich.
 

„Hey!“ rief der größere der beiden. „Hier her!“
 

Feindselig gestimmt, schienen die Männer nicht zu sein. Sie trugen noch einige leichte Teile der Rüstungen, die Evas Männer zu ihrem Schutz anzulegen pflegten. Ein Stein fiel Reyne vom Herzen. Scheinbar waren es die Ritter, die später von Ballybofey aufgebrochen waren. Sicher haben sie die Dunkelelfe sofort erkannt.
 

„Ich nehme ihn“, bot der Jungspund, den sie um eine halbe Kopflänge überragte, ihr lächelnd an, Harad anzubinden.
 

Immer noch zögerlich in ihren Bewegungen übergab sie ihm schließlich die Zügel. Sie wagte nicht recht, die freundschaftliche Geste zu erwidern oder ihm zu danken. Ohne Elmo an ihrer Seite, der stets ihr Zugang zu den anderen Menschen gewesen war, übermannte Reyne die Nervosität fast. Sie hatte Jahre lang miterlebt, wie man in Kreisen der eigenen Artgenossen mit den Menschen umsprang und fürchtete nichts mehr als ihren Hass, ob er – gegen sie gerichtet – nun verdient gewesen wäre oder nicht.
 

„Du bist Elmos Freundin, nicht?“ Auch der ältere, bullige Krieger bekam keine Antwort, nur ein schüchternes Nicken als Bestätigung. „Reyne ... So lautete doch dein Name? Verzeih', wenn ich da etwas durcheinander bringe.“
 

„Nein.“ Sie brach ihr Schweigen aus der Freude heraus, dass man sie erkannt hatte. „Das ist er.“
 

„Ich bin Alain“, stellte der Ritter sich vor und reichte ihr dabei freundschaftlich die Hand. „Wir kennen uns nur flüchtig“, spielte er die offenkundige Unwissenheit der jungen Frau charmant herunter.
 

Sie erwiderte den Händedruck kräftig – mit der innerlichen lodernden Wut auf die eigene Unart, sich in drei Jahren so wenig in den Reihen der Menschen integriert zu haben, wenn es auch nie wirklich ihr Wunsch gewesen war.
 

„Du kommst gerade recht, das kannst du mir glauben.“ Alain wirkte besorgt. „Wo hast du die anderen gelassen?“ fragte er läppisch, ohne ernsthafte Zweifel zu hegen, dass seine Kameraden noch auftauchen würden. Erst das trübselige Mienenspiel der Dunkelelfe ließ ihn Schlimmes vermuten. „Was ist denn? Was ist geschehen?“
 

Reyne begann zu erzählen. „Als wir Ballymenas Grenzen umgehen wollten, stießen wir auf ein Hindernis, das uns den sicheren Weg versperrte. Gamdschas hatten sich in das Tal verirrt und dort eine Gruppe Dunkelelfen überrascht, die uns auf den Fersen gewesen waren.“
 

„Jäger – daran besteht kein Zweifel.“ Reyne wurde hellhörig. Alain wusste scheinbar, wovon sie sprach. „Wir sind ihnen auch begegnet; nahmen, wie abgesprochen, von Beginn an eine alternative Route, dort liefen uns dann zwei von ihnen in die Arme. Es war ihr Glück, könnte man wohl sagen. Wir haben sie in den Schuppen der Bauern, die diese Felder bestellen, gesperrt – vorerst.“
 

„Hätten wir den Umweg nur ebenso in Kauf genommen“, hauchte die Elfe.
 

Alain entging die Schwermütigkeit der Frau natürlich nicht. In der Tat hatte er diese schon von Beginn an, als er ihr die Hand reichte, um sie in Willkommen zu heißen, gespürt. Er rechnete nunmehr mit dem Schlimmsten.
 

Schweren Herzens bereitete sich Reyne darauf vor, alles Übel zu offenbaren, das ihr und ihren Freunden in Ballymena zugestoßen war. „Ich denke, alle sollten das hören“, schlug sie – allen Mut zusammengenommen – vor.
 

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Was sie letztendlich vorfanden, verschlug ihnen glatt die Sprache. Keiner hatte damit gerechnet, in eine derartige Szenerie zu stapfen. Der verwaiste große Vorratswagen und die vielen Lebensmittel, die in der Sonne zu Faulen begannen, erweckten den Eindruck eines Raubes, wobei der Großteil der potentiellen Beute allem Anschein nach von keinerlei Interesse für die Täter gewesen war. Alles Obst war kaum angerührt, und auch Gemüse und andere unverdauliche Güter verschwendet. Das getrocknete Blut, das den rissigen Boden an vielen Stellen zierte, stammte womöglich von Tieren, wenn von einem Kadaver auch weit und breit keine Spur war. Das Geschirr der Pferde war außerdem zerstört, was darauf schließen lies, das die Vierbeiner irgendwann während des Überfalls Reißaus genommen hatte.
 

„Hat jemand eine Idee, was hier passiert sein könnte?“, konnte Aarve seine Neugier nicht unkommentiert lassen.
 

Lester begann als erster sich eine Theorie zu erdenken. „Das ist ein ganz normaler Wagen für den Transport, wie wir sie in Tapion zuhauf benutzen.“
 

„Ganz sicher also einer von unseren“, fügte Viola hinzu.
 

„Aha. Und gibt es hier irgendwelche Raubtiere, die eure Transporte überfallen?“
 

„Keine Ahnung“, gab Eva ganz offen zu. „Um ehrlich zu sein, sollte so weit hier draußen kein Mensch unterwegs sein. Schon gar nicht mit Nahrungsmitteln und anderen Gütern.“
 

„So ist es.“ Der graue Ritter stimmte nickend mit ein. „Am weitesten reichen noch die Felder einiger Bauern in den Süden hinaus, aber selbst die liegen noch zig Kilometer weit von hier entfernt. Der Wagen befand sich also auf einer Reise ins Nirgendwo.“
 

„Der Schein trügt wohl“, erklang es aus dem Hintergrund. Peter hatte seine eigene Meinung dazu. Der erwartungsvolle Blick des grinsenden Hünen drängten ihn zu einer Erläuterung. „Ich meine, es ist ja wohl klar, dass diese Leute nicht grundlos hier rausgeschickt wurden!?“
 

„Welche Leute denn? Ich sehe hier niemanden“, bemerkte Aarve das Offensichtliche.
 

„Sie werden wohl auf den Pferden davon sein“, schüttelte Peter eine Antwort aus dem Ärmel, die ihm logisch erschien.
 

„Und wovor sind sie geflüchtet?“ fragte Lily in die Runde und beteiligte sich somit auch an der Diskussion.
 

„Es führt jedenfalls eine Spur nach Osten“, erkannte Viola, die den vereinzelten Blutstropfen ein Stück weit in diese Richtung gefolgt war. Und noch etwas fiel ihr bald darauf ins Auge: „Ich glaube, ich kann hier Spuren erkennen.“
 

Der Aufmerksamkeit ihrer Freunde hatte sie nun auf sich gezogen. Lily schwirrte als erste zu ihr und wusste sofort einzuschätzen, worum es sich handelte. „Wolfspfoten!“ erkannte die Elfe scharfsinnig. Ihr Blick für derlei Dinge war besonders geschärft – als Waldelfe war ihr diese hohe Auffassungsgabe für die Natur mit in die Wiege gelegt worden.
 

„Kojoten, um genau zu sein.“ Die Kenntnisse, die Lily schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte, hatte Eva erst mühsam erlernen müssen. Mit ihrer Freundin jedoch, hatte sie immer eine hervorragende Lehrerin gehabt. „Tiere, die sich den widrigen Verhältnissen hier draußen gut anzupassen wissen. Aber dass die eine Karawane überfallen ... kaum zu glauben.“
 

„Wer weiß, wie es um ihre Nahrung bestellt ist. Ein ausgezehrtes Rudel würde vielleicht soweit gehen“, versuchte Lester dem Ganzen Sinn zu verleihen.
 

„Was interessiert es uns noch?“ Wenngleich Aarve am wenigsten zur Diskussion beitragen konnte, plärrte er immer am lautesten. „Ihr denkt doch deswegen nicht ernsthaft über einen erneuten Umweg nach, oder?“ meinte er die Neugier seiner Gefährten richtig einschätzen zu können.
 

Was kümmert es dich ...“ Peters geflüsterte Spitze ging im Winde unter – wie gewollt.
 

„Wenn ein Rudel hungriger, womöglich tollwütiger Steppenwölfe hier ihr Unwesen treibt, sollten wir etwas dagegen unternehmen.“ Lester gab sich abenteuerlustig. Er schien seit der raschen Genesung Evas wieder ganz der alte. „Natürlich ist das nur meine Meinung“, brummte er lächelnd.
 

„Würde uns wohl einen weiteren Tag kosten“, analysierte Viola nüchtern. Sie schien nicht begeistert von der Idee.
 

„Ihr habt doch selbst gesagt, dass hier draußen keiner was zu suchen hat. Selber schuld, würde ich sagen.“
 

„Und genau das ist doch der Punkt, Aarve.“ Eva wies den Finnen das erste Mal zurecht, müßig darauf bedacht, nicht ausfallend zu werden. „Dieser Transport hatte einen Sinn. Wohin er auch wollte oder woher er kam: Dort werden aller Voraussicht nach Menschen sein. Menschen, die nun auf diese Wagenladung voll mit Nahrung verzichten müssen.“
 

Natürlich leuchtete diese Erklärung dem jungen Mann ein; warum sieh die Katze nicht gleich aus dem Sack gelassen hatte, regte ihn allerdings nur noch mehr auf. „Und eine weitere gute Tat, die wir uns in unsere Pfadfinder-Büchlein schreiben können. Vielleicht kriegen wir ja alle einen Orden dafür!?“
 

„Bleib doch hier und bewach die Tomaten“, zischte Viola und warf ihm eine schimmlige, rote Frucht zu, die er affektiv auffing und dabei versehentlich zerquetschte. „Gut gefangen!“
 

Aarve schmierte sich den modrig riechenden Brei an seinem Hosenbein ab. Das Hemd, das Viola ihm in den Katakomben geschenkt hatte, wollte er nicht beschmutzen. „Wirklich witzig ...“
 

„Die Tiere sind sehr anpassungsfähig, doch würde ich sagen, dass unsere Chancen groß sind, in dem Waldstück am Fuße des Gebirgskamms fündig zu werden“, erläuterte die schwarze Frau das weitere Vorgehen. Ihre Expertise wurde dankbar entgegen genommen.
 

„Dann sollten wir uns beeilen“, gab Eva die Marschrichtung vor, während sie wieder auf ihr Pferd stieg. „Ich will nicht mehr Zeit verlieren, als unbedingt notwendig.“
 

Alle ihre Kameraden taten es ihr daraufhin gleich. Auch Aarve gab sich schließlich noch einsichtig, wenn ihm seine Missstimmung auch noch deutlich anzusehen war.
 

„Warum so mies gelaunt?“ erkundigte sich Viola, die erfreut war, dass der Blondschopf sich doch noch dazu hatte entschließen können, sich an der Jagd zu beteiligen.
 

„Bin ich nicht“, wiegelte er ab. „Hab nur langsam die Nase voll von all den Umwegen. Davon hatte ich schon mehr als genug, das kannst du mir glauben.“
 

„Klingt ja fast, als wolltest du dich in Tapion niederlassen, ha ha.“
 

Ein wenig genoss Aarve es, zur Abwechslung selbst in Rätseln sprechen zu können. Dass er Vieles zu verbergen hatte, stimmte ihn tief im Innern allerdings traurig. Er hatte in den letzten Tagen unentwegt gefühlt, was er nach außen hin nie würde zeigen wollen: Wehmut. In Vyers war dies anders gewesen, wo die Wut alle anderen Emotionen überwog.
 

...

... ...

... ... ...
 

Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit)
 

Während der dumme Junge einmal mehr durch das vergitterte Fenster ins Nichts hinaus starrte, plagte ihn die Ungewissheit. Hätte er es mit mehr Mut, mehr Anstand und mehr Disziplin wirklich schaffen können, alldem zu entgehen? Aarve zweifelte mittlerweile ernsthaft daran. Was anfangs noch Reue gewesen war, hatte sich im Verlauf der letzten Monate in etwas anderes verwandelt – ein Gefühl der Angst. Angst davor, genau hier in diese Anstalt, diese Zelle zu gehören. Das Schicksal hatte es wahrlich nicht gut mit ihm gemeint? Schicksal ... der Glaube daran machte es zumindest einfacher, nicht völlig den Verstand zu verlieren.
 

Wie so quälend oft war es auch an diesem Tag sein Zellengenosse, der Aarve mit seiner penetranten Art aus dessen Gedanken riss. War diese Anstalt auch ohne Frage ein Gefägnis, erweckten einige der Insassen – so auch Jari – eher den Eindruck, als befände man sich in einem Irrenhaus.

Der aufgewühlte Junge war in erster Linie Nachts eine wahre Qual für seinen Zellenkameraden: In seinem ohnehin unruhigen Schlaf redete er unentwegt. Ganze Romane hätte man mit seinem Gemurmel füllen können. Um die Träume, die ihn zum Schreien brachten – oft so laut, dass die Wärter eingreifen mussten – beneidete Aarve den Jungen nicht. Hatte er auch unter diesen und ähnlichen Eskapaden zu leiden, tat ihm der Kerl einfach zu leid, um ihn ruhig zu stellen.

Jari hatte es wohl irgendwann bemerkt und dankte es nun mit seiner übertriebenen Zuneigung.

Seit geraumer Zeit schon teilte er jeden noch so wirren Gedankengang ohne Aufforderung mit seinem Mitbewohner. Aarve beachtete das meiste von seinem Geschwätz nicht weiter. Er hatte es zur Gewohnheit werden lassen, sich den winzigsten Ansatz eines Lächelns aufzuzwingen und den ganzen Schwachsinn einfach wortlos abzunicken.

Seine verqueren Ideen von einem Ausbruch hatte Aarve auch nicht ernst genommen. Schon seit Wochen redete Jari davon, hatte bisher aber noch nichts unternommen, was auch nur ansatzweise die Wärter hätte beunruhigen müssen. Eines hatten seine Hirngespinste aber für sich: Es wäre durchaus verlockend, den Störenfried endlich los zu sein, ging es Aarve durch den Kopf
 

„Heute, mein Freund!“ flüsterte Jari vom oberen Etagenbett aus zu ihm herunter. „O-oder besser ... morgen früh ...“ Wie fast immer reagierte Aarve nicht auf seine Andeutungen. „Hörst du nicht?“
 

„Ich will hier nur nachdenken, okay?“ Aarve wusste unmittelbar nachdem die letzte Silbe über seine Lippen gegangen war, dass er damit die Lawine erst ins Rollen gebracht hatte.
 

„Dann denk mal drüber nach, was du als erstes machen wirst, wenn du aus diesem Loch raus bist!“
 

„Das weiß ich schon! In den Bus steigen und in die Stadt fahren“, antwortete er gelassen. „Ein knappes Jahr noch. Kann es kaum erwarten ...“
 

„Ein ganzes Jahr noch?“ lachte Jari. „Das kann doch keiner überstehen!“
 

„Ich komm schon klar, danke.“
 

„Und wenn die Tür hier eines Tages aufgehen würde, würdest du die Chance nicht ergreifen?“
 

Aarve schüttelte nur den Kopf. „Die Tür geht hier jeden Tag ein paar Mal auf, das heißt noch lange nicht, dass du einfach aus dem Gebäude spazieren kannst.“ In gewisser Weise meinte er diesen Hinweis durchaus ernst. Aarve traute Jari zu, eines Tages einfach die Beine in die Hand zu nehmen und auf gut Glück davon zu rennen.
 

„Wovor hast du eigentlich solche Angst?“
 

Nun begann der etwas jüngere Jari, Aarve schwer auf die Nerven zu gehen. „Glaub mir, Freund, Angst habe ich schon lange nicht mehr!“
 

„Ja klar. Wem versuchst du was vorzuspielen? Ich versuche nur, dir zu hel---“
 

Mit dieser Bemerkung hatte er das Fass zum Überlaufen gebracht. Aarve sprang von seinem Stuhl auf und hämmerte einmal kräftig mit geballter Faust auf den klapprigen Tisch, an dem er zuvor so nachdenklich gesessen hatte. Das dumpfe Pochen war zweifellos im ganzen Trakt zu hören gewesen, doch daran verschwand Aarve keinen Gedanken, als er seinen Zellengenossen in die Schranken zu weisen begann.
 

„Pass gut auf, Kleiner“, nahm sein Wutausbruch erste Formen an, „du bist nun wirklich der letzte, der allerletzte Mensch auf diesem Planeten, der mir irgendwas von Angst erzählen sollte! Nacht für Nacht plärrst du den ganzen Knast zusammen, heulst dir die Seele aus dem Leib wie ein Kleinkind und pisst dir – weiß Gott wie oft – ohne Grund in die Hosen, und du jämmerlicher Kerl willst mir erzählen, ich hätte vor irgendwas Angst?“
 

Allein seine Schonungslosigkeit und offenkundige Wut ließen in diesem Moment aber auf nichts anderes schließen. Sogar der verrückte Jari, so verunsichert er nun auch war, konnte schwerlich übersehen, dass er einen wunden Punkt bei Aarve getroffen hatte.
 

„Heute Nacht werden wir ja sehen ...“
 

Es waren die letzten Worte, die Jari an diesem Tag sprach. Ihn so still zu erleben, war ganz bestimmt eine angenehme Abwechslung; der Grund dafür zu sein und aus seinen letzten Worten nicht schlau zu werden, beunruhigte Aarve allerdings. Stunde um Stunde fragte er sich, was Jari wohl damit gemeint haben könnte. Was hatte er wirklich vor? Nicht zuletzt sorgte sich Aarve um sein eigenes Wohlergehen, auch wenn er jedes Mal innerlich zu lachen anfangen musste, wenn er sich vorzustellen begann, Jari könnte ihm vielleicht aus Rache etwas antun wollen.

Ob nun beim Essen, bei der Arbeit oder beim Hofgang – Aarve behielt Jari im Auge, wann immer es ihm möglich war.
 

Als die Nacht angebrochen war, spielte Aarve noch eine ganze Weile mit dem Gedanken, nicht einzuschlafen. Natürlich nicht aus Angst, wie er sich einredete – er wollte nur vorsorgen. Doch hielt er das müßige Unterfangen kaum eine Stunde durch. Zu viele Gedanken schossen dem schläfrigen Finnen durch den Kopf, die letztlich stufenlos in Träume übergingen. Das er der Müdigkeit doch erlegen war, bemerkte er erst, nachdem Jari ihn mitten in der Nacht aufweckte, wie er es versprochen hatte.
 

„Hey!“ Der Junge rüttelte an seiner Schulter. „Wach auf!“
 

„W-was ...“ Es dauerte einen Moment, bis Aarve Traum und Wirklichkeit wieder zu unterscheiden imstande war.
 

„Du solltest dich ein bisschen beeilen, wenn du mitkommen willst.“
 

„Was redest du?“ fragte der verschlafene Blondschopf überrascht und war zugleich erleichtert, dass seine ärgsten Bedenken offensichtlich unbegründet waren.
 

„Die Tür ist jetzt offen“, sagte Jari mit einem Lächeln auf den Lippen und neigte seinen Kopf leicht

ans Fußende des Bettes. Tatsächlich stand die Zellentür einen Spalt weit offen. „Willst du wirklich hierbleiben, oder kommst du mit?“
 

„Bist du jetzt endgültig übergeschnappt?!“ Aarve war fest davon überzeugt, dass Jari die Tür aufgebrochen haben musste, wie auch immer er das auch fertiggebracht hatte. „Wenn die Wärter das sehen ... viel Spaß in einer Einzelzelle ...“
 

„Die Wärter werden mich nie wieder sehen!“ prahlte Jari und holte ein dickes Schlüsselbund aus seiner Tasche, welches er Aarve alsbald triumphal präsentierte.
 

„Wo hast du die Schlüssel her?“
 

„Spielt das denn jetzt noch eine Rolle? Das ist unser Ticket in die Freiheit!“
 

„Durch die Tore draußen kommst du mit den Dingern auch nicht, die sind alle elektrisch“, zeigte Aarve sich wenig hoffnungsvoll.
 

„Ja, aber bis zu den Mauern schaffen wir es allemal, danach nur noch der Zaun, und das war's!“
 

„Schon mal versucht, einen Stacheldrahtzaun hinaufzuklettern?“
 

„Hiermit sollte das unser geringstes Problem sein!“ Als hätte er nur darauf gewartet, hielt Jari Aarve auch schon das nächste Flucht-Utensil unter die Nase. Es handelte sich um einen kleinen Seitenschneider. Der Junge hatte also vorgesorgt ...
 

„Du bist doch total irre, weißt du das?“
 

„Und wenn schon! Ich bin aber viel lieber draußen irre, als hier drinnen, Kumpel!“
 

... ... ...

... ...

...
 

Das heiße Klima, das in der Region vorherrschte, machte der Gruppe an diesem Tage besonders zu schaffen. In der Nähe des überschaubaren Gebirgszuges angelangt, bot sich den Frauen und Männern ein altbekanntes Bild: Weit und breit hatte die Dürre die Flora dieses Teils von Adessa niedergekämpft. Morsche Baumstümpfe und staubtrockene Gräser ließen nur entfernt erahnen, dass hier einstmals Grün das sandige Ocker überwogen, oder zumindest mit ihm konkurriert hatte.
 

„Niemals leben hier Menschen!“ verlieh Aarve seinem ersten Gedanken sofort Worte.
 

Er hatte recht. Es war abwegig zu glauben, dieser Ort beheimatete irgendwelche Zweibeiner. Allein die Tatsache, dass alle Wasserquellen scheinbar schon vor langer Zeit versiegt sein mussten, ließ auch die anderen daran zweifeln.
 

„Davon war ohnehin nicht auszugehen, oder?“ fragte Viola.
 

Eva brachte es dann auf den Punkt: „Das ist der einzige Ort weit und breit, der am Tage Schutz vor der Sonne bietet.“ Sie zeigte auf einen im Schlagschatten eines kantigen Felsens versteckt liegenden Höhleneingang, den ihre verblüfften Gefährten erst daraufhin als solchen erkannten.
 

„Beeindruckende Sehkraft, Kindchen“, triezte die erfahrene Kriegerin das blonde Mädchen. „Das wird sicher kein Spaziergang“, fügte sie noch hinzu.
 

„In der Tat. Wir müssen uns vorsehen. Ein einzelner Biss könnte fatale Folgen haben, wenn die Biester wirklich krank sind“, ermahnte Lester seine Freunde zur Vorsicht.
 

Als hätte er einen Befehl gegeben, machten sich die Soldaten der Sechsergruppe daran, Teile ihrer Rüstung anzulegen. Eva und Lester hatten zuvor längst jeden unnötigen Teil des schweren Stahls in ihrem Gepäck verstaut, um in der Hitze unter Adessas Sonne nicht gebraten zu werden; jetzt würden sie jedoch auf diesen Schutz angewiesen sein. Viola verband nur ihre Unterarme provisorisch. Das enge Leder hatte die stolze Frau willensstark am Leibe auch durch die Wüste getragen.
 

„Nur wir drei, huh?“ zeigte sie sich besorgt.
 

„Auf keinen Fall!“ schritt Aarve nach für ihn ungewohnt langem Schweigen zur Tat. „Das geht doch nicht“, argumentierte er jedoch reichlich unausgegoren.
 

„Was? Willst du etwa mitkommen?“ Ihr Grinsen verriet, dass Viola nicht ernsthaft auf sein Angebot einging. Es war durchaus amüsant zu beobachten, wie stereotyp der Finne sich in dieser Situation verhielt. „Hier draußen bist du besser aufgehoben, Aarve. Vielleicht bekommst du ja auch etwas Farbe“, Neckte sie ihn
 

„Ich find' das nicht witzig!“ wurde die Angelegenheit noch nicht ruhen gelassen. „Wir schicken da also einen alten Mann und zwei Frauen rein, obwohl hier zwei gesunde Kerle zur Verfügung stehen?!“ Als Lester ihm einen dunklen, beunruhigenden Blick zuwarf, fügte er hinzu: „Nichts für ungut.“
 

Allerorts erwartete man ein Machtwort von der jungen Eva, die nach wie vor die Anführerin der dezimierten Gruppe war, doch wandte sie sich zunächst von dem sich anbahnenden Streit ab und begab sich zu Peter und der Elfe Lily, die nicht minder unter den Strapazen der Reise zu leiden hatte.
 

„Und du?“
 

„Ich?“ Peter zeigte sich überrascht ob der seltsamen Anrede. „Was ist mit mir?“
 

„Willst du uns nicht begleiten?“
 

„Du würdest ihn doch sowieso nicht lassen!“ erkannte Lily besserwisserisch.
 

„Schon ... Ich dachte nur ...“
 

„Es reicht, wenn ihr zu dritt arme Tiere abschlachtet, aus ihm müsst ihr nicht auch noch einen Mörder machen!“ giftete die Elfe. Sie konnte der bevorstehenden Hetzjagd nichts Gutes abgewinnen.
 

„Gerade weil sie so arm dran sind, ist das für alle die beste Lösung“, ließ die entschlossene Soldatin die Argumente des Mädchens verpuffen. Noch einmal versuchte sie Peter eine bestimmte Antwort zu entlocken. „Also?“
 

„Ihr habt doch groß und breit erklärt, dass es zu gefährlich ist“, rechtfertigte sich Peter, auch wenn er nicht wirklich verstand, wieso. War Eva etwa enttäuscht von ihm?
 

„Du hast recht. Dumm von mir.“ Mit diesen beinahe wehmütig klingenden Worten zog sie schließlich wieder von dannen und ließ das Trio um Lily, Momo und den Jungen verdutzt hinter sich.
 

„Sie kann so seltsam sein“, sinnierte die Waldelfe über ihre Freundin. „Vielleicht will sie aus dir auch einen Krieger machen!?“
 

Peter rümpfte die Nase. „Ich habe keinerlei Interesse daran, gegen irgendwen oder irgendwas zu kämpfen!“
 

Lily, die sich wie ein nasses Handtuch auf den Rücken Momos geworfen hatte, applaudierte vor Begeisterung und schmeichelte dem Menschen sofort. „Es gibt also doch noch vernünftige Exemplare eurer Spezies. Wir würden ein tolles Paar abgeben, du und ich“, gluckste sie frohlockend.
 

„Ich glaube nicht an Elfen“, konterte der Junge humorvoll.
 

Alle Aufmerksamkeit galt jedoch sehr bald wieder den mutigen Soldaten, die es fertiggebracht hatten, den Querelen Aarves einen Riegel vorzuschieben. Für den Moment, so schien es, hatte er sich jedenfalls geschlagen gegeben. Abgefertigt und darüber alles andere als begeistert nahm der Finne auf einem Steinklotz in der Nähe der Höhle platz, scheinbar fest entschlossen, Lester und den Damen als Nachhut zu folgen, sollte es denn nötig werden.
 

„Passt bitte auf Lily auf, ja?“
 

Eva wusste im Voraus, wie dieser mütterliche Ratschlag bei der kaum jüngeren, dafür aber umso stolzeren Elfe ankommen würde. Vielleicht verabschiedete sie sich auch gerade deswegen mit jenen Worten. Sie folgte Lester, der den Weg mit einer Fackel erhellte und ging der Assassine Viola voraus, die ihre Armbrust im Anschlag bereithielt.
 

„Sie sollte dieses Mal lieber besser auf sich selbst aufpassen, pah!“ Das wahrhafte Sorge dahinter steckte, konnte Lily kaum verbergen.
 

„Lester wird sie schon im Auge behalten“, beruhigte Peter, der mit verschränkten Armen an Momos Seite selbst wachende Blicke auf die im Schatten verschwindende Gruppe warf, auch seine eigenen Nerven.
 

„Und wer wird auf ihn aufpassen?“ Lily beobachtete den immerwährend wütend dreinschauenden Aarve aus den Augenwinkeln.
 

„Der wird schon klar kommen.“
 

Auf eine Auseinandersetzung mit dem aufbrausenden Blondschopf hatte Peter am allerwenigsten Lust. Er mochte ihn nicht und war sich auch sicher, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Bisher hatte Aarve dem Franzosen gegenüber zu keiner Zeit Anstalten gemacht, sich von einer neutralen, geschweige denn freundschaftlichen Seite zu zeigen.
 

...

... ...

... ... ...
 

Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit)
 

Kaum zu glauben, aber sie hatten es tatsächlich aus dem Hauptgebäude geschafft. Mit den Schlüsseln des Wärters standen den beiden jungen Finnen die Türen in die Freiheit buchstäblich offen. Doch war das Areal alles andere als schlecht bewacht, erst recht im Freien würde ihr waghalsiges Unterfangen auf eine harte Probe gestellt werden.

Es war kalt hier draußen, insbesondere zu so später Stunde, doch war Aarve für die Dunkelheit dankbar. Die Orientierung im Hinterhof fiel ihm merklich schwerer, als Jari, der die Gefilde wie seine Westentasche zu kennen schien. Wie viele Jahre seines jungen Lebens er schon an Orten wie diesem verbracht hatte, hatte Aarve nie von ihm erfahren.

Das Duo schlich an der Wand des flachen Kantinen-Komplexes entlang, Jari sagte, hier wäre der Winkel für die Suchscheinwerfer tot und man könne sie gar nicht entdecken. Aarve vertraute den vielversprechenden Worten seines Zellengenossens nicht wirklich, war jedoch viel zu nervös, jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
 

„Halt!“ zischte Jari. Keine Sekunde später passierte der Lichtkegel eines Scheinwerfers das Gebiet vor den beiden. „Ha ha ... knapp, was?“
 

„Findest du das witzig?“ Aarve hatte alle Mühe sein Entsetzen zu verbergen.
 

„Shh!“, ließ Jari wiederum keinerlei Zweifel daran aufkeimen, wer der Führer auf dieser Reise ins Ungewisse war.
 

„Wir sollten vorsichtiger sein“, flüsterte sein Freund vorwurfsvoll.
 

„Wir sollten uns vor allem beeilen“, meinte Jari darauf.
 

„Was meinst du?“
 

„Irgendwann werden die sicher merken, dass nur Kissen und Bücher in unseren Betten liegen.“
 

„A-aber ...“ Nur zu gerne hätte Aarve dem Kerl hier und jetzt eine verpasst, doch hielt er sich zurück. Letzten Endes war er sich der Gefahren bewusst gewesen. Es keimten Zweifel in ihm auf, ob das alles hier wirklich eine gute Idee war. „Verdammt nochmal ...“
 

„Lass mich jetzt nicht hängen, Mann!“
 

„Schon gut, schon gut! Beweg dich!“
 

Die Entscheidung war endgültig gefällt: Gab es zuvor noch eine Möglichkeit, wieder umzukehren und die gestohlenen Schlüssel sonstwo zu deponieren, war diese alsbald verwirkt. Jetzt galt es für die zwei Sträflinge vor allem schnell zu sein und diesen Abschnitt ihres Lebens hinter sich zu lassen.
 

... ... ...

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Dass sie genau zur rechten Zeit die Felder erreichte, lag zu Reynes Überraschung an ihrer Abstammung, denn wie sich schnell herausstellte, hatten die Soldaten um Alain zwei ihrer Artgenossen gefangen genommen, als sie auf der Heimreise nach Tapion waren. Zwei Jäger – soviel konnte Reyne, auch ohne die beiden gesehen zu haben, sofort schlussfolgern. Es mussten einfach Überlebende des Trupps gewesen sein, die im Tal von den Gamms aufgerieben worden waren.

Das Bauernhaus hatte sich für Reyne als wahrer Palast entpuppt. Es war lange her gewesen, dass die junge Dunkelelfe in einer so geräumigen, prunkvoll ausgestatteten Behausung residierte. Selbst in den besseren Vierteln der riesigen Festung Vyers war alles weitaus rustikaler gehalten als hier im Idyll der offenen Natur. Die Herren dieser Ländereien mussten Könige sein; nicht vorstellbar, dass sie ihre üppigen Felder selbst bestellten.

Ein Blick in die leeren Augen eines der rastenden Soldaten riss sie aus ihren belanglosen Gedanken. Die Frauen und Männer, die sie vor wenigen Stunden noch so herzlich empfangen hatten, verdankten den dramatischen Umschwung ihrer Gemütslage den Erzählungen der Dunkelelfe. Ausführlich hatte sie den Soldaten das Schicksal ihrer Kameraden offenbart. Keine Überlebenden – so das niederschmetternde Fazit ihrer Geschichte ... ihrer Reise ...

Auch wenn Reyne zunächst zögerte, da sie die Trauer dieser Menschen durchaus verstand und respektierte, vergaß sie ihr eigenes Anliegen nicht. Bedacht schritt sie in die Küche des Hauses, deren Größe mehr an einen Speisesaal erinnerte. Das stark gemaserte Ebenholz der Wände strahlte dennoch ein wohlige Wärme aus, ließ die Räumlichkeit etwas enger wirken. Alain und einige seiner Leute saßen am Esstisch bei Wasser, Brot und frischem Obst. Keinem von ihnen stand in dieser schweren Stunde der Sinn danach.

Reyne tastete sich vorsichtig nahe an Alain heran und fragte schließlich: „Darf ich mit den beiden gefangenen Dunkelelfen sprechen, Alain?“ Ihre Höflichkeit drückte sich in ihrem zaghaften, beinahe kindlichen Tonfall aus. Weder wollte sie jemanden verärgern, noch irgendwie ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen, dazu fühlte sie sich zum einen zu fremd in dieser Gemeinschaft, zum anderen erbot es ihr der Respekt vor der Trauer der Menschen.
 

„Ach ja richtig, beinahe hätte ich es vergessen“, stieß Alain mit kraftloser Stimme aus. „Einer meiner Männer bewacht sie im Schuppen“, erklärte er der exotischen Frau. „Es ist der kleinere von beiden, ein etwas älterer Anbau gleich zu deiner Linken, wenn du das Haus verlässt“, fügte er noch hinzu.
 

„Ich danke dir.“
 

„Nicht nötig.“ Tatsächlich wirkte der stramme Kerl beinahe gerührt. „Ich bin nur froh, dass es überhaupt jemand geschafft hat.“
 

Mehr als ein zustimmendes Nicken brachte die scheue Dunkelelfe darauf nicht zustande. Es ärgerte nur sie selbst, derart ängstlich auf die freundschaftlichen Gesten des Mannes reagieren zu können, doch hatte sie sich mit dieser Facette ihres Charakters längst abgefunden und ihre Schüchternheit als Teil ihres Wesens zu akzeptieren gelernt. Es brachte durchaus auch Vorteile mit sich – nicht zuletzt im Hinblick auf das andere Geschlecht.
 

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Aarve lief einige Meter entfernt von Peter nervös auf und ab. Der Franzose konnte nicht erahnen, was in dem merkwürdigen Kerl vor sich ging. Dessen eigenen zynischen Schlagseiten war es zu verdanken, dass es auch niemanden wirklich interessierte. Wirkliche Sorgen machte Peter sich um Lily; die zottelige Waldelfe zog es immer näher zu dem finsteren Höhleneingang, in dem ihre Freunde vor mehr als einer halben Stunde verschwunden waren – zumindest schätzte Peter, der auf funktionierendes Gerät zur Zeitmessung verzichten musste, dass es ungefähr so lange her sein musste.
 

„Lily?“ rief er mehr fragend als fordernd. Die Elfe drehte sich nicht mal zu ihm um, winkte nur gelangweilt ab. „Was hast du vor?“ bestand Peter auf eine Erklärung.
 

„Nichts!“ ertönte es kurz und knapp und mindestens ebenso scharf.
 

„Nach 'Nichts' sieht mir das aber nicht aus ...“
 

„Wer bist du, mein Vater?“
 

Jetzt starrten zwei wütende Augen den Jungen an. Er hatte keinerlei Bedürfnis, das Mädchen zu bevormunden, doch dem Trio in die Höhle folgen lassen, würde er sie ebensowenig. Peter fühlte sich in gewissem Maße verantwortlich für Lily, die zweifellos weit besser wusste, wie man in der Natur auf sich allein gestellt überlebte – das war schon ihrer Herkunft und Abstammung geschuldet –, nichtsdestotrotz fremd in dieser Gegend war.
 

„Du kommst da jedenfalls nur über meine Leiche rein!“ Woraufhin das zierliche Ding ihm ein durchtriebenes, vielsagendes Grinsen entgegnete. „Mach keinen Unsinn“, stammelte Peter noch.
 

Zu seinem Erstaunen kam Lily der Bitte jedoch alsbald nach und schlenderte mit verschränkten Armen und noch immer grinsend zu ihm zurück. „Keine Sorge, Paps.“ zog sie den Jungen, dessen Beschützerinstinkt ganz neue Formen angenommen zu haben schien, auf. „Nichts und niemand würde mich da rein bekommen. Ich habe nur etwas gesucht.“
 

„Und nicht gefunden?“
 

„Zu meinem Erstaunen, nein!“ Die Elfe sprach in Rätseln.
 

„Darf ich dann auch erfahren, wonach du gesucht hast?“
 

„Wenn du es wirklich wissen willst: nach Feen“, hieß es kurz und knapp.
 

„Und du hast hier Feen erwartet, weil ...“
 

„Weil man sie eben überall findet, Dummkopf!“
 

Warum er das hätte wissen sollen, gab Peter neuerliche Rätsel auf. „Ist das so?“
 

„So ist das!“ Alsbald bereitete sich die jugendliche Waldelfe auf einen Vortrag sondergleichen vor; nahm dafür gar auf dem Rücken Momos Platz, um ihren Schüler standesgemäß zu überragen. Einen kurzen Augenblick dachte sie gar daran, Aarve in das Gespräch miteinzubeziehen, doch der temperamentvolle, wütend dreinblickende Blondschopf schien voll und ganz in Gedanken verloren. „Feen und andere Naturgeister sind für das bloße Auge unsichtbar.“ Soviel zur überraschten Reaktion des Jungen – gut, dass Lily ihn erst einen Dummkopf geschimpft hatte, um sich danach einsichtig zu zeigen ... „Obwohl es auch Individuen unter ihnen gibt – den Feen vornehmlich – die sich für die unsere Ebene des Seins interessieren. Ihre Neugier verleitet sie dann gerne dazu, eine Form anzunehmen, die sich sogar deiner ungeschulten Wahrnehmung erschließt.“
 

„Ungeschult?“
 

Lily klang ganz und gar hochtrabend – daran gab es rein gar nichts zu beschönigen. Sie genoss ihre Rolle als wandelndes Lexikon. Ihr Zuhörer hielt sie keinen Moment lang für so schlau wie sie gern auf ihn gewirkt hätte, doch nahm Peter es mit einem Lächeln. Es gab durchaus noch mehr Dinge in Minewood, von denen er nichts verstand; warum sich also nicht etwas weiterbilden?
 

„Erinnerst du dich nicht?“
 

„An das Ding im Baum?“ erwiderte Peter plump.
 

„Dieses Ding war eine solche Fee, ja, und der Baum“, betonte Lily mit einem übertrieben idiotischen Gesichtsausdruck, mit dem sie den Franzosen imitieren wollte, „ist zufällig mein Zuhause!“ Peter verkniff sich ein Kichern daraufhin nicht. „Ihr Menschen denkt alle, ihr wärt so besonders.“
 

„Huh?“ Erneut amüsierte sich der Neunzehnjährige über ihre Worte. „Wirklich nicht, nein.“
 

„Warum machst du dich dann über die Geheimnisse dieser Welt lustig?“
 

„Tu ich nicht!“ wies Peter den Vorwurf entschieden von sich. „Es ist nur ...“
 

„Was?“
 

Langsam beruhigte sich Peter wieder. „Du wärst eine miserable Lehrerin.“
 

Sofort plusterte sich das zierliche Wesen auf. Ihren hochroten Kopf wandte sie erbost ab von dem Fiesling, der ihr so frech in die Parade gefahren war. Jedoch kam sie nicht drum herum, sich ihre kleine Ansprache noch einmal vor Augen zu führen. Ohne es zu wollen – ohne anders zu können – stimmte sie schließlich in das Gelächter des Jungen mit ein. In ihrem Stolz verletzt wegen einer solchen Kleinigkeit? Nein, wirklich nicht; das war einfach zu komisch!
 

„Könnt ihr nicht mal die Klappe halten?“ erklang es aus nächster Nähe. Aarve hatte sich in dem kleinen Tumult unbemerkt zu den beiden begeben und machte deutlich, was er wollte. „Ich leih mir das mal kurz aus“, verkündete er dreist und zog kurz darauf das Kurzschwert, das Peter von Miraaj als Geschenk überreicht bekommen hatte, aus dem Gepäck des Jungen, das zu Hufen Momos lag.
 

„Hey!“ Peter reagierte sofort zornig. „Was fällt dir eigentlich ein!“
 

Ohne Umschweife hievte Aarve den antiken Stahl in die Höhe und hielt ihn dem Franzosen drohend vor die Brust. „Du bekommst es bald zurück, verstanden?“ Keine Antwort. Peter schien geradezu schockiert, dass Aarve so weit zu gehen bereit war. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“
 

Ohne noch einen Blick zurück auf den perplexen Jungen und seine exotische Freundin zu werfen, machte sich der Finne auf, den drei Soldaten in die Höhle zu folgen. An seiner Entschlossenheit war nicht zu zweifeln. Warum er es tat – was ihn bewegte – wusste einzig und allein er selbst.
 

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Tampere, Finnland. Ein Jahr früher (Erd-Zeit)
 

Sein Atem war schwer; er spürte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper. Als der Alarm ausgelöst worden war, hatte Jari ihn angehalten, die Beine in die Hand zu nehmen. Zuerst hatte er noch gezögert, aus Angst, alles nur noch schlimmer zu machen; doch schlussendlich folgte er seinem Kameraden. Irgendwann hatte er ihn gar eingeholt und auf dem Weg in die Wälder hinter sich gelassen. Jetzt stoppte Aarve zum ersten Mal. Die Sirenen des Gefängnisses waren nicht mehr zu hören, womöglich waren sie schon wieder abgestellt worden. Ohne Zweifel war man ihnen auf den Fersen. Wie lange konnte es dauern, bis die Wachen und die Hunde sie fanden? Wo um alles in der Welt war Jari abgeblieben? Aarve wollte nach ihm rufen, ließ den Unsinn dann aber bleiben, um nicht unnötig auf sich Aufmerksam zu machen; alleine hatte er vielleicht eher eine Chance. Vielleicht hatte er auch nur alleine eine Chance, das alles hier heil zu überstehen.

Dann sah er schwach das wild flackernde Licht einer Taschenlampe in der Ferne. Sofort versuchte Aarve sich im Schlagschatten eines Baumes zu verstecken; von dort aus wollte er zumindest für einen Moment beobachten, was vor sich ging. Sein Verstand sträubte sich zwar, wollte weiterlaufen soweit seine Füße ihn tragen würden, sein Herz jedoch konnte es nicht verantworten, im Ungewissen über Jaris Schicksal einfach davon zu rennen. Tatsächlich erkannte er schon bald die Schemen eines Menschen, den der Lichtkegel ab und zu traf, jedoch nie auf ihm verweilte. Wenn es wirklich Jari war, dann gab es für die beiden vielleicht doch noch Hoffnung.

Aarve verließ den Sichtschutz des breiten Baumstammes langsam in der Hocke. Bald hörte er auch das wilde Rascheln, das die schnellen, unregelmäßigen Schritte seines Kameraden verursachten.
 

„Hey, hier bin ich, Jari!“ machte Aarve nun endlich auf sich aufmerksam, und das lauter, als es gut gewesen war.
 

Das Rascheln verklang sofort. Jari hatte ihn gehört.
 

„Hier!“ gab Aarve sich noch ein weiteres Mal zu erkennen.
 

Diesmal konnte Jari die Richtung, aus der das Rufen kam, genau ausmachen. Er verschwendete keine Zeit, sich wieder mit seinem Komplizen zusammenzutun. Als der völlig erschöpfte Kerl seinen Landsmann erreichte, stand ihm sowohl Erleichterung als auch Angst ins Gesicht geschrieben. „Die haben uns“, keuchte er.
 

„Noch hat uns keiner!“ ermutigte ausgerechnet Aarve den Drahtzieher dieses zum Scheitern verurteilten Unterfangens. In der Stunde der Niederlage und der Schwäche seines Kumpanen war er entschlossener als je zuvor. „Wir rennen einfach weiter, hörst du?“
 

„Wohin denn? Die kriegen uns doch sowieso!“ jammerte der verängstigte Kerl – sein Wille schien gebrochen. „Es tut mir leid, Aarve“, zumindest seine Rolle bei diesem Fiasko wusste er noch richtig einzuschätzen.
 

„Sei still!“ kam es ihm daraufhin scharf entgegen. „Wir rennen, bis wir umfallen, kapiert!? Ich geh nicht wieder zurück, auf keinen Fall!“
 

„A-aber ...“ Jari atmete noch immer so schwer, als hätte er die letzte halbe Stunde unter Wasser verbracht. „Aarve!?“
 

Der Blondschopf hatte sich schon einige Schritte von ihm entfernt und drauf und dran wahr zu machen, was er angekündigt hatte. Er wollte tatsächlich weitermachen, wenngleich die Situation aussichtslos schien. Einmal blickte Aarve noch zurück, streckte seinem Freund die Hand entgegen.
 

„Komm!“ wies er ihn an, und das Häufchen Elend, das Jari verkörperte, setzte sich noch einmal in Bewegung, während das Gebrüll der Wachen und das Bellen der Hunde immer lauter wurde.
 

Gerade zwei Schritte konnte er noch machen, dann endete der Traum von der Freiheit für ihn und Aarve endgültig. Die Kugel traf Jari im Hals, durchbohrte ihn und zischte einen knappen halben Meter an seinem Komplizen vorbei. Feine Fäden warmen Blutes spritzten in abstraktem Muster auf dessen Hemd, Arm und Gesicht.

Aarve war völlig starr vor Entsetzen; er nahm gar nicht zur Kenntnis, wie ein von der Leine gelassener Schäferhund mit aller Kraft am Bein des Toten zu zerren begann, kaum als Jari zusammengesackt und schließlich vornüber in den Dreck gefallen war. Auch das jämmerliche Wimmern des näher kommenden Wärters, dessen dilettantischer Warnschuss so katastrophal daneben gegangen war, vernahm er nicht.
 

„Oh Gott ... oh Gott ...“ ertönte es immer wieder aus der staubtrockenen Kehle des Mörders. „D-das w-wollte ich nicht!“ versuchte er sich zu rechtfertigen, vor allem vor Gott und sich selbst. „Es war ein ... ein Unfall ...“
 

Erst die nächsten beiden Wachleute, die beinahe zeitgleich am Ort des Geschehens eintrafen, begannen nach dem ersten Schock, den auch sie nicht verbergen konnten, damit, Aarve abzuführen. Sie hätten den Jungen wohl auch noch nach Tagen unverändert an Ort und Stelle finden können. Er war nicht ansprechbar, gar nicht mehr Teil dieser Welt, so schien es.
 

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Es war kein würdiger Ort für zwei Gefangene solch erhebender Abstammung – das sicher nicht –, dennoch zweifelte Reyne keine Sekunde daran, dass weder der schlaksige, kantige junge Kerl noch seine schöne Kameradin auch nur Ansatzweise so schlecht behandelt worden waren, wie die Menschen von den dunkelelf'schen Artgenossen in Caims. Beim Anblick der beiden, wie sie sich weit entfernt voneinander einen Platz in der geräumigen, jedoch baufälligen Stallung gesucht hatten, huschte Reyne ein Grinsen über die Lippen. Sang wandte sich sofort zu der eintretenden Frau um und war umso überraschter, eine offensichtlich frohlockende Dunkelelfe vor sich stehen zu haben.
 

„Was haben die uns ins Wasser getan?“ fragte er leise, mehr an sich selbst gerichtet; dann lauter: „Wer zum Teufel bist du?“ Zur Höflichkeit war der Knabe jedenfalls nicht erzogen worden. „E-eine Dunkelelfe, die bei den Menschen ein und aus geht?! Ich ...“ Er konnte es nicht fassen. Ohne auch nur das kleinste Detail über seine Artgenossin in Erfahrung gebracht zu haben, verurteilte Sang sie auch schon. Seine tief empfundene Abscheu stand dem jungen Mann in sein eckiges Gesicht geschrieben.
 

„Ich fürchte, das geht dich gar nichts an“, reagierte Reyne ganz süffisant auf die Antipathien, die ihr entgegnet wurden. Ihre Aufmerksamkeit galt dabei mehr dem regungslosen Mädchen am anderen Ende der Stallung, das zusammengekauert im Schatten die Wand anstarrte. Sie rührte sich kein Stück von der Stelle, als Sang seinem Temperament Luft verschaffte. „Was ist mit ihr los?“
 

Sang rümpfte die lange Nase und spuckte der Verräterin plakativ vor die Füße. So viel halte ich von dir, verrieten seine funkelnden Augen. Er war auch noch stolz auf sein widerliches Benehmen.
 

Das Opfer jener Unsittlichkeit nahm es gelassen. „Schätze, du bist nicht zu Gesprächen aufgelegt.“
 

„An eine feige Verräterin habe ich keine Worte zu verlieren“, verhöhnte Sang sie nur noch weiter. Reyne bemerkte einige Ohrlöcher und gar eines in der Nase des Elfs. Sicher waren dort einst Schmuckstücke angebracht gewesen. „Zu feige sogar, mir ihren Namen zu verraten.“
 

„Was würde dir das bringen?“ kam es ihm umgehend entgegen. Doch war das noch nicht alles. „In Adessa kennt man mich unter dem Namen Reyne. Und wie nennen sie dich?“
 

„Reyne ...“ Sang grübelte vergebens. Der Name war ihm nicht bekannt. „Aus welchen modrigen Spelunken deine armseligen Vorfahren auch immer gekommen sein mochten, sie würden sich schämen für---“
 

„Hüte deine Zunge, oder du verlierst sie!“ Zum ersten Mal zeigten die abschätzigen Worte des Dunkelelfs Wirkung. Reyne hielt dem grinsenden Maulheld ihr Schwert unters Kinn. Wie die Ironie es wollte, hatte Sang einen wunden Punkt bei ihr getroffen: Sie hatte ihre Eltern niemals kennengelernt. Wer weiß, wer sie wirklich waren ... wie sie wirklich waren. „Wenn du nur zu spotten imstande bist, vielleicht sollte ich mich dann lieber ihr zuwenden“, drohte Reyne aus den Augenwinkeln zu der apathischen Frau lugend. Überraschenderweise schien auch sie mit ihrer neuerlichen Taktik ins Schwarze getroffen zu haben.
 

„Leiria hat schon genug durchmachen müssen du ...“ Er verkniff sich die Beleidigung aus Respekt vor der Klinge an seiner Kehle – gerade noch. „Niemand mit auch nur einem Funken Anstand würde sich an ihr vergreifen!“
 

„Leiria, huh?“ Merklich zufrieden senkte Reyne ihr Schwert und ließ es zurück in die Scheide gleiten.
 

„D-du ...“ Sang hatte gar nicht bemerkt, wie ihm zuallererst der Name seiner Kameradin herausgerutscht war. „Wie tief willst du noch sinken?“
 

„Ich?“ Reyne lachte. „Diese Frage solltest du dir selber stellen und dann auf die Menschen übertragen, die euch hier in diesen vier Wänden Speise und Trank ausgeben, anstatt euch den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen!“
 

„Also bist du eine von ihnen.“ Stand es für ihn denn wirklich noch außer Frage? „Ein Menschenfreund!“ Sang wich angewidert einen Schritt zurück. „Nimmst sie sogar in Schutz! Diese Tiere!“
 

„Wie Tiere haben sie euch also behandelt? Wann war das: Bevor oder nachdem sie euch vor den Gamms gerettet haben? Haben sie euch schon zur Zwangsarbeit geschickt, oder in die Minen, in die Wüste womöglich?“ Es war keinesfalls ihr Ziel gewesen, eine Debatte über die Sitten und Unsitten der Dunkelelfen anzuführen, welche die Menschen in Sachen Grausamkeit im Umgang mit der jeweils anderen Spezies zweifelsohne um Längen übertrafen, und doch bezog sie derart klar Stellung, dass es sie selbst verwunderte.
 

„Was zur Hölle willst du also?“ wollte Sang die schmerzenden Lobeshymnen auf die verhassten Menschen wieder verklingen lassen.
 

„Antworten auf meine Fragen, alle meine Fragen“, drückte sie sich klar und deutlich aus. „Und wenn du sie mir nicht freiwillig geben willst, dann holen ich und meine Menschenfreunde sie uns eben mit Gewalt – von deiner Freundin, kapiert?“ Ernsthaft hatte Reyne diese Option zwar nicht in Betracht gezogen, doch wusste sie bei dem arroganten Jägersmann mittlerweile die richtigen Knöpfe zu betätigen, um ihn aus der Reserve zu locken.
 

„Ich bin Sang, erster und einziger Sohn des großen Ortoroz, dem ersten Offizier und Führer der gesammelten Streitkräfte von Lord Gardif“, beantwortete der Elf die Frage, die ihm Reyne eingangs gestellt hatte, pro forma wie ein guter Soldat.
 

„Ortoroz' Sohn?“ Reyne war verblüfft und konnte es kaum glauben. Nach näherer Betrachtung erinnerte sie sich jedoch an ein Treffen mit dem jugendlichen Sang. Es musste kurz nach dessen Einberufung zu den Jägern gewesen sein: Sie war damals eine von drei weiblichen Leibwachen des Kommandanten. Ihre Anwesenheit bei jenen Anlässen war eine von vielen Bevorzugungen, die Reyne in den ersten Monaten als Soldatin zuteil wurden; ihre heroische Tat im höchsten Turm ward nie vergessen.
 

„Unsere Namen sind dir also bekannt, ja?“
 

„Nun, wie du auch bin ich ein Kind Vyers'“, räumte sie Missverständnisse aus. „Ich kann mich auch noch gut an die pikanten Gerüchte erinnern, die die Runde machten, als bekannt wurde, dass dem Sohn des stolzen Ortoroz eine Karriere im Militär nicht vergönnt war.“
 

Der noch stolzere Sang begann vor Wut zu kochen. „Das gefällt dir, was? Mich zu erniedrigen!?“
 

Reyne verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, wie ironisch diese Worte aus seinem Munde klangen. Im Prinzip war der Knabe sogar ein Leidensgenosse von ihr, was diese bestimmte Unzulänglichkeit anging. „Wie auch immer ... was mich wirklich interessiert, ist, warum ihr den Angreifern im Geheimen gefolgt seid.“
 

„Was glaubst du wohl?“ zischte der Elf.
 

„Plant Gardif einen Vergeltungsschlag gegen die Menschen?“
 

„Selbst wenn er das ursprünglich nicht getan hat, was denkst du, werden die Kameraden in der Heimat tun, wenn sie erfahren, dass wir vermisst werden?“ Eine Frage, auf die Sang an allererster Stelle selbst zu gern selbst eine definitive Antwort gehabt hätte.
 

„Meinst du, dein Leben ist wichtig genug, dafür einen Krieg zu riskieren?“ Keine Wort drang aus der Kehle des jungen Mannes. Er hegte Zweifel daran. „Und die Menschen würden euch beide sicher aushändigen, wenn sich dadurch ein Konflikt vermeiden ließe.“
 

„Pah!“ echauffierte Sang sich lauthals. „Das würde auch nur alles hinauszögern.“
 

„Man sieht die Menschen in Tapion jetzt also als Bedrohung an ...“ Was die große Mehrheit den waghalsigen Aktionen der Soldaten um Eva zu verdanken hatte. Ganz wie Elmo hatte auch Reyne von Anfang an arge Bedenken gehabt, was Evas Pläne anbelangte.
 

„Bedrohung? Das soll wohl ein Witz sein!? Diese Bauerntölpel mit ihren Mistgabeln sind allerhöchstens lästig. Eine Plage, von der die Welt befreit werden muss; das ist alles.“
 

„Ha ha ha.“ Etwas amüsierte die Dunkelelfe: Sangs Hochmut gründete sich auf seiner eigenen Unwissenheit.
 

„Was ist so verdammt komisch, huh?“
 

„Sagen wir so: Ich werde mein Möglichstes tun und ein gutes Wort für euch bei Alain einlegen, damit ihr die Reise nach Tapion mit uns bestreiten dürft.“ Sang bekam umgehend große Augen. „Wenn wir die Felder der Bauerntölpel hinter uns gelassen haben, wirst du die Dinge vielleicht in einem anderen Licht sehen, Sang.“
 

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Es war ganz und gar nicht der Anblick, den sie alle erwartet hatten. Zwar war die Suche nach den wilden Tieren in gewisser Weise ein Erfolg gewesen, doch sie in diesem Zustand vorzufinden, in erster Linie eine faustdicke Überraschung.

Die Höhle erstreckte sich bis weit in den Berg hinein und bot auch in die Vertikale mehr als genug Platz für die Menschen, die sie so mutig erkundeten. Die Luft war schal und stickig, in diesem besonderen Oval gar modrig. Es roch nach Verwesung, und der Grund dafür lag offenkundig auf dem kargen Felsboden verstreut.
 

„Kojoten“ Lester, der über einen der weniger in Mitleidenschaft gezogenen Kadaver gebückt war, gab sich einsilbig.
 

„Nicht mal von besonderer Abstammung oder dergleichen“, sinnierte Eva über den Schrecken. Ein ganzes Rudel der abgemagerten Tiere lag in den Tiefen dieses Höhlensystems begraben, teilweise bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt in den eigenen Eingeweiden gebettet.
 

„Scheinbar ist uns jemand zuvorgekommen“
 

Violas Worte brachten Eva zum Nachdenken. „Niemals hätte wir so ein Blutbad angerichtet!“ gab sie sich idealistisch. „Es sieht fast aus, als wären sie ...“
 

„Angenagt worden, ja“, vollendete Lester den Satz.
 

Eva zuckte bei dem Gedanken zusammen. Der Gestank war kaum noch auszuhalten – allzu lange konnte das Massaker jedenfalls noch nicht zurückliegen.
 

„Die Frage ist: Sind diese Biester hier wirklich die Räuber, die den Wagen draußen in der Prärie überfallen haben, oder ...“ Als erzählte sie eine Spukgeschichte, stoppte Viola plakativ.
 

„Oder was?“ Die junge blonde Anführerin sprang sofort darauf an, ihre Fantasie drehte sich längst im Kreise. „Wer soll es sonst gewesen sein?“
 

Was auch immer dieses stolze Rudel hier wie Papier zerrissen hat, zum Beispiel“ Wenn Viola den Augenblick auch genoss, da es ihr gelungen war, die frühreife Soldatin wie ein ängstliches Kind vorzuführen, so fühlte sie gleichermaßen tiefes Unbehagen. „Es muss ein beachtliches Biest gewesen sein.“
 

„Du glaubst nicht, dass es Menschen ...“ Violas Kopfschütteln erstickte Evas Frage frühzeitig.
 

„Die Spuren, auf die wir gestoßen sind, stammen aber von diesen Tieren hier“, zeigte sich Lester skeptisch. „Wenn die Kojoten den Lebensraum des oder der Wesen betreten und es dadurch provoziert haben, sollten wir es dabei belassen und nicht den gleichen Fehler begehen.“
 

„Haben wir das nicht schon?“ Auch die schwarze, gertenschlanke Assassine schien trotz der saloppen Kommentare besorgt.
 

„Wir sollten achtgeben und ...“ Eva kam ins Grübeln. Sie suchte eifrig in Gedanken nach der besten Lösung.
 

„Gehen wir eben wieder“, schlug Viola vor. „Die Kojoten haben die Leute überfallen, und die ... tja, die sind jetzt tot. Ihr Schlächter soll von mir aus diese Höhlen hier so lange in Anspruch nehmen, bis die Sonne erlischt!“
 

Versichernd blickte Eva zu ihrem Mentor, der Violas Vorschlag nickend absegnete. „Das wäre wohl das Beste. Nicht das unsere Rasselbande da draußen auf dumme Gedanken kommt und ...“
 

Der Schrei des todesmutigen blonden Abenteurers ließ Lester seine Worte verfluchen. Dieser verdammte Hitzkopf konnte wirklich keine Stunde stillsitzen, ohne dass sein zorniger Geist ihn zu irgendwelchen Dummheiten hinriss. Dieses Mal war er vielleicht zu weit gegangen.
 

„Aarve dieser Trottel!“ rief Lester, der sich aber noch im selben Moment aufmachte, dem Finnen zur Hilfe zu eilen.
 

Noch vor ihm schob sich Viola durch die engen, dunklen Korridore aus scharfkantigem Gestein, die Fackel vor sich her tragend. Sie eilte wie besessen gen Eingang, den richtigen Weg durch die verwinkelten Gassen instinktiv zurückverfolgend. Lester und Eva waren ihr dicht auf den Fersen und vertrauten ihrer Intuition. Sie alle hatten ihren Weg ins Innere des Berges mit Markierungen versehen, im Augenblick aber weder die Zeit noch die Geduld nach diesen Ausschau zu halten.
 

„Beeilt euch!“ mahnte Viola vor allem Lester, der wegen seiner bulligen Statur am meisten Schwierigkeiten hatte, sich durch die Gänge zu manövrieren.
 

So war es schlussendlich auch Viola, die sich als erste mit dem unwirklichen Anblick des Kampfes zwischen Mensch und Monstrum konfrontiert sah. „Aarve!“ gab sie sich lautstark zu erkennen und lenkte sowohl die Aufmerksamkeit des Mannes als auch die des Tieres auf sich, dessen unwirkliches Äußeres der tapferen Kriegerin Angst und Schrecken bereitete.
 

„Bleibt weg!“ wies Aarve seine Kameraden an, die nun alle drei in die kleine Grotte eingedrungen waren, in der der Finne auf das Ding gestoßen war.
 

„Was ist das nur, Lester?“ fragte Eva entsetzt, während sie das stämmige Biest musterte. Auch auf ihre Worte hin schenkte der grässliche Löwe ihr einen eindringlichen Blick aus seinen blutroten Katzenaugen.
 

Es war beinahe unmöglich an dem Vieh vorbei zu sehen. Seine massigen Schultern und voluminöse, dunkle Mähne bildeten einen schaurigen Rahmen für die vor Wut verzerrte Schnauze. Die gefletschten Zähne und seine Klauen, mit denen das Wesen ohne Zweifel die Kojoten zerrissen hatte, blitzten im reflektierten Licht von Violas Fackel regelrecht auf. Das Fell wirkte darin hingegen beinahe dunkler als die pechschwarze Schatten, die das Feuer an die Felswände warf.
 

„Das ist ...“ drang es heiser aus der Kehle des Kriegers.
 

„Was? Lester!“ Es gelang Eva glücklicherweise, den alten Mann wieder in die Realität zurückzuholen.
 

„I-ich“, stammelte er, bevor er sich wieder völlig gefangen hatte. „Ich werde ihn ablenken, während ihr euch in Sicherheit bringt, ist das klar?“ befahl der Älteste seinen Kameraden wüst, das lauernde Biest, das jeden Augenblick angreifen konnte, dabei fest im Blick.
 

„Aber---“
 

„Keine Diskussion, ich muss JETZT angreifen!“ brüllte der graue Riese und wuchtete seinen Zweihänder mit aller Macht so gut es ging hinter seinen Körper, um dem Monstrum wenn möglich mit einem einzigen gewaltigen Hieb das Leben zu rauben – ein weiterer wäre ihm aller Voraussicht nach nicht vergönnt.
 

Seine Vorbereitung lenkte die Aufmerksamkeit des Tieres ganz auf ihn, während Viola und Eva sich westwärts an den Wänden der Höhle – ganz im Schatten – Richtung Ausgang vorarbeiteten. Aarve war an die gegenüberliegende Wand gepresst. Sie beide hofften, dass ihr vermutlich verletzter Gefährte es ihnen gleichtun würde, doch nahm dieser Alptraum einen ganz anderen Verlauf.

Im selben Moment, in dem Lester zum Schlag ansetzte, sprang auch der Löwe auf ihn zu, das Maul weit aufgerissen und die mächtigen vorderen Pranken ausgestreckt. Doch noch bevor das Biest ihn erreichte, ließ großer Schmerz es aufschreien und seitlich in sich zusammensacken: Aarve hatte ihm das gestohlene Schwert von Peter fast bis zur Parierstange in den Bauch gerammt. Eines der kräftigen Hinterbeine schlug dabei nach ihm aus und warf ihn mit einem Ruck zurück an die Wand.

Lester – nur für den Bruchteil einer Sekunde perplex – nutzte die Gelegenheit und rammte sein riesiges Schwert mit der Spitze voran in den Kopf des Höllenwesens, das daraufhin am ganzen Leibe spastisch zu zucken begann und ein letztes panisches Röcheln hervorbrachte. Die Gefahr schien tatsächlich gebannt.

Lester suchte zuallererst nach Eva. Zwar erkannte er sie im spärlichen Licht von Violas Fackel nicht, doch ging er fest davon aus, das auch sie es geschafft haben musste, sich in Sicherheit zu bringen. Dann fasste er Aarve ins Auge, der erschöpft an der Westwand lehnte. Als er seinen Blick erwiderte, würdigte Lester den Mut des jungen Blondschopfs mit einem Lächeln, wie es ein stolzer Vater seinem Sohn nach guter Tat nicht ehrlicher hätte entgegnen können. Eva, Viola, er selbst – sie alle verdankten dem Wagemut des Heißsporns ihr Leben.
 

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Der Abend hatte klammheimlich zu dämmern begonnen. Gespannt warteten Lily und Peter noch immer auf die Rückkehr ihrer Freunde. Nach Aarves Entscheidung, sich dem abenteuerlustigen Trio anzuschließen, hatte sich alles nur noch länger hinausgezögert. Langsam aber sicher begann auch der Franzose sich ernsthaft Sorgen um seine Freunde zu machen. Die Waldelfe – immer in seiner unmittelbaren Nähe – war gar kaum noch zu halten.
 

„Peter?“ fragte sie zum x-ten Male. „Wo bleiben sie nur?“
 

„Ich weiß es nicht!“ platzte es schroff aus ihm heraus.
 

Lily wollte nur aufgemuntert werden und sich zumindest einreden, alles wäre in Ordnung, solange Peter ihr es fürsorglich versicherte. Nun drohte sie alle Hoffnung zu verlieren. Kindlich schlug sie die Hände vor ihr zartes Gesicht um doch noch irgendwie zu verhindern, lauthals loszuheulen.
 

„Hör mal, das tut mir wirklich---.“
 

„Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?“ ertönte es darauf aus dem Schatten des Höhleneingangs, dem sich Lily und Peter von Minute zu Minute Schritt für Schritt genähert hatten.
 

Zunächst stiefelte Viola aus dem Dunkel ins Tageslicht; sie schien bester Laune zu sein. Dann schob sich Eva an ihr vorbei – der Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Blick verriet deutlich ihre Besorgnis. Beide Frauen machten daraufhin Platz für Lester und Aarve, der von dem grauen Hünen gestützt wurde. Lester hatte noch immer ein Lächeln auf den Lippen, wenn der Anblick des jungen Mannes, dem er so fürsorglich unter die Arme griff, auch alles andere als belustigend war. Aarves Hemd war getränkt von Blut und auch auf Gesicht und Hals entstellten in wilder Anordnung rote Spritzer seine Haut, wenn eine Wunde auch nicht zu erkennen war.
 

„Was ist denn da drinnen passiert?“ bettelte Peter regelrecht um Erleuchtung.
 

„Unser Freund hier,“ erklärte der Älteste begeistert, „hat eine La'al Löwen erlegt!“
 

„La-was?“ Der Franzose hatte keine Ahnung, von wem oder was Lester da sprach.
 

„E-erlegt ... hast wohl eher du ihn“, zeigte sich Aarve überraschend bescheiden. Die Schmerzen waren ihm deutlich anzumerken.
 

„Ach was! Das Biest hätte mich verschlungen, wenn du nicht auf ihn losgegangen wärst.“ Mit diesen Worten setzte er den Finnen vorsichtig auf dem Boden ab, stützte ihm aber noch weiter den Rücken, bis Viola ihm diese Aufgabe dankend abnahm.
 

„Ich verstehe nicht!?“ musste sich auch die Elfe eingestehen, die vor allem darüber froh war, Eva und die anderen munter und – zum größten Teil – gesund wieder bei sich zu haben.
 

„La'al ist eine Region weiter westlich im alten Reich der Dunkelelfen. Legendär vor allem wegen der üppigen und vielfältigen Fauna. Das Biest in der Höhle,“ richtete sich Lester nun in erster Linie an die Beteiligten des Kampfes, die ebensowenig wussten, wovon er sprach, „war eine besondere Züchtung, die aus diversen Katzenarten hervorgegangen ist. Nicht weniger als das Wappentier Ballymenas: Der Löwe von La'al!“
 

„Und wie kam dieses Vieh hierher?“ fragte Aarve keuchend.
 

„Wahrscheinlich auf demselben Wege wie wir. Der Hunger wird es wohl irgendwann aus den Überbleibseln Ballymenas in die Prärie getrieben haben.“
 

„Bis es schließlich hier landete“, folgerte Viola, während sie dem tapferen Aarve Halt gab.
 

„Und wenn es davon noch mehr gibt?“ zeigte sich Eva besorgt. „Vielleicht ja sogar hier in diesen Höhlen!?“
 

„Dann könnten, nein, dann sollten wir es trotzdem dabei belassen“, schätzte Lester die Lage als zu gefährlich ein. „Eines dieser Biester hat jedenfalls ausgereicht, um das ganze Rudel Kojoten zu reißen, die den Vorratswagen überfallen haben, und war dann sogar noch so nett, sich von uns erlegen zu lassen, ha ha ha!“
 

„Können wir denn so weiterziehen?“ fragte Peter in Sorge über Aarves Zustand.
 

Der Finne richtete sich daraufhin mit Violas tatkräftiger Unterstützung auf und warf dem Neunzehnjährigen das blutverschmierte Schwert vor die Füße, das sich als eine überaus nützliche Leihgabe erwiesen hatte. „Das kriegen wir schon hin!“ feixte er und genoss dabei den klaren Triumph über den Helden Peter Dirand, der vielleicht zum ersten Mal seit dem Beginn der Reise von Ballybofey nach Tapion nicht im Vordergrund stand.



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