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Die Höhle

Kapitel 8 – Die Höhle
 

„Keinen Schritt weiter, Junge!“ Der tobende Ausruf der molligen Elfe hallte noch bis weit ins Tal hinein. Grund ihres Wutausbruchs war ihr eigener Sohn, ein – so dachte sie bisher zumindest-, schüchterner, zurückhaltender Elf, dessen Temperament kein Wässerchen trüben könnte. Und nun das! „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Ich bin deine Mutter!“
 

Empört flatterte die kreidebleiche Frau ihrem Jungen hinterher. Auch wenn sie einige Pfunde zu mobilisieren hatte, gelang ihr ein eleganter Flug durch die Tür ihrer Unterkunft, die nur mit einem seidenen Vorhang behangen war, der die Privatsphäre der kleinen Familie hüten sollte.
 

„Versuch nicht mich bitte aufzuhalten. Es wäre ohnehin zwecklos“, versuchte der dürre Elf die Tiraden im Keim zu ersticken. „Ich kann einfach nicht mehr länger hier bleiben“, fügte er noch an.
 

„Aber Jin, Ich ... Denkst du etwa ...“ Zwar brachte sie in ihrer Ratlosigkeit zunächst keinen vernünftigen Satz zustande, doch konnte die betagtere Elfendame dem Anschein nach gerade deswegen den sprichwörtlichen Schalter im Gewissen ihres Sohnes umlegen. Langsam versiegte dessen Enthusiasmus: Jin senkte sein Haupt, so als wüsste er, dass ihm eine bedeutende Ansprache unmittelbar bevorstand. „Denkst du denn nur an dich selbst?“, begann das Unausweichliche seinen Lauf zu nehmen. „Was wird denn dann aus mir? Erst dein Vater, und jetzt auch noch du! Weißt du denn nicht mehr, was beim letzten Mal geschehen ist?“
 

Kein Windhauch huschte in diesem Moment mehr durch den Elfenwald. Kein Vogel sang, kein Zweig brach mehr; kein Artgenosse schien weit und breit auch nur einen Ton von sich zu geben, in diesem kurzen, traurigen Moment.

Jin drehte sich um, die wütenden Augen starr auf seine Mutter gerichtet, wenn sein Zorn die ihm in sein schmales Gesicht geschriebene Traurigkeit auch nur schwerlich überdecken konnte. Dann brach er das elendige Schweigen.
 

„Ich weiß es noch, Mutter. Ich weiß es noch ganz genau.“
 

Und so zog Jin schlussendlich von dannen. Er ließ seine geliebte Mutter in Tränen zurück, jedoch nicht aus Gehässigkeit, oder gar Gleichgültigkeit. Ihr Wohl lag ihm am Herzen; mehr wahrscheinlich, als alles andere, war sie doch die einzig verbliebene Familie, die er noch besaß. Aufhalten, konnte sie ihn trotzdem nicht, dazu war er viel zu entschlossen und zu verzweifelt.
 

...

... ...

... ... ...
 

Ballybofey. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit)
 

Zu dritt wanderten die halbstarken Elfen durch den dichten, überwucherten Wald. Längst dämmerte es, und die letzten Sonnenstrahlen, die es noch vermochten, das Geflecht aus Ästen, Zweigen und dem Laub der riesigen Bäume zu durchdringen, verstarben nach und nach. Keiner der jungen Reisenden wirkte beunruhigt. Es war ihre Heimat. Sie kannten sich in diesem Labyrinth aus brusthohen Gräsern, dichtem Gebüsch und gewaltigen Mammutbäumen gar besser aus, als viele der Tiere, die hier stets und ständig hausten und immerhin noch genauso gut, wie die übrigen.

Einer der Ausreißer – ein zierlicher Jüngling, der sich ganz rechts aufhielt – blickte mit schelmischem Grinsen über seine Schulter, als wollte er sich versichern, dass ihm und seinen Freunden niemand folgte, zugleich aber die Hoffnung hegte, es wäre so. Sein ebenso drahtiger Artgenosse, der seinem Kumpanen bis auf den struppigen schwarzen Schopf verblüffend ähnlich sah, erkundigte sich nach dessen Gemütslage.
 

„Was ist denn los, Keean [Kie-ahn] ?“
 

Zufrieden stemmte der Waldelf die Hände in die Hüften,und plusterte sich auf. Kurz darauf hob er vom Boden hab. Seine dünnen, seidenen Flügel begann hell zu leuchten. Goldene Staubkörner regneten unerlässlich von ihnen herab und versiegten nur Augenblicke später im seichten Abendwind.
 

„Wir sind weit genug gelaufen!“, tönte der Elf. „Uns folgt niemand, und sehen, kann uns hier auch keiner mehr!“, belehrte er seinen gleichaltrigen Kumpanen triumphierend.
 

Noch bevor der seiner Empörung freien Lauf lassen konnte, erhob sich auch das junge Mädchen zu seiner Linken in die Höhe. Dasselbe fantastische Schauspiel wiederholte sich dabei.
 

„Herrlich!“, frohlockte die Elfe. „Mir taten von der Lauferei schon die Füße weh.“
 

„Pst! Verdammt, kommt gefälligst wieder runter!“ Flüsternd, aber in strengem Ton, versuchte der einzige noch bodenständige Waldelf der Gruppe, seine Freunde zu später Vernunft zu bringen. „Und wenn euch nun jemand sieht? Dann sind wir geliefert!“
 

„Mach dir nicht in die Hosen, Jin!“ Die weibliche Begleitung amüsierte die forsche Art von Keean, was er mit einem flüchtigen Augenzwinkern genüsslich zur Kenntnis nahm und ihn anspornte, noch eine Schippe drauf zu legen. „Niemand wird uns entdecken, sogar Herz weiß das“, verhöhnte er seinen Artgenossen und wies ihn anschließend leiser, jedoch noch laut genug, dass auch das Mädchen jedes Wort verstehen konnte, darauf hin, dass er ihr mit Feigheit sicher nicht würde imponieren können.
 

Erzürnt überwand Jin seine Bedenken. Nicht um dem zuckersüßen Elfenmädchen mit den pinken Haaren und den rosigen Wangen zu imponieren, nein, das hatte er nicht nötig, aber als Feigling wollte er nicht dastehen.
 

„Können wir endlich von hier verschwinden?“
 

Die leicht ins Glühen geratene Atmosphäre zwischen den beiden rivalisierenden Jünglingen entspannte sich wieder. Gedanken an das, was noch bevorstand, euphorisierten Keean regelrecht.
 

„In Ordnung, wir sollten keine Zeit verlieren! Das ganze Mondtal wartet darauf, von uns erkundet zu werden, he he!“
 

Elegant flatterte Jins blasser Zwilling mit dem karamellbraunen Haar im Halbkreis zum anderen Ende der kleinen Gruppe hinüber, und stimmte die zierliche Gestalt in pink auf das bevorstehende Abenteuer ein.
 

„Na Herzchen, schon panische Angst vor den Wölfen?“, fragte Keean in gewollt höhnischem Tonfall.
 

„Herzchen? Was hat dich denn gebissen, Kleiner?“, hallte es ihm gespielt empört entgegen.
 

Der sanfte Klang ihrer Stimme durchdrang das Wesen der Elfen wie der nie in Vergessenheit geratene Genuss eines der sahnig milden Kirschbonbons, mit denen die Mütter der Jungspunde ihre Zöglingen in früher Kindheit für außergewöhnlich gute Manieren belohnt hatten.

Das Spiel der beiden – so stand es ihm ins Gesicht geschrieben – machte Jin neidisch. Eingestanden, hätte er sich das niemals, aber so war es. Es bereitete ihm Magenschmerzen, dass Keeans Aufdringlichkeit auch noch von ihr belohnt wurde, mit etwas so unvergleichlich schönem, wie etwa einem Lächeln oder einem liebevollen Blick.
 

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, hübsches Fräulein.“ Herz versuchte ein verlegenes Lachen hinter ihrem Handrücken zu verstecken. Ihr gefielen die Schmeicheleien des Jungen, genauso, wie auch die Zurückhaltung des anderen. „Aber ehrlich: Fürchtest du dich denn nicht? Nicht mal ein kleines bisschen?“
 

Keean flog jetzt vor ihr her, dem Weg, den sie eingeschlagen hatten, den Rücken zugekehrt.
 

„Hm, vielleicht ein klitzekleines bisschen. Aber dann sage ich mir einfach: Wölfe haben keine Flügel! Ist doch so, oder? Wovor also Angst haben?“
 

„Ha ha, wie Recht du hast!“ Keean klatschte in die Hände, so begeistert war er vor der Furchtlosigkeit seiner Begleiterin.
 

„Trotzdem“, fügte diese hinzu, „wäre es mir lieber, sie würden schlafen, oder sich sonst wo herumtreiben, dass wir ihnen erst gar nicht begegnen. Werwölfe sollen sehr schlau sein und sich Gesichter gut einprägen können. Wenn du einem entwischst, merkt er sich das und ...“
 

„... kommt dich irgendwann holen, ach ja: alle unartigen Kinder, die ihr Frühstück nicht aufessen, ebenso! Tz, die Geschichten haben mir meine Eltern auch aufgetischt. Daran glaubst du doch nicht wirklich, oder?“, fauchte Jin regelrecht.
 

Natürlich glaubte Herz nicht mehr daran, dass ein Werwolf in der Nacht kommen und sie auffressen würde, wenn sie zu Hause nicht spurte. Sie fragte sich, womit sie diese grantige Bemerkung eigentlich verdient hatte und wandte ihren Blick beleidigt für den Rest des Weges von Jin ab, dem es fortan leid tat, sie so angefahren zu haben. Es tat ihm schon leid, als er die Worte aussprach, sogar schon, als er sie sich in Gedanken zurecht gelegt hatte.
 

... ... ...

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Fernab vom Treiben in Ballybofey und doch in unmittelbarer Nähe berieten sich die Menschen aufgeregt in ihrer provisorischen Unterkunft. Um das weiträumige Gebäude aus Holz herum wurde ein beachtliches Stück Land dem Erdboden gleichgemacht. Eine Unart der Spezies, wie die Waldelfen es bezeichneten, sich mit der Natur nicht zu arrangieren, sondern sie auszubeuten. Gestattet worden, war es ihnen dennoch, als eines vieler gutherziger Geschenke ihrer Gastgeber im fremden Land. Die Pinkies, wie die Menschen hier hin und wieder von all den Wesen gerufen wurden, die des Sprechens mächtig waren, hatten sich ganz am Rande der Heimat der Elfen des Lichts ein kleines Fort errichtet, inklusive Hauptquartier, Schlafplätzen, Stallungen, Vorratskammer und Übungsplatz.

Doch weder feilte jemand im Hof hinter der Taverne an seinen Fähigkeiten, noch kümmerte man sich um die zahlreichen Pferde, die dort angebunden waren. So erschöpft sie nach den jüngsten Erlebnissen aber auch immer sein mochten: Zu ruhen, wagte niemand!
 

„Wartet bitte einen Moment!“ Eva unterbrach das wilde Durcheinander. „Wenn es recht ist, würden Peter und ich die Geschichte gern von Anfang an hören. Das heißt: Wenn es dir keine Umstände macht ...“
 

„Aarve!“, stellte sich der Flüchtling schroff vor.
 

Einige der Anwesenden verzogen ihre Mienen, sowie es Eva schon vorausgesehen hatte, echte Einwände brachten sie jedoch nicht hervor. Wie jung das Mädchen auch immer war: Sie blieb ihre Anführerin, und als solche wurde sie respektiert.
 

„Nun gut, Aarve“, sagte Eva in gewohnt ruhigem, fast gefühllosem Tonfall und legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls vor ihr, auf dem ein blutjunger Soldat, als er sie in seinem Rücken bemerkte, sofort verlegen Anstalten machte, aufzustehen. Eva jedoch, wies ihn mit einer beschwichtigenden Handbewegung an, sitzen zu bleiben. „Dann verrate uns doch zunächst einmal, wie du aus Vyers fliehen konntest, geschah das während unseres Angriffes?“
 

Kurz blickte sich der stets grimmig und angespannt wirkende Blondschopf im Halbkreis um und musterte die teils in bedrohlicher Montur, teils in kaum mehr als Hemd und Hose gekleideten Männer und Frauen um ihn herum. Diesen Punkt hatten sie zweifelsohne schon besprochen, aber das änderte jetzt auch nichts mehr.
 

„Als ihr die Festung attackiert habt, war ich leider schon längst weg“, entgegnete Aarve der jungen Frau scharf und blickte aus den Augenwinkeln indes in Peters Richtung, der hinter den breiten Schultern eines Ritters in Kettenhemd fast vollständig verdeckt war. Der Franzose musste bis zu dieser Stelle noch genau wissen, wovon er sprach. „Das hätte ich zu gern gesehen!“ Das hätte Arve wirklich, soviel war sicher. „Sie haben mich mit fünf anderen Männern nach Berra geschickt. Hmpf ... mich ... Ich wusste, aus Vyers zu fliehen ist zwecklos, um nicht zu sagen unmöglich, also habe ich stets das Beste aus der Situation gemacht. Hab mir den Hintern für diese dreckigen Spitzohren aufgerissen und so wurde es mir letztlich gedankt!“
 

Den Blicken der meisten Zuhörer nach zu urteilen, erzählte er die Geschichte diesmal weitaus emotionaler und somit wohl auch spannend genug, um auch die letzten von ihnen erneut in seinen Bann zu ziehen.
 

„Kein Schwein schafft es je aus Berra raus. Wen die Hitze nicht umbringt, den ... du bleibst eben so lange da und schuftest weiter, bis sie es doch tut.“
 

Arve hatte die Augen jetzt auf den Holzboden gerichtet, zitterte wie Espenlaub, und zwar vor Wut – nicht etwa aus Angst. Sein Blick, so erkannte Peter auf der Stelle, war genauso apathisch und hasserfüllt wie damals vor den Toren der Festung, als man ihn abfertigte und sprichwörtlich in die Wüste schickte.

Der Franzose konnte es nicht verhindern: Er fühlte sich schuldig. Nichts von dem, was Aarve auch immer geschehen sein mochte, hatte sich in des Jungen Taten begründet, aber er hielt ihn auf Grund der wenigen flüchtigen Eindrücke, die er von ihm hatte erhalten können, für einen schlechten Menschen. Dabei versuchte er schlicht und ergreifend, zu überleben, wie Peter selbst auch, wie all die anderen, wie Alicia ...
 

„Mit einer Revolte haben diese Mistkerle jedoch nicht gerechnet, das sah man schon an der Eskorte. Wir waren nicht mal gefesselt, das tun die Idioten nie; verlassen sich zu sehr auf ihre eigene Stärke. Es waren zwei Aufseher – einer am Nord-, der andere am Südende – und ein Gamm. Die Viecher mögen zwar sehr kräftig sein, aber sie sind auch mindestens genauso dämlich und träge.

Ich sagte Ben vor mir, dass wir etwas unternehmen sollten. Er zögerte zwar zuerst, aber unterm Strich war ihm genauso klar, dass wir entweder etwas riskieren, oder stattdessen in der Gluthitze der Wüste verrotten konnten. Tja, und so kämpften wir dann um unser Leben ...

Ich überwältigte den Blauen ganz am Ende. Wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ich nahm seinen Speer und rammte ihn dem Monster ins Bein.“

Aarve grinste kurz und kicherte auch leise, als ob das, was nun folgen würde, ganz besonders amüsant sein würde. „Um den anderen Kerl brauchten wir uns gar nicht erst zu kümmern, der hatte genug mit seinem Haustier zu tun. Das Vieh rastete vor Wut so aus, das es ihn glatt von seinem Pferd riss. Na ja – ihr wisst schon-, diese hässlichen Biester, die eigentlich nur noch von den Gamdscha übertroffen werden. Hat danach leider noch einige von den Gefangenen erwischt, die ich allerdings gar nicht kannte. Sie waren im ersten Moment genauso ahnungslos, wie die Aufseher. Das war eben ... Pech ...“
 

Er stockte. Wirklich zu interessieren, schien ihn das tragische Schicksal seiner einstigen Mitgefangenen nicht. In gewisser Weise war er mitverantwortlich für ihren Tod, ob sie nun später in Berra tatsächlich gestorben wären, oder nicht.
 

Eva stellte eine Frage, um das Gespräch voranzutreiben. „Und am Ende hast nur du es geschafft, zu entkommen?“
 

„Nein, wir waren zunächst noch zu dritt. Ben, den ich gut aus der Zeit in Vyers kannte, Riordan und meine Wenigkeit. Wir sind gerannt, als würde uns der Teufel auf den Fersen sein, und in gewisser Weise, war er das ja auch. Wäre Ben nicht gewesen, wäre ich hier nie aufgetaucht, ich wusste schließlich nichts über Caims, gerade mal, dass es eine Insel war, aber nicht, wo genau sich Vyers befand oder wie wir den Ozean überqueren konnten. Doch Ben war schon mal am Hafen im Osten, hat zu seiner Zeit sogar Bauarbeiten daran vorgenommen. Huh ... am Ende war's wohl doch nicht so schlau, uns zu versklaven und die Drecksarbeit machen zu lassen ...“
 

„Und wie ging es nun weiter?“ - „Genau, was ist aus deinen Freunden geworden?“ - „Wurdet ihr verfolgt?“
 

Allgemeines Gemurmel begann sich auszubreiten. Allem Anschein nach, näherte sich Aarve dem Teil seiner zweifellos abenteuerlichen Geschichte, an dem er zuvor von den Rückkehrern unterbrochen worden war.
 

„Ben hat die Strapazen nicht überstanden. Wir mussten schließlich fast einen ganzen Tag marschieren, Ruhepausen konnten wir uns kaum erlauben, und Schlaf ... wäre wohl unser sicherer Tod gewesen.
 

Fragend blickte Eva dem jungen Mann in die Augen und stellte die Frage, die, den Gesichtsausdrücken ihrer Kumpanen zu urteilen, nicht nur ihr auf der Zunge brannte: „Wie meinst du das, gerade noch rechtzeitig?“
 

Aarve grinste triumphierend. Er hatte Neuigkeiten im Petto, die der Gruppe glatt den Boden unter den Füßen wegziehen sollten. „Ihr glaubt doch wohl nicht etwa, ich wäre bis nach Adessa geschwommen, oder?“
 

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Zur selben Zeit hatte Jin sein altes zu Hause weit hinter sich gelassen und befand sich auf geradlinigem Wege zu Eva. Es war ein großer Vorteil für ihn, dass die Anführerin der Menschen unter Elfen aufwuchs; zumindest hoffte er stark, dass dem so wäre. Des Jungen Nervosität spielte aber keine größere Rolle. Sein Entschluss stand schließlich fest, und falls die Menschen ihn tatsächlich nicht mitnehmen sollten – wann genau es nun auch immer sein mochte, dass sie sich wieder aus dem Staub machten-, würde er eben allein losziehen müssen. Eine Leibgarde kampferprobter und bewaffneter Soldaten um sich scharren zu können, wäre jedoch zweifellos die angenehmere der beiden sich bietenden Möglichkeiten.

Außerhalb Ballybofeys lauerten viele Gefahren, insbesondere für einen jugendlichen Lichtelf. Todbringende, herzlose Wesen durchstreiften den Kontinent nördlich vom heimischen Wald, die nicht davor halt machen würden, ihn zu jagen und zu töten. Gesehen hatte er zwar noch keines davon, aber trotzdem wusste er – schon von den Erzählungen vieler Menschen oder mutigen Artgenossen, die sich weit ins Innere Adessas vorgewagt hatten-, dass es sich dabei keineswegs nur um Märchen handelte. So, wie es sich bei den reißenden Wölfen im Mondtal auch nicht um Märchen gehandelt hatte ...
 

„Hey, wo willst du denn hin?“, rief eine altbekannte Stimme schrill durch den Wald.

Jin blickte sich leicht erschrocken zur Quelle des Rufes um und fand sie weit oben in Nähe der Wipfel, wo die meisten Elfen hausten. Es war Lily, die den Ausreißer auf frischer Tat ertappt hatte. Trotz der bevorstehenden verbalen Auseinandersetzung mit der frechen Göre war Jin doch recht froh seine Aufmerksamkeit von den sich tückisch heranschleichenden Gedanken an vergangene Tage abwenden zu können. Ihr Timing war grandios. „Brauchst gar nicht erst zu versuchen, abzuhauen, ich bin eh schneller als du.“
 

Nicht, das er es versuchen wollte, aber Recht hatte sie trotzdem.

Eilig flatterte Lily von hoch oben in der erhabenen, königlichen Zone der gewaltigen Pflanzen bis fast ganz hinunter auf den mit Moos überdeckten, nassen Erdboden. Das Fliegen war für Jin seit jener besonderen Nacht zu einer echten Qual geworden: Eine tiefer Riss entstellte seinen rechten Flügel, und wann immer er ihn zu benutzen gedachte, spürte er den Schmerz, der unter der längst verschlossenen Narbe noch zu wüten imstande war. Seiner Seele erging es sogar noch schlimmer.
 

„Treibst dich mal wieder rum, huh?“, feixte das blasse Elfenmädchen in ihrem weinroten Dress. „So weit weg von zu Hause. Sollte man sich Sorgen machen?“
 

„Falls du es wirklich wissen willst“, kündigte Jin unbeeindruckt an, seine wahren Beweggründe zu offenbaren. „Ich bin auf dem Weg zur Taverne. Hab' dort was mit den Menschen zu besprechen, wenn du verstehst.“
 

Lily lächelte schwach und flatterte zwei gemächliche Runden um ihren gleichaltrigen Artgenossen herum. Die beiden hatten nie wirklich viel miteinander zu tun gehabt. In ihrer Jugend – in ihrer frühen Jugend – interessierte sich Lily immer nur für Eva und die Menschen, während Jin mit seinen Freunden Keean und Herz ein unzertrennliches Trio bildete.
 

„Na sieh mal einer an! Das trifft sich ja geradezu perfekt. Ich bin nämlich auch auf dem Weg dahin“, wusste die kleine Elfe zu überraschen.
 

„Wie?“ Jin verstand nicht recht, worauf sie abzielte. „Und was willst du von ihnen?“
 

Auch wenn Jin sich erinnern konnte, dass Lily an der Seite einiger Menschen aufgewachsen und eng mit Eva befreundet war, so war ihm doch nicht bewusst, was die jüngste Vergangenheit an den Beziehungen der jungen Elfe alles verändert hatte.
 

„Tja, mein Lieber: Ich schließe mich ihnen an!“ Ein Paukenschlag, der Jin die Sprache verschlug. „Ich will endlich raus aus dem Wald und Adessa erkunden.“
 

„Was für ein Unterfangen ...“
 

Die zierliche kleine Gestalt tänzelte vor lauter Euphorie in der Luft hin und her, drehte eine Pirouette nach der anderen und tätschelte dem perplexen Elf am Boden sogar das Gesicht.
 

„Du also auch?“
 

Urplötzlich – als wären ihr die Batterien ausgegangen – hörte Lily auf, ihren Freudentanz zu vollführen und schwebte mit ernster Miene auf den Boden der Tatsachen zurück.
 

Auch?!“, stellte das Mädchen klar, dass sie ihn auch richtig verstanden hatte. „Was meinst du bitte denn damit?“
 

Man brauchte keine außergewöhnliche Elfenkenntnis zu besitzen, um erkennen zu können, dass Lily etwas nicht in den Kragen passte. Nein, das wäre eine riesenhafte Untertreibung gewesen. Diesem zerbrechlichen kleinen Wesen mit dem strubbeligen Haar und den großen Mandelaugen, stand in ihr hübsches Gesicht geschrieben, dass ihr etwas gehörig gegen den Strich ging.

Und plötzlich waren sie wieder da: all die unschönen Erinnerungen, deren Vordringen ins Zentrum seiner Gedanken Jin kurz zuvor noch hatte abwehren können.
 

...

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... ... ...
 

Mondtal. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit)
 

Die drei wagemutigen Kinder waren umzingelt. Eingekreist von den Wesen, über die sie nur Minuten zuvor noch scherzten; die, so hatten sie gedacht, nur in ihrer Fantasie existierten. Doch Herz, Keean und Jin hatten sich geirrt.

Es waren die wohl mit Abstand scheußlichsten Kreaturen im gesamten Waldgebiet. Werwölfe, doch ohne den geringsten Hauch von Eleganz oder Anmut, so knochig und abgemagert, mit ihren riesigen Köpfen, den langen, vernarbten Schnauzen und im Mondlicht leuchtenden Reißzähnen. Es mussten über ein Dutzend gewesen sein, und sie trieben ihre Beute wie Vieh zusammen.

Hoch oben in den Bäumen wären sie vor dieser brutalen Spezies in Sicherheit und müssten nicht um ihr Leben fürchten, doch eine Flucht kam nicht in Frage: Keean war verletzt. Eines der Biester, der Rudelführer, wie der Elfen Instinkt ihnen suggerierte, hatte ihm ein großes Stück seines Flügels abgerissen, als er für einen Augenblick unaufmerksam war.

Hätte er sie doch nur nicht provoziert! Hätte er bloß nicht schon wieder versucht, dem Mädchen zu imponieren!

Ihr aller Ende nahte.
 

Wir müssen in die Luft“, flüsterte Jin seinen Freunden zu. Die Angst war seiner Stimme zu entnehmen.
 

Keean wandte sich mit Tränen in den Augen seinen Freunden zu. Er war verzweifelt. „Lasst mich hier nicht allein!“, schluchzte er völlig aufgelöst.
 

Es tat Jin Leid, ihn so zu sehen, vor allem für Keean selbst, aber jemand musste jetzt einfach handeln, ansonsten würden die Wölfe sie allesamt zerfleischen. Unter keinen Umständen würde er das zulassen.
 

„Herz, bist du in Ordnung?“, fragte er mit neu gewonnener Entschlossenheit.
 

„W-was?“ Entgeistert wandte das Mädchen ihren Blick von dem Wolfsrudel ab. „Ja, b-bin ich. Noch ...“
 

Die verdreckten, zerlumpten Biester fletschten ihre Reißzähne und entblößten ihr fauliges Zahnfleisch. Sie schabten mit den Hinterpfoten auf dem kalten Fels unter ihnen, so als wären sie schon auf dem Sprung und warteten nur noch auf den Befehl zur Attacke.
 

„Wir fliegen! Auf drei, verstanden?“ Jin wartete nicht auf eine Antwort, sondern begann einfach zu zählen. „Eins,“ Herz ergriff die Hand des Jungen, „Zwei,“ Die Wölfe nahmen die Laute des Elfs als Provokation und warfen alsbald jede Rangordnung über den Haufen, „DREI!“
 

Herz schoss gar noch schneller gen Himmel als Jin, auf den sie während ihres Manövers einen sorgenvollen Blick warf. Schnell erkannte sie, was ihn aufhielt. Er hatte Keean unter den Armen gepackt und ihn mit aller Kraft hochgerissen, die er aufbringen konnte. Es gelang ihm tatsächlich! Er rettete den verletzten Jungen auf diese Weise buchstäblich in letzter Sekunde vor den Werwölfen, die vor Wut jaulend ihrer verlorenen Beute am Nachtimmel hinterher starrten und sich kurz darauf frustriert untereinander in Kämpfe verstrickten, wie es Bestien ihrer Art eben taten, wenn sie die eigene Dummheit um eine Mahlzeit gebracht hatte.
 

„Ich ... Ich kann bald nicht mehr! Lasst uns hier ... rgendwo runtergehen!“, prustete Jin die Worte hinaus, während seine Kräfte schwanden.
 

Er hatte Keean das Leben gerettet, auch wenn ihm das in diesem Moment selbst gar nicht bewusst war. Herz jedoch musste vor Glück weinen. Sie alle hätten im Tal sterben können, Keean schien gar schon verloren, doch auch er hatte letzten Endes überlebt. Die junge Waldelfe wischte sich mit ihren kleinen Händen die Tränen aus dem Gesicht und dankte dem Himmel für ihr Heil und das Wohlergehen ihrer Freunde.
 

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„Also sind sie uns doch gefolgt! Eva, du weißt, was das bedeutet!“
 

Unbeeindruckt vom Geplärre des cholerischen Soldaten mit dem lichten, roten Haar zu ihrer Linken, hörte Eva weiter gebannt den Erzählungen Aarves zu. „Sekunde!“, zügelte jener die versammelte Mannschaft, die zum größten Teil wieder in Gemurmel ausbrach. „Ich sagte, ein Schiff wurde gerade zum Ablegen vorbereitet, nicht mehr und nicht weniger.“
 

Es kehrte vorerst wieder Ruhe ein.
 

„Wir zählten zwölf Blaue, die das Schiff mit ihrem Viehzeug und Vorräten beluden. Ich kannte auch einige von ihnen: Das waren Jäger, Kundschafter, keine Soldaten. Bewaffnet waren sie auch nicht sonderlich schwer.“
 

„Und wie habt ihr es an Bord geschafft?“, fragte Eva.
 

„Wir haben uns im Laderaum versteckt, als der Zeitpunkt günstig war. Ich sagte ja bereits, die Dunkelelfen fürchten die Menschen nicht, für die sind wir nicht mehr als Nutztiere, sie hätten uns vielleicht bemerkt, wenn wir ein Sauflied angestimmt hätten, aber so? Tz, arrogantes Pack!“
 

Peter fühlte sich genötigt sich instinktiv nach Reyne umzuschauen, als Aarve aufs Neue über ihre Rasse herzog. Günstigerweise hatte sie sich unlängst entschieden, dem Gespräch nicht länger beiwohnen zu wollen. Der Junge erhaschte nur einen kurzen Blick auf Elmo, der ebenso neugierig wie alle anderen den Ausführungen des Flüchtlings lauschte und dabei entspannt am Rahmen der offenen Türe lehnte.
 

„Als wir ankerten, warteten wir solange, bis wir keinen Mucks mehr aus dem Inneren des Schiffs hören konnten. Dann wagten wir uns langsam ans Oberdeck. Erst dachten wir, wir hätten es geschafft, mussten dann aber leider feststellen, dass die Spitzohren Wachen aufgestellt hatten.“
 

Also doch nicht so dumm, dachte Peter, und ihm entfuhr affektiv eine etwas zu scharfe Bemerkungen, wie er hinterher fand. „Und die habt ihr dann mal eben überwältigt!?“
 

Einen Moment lang fühlte sich Peter verteufelt unbehaglich, als ob alle Augenpaare im Raum ihn anstarrten.
 

„Nein, einfach war es nicht“, warf Aarve vorwurfsvoll in den Raum und blickte an seinen geschundenen Körper herunter.
 

Erneut fiel Peter auf, wie mitgenommen der Mann war: Seine Kleidung zerrissen, geronnenes Blut auf dem Stoff. Mittlerweile bekam der Franzose eine Vorstellung davon, was er wirklich hatte durchmachen müssen, um an diesen Ort zu gelangen.
 

„Wir haben sie mit Steinen erschlagen, nachdem wir uns angeschlichen hatten, so gut es uns eben möglich war. Doch waren sie zu dritt, und so konnten wir schlecht alle überraschen. Riordan kämpfte mit dem Übriggebliebenen und ... tja, was soll ich groß erzählen, er ist nicht hier, oder?“
 

Schweigen, dann erklang erneut Evas Stimme. „Woher wusstest du, wo du uns finden kannst?“
 

„Hab es auf dem Schiff aufgeschnappt. Das und auch ein paar Geschichten von eurem Angriff und wie sehr die Dunkelelfen die Seefahrt lieben, ha ha.“ Er wollte sich die restlichen Informationen nicht aus der Nase ziehen lassen, und so fuhr Aarve fort, noch bevor ihm die nächste Frage gestellt werden konnte. „Die Spur der restlichen Jäger verlor ich in dem Moment, als ich die Klippen erreichte. Das Gebirge im Osten meine ich, mit dem schönen Ausblick auf diesen Wald hier. Wahrscheinlich sind sie wirklich so gut, wie man es ihnen nachsagt.“
 

„Oder sie wollen uns gar nicht verfolgen“, warf der Schrank ende Fünfzig ein, den Peter vor kurzem als Nordmann ausgemacht hatte.
 

„Was sie hier auch immer wollen, es wird uns ganz sicher nicht gefallen“, sagte daraufhin ein weit jüngerer, verzweifelt wirkender Zeitgenosse.
 

„Und was tun wir? Wir sitzen hier herum und veranstalten eine verdammte Märchenstunde!“
 

Die scharfe Kritik warf wieder der Rotschopf ein, der Peter vom ersten Augenblick an unsympathisch war, und obgleich er in Aarves Fall immer mehr eines besseren belehrt wurde, war er sich sicher, dass sich dieser Umstand in Bezug auf diesen schroffen Kerl so schnell nicht ändern würde. Zu seinem Erfreuen nahm Eva das Zepter wie erwartet in die Hand und offerierte ihren Untergebenen einige Vorschläge.
 

„Es war notwendig zu erfahren, was Aarve zu erzählen hatte, Rios, also beruhige dich wieder!“, wies sie den bedeutend älteren Krieger zurecht, dem in sein vernarbtes Gesicht geschrieben stand, was er davon hielt. „Wenn Gardif uns Jäger hinterher schickt, heißt das, er will uns auskundschaften, womöglich um das Risiko eines Vergeltungsschlags seinerseits auszuloten.“
 

Einige der erfahreneren Krieger rümpften die Nase oder schlugen wütend auf das hölzerne Mobiliar ein. Einer dunkelhäutigen Frau mit braunem, streng anliegendem Haar, entfuhren sogar einige Flüche. Jüngere Ritter starrten mit leerem Blick gen Boden, als hätte ihnen gerade jemand die Nachricht überbracht, mit ihren Müttern ginge es zu Ende.
 

„Ich weiß ... Das sind denkbar schlechte Neuigkeiten, aber wir mussten letzten Endes damit rechen, dass, wenn wir scheitern, Gardif unsere Taten nicht ungesühnt lassen würde.“
 

„Richtig, aber was jetzt, wo wir wissen, dass uns eine Schar Jäger auf den Fersen ist?“
 

Eva wusste sofort, worauf der niedergeschmetterte Junge mit dem unschuldigen, makellosen Gesicht, der gerade in ihrem Alter war, hinauswollte. Im schlimmsten Falle wusste Gardif längst alles über Tapion, bestenfalls gar nichts. Was also, wenn der gesamte Sinn ihrer Mission darin bestand, Tapion ausfindig zu machen? So würden Eva und ihre Leute sie direkt ins Herz der menschlichen Zivilisation in Adessa führen, würden sie tatsächlich aufbrechen. Eva war innerlich zwiegespalten, doch wie die Retterin in der Not, schaltete sich plötzlich Reyne in die zerfahren scheinende Diskussionen ein, nachdem sie gänzlich unbemerkt bis nahe an die Gruppe heran geschritten war.
 

„Du sagtest, ihr hättet die Wachen beim Schiff getötet!?“
 

Ihre Stimme klang so kräftig, so voller Willensstärke, dass die Elfe sofort die Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen Menschen auf sich zog.
 

„W-was macht die Dunkelelfe hier?“, rief Aarve lauthals aus und wich dabei erschrocken einige Schritte zurück, bis ihm ein massiver Eichenholztisch den Weg versperrte. Eva beruhigte ihn mit einem eindeutigen, Einhalt gebietenden Handzeichen.
 

„Sie gehört zu uns! Antworte ihr bitte.“
 

Sicher würde Aarve auf dieses Thema noch einmal zurückkommen, zu gegebener Zeit. Die Erklärung „Sie gehört zu uns“ stellte ihn doch reichlich wenig zufrieden. Vorerst zeigte er sich nachsichtig mit den seltsamen Marotten seiner Gönner.
 

„J-ja ... und zwar alle!“, sagte er selbstzufrieden. Er prahlte mit dem Mord an ihren Artgenossen, in der Hoffnung, sie damit aus der Reserve locken zu können. Vergebens.
 

„Dann dauert es nicht mehr lange, bis die anderen das herausfinden. Die einzelnen Trupps stehen in ständigem Kontakt zueinander. Sie tauschen Nachrichten mit eigens darauf abgerichteter Turmfalken aus. Per Luftpost, wenn man so will. Bleibt die Antwort aus, ziehen sie sich wahrscheinlich zurück.“ Für Reynes Verhältnisse waren die paar gesprochenen Sätze schon fast eine Kurzgeschichte, und sie war noch nicht fertig. „Es wäre ratsam, ihnen die Rückreise zu verwehren.“
 

„Sie ihnen zu verwehren? Du meinst ...“
 

„ ... ihr Schiff versenken, und das unsere zur Sicherheit auch“, unterbrach die souverän auftretende, anmutende Gestalt ihre Anführerin. „So werden wir viel Zeit gewinnen. Noch mehr, wenn wir uns aufteilen.“
 

Eva fühlte sich keineswegs bevormundet oder in ihrer Ehre angekratzt. Für den gut gemeinten und sinnvollen Rat Reynes, war sie der Elfe sogar sehr dankbar. Nur die Order gab sie lieber selbst.
 

„Sie hat vollkommen recht!“, rief die junge Frau aus und wurde so wieder Zentrum des Geschehens. „Wir werden nach Tapion aufbrechen, komme was da wolle! Unsere Freunde dort brauchen uns. Eure Familien warten auf euch ... Ich werde allerdings eine Gruppe Freiwilliger hier zurücklassen müssen, die den Rückweg erst später antreten werden. Es werden diese Männer sein, die die Sabotage der beiden Schiffe ausführen.“
 

„Da stecken Monate harte Arbeit drin“, brachte Rios kleinlaut hervor. Er wusste selbst, dass er sich diese Bemerkung hätte sparen können, doch seine Verachtung gegenüber Eva zwang ihn fast schon dazu.
 

„Wir werden es sowieso nicht mehr benutzen. Die Elfenbeinsee zu überqueren ist gefährlich genug, und nach Caims zieht es dich doch auch nicht mehr, oder?“, fertigte Eva ihren Rivalen eiskalt ab. „Falls Gardif einen Angriff planen sollte, hätten wir genügend Zeit uns ausreichend darauf vorzubereiten, um ihm einen echten Kampf liefern zu können. Seine Späher müssen schließlich erst überfällig sein, bevor man nach ihnen schickt.“
 

„Das klingt logisch, oder besser gesagt: klänge es logisch, wenn Gardif ein rational denkender Me... ihr wisst schon was, wäre.“ Dieser ernüchternde Hinweis kam aus Elmos Mund. „Wenn wir Pech haben, steht Tapion in Flammen, bevor wir angekommen sind und die Jäger wurden nur ausgesandt, um uns in Sicherheit zu wiegen.“
 

Es war wirklich nicht hilfreich, mögliche Horrorszenarien aufzuzählen, die die Gruppe in der Heimat erwarten könnten. Absolut nicht hilfreich, und genau so fassten die Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Brüder und Schwestern in diesem Raum es auch auf.
 

„Hoffen wir lieber, dass das nicht der Fall ist, Elmo, für uns alle.“
 

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Den ganzen Weg über hatte Lily versucht dem dickköpfigen Jungen sein Vorhaben wieder auszureden, da sie genau wusste, wie Eva auf dessen Bitten reagieren würde, und sich sicher war, dass die Menschen zwei Elfen auf keinen Fall mit auf ihre Reise nehmen würden. Somit sah das verschlagene junge Ding ihre eigenen Chancen stetig sinken.

Ununterbrochen fauchten sich die beiden an, jeder fest auf seinem Standpunkt beharrend. Erst kurz vor ihrer Ankunft brachte es Jin mit einer klugen Frage auf den Punkt, die er in Retour selbst nur sehr ungern beantwortet hätte und sie dem Mädchen deswegen erst so späte stellte.
 

„Was willst du eigentlich wirklich von den Pinkies, huh?“
 

Wie vom Blitz getroffen verstummte Lily und begann vor Verlegenheit rot anzulaufen, was bei ihrem typisch blassem Teint schwer ins Auge fiel.
 

„Hm, wie ich schon sagte, mit nach Tapion reisen ... Adessa von außerhalb des Waldes sehen. Diese Dinge eben“, stammelte Lily verlegen. Und schließlich geschah, was Jin tunlichst vermeiden wollte. „Und was willst du überhaupt von ihnen, kannst du mir das vielleicht verraten?“
 

„Nein!“, fuhr Jin ihr patzig in die Parade. „Denn es geht dich nichts an!“
 

Mit derlei Frechheiten kam bei Lily normalerweise keiner durch, doch ließ sie es sich ausnahmsweise gefallen. Anscheinend hatten beide Elfen ihre Geheimnisse, ein Umstand, der ihre heißblütigen Gemüter zu beruhigen wusste.
 

...

... ...

... ... ...
 

Mondtal. Drei Jahre früher (Minewood-Zeit)
 

Herz, Jin und der verletzte Keean hatten sich in einer Höhle hoch oben im Steilhang des Tales verschanzt, die für die Wölfe unerreichbar sein sollte. Sie hatten den Plan geschmiedet dort bis zum Morgengrauen zu verweilen. Am Tag, so hatten die Kinder gehört, verloren Werwölfe einiges an Schrecken. Angeblich verwandelten sie sich dann in weit weniger gefährliche Vierbeiner zurück. Ob diese Geschichte der Wahrheit entsprach? Sie hofften es.

Keean war schon fast weggetreten, die Strapazen schienen ihm schwer zugesetzt zu haben. Sein ramponierter Flügel schmerzte zwar nicht, wenn er ihn nicht gebrauchte, doch seine Seele tat es, und es sollte in jener Nacht nicht besser werden.
 

„Hey, pst! Jin, bist du noch wach?“, flüsterte Herz dem ausgelaugten Jungen zu.
 

„Ja, noch. Fühl' mich nur, als wäre ich gerade einer Horde Werwölfe entflohen.“
 

Herz kicherte, ein wenig zu laut, wie sie dachte, immerhin wollte sie Keean auf keinen Fall wecken.
 

„Genau so war es, mein tapferer Held“, schmeichelte die Waldelfe ihrem Artgenossen. „Du hast mir und Keean das Leben gerettet.“
 

Jin spielte die Ereignisse der Nacht herunter, stets auf die Lautstärke achtend. „Wie du gesagt hast: Flügel haben die Werwölfe nicht. So war es ja nichts besonderes.“
 

„Nichts besonderes?“, wieder stieß es laut aus Herz hervor, die sich auf allen Vieren in der engen Höhle jetzt immer näher auf Jin zubewegte. „Ich stand wie angewurzelt da, völlig starr vor Angst. Glaub' mir: Wenn du mich nicht aufgeweckt hättest, mich nicht angesehen hättest, dann wäre ich jetzt nicht mehr am Leben, da bin ich mir sicher. Und Keean? Du hast ihn den ganzen Weg hierher getragen! Mut und Aufopferung ... dafür muss man sich nicht schämen, Jin. Du hast dir die Anerkennung verdient.“
 

Ihre Worte schmeichelten ihm. Dieses Glitzern in ihren Augen, dessen Urheber er selbst war, rührte Jin fast zu Tränen, die der Elf allerdings eisern zurückhielt. Er genoss diesen Augenblick, weil er seiner besten Freundin in diesem Moment näher war, als je zuvor; auf einer Ebene, die bloße Freundschaft zum ersten Mal weit überschritt. Was für ein Glückspilz er doch war, dass der Impuls obendrein noch von ihr ausging, dem Mädchen seiner Träume.

Dann – wie aus heiterem Himmel – küsste sie ihn!

Es war sein erster Kuss, ihr erster Kuss, ein erster Kuss. So sanft, so still, so ehrlich und unvergleichlich, dass Jin sich in diesem Augenblick einzig und allein wünschte, er würde niemals enden.
 

Doch er endete: Er gipfelte gar in roher Gewalt. Keean hatte alles mitangehört und alles mit angesehen. Was für Herz und Jin in der Zukunft zu einer der schönsten Erinnerungen ihres jungen Lebens werden sollte, verzerrte die Eifersucht ihres besten Freundes zu einer tiefen Narbe auf ihrer beider Seelen.

Wortlos beugte sich Keean über Jins zitternden Körper und zog ein Messer aus seinem Stiefel. Sein Mitbringsel zum Äpfel schälen oder Holzfiguren schnitzen, nie dafür vorgesehen oder erdacht, es gegen einen Freund zu richten. Doch er tat es und riss Jin eine tiefe Wunde in den linken Flügel. Der Junge schrie auf, obschon er den Schnitt kaum spüren konnte. Herz hämmerte und brüllte auf den Attentäter ein, als er zum zweiten mal ausholte, doch Keean nahm sie in seinem Zustand gar nicht wahr, auch nicht, als sie urplötzlich von ihm abließ. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff des Messers so fest er nur konnte und wuchtete den federleichten, doch umso schärferen Stahl über seinen Kopf. Der nächste Hieb würde der letzte sein, dachte Jin. Er konzentrierte sich nur noch auf die Klinge, als Keean schließlich, bitterlich weinend, einen letzten, vorwurfsvollen Satz sprach.
 

„Warum nimmst du mir alles weg?“
 

Es waren die letzten Worte seines kurzen Lebens. Der schwere Stein, der hart auf seine Schläfe prallte, zerschmetterte dem Waldelf den Schädel. Er war tot, noch bevor er auf dem kalten Fels aufschlug. Diesmal rettete Herz Jin das Leben, aber zu welchem Preis?

Die nächsten Sekunden kamen Jin vor wie Tage, Wochen ... drei Jahre ... Auf ihnen sollte sich sein gesamtes Leid begründen. Als er fühlte, das Keean tot war. Als Herz völlig apathisch jeden Lebensmut verlor. Als er ihr in die Augen sah, die ihn zu fragen schienen: Wieso hast du mich nicht gerettet? Als er ihr nicht folgen konnte während sie davon flog.

Für immer ...
 

... ... ...

... ...

...
 

Überrascht mussten Lily und Jin feststellen, dass die Ritter, die noch in Ballybofey hausten, bei ihrer Ankunft schon drauf und dran waren, aufzubrechen. Vor der Taverne sattelten sie ihre Pferde, legten ihre Rüstungen an und bewaffneten sich. Damit, dass die Menschen es so eilig hatten, hatten die zwei Elfen wahrlich nicht gerechnet.
 

„Nun sieh sich das einer an! Die sind ja schon so gut wie verschwunden! Ist das zu fassen?“, fragte Lily ihren Begleiter empört. „Und sie hielt es nicht mal für nötig, mir Bescheid zu sagen“, fügte sie zornig flüsternd hinzu.
 

„Dann sollten wir uns beeilen, nicht wahr?“, antwortete Jin. In seiner Stimme verdeckte einst gefühlte Entschlossenheit jetzt nur noch spärlich immer größer werdende Sorgen.
 

Noch bevor er aussprechen konnte, ergriff Lily den letzten Strohhalm einer Chance und schoss an dem Jungen vorbei auf Eva zu, die gerade zwei jüngeren Männern ihre Aufgaben zuteilte. Ein paar Bruchstücke der Konversation zwischen dem Trio konnte Lily noch auffangen, doch interessierte sie das nicht im Geringsten
 

„Es steht euch frei nachzukommen, wann immer ihr wollt.“ Eva musterte ihre Ritter. „Ich übertrage dir die Verantwortung über die Gruppe, Alain. Ich vertraue euch allen.“
 

„Verstanden!“, antwortete der junge Mann ehrfürchtig.
 

„Laut Aarve wird das Schiff der Elfen verwaist sein. Seid aber trotzdem auf der Hut!“
 

Freundlich und zuversichtlich verabschiedete sich die blonde Frau von denjenigen ihrer Männer, die dazu auserkoren waren, den Dunkelelfen ihren Rückweg in die Heimat zu verbauen. Sie bemerkte dabei zunächst nicht, wie ein aufgeregtes, fliegendes Etwas eilig auf sie zusteuerte. Erst die Blicke ihrer Untergebenen machten sie auf das Geschehen aufmerksam. Mit Lily hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Wer hatte da nur wieder geplaudert? Doch bevor sie sich eine Ausrede zurechtlegen konnte, ging die alte Geschichte zwischen den beiden auch schon in die nächste Runde.
 

„Einen wunderschönen guten Morgen“, versprühte Lily ihr Gift mit beißendem Sarkasmus in der Stimme. „Nehme an, ihr geht jagen!? Oder nein, warte ... macht ihr euch etwa heimlich aus dem Staub? Falls ja, solltet ihr dringend üben, wie das gemacht wird, denn es klappt schon wieder nicht!“
 

Das letzte, worauf Eva jetzt noch Lust hatte, war eine kindische Diskussion mit einer Elfe vor all ihren älteren und vor allem nur zum größten Teil treu ergebenen Gefährten zu führen. Also fasste sie sich kurz. „Was willst du noch?“
 

Beleidigt keifte Lily zurück, so laut, dass es jeder hören konnte. Peter, der sich an die Elfe noch zu gut erinnern konnte und gerade dabei war, von Elmo im Umgang mit einem ältlichen Hengst unterrichtet zu werden. Seinem Aushilfslehrer selbst, sowie dessen treue Anhängerin, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Aber eben auch Gestalten wie Rios und dessen Sympathisanten, die sich mit ihm unterhielten und nach einer Bloßstellung Evas geradezu lechzten.
 

„Was glaubst du? Ich sagte doch schon, dass ich hier weg will, und deswegen schließe ich mich euch auch an!“
 

Als wäre das letzte Wort in dieser Sache damit gesprochen, verschränkte Lily, die noch immer einige Zentimeter über dem Boden schwebte, um auf Augenhöhe zu sein, die Arme vor der Brust. Sie nahm ihre typische Abwehrhaltung ein.
 

„Du träumst wohl?“ Eva lachte über die sture Waldelfe, weil sie ihre Querelen mittlerweile einfach nicht mehr ernst nehmen konnte.
 

„Was bitte ist so komisch daran, huh? Ihr marschiert doch nur nach Tapion, was ist schon dabei, mich mitzunehmen?“
 

„Erstens ist Adessa jenseits dieses Waldes nicht das paradiesische Fleckchen Erde, für das du es vielleicht hältst.“ Es begann einmal mehr eine Belehrung zu werden. „Wieso bist du nur so wild darauf, dein Leben zu riskieren, Lily?“, fragte die Ritterin, als würde sie etwas wittern. „Zweitens haben wir einige Dunkelelfen dicht auf den Fersen, auch wenn dich das eigentlich gar nichts angeht.“ Evas Blick schweifte vom zornigen Gesicht der Elfe ab und begegnete kurz darauf dem sich nähernden Elfenjungen, dessen Profil sie mühsam versuchte, einen Namen zuzuordnen. „Du hast dir Verstärkung mitgebracht?“, zeigte sich die Kriegerin verwirrt.
 

Lily antwortete nicht, sie wollte sehen, wie sich Jin schlagen würde, bei dem Unterfangen, Eva davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, ihn mitzunehmen.

Entschlossen näherte er sich der Frau, die jedoch unbeeindruckt davon begann ihr Pferd zu satteln.
 

„Eva, ich ...“ Natürlich hörte sie ihn, ließ sich jedoch von ihrer Arbeit nicht abbringen. Es half der Entschlossenheit Jins nicht weiter. „I-ich will mich euch anschließen!“, gab er schließlich doch noch von sich.
 

„Na sieh mal einer an! Und deine Komplizin am besten noch dazu, nicht wahr?“, fuhr Eva den mageren Elfenjungen an, ohne ihn dabei auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

„Sie gehört nicht zu mir“, versicherte Jin. „Und ich verlange ja auch nicht, dass ihr mich mit euch nehmt. Ich bitte lediglich darum.“
 

Eva grinste. „Hörst du, Lily? Ein bisschen Höflichkeit würde dir auch nicht schaden.“
 

Die folgende Geste der Elfe war unmissverständlich.
 

„Hör dir bitte wenigstens an, was ich zu sagen habe, ja?“
 

Jins Stimme klang aufrichtig und ehrlich. Falls diesem Jungen etwas auf dem Herzen lag, gebot es Eva schon der Anstand, ihn anzuhören. Für kurze Zeit, ließ sie von der kastanienbraunen Stute ab, und wandte sich dem Jungen zu.
 

„Also?“
 

Einen Augenblick lang zögerte Jin. Er wusste, dass er nur eine Chance hätte, wenn er ehrlich zu der blassen Frau war, die in ihrem noch jungen Leben schon so viel Leid hatte ertragen müssen. Doch gerade in diesem Punkt waren sich die zwei sonst so unterschiedlichen Personen sehr ähnlich.
 

„Vor einiger Zeit – du kennst die Geschichte vielleicht – starb ein guter Freund von mir und eine Freundin lief davon.“ In der Tat war Eva diese Geschichte bekannt. Nun konnte sie dem Jungen auch endlich einen Namen zuordnen. „Das war vor mehr als drei Jahren. Keiner hat sie seither wiedergesehen. Sie verschwand spurlos und galt irgendwann als verloren. Ihre Eltern und die anderen mögen sich damit abgefunden haben, dass sie tot ist, ich aber will Gewissheit.“ Eva verschlug es glatt die Sprache. Das war tatsächlich ein ernstes Anliegen, und Jin war noch lange nicht fertig. „Versteh' mich nicht falsch: Ob nun mit oder ohne euch, ich werde gehen! Doch bin ich nicht dumm. Mir ist bewusst, wie meine Chancen ganz allein da draußen stehen, deswegen wäre es mir lieber, an eurer Seite zu reisen.“
 

„Wir haben eine feste Route, der wir folgen, eher unwahrscheinlich ...“
 

„Ist mir egal, den Versuch ist es mehr als wert!“
 

Eine schöne Bescherung, denn Jin meinte ernst – todernst – was er sagte.

Einige elendig lang erscheinende Sekunden schwiegen alle Beteiligten, dann zog Lily die Schlinge, die sich langsam um Evas Hals legte, immer enger.
 

Ihn lasst ihr doch auch nicht hier, oder?“, fragte sie und zeigte mit dem Finger auf Peter, der seit geraumer Zeit dieses kleine Drama aus der Ferne beobachtete. Er war nicht der Einzige.
 

„Er ist ...“
 

„Einer von euch, wissen wir! Und wir wissen auch, dass es in Tapion keine Elfen gibt. Wen interessiert das? Wir wollen schließlich hier weg. Außerdem werdet ihr mit der da,“ Lily nickte kurz in Richtung Reyne, die, wie fast die gesamte Mannschaft, schon länger bereit war, aufzubrechen, „weit mehr Probleme haben, als mit uns.“
 

„Reyne macht keine---“ Entnervt gab Eva es auf, sich zu erklären, noch bevor sie richtig damit anfangen konnte. Sie gab sich letzten Endes geschlagen. „Fein! Ihr wollt also den sicheren Hafen verlassen und euer Leben riskieren? Eure Entscheidung! Aber sorgt dafür,“ Nun wanderte ihr durchdringender Blick zu Lily, „hier niemandem zur Last zu fallen! Sollte irgendwas sein, wendet euch an mich, ausschließlich an mich, alles klar?“
 

„Ja.“ - „An wen sonst, hi hi?“
 

Bedient schwang sich Eva auf ihr Pferd und musterte die Elfen aufmerksam, dann orderte sie das Tier mit leichten Sporentritten in die Weichen an, sich zum Zentrum des Weges zu begeben, der in schwachem Kontrast zum Dickicht den Pfad aus dem Wald wies.

Der kräftige, nordisch anmutende Mann, der in der Taverne des Öfteren das Wort ergriffen hatte, gesellte sich alsbald zu ihr.
 

„Und was hat es damit auf sich?“
 

Sofort war der Anführerin klar, dass er die beiden jungen Elfen meinte, die sich in geringem Sicherheitsabstand an sie gehängt hatten.
 

„Frag lieber nicht, Lester, frag lieber nicht“, seufzte das Mädchen, das in Gesellschaft des riesigen ergrauten Kriegers wie ein kleines Kind wirkte.
 

„Da hab ich uns ja wohl den Hintern gerettet, was Kleiner?“
 

Kleiner, so stichelte Herz früher gern gegen Keean und ihn. Und auch sonst, so fühlte Jin plötzlich, waren sich Lily und Herz verblüffend ähnlich. Allerdings konnte er das selbstverliebte Gehabe des strubbeligen Plappermauls im Moment gar nicht gebrauchen, und so wies er sie ganz nüchtern in die Schranken.
 

„Machst du Witze? Eva hätte dich an einem Baum festgebunden, wenn ich nicht gewesen wäre.“
 

„Huh? Pff! Was fällt dir eigentlich---“
 

Doch Jin war längst aus Hörweite verschwunden. Lange Zeit, beleidigt drein zu schauen, sollte Lily nicht haben, da ihre einst beste Freundin nach einer raschen Zählung ihrer Leute die Gruppe anwies, aufzubrechen.

Und so setzte sich die Karawane in Bewegung. Vor ihnen lag eine lange, mühsame Reise voller Gefahren. Eva, Elmo, Reyne, Lester und die anderen Ritter hatten diese schon häufig hinter sich gebracht und wussten daher, was sie erwarten würde. Für Peter, Aarve und die zwei Waldelfen Lily und Jin war es das erste Mal. Letztere verließen Ballybofey aus persönlichen Gründen, die für die beiden schwer genug wogen, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Peter war erst seit so kurzer Zeit in Minewood, dass ihm der Weg auch dieses Mal vorgegeben wurde.

Was würde ihn wohl außerhalb des riesigen Waldes erwarten? Was noch? Er war nervös, auch, weil er kein guter Reiter war, und ihm Reyne ein eigenes Pferd anvertraut hatte – ihr Pferd-, was ihn zwar in gewisser Weise mit großem Stolz erfüllte, andererseits jedoch auch mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht vor diesem erhabenen Wesen, dem er fortan eine größere Last sein würde, als die gertenschlanke Schönheit es war.

Seitdem er durch das Portal geschritten war, kam er nicht zur Ruhe. Bisher stürzte er von einem Abenteuer ins Nächste, und auf die meisten davon hätte er gerne verzichtet. Wieso um alles in der Welt er einer Gestalt wie Neil Vertrauen geschenkt hat, und ihn sein gesunder Menschenverstand zu jener Zeit nicht Einhalt gebot, nagte noch immer stark am Selbstbewusstsein des Franzosen. Auch wenn sie ihn nicht zufrieden stellte, musste er sich jedoch eingestehen, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Für Julie wäre er wahrscheinlich auch in den Höllenschlund herabgestiegen.
 

„Julie“, entfuhr es Peter unbewusst.
 

„Hast du was gesagt?“
 

Eva holte ihn aus seinen Tagträumen. Sie trabte jetzt dicht neben ihm, am hinteren Ende der Gruppe, um einen guten Überblick über ihre Kameraden zu haben. Jin und Lily – noch zu Fuß – bewegten sich jeweils zu ihrer Rechten und Linken. Es war jedem auf den ersten Blick ersichtlich, dass sich die beiden nicht gut riechen konnten.
 

„Ich dachte, ich hätte Julie verstanden.“
 

Peter wurde auf der Stelle hellhörig.
 

„Sagt dir der Name etwas?“, fragte er aufgeregt.
 

„Sollte er das?“
 

Die kurze, hoffnungsvolle Hochstimmung des Franzosen verzog sich wieder, und er richtete seinen Blick erneut in Richtung Ungewissheit. Seine Enttäuschung konnte er nicht verbergen. „Nein ... wahrscheinlich nicht.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  blacksun2
2008-12-30T03:54:33+00:00 30.12.2008 04:54
wow, genial und perfekt zum wach werden (und ich bin jetzt vor Begeisterung hellwach) in den frühen Morgenstunden, wirkt um einiges besser als Kaffee ^^

das Kapitel war mal wieder ne Sensation, anders kann man es nicht sagen
ich liebe deinen Ausdruck, er ist toll und lässt sich unbeschreiblich gut lesen

und deine Story begeistert mich in jeden Kapitel aufs Neue
wirklich ich sehe kaum einen Unterschied (bezüglich der Qualität) von einen bereits veröffentlichten Roman und deiner Geschichte


Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft, der Spruch kam mir sofort in den Sinn während Jins Rückblick
Ich dachte am Anfang seine Kameraden wären den Werwölfen zum Opfer gefallen, doch es war die Eifersucht eines jungen Verliebten *seufzt*
ich hoffe Jin ist bei seiner Suche erfolgreich

Reyne find ich beeindruckend, sie strahlt so eine Eleganz, Anmut und Kraft aus, dafür muss man ihren Charakter einfach lieben

aber sie ist nicht der einzige symphatische Charakter in der Geschichte, Eva, Peter, Jin, lily jeder ist auf seine sehr individuelle Art liebenswert und wirken mir schon fast lebendig

nur Aarve erscheint mir irgendwie verdächtig, vielleicht hat Peter mich mit seinen Vorurteilen angesteckt, aber noch immer hab ich das Gefühl, dass er nicht ganz Unrecht hatte

ein interessanter Trupp, der sich da auf den Weg gemacht hat, Elfen, Menschen und Dunkelelfe - hoffentlich werden alle die Reise unbeschadet überstehen

freu mich schon hoffentlich sehr bald weiterlesen zu können

glg
blacksun




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