Mikado
"Wo ist dieses Vieh?"
Jannis hastete vom Flur in die Küche, suchte mit den Augen die hintersten und dunkelsten Ecken ab, in der Hoffnung irgendwo einen Fellbüschel und vielleicht eine kleine Pfote zu entdecken. Kühlschrank, Mülleimer, Zuckerdose – nichts.
Manchmal hatte er das Gefühl, als bereite es Ginger ein wahres Vergnügen zu Sehen, wie er zu den unmöglichsten Uhrzeiten mit einem Krümel Futter zwischen Daumen und Zeigefinger in irgendwelchen staubigen Ecken herumwühlte. Wahrscheinlich saß er jetzt in einem kuscheligen Geheimversteck und lachte sich ins Pfötchen.
"Warte nur Ginger, wenn ich dich erwische, mache ich Pantoffel aus dir!"
Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sein Meerschweinchen verschwunden war, machte sich Jannis Sorgen: die Gittertür des Käfigs war offen gewesen, das Futter nicht angerührt.
Jannis setzte sich erschöpft auf einen Küchenstuhl und musterte die Decke. Von seinen Freunden hatte keiner einen besonderen Bezug zu Tieren, außer Simon, der immer "von einem Werwolf angegriffen" wurde, wenn er wieder einmal zu spät kam. Dafür hatten Sie andere Dinge, die ihre Stärken waren; aber mehr noch, die sie kontrollieren konnten. Feuer, Wasser, Eis...
Hätte er dem Jannis vor zwei Jahren erzählen sollen, was alles auf ihn zukommen würde – von den Kräften, die die Erde selbst entfesselt – er hätte sich selbst kein Wort geglaubt.
Aber so war es, so und nicht anders. Und er konnte mit Tieren reden. Allerdings nicht wirklich reden, dazu bedurfte es gar nicht, er verstand sie; er konnte fühlen wie sie, er spürte ihre Seelen, wenn sie in seiner Nähe waren.
Einmal hatte er an einem regnerischen Tag einen alten Hund gesehen, der durch die gepflasterten Gassen der Innenstadt lief, vorbei an Rinnsalen trübgrauen Wassers, das Unrat und Schlamm mit sich trug. Plötzlich fiel sich der Hund mitten in einer leeren Straße auf den Bauch und ließ den Regen lange auf seinen Rücken prasseln. Gleichgültigkeit schimmerte aus seinen traurigen Augen, so, als sei es nicht mehr wichtig, ob er nun nass oder trocken sei.
Die Begegnung mit dem Hund hatte Jannis damals tief berührt, er hatte dem Hund eins von den Brötchen gegeben, die er gerade von der Bäckerei geholt hatte, aber das hatte es auch nicht besser gemacht.
Es hatte Jannis wieder einmal an die Ungerechtigkeit in der Welt erinnert.
Menschen. Obwohl sie nichts anderes waren als, als nackte, schwache Tiere, die sich gegenseitig Löcher in ihre Körper schossen, die ihre Kinder töteten, bevor sie geboren waren und die ihre Natur so lange nach Ihren Vorstellungen verbogen, bis sie zerbrach, obwohl sie all diese dummen, dummen Dinge taten, sahen sie in sich etwas Besseres als die Tiere, die sie nach Bedarf überfütterten, davonjagten, in Kleidchen zwängten, oder schlachteten.
Jannis schrak augenblicklich aus seinen wütenden Gedanken hoch, als er ein Quieken aus dem Wohnzimmer hörte. Freudestrahlend lief er um die Ecke und den Flur entlang.
Eilig stolperte er ins Zimmer ins Zimmer: "Ginger?"
"Kevin ist mein Name. Und wer sind Sie?"
Jannis sah in das grinsende Gesicht Kevins, der Ginger auf dem Schoß hatte und ihn kraulte. Der große dunkelhaarige Junge versuchte mit der freien Hand die angebrochene Packung mit Schoko-Mikadostäbchen auf dem Glastisch zu erreichen und zog eine der Schoko-Stangen heraus.
"Möchtest du eins?" Kevin hielt ihm das Mikadostäbchen vor die Nase und lehnte sich zurück, worauf Ginger angenervt grunzte.
"Danke", sagte Jannis, nahm sich das Stäbchen und ließ sich neben Kevin ins Sofa fallen.
"Dich hab ich schon gesucht, du kleines Ungeheuer", sagte er, während er Ginger ins Ohr zu kneifen versuchte. Das einzige was bei seinem scherzhaften Versuch herauskam, war ein daumenlanger Kratzer.
"Er hat so laut nach Futter gequiekt", Kevin deutete auf Ginger, "dass ich bis in mein Zimmer gehört habe und Mitleid bekam. Sei mir dankbar, ich bin davon überzeugt, dass ich ihn vor dem sicheren Hungertod bewahrt habe!"
"Der Futternapf war bis zum Rand gefüllt, das weißt du genau! Und von Mikado bekommt er nur wieder Durchfall." Jannis zog ein Gesicht und verschränkte patzig die Arme.
Kevin musste lachen und beförderte Ginger, begründet mit der These, dass Jannis eifersüchtig auf ihn und Ginger sei, auf Jannis angewinkelte Knie.
Das Meerschwein - in mittlere Panik versetzt - krallte sich bei dem Versuch, nicht herunterzufallen, in Jannis Bein, was ihm eine weitere Schramme einbrachte. Mit einem Aufschrei stürzte dieser sich auf seinen Freund, das Meerschwein landete verdutzt auf den Kissen und begann eilig ein Mikadostückchen zu fressen, das in der Sofaritze steckte.
Die Rauferei dauerte nicht lange: Kevin erwischte Jannis mit einem Kissen, Jannis versuchte Kevin zu beißen, aber der der größere Kevin hatte Jannis bald festgenagelt.
"Warum denn so wütend?", fragte Kevin lächelnd und strich Jannis eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Jannis sah zu Kevin auf und errötete leicht. Alle Wut von vorhin war wie weggeblasen, er begann zu schwitzen und sein Rücken kribbelte.
"Ich.. ich weiß nicht..." Das Licht der Wohnzimmerlampe floss über Kevins Gesicht, er schien für einen Augenblick so groß zu sein, dass er Jannis' ganzes Sichtfeld, seine ganze Welt einnahm. Das Schild in Jannis' T-Shirt begann zu kratzen, verdammt, er musste aus dieser unbequemen Lage herauskommen!
Er versuchte sich aufzurichten ohne dabei Kevins Gesicht allzu nahe zu kommen, was nicht gerade ein leichtes Unterfangen war und ehe er sich versah, hatte er Kevin ihm eine weiteres Keksgebäck zwischen die Lippen gesteckt.
"Wenn dein Meerschweinchen keine Mikados verträgt, dann muss ich eben dich füttern!" Er lachte und wuschelte Jannis durch die Haare.
"Hey! Ich bin doch nicht dein Haustier!" Jannis schob Kevin ein paar Zentimeter weg und versuchte ernsthaft zu klingen, allerdings glühten seine Wangen förmlich und er hatte das Gefühl, jemand hätte ihn kopfüber an ein Zirkustrapez gebunden, das nun mit mehreren hundert Stundenkilometern fröhlich hin und her schwang.
Plötzlich legte Kevin seine Hand an Jannis Wange und schaute ihm direkt in die Augen. Er kam ganz nahe und Jannis glaubte in seinen Augen zwischen all dem tiefen Blau und dem Grün etwas zu erkennen, was er nie dort erwartet hätte, so etwas wie... Unsicherheit?
Mit einem Mal hatte er es verstanden, er musste lächeln und legte vorsichtig seine Arme um Kevins Hals.
Ob wir wollen oder nicht, du magst mich und ich mag dich, so ist das eben.
Dem Meerschweinchen Ginger wurde indessen der Platz auf dem Sofa zu gefährlich und es entschied sich zu einem gewagten Sprung zur Tischplatte hinüber. Wohl bemerkt, mit einem Mikadostäbchen zwischen den Zähnen! Jeder Kunstsprung-Jury wäre das volle 10 Punkte wert gewesen, wie schade also, dass statt der Jury nur zwei vorpubertäre Grünschnäbel anwesend waren, die auf dem Sofa aufeinander hockten und sich anstarrten, als hätten sie das Paradies gesehen. Was taten die beiden da überhau...
Nach einem kurzen Blick über die Schulter, stierte das Meerschwein plötzlich starr geradeaus und flitzte dann ohne zu überlegen peinlich berührt, zu der Mikadodose neben der Blumenvase, steckte den Kopf hinein und begann die Keksstangen so laut zu fressen, wie noch nie.
