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Tochter des Windes

von

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das einzige

Tochter des Windes
 

Ich wurde mitten in einem eisigen Winter geboren, und das Heulen und Klagen der Winde, die um die hohen Türme des herrschaftlichen Hochsitzes meines Vaters tobten, übertönte die Seufzer und Schreie meiner Mutter. Daß ich bei jenem Wintersturm zur Welt kam, haben mir meine Kindermädchen immer wieder erzählt. Mir haben sich ihre Erzählungen - auch wenn mein Vater, der König, darüber die Stirn runzelt und sagte, ich solle nichts darauf geben - mit all ihren Einzelheiten tief ins Gedächtnis gegraben.

Als Tochter des Königs hatte ich, wie es sich in höher gestellten Gesellschaftsschichten geziemt, zahlreiche Kindermädchen und Hauslehrer. Von ihnen hörte ich, daß die Winter am Arielsee, dem Gewässer, das direkt vor unserem Schloß liegt, vormals mild und heiter, wenn auch sehr kurz, gewesen seien und der Schnee sich wie eine weiche Decke über die an seinem Südufer hoch aufragende Klippe gelegt habe, auf der unser Schloß steht. Das Schloß Wüstenwind.
 

Als ich älter wurde und die Welt um mich bewusster wahrnahm, ging mir auf, wie wütend die Winterwinde über das Land herfielen und es mit bitterer Kälte heimsuchten, unter riesigen Schneemassen erstickten, und erst, gezwungenermaßen, bei Ankunft des Frühlings aus ihrem eisigen Griff entließen. Ich erinnere mich noch gut, daß ich manche Winternacht in meinem Bett unter Bergen von warmen Decken barg, obwohl ich ganz gewiß nicht verfroren bin, und den Kammerzofen zusah, wie sie die Glut in meinem Kamin zum lodernden Feuer entfachten, das diese grausame Kälte vertreiben sollte, die anscheinend das ganze Schloß durchdrang

Und derweil hörte ich draußen die Winde heulen, die wütend um die Türme und Zinnen brausten und Wolken von Schneeflocken durch die Luft wirbelten. Ich habe mich oft darüber gewundert, daß die Elemente des Windes so lange in unserem Königreich tobten; aber damals, als Kind, glaubte ich ja...in diesen Winden Stimmen zu hören, die mich riefen, und schrieb sie Lebewesen zu, und so war es nur natürlich, daß ich mich über deren entsetzliches Verhalten wunderte.
 

Winter...in unserem Königreich der sonstigen Hitze und der trockenen Wüsten...das hieß für mich praktisch monatelange Gefangenschaft im Schloß. Denn es war mir, als zukünftige Thronerbin, strikt verboten, während dieser Zeit dort draußen herumzutoben und mich in meinem Lieblingsspiel, dem Schwertkampf, zu üben. Der Grund dafür war mir unbekannt. Ich wußte nur, daß es ein Verbot des Königs war - aber es kam mir so ungerecht vor, daß ich nicht einmal an Tagen, an denen die Sonne durch die Wolken brach und den See in gleißendes Licht tauchte, in die weiße Pracht hinauslaufen durfte.

Ich liebte meinen Vater, in gewisser Weise - aber daß er mich im Winter so im Haus einschloß, verletzte und verstörte mich. Meine Mutter, Miranda, war wie ein blasses Gespenst, ein Hauch, der im Sommer über die trockenen Staubwüsten weht, und hielt sich die meiste Zeit über im Hintergrund. Als ich älter wurde, glaubte ich zu erkennen, daß mein Vater, Odim, alles tat, damit sie und ich ja nicht allein zusammen waren. Ich wußte, daß sie mich tief und schrankenlos liebte; er aber schien eifersüchtig darauf bedacht, mir ihre Liebe vorzuenthalten.

Aber wenn sich die Gelegenheit dazu bot - in den kurzen Augenblicken, in denen wir zwei statt Königin und Prinzessin Mutter und Tochter sein konnten - überschüttete sie mich mit ihrer Mutterliebe, und ich spürte eine tiefe Traurigkeit in ihr, die sie zu verbergen suchte.
 

Ich argwöhnte, daß das Verhalten meines Vaters gegenüber meiner Mutter und mir vor allem darauf zurückgehe, daß ich ein Mädchen war. Denn ich hatte schon als kleines Kind gehört, ihm sei von einer mächtigen Priesterin geweissagt worden, seine Frau werde ihm einen Sohn gebären, und er sei sehr ungehalten darüber gewesen, als sie mich, ein Mädchen, zu Welt brachte. Meine Mutter war außer sich vor Glück gewesen und hatte mich Haruka genannt...was soviel wie “entfernt“ bedeutet...den Grund für diesen außergewöhnlichen Namen, den sie aus einer mir fremden Sprache übernommen hat, kenne ich nicht, aber ist das denn von Bedeutung ?

Sie liebte mich innig - wegen der Gleichgültigkeit meines Vaters vielleicht umso mehr.

Über die Ereignisse meiner Geburt wußte ich nur das wenige, daß ich aus den Gesprächen von Dienern und Mägden, die sich von mir unbelauscht wähnten, hatte aufschnappen können. So wußte ich, daß die Könige der Nachbarplaneten - obwohl unser Königreich nicht gerade einen großen Lebensraum bot, da er zu 98% aus unbebaubarer Wüste bestand, und somit für Wassergeschöpfe wie die von Neptune und die düsteren Gestalten von Pluto und Saturn nicht geeignet waren - König Odim nie zu befehden gewagt hatten, da er angeblich in seiner Jugend Macht über einen mächtigen Zauber erlangt und ihn gezwungen habe, ihm zu dienen.
 

Von diesem Zauber war mir nichts bekannt... aber es gab Zeiten in den Wintermonaten, wenn ich so in dem riesigen, dunklen Schloß gefangen war, da meinte ich, eine Spur von etwas in diesem alten Gemäuer zu fühlen. Es schwand aber immer nach einer Weile, und ich habe meinen Eltern nie davon erzählt. Wichtig war ja, daß wir mit unseren Nachbarn in Frieden lebten - und ob dabei Magie mitspielte oder nicht, kümmerte mich eigentlich nicht.

Ich machte mir über meine Eltern oft Gedanken, da ihr Verhältnis zueinander mich verwirrte und betrübte. Die Königin rief mich des Öfteren zu sich, damit ich ihr aufwarte, und gab sich, obschon ja mein Vater ständig in der Nähe war, große Mühe, mir ihre Liebe zu zeigen. Ihre Umarmung wurde mir sehr viel häufiger zuteil als die meines Vater; und zu jenen Zeiten, da er zornig wurde - oft aus mir unverständlichen Gründen- nahm sie mich vor den schlimmsten seiner Tiraden in Schutz.

Aber auch zu jenen Zeiten, es war meist Hochwinter, wurde ich aus den Gemächern meiner Eltern gewiesen und hörte dann im Fortgehen, wie sich ihre Stimmen in erbitterten Streit erhoben... Worüber sie stritten, wußte ich nicht; ich wußte nur, daß meiner Mutter bald darauf die Stimme versagen, sie verstummen würde. Oft hörte ich auch ihr ersticktes Weinen. Mein Vater weinte nie...
 

Mit dem Älterwerden beschäftigten mich andere Dinge, bis ich mir schließlich, im Winter meines siebzehnten Geburtstages, so manches zusammengereimt hatte. Meine Mutter war eine hoch gewachsene und anmutige Frau, fast schon zerbrechlich und von beunruhigender Schönheit, mit hellem Haar und Teint und großen, blauen Augen, die im Dunkel schimmerten. Mein Vater liebte sie nicht nur so; er beanspruchte sie in einer mir völlig unverständlichen Weise ganz für sich. Er wachte eifersüchtig über sie und sorgte dafür, daß sie fast keinen der Würdenträger und Besucher unseres Hofes zu sehen bekam. Mag sein, daß sein besitzergreifendes Verhalten mir die Augen dafür öffnete...daß sie ihn nicht liebte.

Als mir das zu dämmern begann, ging mir auch auf, daß er in mir, die ich so groß und so hell von Haut und Haar und so blauäugig war wie sie, das Ebenbild meiner Mutter sah und mich darum im Schloß hielt und nicht nach draußen ließ : als ein zu bewachendes und zu beaufsichtigendes Kind. Meine Liebe für meinen Vater begann daraufhin zu schwinden.
 

In jenem Winter fielen die Elemente mit einer solchen Strenge über das Königreich her, daß das Undenkbare eintrat - der Arielsee, benannt nach einem der Monde, die unseren Planeten umkreisten, fror zu. Das Donnern und Krachen des aufbrechenden und wieder gefrierenden Eises ließ in jenen Tagen und Nächten die Mauern des Schloß es erbeben und deren Bewohner erschaudern. Ich konnte die dumpfen Schläge noch hören, wenn ich durch die riesigen Flure und Zimmer ging, und sah zudem, daß die Köche und Mägde dabei die Köpfe zusammensteckten und sich ängstliche Abwehrzauber gegen die Naturgeister über die Schultern warfen.
 

Bei Nacht tobten die Winde so gegen die Türme, daß der König all deren Bewohner in die Erdgeschossräume bat und anordnete, daß sie in den Kammern des Gesindes und der Höflinge schliefen. Es stand zu befürchten, daß der schwere Eispanzer das Gemäuer zum Einsturz bringen könnte. Nachts im Schlafraum wurde über irgendeine Art von Rache spekuliert, die damit an König Odim geübt werde. Aber das Geraune verstummte schnell, als die Frauen meine Anwesenheit bemerkten. Bei dem verlegenen Schweigen, das daraufhin herrschte, schossen mir viele noch unfertige Fragen und Gedanken durch den Kopf. Was bedeutete das Gemurmel, daß ich Zeit meines Lebens hörte? Was für ein Geheimnis hütete mein Vater? Und welches meine Mutter?
 

Weil ich genau wußte, daß ich von meinen Gefährtinnen nichts mehr zu hören bekäme, erhob ich mich von meiner Schlafbank, ließ die schützende Wärme der großen Halle hinter mir und glitt auf meinen pelzbesetzten Pantoffeln beinahe lautlos über die glatten Fliesen der dunklen Flure. Ich hatte vorgeschützt, mich in meine Gemächer begeben zu wollen, ging aber in Wahrheit nun meine Mutter suchen. Mein Vater war an jenem Abend ausgeritten, um in den Guthöfen um die Schloßanlagen nach dem rechten zu sehen, und ich wußte, daß sie irgendwo im innersten Bereich des riesigen Gebäudes sein mußte - ganz allein.
 

Ich fand meine Mutter in der großen Bibliothek. Sie hatte es sich bequem gemacht, lag, in ein flauschiges Gewand gehüllt, das lange silbrigblonde Haar offen über den Schultern, und mit einem Buch im Schoß, behaglich auf allerlei Kissen gestützt auf dem Boden und streckte die bloßen Füße zu dem mächtigen Feuer hin, das im Kamin loderte und in dem hohen Raum eine fast kuschelige Wärme verbreitete. Der ungewohnte Anblick - meine Mutter, die Königin, barfuss und allein in der Bibliothek - ließ mich für einen Moment auf de Schwelle zögern.

Aber sie hatte wohl gehört, wie ich die Tür öffnete. Sie blickte auf. Ein leichtes Lächeln erhellte ihr vom Feuerschein bronzenes Gesicht. „ Komm doch, Haruka“, sagte sie mit sanfter Stimme. Ich ging zu ihr hin, ließ mich dann neben ihr nieder und breitete dann einen Teil meiner mitgebrachten Decke über ihren bloßen Füßen aus. Da lächelte sie erneut und legte ihr Buch zur Seite, sah mich, die ich stumm und verwirrt dasaß, prüfend an und nahm schließlich meine Hand.

„ Was quält Dich denn, meine Kleine...?“

„ Mutter..“, begann ich, schwieg aber wieder und saß nur offenen Mundes da, weil ich all die Fragen, die mich bewegten, nicht in Worte fassen konnte. Sie spürte meine Verwirrung, wie sie das je immer tat, und strich mir die ungebändigten Strähnen, die ich mir in einem Anflug von der Besessenheit, meinem Vater den Sohn zu ersetzen, den er nie bekommen hatte, abgeschnitten hatte, aus den Augen.

„ Haruka...?“

Aber aus Angst, daß mein Vater gleich heimkommen und unsere Zweisamkeit wieder einmal stören könnte, und um dem ja zuvorzukommen, platzte ich nun doch damit heraus : „ Mutter... weshalb gibt es in diesem Haus so viele Geheimnisse?“

Da lächelte sie gelassen. „ Jedes Schloß hat seine Geheimnisse, meine Kleine.“

Ich schüttelte den Kopf. „ Nicht solche wie diese!“

Ihre tiefblauen Augen suchten die meinen. „ Und was genau willst Du wissen, Haruka?“

„ Sag, wieso liebst Du den König nicht?“ Ich war selbst über meine Kühnheit so erschrocken, daß ich erleichtert war, als sie meine Hand gehen ließ, sich umdrehte und ins Feuer blickte. Mir brannte das Gesicht ein wenig vor Scham. Ich blickte zu Boden, aus Angst, daß ich das zarte Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir beschädigt hatte.

Ich weiß nicht, wann sie mir ihren Blick wieder zuwandte - aber bald schon streckte sie ihre Hand aus und nahm erneut die meine.

Als ich aufblickte, sah ich Tränen in ihren Augen schimmern.

„ Man muß eben manche Dinge im Leben akzeptieren, Haruka. Man kämpft...solange man kann ... aber irgendwann kommt der Augenblick, da man nachgibt, es eben akzeptiert.“

Ich konnte ihren Blick nicht mehr ertragen, denn die Tränen flossen ihr über und drohten, ihr über ihre Alabasterwangen zu rollen. So blickte ich erneut zu Boden und hörte gesenkten Kopfes zu, als sie fort fuhr : „ Ich habe versucht...ihn zu lieben, aber es stand nicht in meiner Macht. Ich brauchte all meine Kraft, um meinen...Zorn zu verwinden...“

Ihre Stimme verlor sich wieder.
 

Aber diese Mal achtete ich nicht darauf, weil meine ganze Aufmerksamkeit den Handgelenken meiner Mutter galt, die ich nun zum ersten Mal in meinem Leben erblickte.
 

Meine Mutter trug stets langärmlige Handschuhe, und das sogar im heißesten Hochsommer. Ich hatte nie ein Wort darüber verloren - obwohl ja manche diese Gewohnheit recht seltsam fanden. Sie hatte eine sehr helle Haut, die keine Sonne bräunte, und weil es sich bei mir ähnlich verhielt, mußte auch ich oft, um einen Sonnebrand zu vermeiden, oft völlig verhüllt gehen. Aber ich hatte sie noch nie - nicht einmal in Privatgemächern der königlichen Familie - mit bloßen Armen gesehen.

Ihre Handgelenke waren, wie bereits gesagt, schmal und weiß und sehr anmutig. Im Schein des Feuers meinte ich aber zu erkennen, daß...sie ganz geschunden aussahen. Und so fuhr ich ihr, nur halb des nun herrschenden Schweigens gewahr, mit dem Finger über die merkwürdig aussehende Hautstelle.
 

Da schrak meine Mutter zusammen und versuchte, mir ihre Hand zu entreißen, aber ich hielt sie eisern fest und betrachtete sie von neuem. Ihre Handgelenke waren narbig, die Haut gezerrt, stellenweise wie Pergament und selbst für ihre Verhältnisse sehr weiß. Wieder wollte sie sie aus meinem Griff lösen. Aber ich ließ sie nicht gehen und sah nur entsetzt zu ihr auf.

„ Hast Du einmal in Ketten gelegen, Mutter?“

Als sie ihre Hand jetzt freigab, wandte sie sich ab, um sich, wie immer, hinter ihrem Schweigen zu verstecken. Aber diesmal schien etwas sie daran zu hindern. Denn sie hob an zu sprechen, nachdem sie eine Weile ihre zum Feuer gestreckten Handgelenke angestarrt und schließlich ihre Hände in den Schoß gelegt hatte: „ Es war vor langer Zeit...“, sagte sie mit sehr leiser und trauriger Stimme, „ vor Deiner Geburt, ,,In einem anderen Leben...“

Da vergaß ich meine ursprüngliche Frage und starrte sie ungläubig an. Wer sollte es gewagt haben, Königin Miranda, Herrin des Königreiches, das anzutun?

„ Mutter,...wer? Warum...?“

Sie zögerte lange mit einer Antwort. Nur das Prasseln der Flammen und das Prasseln der Holzscheite unterbrach diese lastende Stille.

Endlich flüsterte sie, unhörbar fast: „ Nur dieser Mann konnte das tun, konnte mir das antun...“ Dabei sah sie mir so in die Augen, daß ich mir sicher war, sie wolle mir nun die ganze Wahrheit sagen - aber da flog krachend die Tür der Bibliothek auf, und mein Vater kam herein. Und ich spürte sofort, obwohl sie sich nicht bewegte, daß sie sich verschloss - gegenüber mir wie gegenüber ihm. Sie hob nur ihr ausdrucksloses Gesicht und sah ihn an, als er nun mit raschen Schritten auf uns zukam.

Er hatte nicht einmal seinen schweren Wintermantel abgelegt. Der Pelzbesatz an Kapuze und Stiefeln war steif gefroren und weiß vor Reif, und seine Stiefel hinterließen Spuren aus tauendem Schnee. Sein Gesicht, soweit es nicht von seinem dichten, eisgrauen Bart bedeckt war, war rot vor Kälte, und er funkelte uns, die wir beieinander auf dem Boden saßen, mit seinen fast schwarzen Augen wütend an. Meine Mutter barg ihre Handgelenke ohne Hast in die Falten ihres Gewandes. Aber ihre Bewegung entging ihm nicht. Sein Blick zuckte zu ihren Händen hinab und wieder zu ihrem Gesicht zurück. Dann wandte er sich langsam zu mir. Er ist es gewesen, schoss es mir durch den Sinn, er hatte sie in Ketten gelegt.

Odium nahm seine gespannte Haltung an, als ob er auf irgendeine Erklärung von mir warte; seine Miene verdüsterte sich zusehends. Weil ich nicht wußte, was er von mir verlangte - oder fürchtete - und weil ich mir nicht aus malen mochte, was er in seinem Zorn mit mir anzustellen gedachte, senkte ich bald ratlos die Augen.

Nun räusperte er sich, stieß seine Kapuze zurück und sagte streng: „ Haruka, las uns allein!“

Seine Stimme war so rau von unterdrückten Gefühlen, daß ich mich fragte, was er in diesen spannungsgeladenen Augenblicken wohl befürchtet oder gehofft haben mochte.

Ich erhob mich nur widerwillig, um hinauszugehen, wurde aber zu meinem Erstaunen von meiner Mutter zurückgehalten. „ Nein, Haruka, bleib.“ Sagte sie hastig und fasste mich am Arm. Das war, soweit ich mich erinnere, das erste Mal, daß sie es wagte, einem Befehl meines Vaters zu widersprechen.

„ Es ist der Wind, Miranda...es ist der Wind...!“, stieß Odim bebend hervor. Er erstickte fast an seinem Jähzorn.

Nun hörten auch wir das Heulen des Sturmes. Er tobte mit solcher Kraft, daß er bis ins tiefste Innere des Schloßes drang und sogar in der Bibliothek mit ihren dicken Mauern ein Luftzug zu spüren war.

Wie in meiner Kindheit, so glaubte ich auch jetzt Stimmen im Wind zu vernehmen; aber das Gefühl schwand mir, als ich meine Mutter ansah, die, den Kopf wie lauschend geneigt, sich nun langsam aus ihrem Kissen erhob.

„ Ja, ich höre die Winde“, sagte sie und lächelte dann.

Der König zog ein böses Gesicht. „ Der Tagwächter hat am Nordturm einen tiefen Riss bemerkt, der von oben bis unten reicht. Der war gestern noch nicht da. Der Sturm...das Eis...der Turm könnte einstürzen!“

Ich sah das wutverzerrte Gesicht meines Vaters und verstand nicht, warum er meine Mutter dafür verantwortlich machte.

Mirandas Lächeln schwand. „ Nein...Das würden sie nicht tun.“

Sie? Von wem, wovon redeten meine Eltern da eigentlich?

Nun lächelte Odim, langsam, grausam. „ Du hast es selbst einst gesagt. Sie werden es tun.“ Er sah mich und dann wieder Miranda an. „ Du mußt es verhindern!“

„ Nein...!“ Verzweiflung malte sich in ihren Zügen. Ich nahm besorgt ihre Hand in die meine. Ihre Finger waren eiskalt und zitterten. Als mein Vater uns so sah, schäumte er vor Wut.

„ Haruka..., Du gehst jetzt auf der Stelle!“ schrie er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Aber ich wollte nicht gehorchen, ich konnte doch meine Mutter, die wie Espenlaub zitterte, nicht allein lassen.

„ Mutter, was meint er mit  Du mu...“. Aber da trat er schon mit zwei schnellen Schritten zu mir und packte meinen Arm so fest wie ein Schraubstock, stieß mich vor sich her und in den Flur hinaus, funkelte mich noch einmal drohend an und schlug sodann vor meiner Nase die Bibliothekstür zu. Ich trollte mich aber nicht, sondern presste mein Ohr fest an die Tür und horchte auf ihre vom Holz des Türblatts gedämpften Stimmen.

Mein Vater schien außer sich vor Zorn. „ Was weiß sie?“ brüllte er meine Mutter an.

„ Nicht genug...“ antwortete sie, für mich über dem Brausen des Sturmes nur eben noch vernehmbar. „ Ich gab Dir mein Wort. Hast Du Angst, daß ich es brechen könnte?“

„ Ja! Für die Winde... ja, ich hatte Angst, daß Du es brichst...“

Nach einem quälenden Schweigen fuhr er ruhiger fort : „ Die Winde werden von Jahr zu Jahr stärker.“

„ Was hast Du denn erwartet?“ versetzte sie bitter.

„ Daß Du dem ein Ende machst!“ Wieder trat Stille ein. Und ich in meinem eiskalten Korridor stellte mir vor, wie mein Vater nun riesig und drohend vor meiner bleichen, zerbrechlichen Mutter stand, und erschauderte bei dem Gedanken.

„ Miranda...Du mußt es tun! Ich fürchte...daß das Schloß diesmal einstürzt.“

„ Dann laß sie doch einstürzen! Mich kümmert es nicht mehr!“

Es hörte sich an, als ob sie miteinander kämpften, und dann war das Keuchen meiner Mutter und die raue, kalte Stimme meines Vaters zu vernehmen : „ Sie könnte Deine Tochter unter sich begraben!“

„ Nein...“, ächzte sie. Und ich ballte die Fäuste vor Wut darüber, daß er sie so unter Druck setzte.

„ Bitte verlange das nicht von mir, Odim...Ich habe nicht mehr die Kraft dafür.“

„ Deine Schwäche hast Du Dir selbst zuzuschreiben ...Du hast Dich ja erkühnt, mir statt eines Sohnes...eine Tochter zu gebären.“

Sie klagte auf, als ob er sie wütend schüttle, ihr weh täte.

„ Du hast gedacht, Du könntest sie gegen mich benutzen, nicht wahr?“

„ Nein, Odim...bitte!“ Ein Klatschen wie von einer Ohrfeige, der Schrei von meiner Mutter und dann ein leises Schluchzen ließen mich auffahren. Heißer Zorn wallte in mir, erfüllte mich, bis ich zu bersten glaubte - als von irgendwo in der Burg ein schrecklicher Schlag erscholl, der selbst das Tosen des Windes übertönte. Ich fuhr entsetzt herum und sah eine riesige Wolke aus Schneeflocken auf mich zutoben. Wütende Böen erfassten und schleuderten mich durch den Korridor, stießen mich und rissen an mir, und ich kauerte und presste mich laut schreiend an die Mauer.
 

Da flog die Bibliothekstür auf, und meine Eltern stürzten in den Gang. Mein Vater bleib wie angewurzelt stehen, da ich mich mitten im wirbelnden Zentrum des Windes wieder auf die Beine zu rappeln vermochte. Es war bitterkalt, aber die Schneeflocken sanken nicht zu Boden, sondern tanzten und schwebten durch die Dunkelheit.

Von der Kraft des Sturmes ein wenig verängstigt, schrie ich ihnen zu : „ Mutter...Vater! Was geht hier vor?“

Mein Vater, er starrte mit einer Miene hellen Entsetzens auf mich, die ich mit im Wind wehenden kurzen Haaren bebend im Flur stand. Ich streckte Hilfe suchend die Arme zu meiner Mutter aus, und sie eilte zu mir und nahm mich schützend in die Arme, hüllte mich in ihre wohlige Wärme ein. Die Wind heulten und stöhnten, aber sie hielt mich fest, und ihre langen Haare umwehten unser beider Körper. Da erstarb der Wind nach einem letzten, wie trotzigen Aufheulen, und ohrenbetäubende Stille trat ein.

Als ich mich von meiner Mutter löste, sah ich das blaue Mal auf ihrer Wange, das er ihr geschlagen hatte. Tränen standen uns beiden in den Augen, als sie mich mit fliegenden Händen abtastet... um sich zu vergewissern, daß ich heil und unversehrt sei.

Nun drehte sie sich zum König um.

„ Siehst Du nun, wozu Deine Geheimnisse führen...siehst Du es?“

Er trat ruhig auf uns zu...das Entsetzen war aus seinem Gesicht gewichen. „ Haruka, geh sofort in Deine Gemächer!“

Meine Mutter reckte sich ihm so jäh entgegen, daß ich dachte, sie wolle ihm von neuem die Stirn bieten...aber dann schrak sie vor seinem fürchterlichen Blick zurück und ließ mich los.

„ Tu...tu, was Dein Vater sagt, Haruka.“, sagte sie sehr leise und flüsterte mir dann viel leiser noch ins Ohr : „ Das südlichste Verlies.“ Mir tränenfeuchten Gesicht sah sie mir in die Augen und strich mir liebevoll über die Wangen.

Da ertönten laute Stimmen vom Ende des Korridors und das unstete Licht schwankender Laternen näherte sich. Eine Schar von Dienern war herbeigeeilt, um die Schäden, die die Windsbraut angerichtet hatte, in Augenschein zu nehmen und zu beheben. Ich aber wandte mich, etwas verängstigt, verunsichert und zornig, von meinen Eltern ab und rannte davon. Im Weglaufen hörte ich noch meine Mutter sagen : „ Bringe mich ...zu den Winden, Odim...“

Ich rannte, bis ich nicht mehr konnte, und keuchend um Atem rang. Das südlichste Verlies? Dachte ich und setzte mich auf die Stufen des Mittelturmes. Warum hatte sie mir das zugeflüstert? Der Schneesturm, das entsetzte Gesicht meines Vaters und der blaue Fleck an ihrer Wange...mein Herz hämmerte vor Aufregung.

Geheimnisse...meine Mutter hatte ihm dieses Wort wie eine Anklage ins Gesicht geschleudert.

Hatte mein Vater sie wirklich einst in Ketten gefangen gehalten? Warum? Und was ging denn mit mir vor, daß ich im Wind Stimmen zu hören vermeinte und mein Vater so voller Angst war?
 

Noch ehe mir klar war, daß ich den Entschluß gefasst hatte, stieg ich schon, eine Laterne in der Hand, die steile Treppe hinab, die zum Kerker führte. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Die Verliese waren unbewacht, da sie nicht mehr benutzt wurden. Diese Überbleibsel dunklerer Zeiten, diese Reihen feuchter und düsterer Zellen, deren schwere, eisenbeschlagene Holztüren seit Jahren in dieser unterirdischen Stille vor sich hin verrotteten, zogen sich unter der ganzen Ostseite unseres Schloßes hindurch. Der König, obzwar ein kalter Vater und vielleicht ein noch hartherzigerer Ehemann, war ein gerechtigkeitsliebender Herrscher und hielt gar nichts davon, all jene einzukerkern, die nicht immer seiner Meinung waren. Und für gewöhnliche Verbrecher gab es ein oberirdisches Gefängnis weit im Westen der Stadt. So waren diese Schloßverliese heute nur mehr eine archetektonische Kuriosität.

Die Luft hier unten war wärmer als oben und roch nach Verwesung und Vergessen. Ich wußte, daß hier, außer meiner Einbildung, nichts zu fürchten hatte. Dennoch zitterte ich vor Wut und aufgestauten Gefühlen.

Ich schritt langsam den Hauptkorridor entlang, bahnte mir mit dem tröstlich en Strahl meiner Laterne einen Weg durch das unheimliche Dunkel und starrte durch die Faullöcher der Zelltüren entsetzt in gähnende Nacht, mußte aber auch ein- oder zweimal mit bebenden Händen innehalten, weil das Kreischen irgendeiner alten Türangel die Stille plötzlich durchbrochen hatte.

Als ich endlich am Südende des Ganges war, hob ich meine Laterne und blickte mich suchend um... ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suchen sollte. Da war nur diese letzte Zelle. Die Tür stand offen und eine leichte Brise streifte meine Wange. Ich fuhr erschrocken zurück. Ein Windhauch im Gewölbe unter der Burg?

Wieder fuhr mir dieser schwache, kalte Wind übers Gesicht...und zerrte sogar an meinem Umhang. Nun wehte er zu Zellentür, machte kehrt und blies mir ein paar Strähnen meines Haares ins Gesicht. Vor Furcht wie gelähmt, verharrte ich und überließ mich dem Kreisen der seltsamen Brise. Mehr noch als ihre Kälte beunruhigte mich ihre schiere Existenz. Endlich und mit einem leisen Seufzer so vernehmlich fast wie eine menschliche Stimme, strich dieser kühle Wind an mir vorbei und in die Zelle hinein, und dabei schwang die Tür weit auf, wie um mich einzuladen.
 

Er ist mir von oben gefolgt, dachte ich, nun halb von Sinnen vor Panik. Der Wind ist mir bis hierher gefolgt.

„ ...gewisss...“, flüsterte der Wind.

Ein Geräusch in der Zelle, wie das Rascheln von Stroh, ließ mich vor Entsetzten fast den Gang zurücklaufen. Da schwebten ein paar verschimmelte Strohhalme aus der weit offenen Tür. Strohhalme? Diese Zellen müssen doch schon vor Jahren ausgefegt und geputzt worden sein! Aber meine Neugier siegte über meine Furcht, und so hob ich, auch wenn mir das Herz laut in den Ohren hämmerte, meine Laterne und trat vorsichtig in die Zelle ein.

Sie war wie all die anderen auch : klein, eng, die Wände und der Steinboden glitschig von Sickerfeuchte - der See reichte hier ja beinahe bis an die Grundmauern - und, bis auf die faulige Streu, völlig leer. Hier dürfte kein Stroh mehr sein, dachte ich, diese Zellen wurden ja vor meiner Geburt aufgelassen. Verstört hob ich die Laterne.

Da fuhr der Wind in die kleine Flamme, und ihr wild flackerndes Licht ließ am Fuß der Wand etwas aufblitzen. Erstaunt beugte ich mich vor...und sah...Handschellen im Stroh liegen, Handschellen mit langen, in die Quaderwand gebolzten Eisenketten.
 

Mir wurde schwindlig, ich wollte nur noch kehrtmachen und aus der Zelle rennen, davonlaufen, wie ich von meinen Eltern davongelaufen war. Aber der Wind umkreiste mich von neuem und strich mir übers Gesicht, und seine Kühle erfrischte mich und gab mir neue Kraft.

„ ...sssieeehhhhhh...“, flüsterte er.

Da streckte ich, fast gegen meinen Willen, die Hand aus, berührte die Stellen... und spürte und sah das verkrustete, zu dunklen Flecken getrocknete Blut an ihren Innenseiten. An beiden Handschellen klebte Blut...und sie waren ganz eng, für ausnehmend schmale Handgelenke eingestellt.

„ Nein!“, schrie ich und brach in die Knie. Meine Laterne schwankte wild. Die Schatten tanzten gespenstisch. Ich schrie, daß es durch die Flure hallte, und der Wind fing die flüchtigen Echos meines Schreis, trug sie zu mir zurück. „ ...nein, nein, nein...“

Aber mit einem Mal erstarb der Wind.
 

Ich erinnere mich nicht mehr daran, daß ich aus der Zelle rannte, und auch nicht daran, daß ich die Treppe hoch und zurück ins Herrenhaus hetzte. Nein, ich weiß nur, daß ich, meine Laterne noch in der Hand, in unsrer großen Halle stand und auf die riesige Tür starrte, die nun fest verriegelt war. War ich wirklich dort unten gewesen? Aber als ich an mir hinabblickte und die Wasserflecken und schimmligen Strohhalme am Saum meines Umhangs und an meinen Schuhen sah, wußte ich, daß das alles kein Traum gewesen war. Tränen brannten mir in den Augen. Nun war ich mir sicher, daß er meine Mutter... in jenem winzigen Kerker in Ketten gefangen gehalten hatte.

„ Odim...!“ rief ich. „ O, Odim, wie konntest Du das nur tun?“

Niemand antwortete auf meinen gequälten Schrei. Aber der Wind, der mich zu jenem Verließ geführt hatte, erwachte rings um mich jäh zu neuem Leben und hob mir den Mantel, verwuschelte mir die Haare, tanzte durch die ganze Halle, riß da Gobelins von der Wand und stürzte dort kostbare Vasen und Statuen von den Regalen, Truhen und Schränken.
 

„ Halt ein!“ schrie ich. Da beendete der Wind seien tollen Tanz, strich um mich herum wie eine Katze und kühlte mir die glühenden Wangen. Nun machte meine Angst dem Zorn Platz, und so schrie ich den Wind an : „ Warum?“

„ ...diiieee...Ladyyyy...“

Das Bild meiner gespenstisch weißen, im feuchten Dunkel zitternden Mutter trat vor mein inneres Auge. Die eisernen Handschellen hatten ihre schmalen Handgelenke schon blutig gescheuert. Aber sie riß und zerrte verzweifelt an ihrer Kette, sank endlich erschöpft zu Boden, und ihr langes, silbriges Haar verdeckte mir ihre Tränen der Pein...der Angst...und...

„...Veeerrraaaat...“ Wieder erstarb der Wind und die Vision war verschwunden.
 

Eine Windfangtür schlug krachend zu. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß der Wintersturm mit ungekannter Wut heulte und an den Türmen des Schloßes zerrte. Die neu erwachte Brise strich mir übers Gesicht, pfiff dann den Korridor zum großen Hof entlang und ließ dabei die knapp unter der hohen Decke aufgehängten Gobelins einen nach dem anderen flattern. Da folget ich ihr und vernahm bald das Schreien und Lärmen der Zimmerleute, die an den hohen Fenstern zum See in aller Eile neue Läden anbrachten und sicherten, weil der über das Eis hertobende Wind die aus dicken Eichenbohlen gezimmerten alten Fensterläden in tausende eisüberzogene Splitter zerschlagen hatte.

Der Schnee, der sich dort im Flur gehäuft hatte, schmolz bereits zu Lachen von Matsch und Wasser, die all die kostbaren Läufer zu verderben begannen. Aber ich scherte mich weder um den traurigen Zustand der Teppiche noch um das Platschen meiner Pantoffeln, da ich nur für meine kleine Brise, die mich zur Tür führte, Sinn und Auge hatte.

Einer fasste mich an der Schulter, und andere packten mich am Arm, aber ich schüttelte sie mühelos ab und langte nach der Tür. Die Dienstleute hinter mir schrieen und riefen einander zu, mich doch zurückzuhalten. Da berührte ich schon ich schon die Tür, und sie flog auf, und ein wildes Schneegestöber fiel über mich her.

Ich stand da, die Eiseskälte nicht beachtend, aber unter der Wucht des Windes taumelnd und starrte in den großen, auf den starren See hinausgehenden Hof. Mein kleiner Wind umkreiste mich, wehrte der Gewalt der auf mich einstürzenden Schneewirbel und beschützte mich mit seinem eifrigen Tanz. Ich glaubte, über dem Heulen jener Sturmböen Stimmen zu hören - wütende, gellende, klagende Stimmen - und, dagegen ankämpfend, das leise Pfeifen meines Schutzwindes.
 

Ganz in meiner Nähe stand, mit dem zu mir und dem Gesicht zur Ecke des Hofes gewandt, mein Vater. Sein großer Mantel war weiß mit Reif bedeckt und er konnte sich in diesem Sturm nur mit Mühe aufrecht halten.

Meine Mutter stand, mit gen Norden erhobenen Händen, etwas weiter draußen in diesem weißen Wüten. Der Wind riß ihr die Haare nach hinten und ich sah mit Schrecken, daß sie barfuß war. Aber kein Schnee fiel auf sie. Er häufte sich nur rings um sie, trieb über den Hof und legte sich sogar auf den König. Sie blieb von Kälte und Nässe unverschont.

„ Mutter!“ schrie ich, das Heulen der Winde übertönend.

Der König drehte sich um. Als er mich erblickte, weiteten sich seine Augen - erst vor Überraschung und dann vor Zorn.

„ Haruka...geh sofort ins Haus zurück!“ rief er und kam auf mich zu.

Ich wich zurück und hob abwehrend die Hände. „ Nein!“ Aber plötzlich taumelte unter einer Bö und fiel rücklings in eine Schneewehe. Als er sich aufzurappeln versuchte, hörte ich über dem Sturmbrausen meine Mutter gebieterisch rufen.

„ Winterwinde, hört auf damit! Ich befehle es...ich befehle es!“

Die Winde zerrten an ihrem Kleid und Haar. Da schrie sie mit sich überschlagender Stimme :

„ Ich kann nicht mehr mit euch zurück. Ich kann mein Ehegelübde nicht brechen!“

Die Winde heulten und tobten hoch über ihr und tosten gegen die ragenden Türme.

„ Nein, laßt ab...laßt sofort davon ab! Ihr bringt uns ja alle mit eurer Wut in Gefahr!“

Mit Schrecken sah ich, wie sich da weit draußen über dem gefrorenen See ein Wirbelwind schwer vom Schnee erhob und nun in wildem Tanz auf die Burg zuraste...

Auch mein Vater, der endlich wieder auf den Beinen war, erblickte ihn und wurde leichenblaß.

„ Miranda, der See! Der See!“

Meine Mutter fuhr herum und sah den Wirbelwind, und als sie sich wieder umwandte, erblickte sie mich. Ihre Augen waren schwarze Kleckse in diesem weißen Toben und sie schrie gellend den Winden zu : „ Ihr werdet mich töten...und meine Tochter! Das kann ich nicht zulassen.“

Sie erhob von neuem die Hände. Schon spaltete sich mit schrecklichem Donner der See und riesige Eisschollen, von denen Ströme von Wasser rannen und Berge von Schnee stürzten, türmten sich auf und versperrten dem Wirbelwind den Weg.

Wütend machte er kehrt, senkte sich tief und saugte unter der Eismauer gewaltige Wassermassen hervor, bis er schließlich zu einer mächtigen Woge aus Wasser und Schnee zusammenfiel. Stöhnend fegten die Winde zum Schloß zurück und über die aufragenden Türme hin, umkreisten sie noch einmal und verschwanden dann im Handumdrehen.

Kein Lüftchen regte sich mehr. Ringsum sanken die Schneeflocken nieder. Ich schauderte, weil die Kälte von mir Besitz ergriff, da auch meine kleine Brise mit den Stürmen entschwunden war. Meine Mutter wandte sich zu mir um und breitete ihre Arme aus.

Ich lief zu ihr hin, um mich in ihre Wärme zu flüchten und ich fühlte sie zittern, als sie mich nun an ihre Brust drückte. Tränen rannen uns beiden übers Gesicht.

„ Oh, Haruka, Haruka...“, flüsterte sie. „ Alles das hatte ich Dir ersparen wollen!“

„ Bist Du eine Zauberin, Mutter?“

„ Nein!“ kam ihr mein Vater zuvor. Als wir aufblickten, sahen wir ihn vor uns im Schnee stehen - mit dampfendem Atem, das Gesicht noch rot von der Anstrengung, über die gefrorenen Schneehaufen zu steigen.

„ Sie ist keine Zauberin!“ sagte er mit flacher tonloser Stimme.

Nun würde meine Mutter zu zittern beginnen und sich stumm seinen Worten unterordnen...

Aber diesmal tat sie es nicht! „ Nein, ich bin keine Zauberin. Ich bin die Königin des Winterwindes! Die Beherrscherin der Luft.“

„ Miranda!“ zischte mein Vater.

„ Sie hat ein Recht, es zu erfahren!“

„ ...gewissss...“, klagte es laut, und wir fühlten, wie die Winde sich wieder erhoben. Mein Vater blickte zum Himmel auf. Da oben jagten die Wolken.

„ Miranda...Haruka...Ihr beiden geht nun sofort ins Haus zurück!“„ ...nnneinnn...“ Laut aufheulend tobte der Wind herab, warf die große Tür krachend zu und sperrte so uns drei in der Schneewüste aus.

Mein Vater ballte und öffnete abwechselnd die Hände vor Wut und Hilflosigkeit.

Ich starrte ihn an, und mir war, als ob ich jene Ketten noch vor mir sähe.

„ Ich habe die eisernen Handschellen gesehen!“ sagte ich anklagend.

Überrascht und betroffen wich er einen Schritt vor mir zurück.

„ Du hast die Königin in Ketten legen lassen!“

„ Haruka...Du kennst die Umstände nicht...“

„ Ich weiß genug! Wie kannst Du die, die zu lieben vorgibst, in Ketten legen?“

„ Sie ist ja jetzt nicht mehr in Ketten“, versetzte nach kurzem Zögern.

Meine Mutter zog mich an sich. „ Nein... weil jetzt mein Herz in Ketten liegt!“

Der Wind umschmeichelte mich und ich vernahm von neuem die traurigen Stimmen.

„ ...verrraaateeennn...“
 

Da blickte ich zu meiner Mutter auf. „ Ich höre wieder die Stimmen im Wind.“

Sie nickte. „ Ja, Du hast sie schon immer vernommen. Das war mein Geschenk an Dich, als Du zur Welt kamst. Die Stimmen des Winde sind in Dir, so wie sie auch in mir sind.“

Nun sah sie den König und hob ihre Stimme : „ Wir haben einander versprochen...Aber Du hast die beiden Versprechen, die Du mir gabst, gebrochen. So entbinde Du mich nun von dem meinen!“

Odim sah sie starr und unergründlich an. Schließlich nickte er langsam, wandte sich von ihr ab und spähte auf den gefrorenen See hinaus.

Miranda blickte mir fest in die Augen und fing an zu erzählen :

„ Vor vielen Jahren, als ich noch im Mirandapalast, dem Herrschaftssitz über den ganzen Planeten Uranus lebte... kam eines Tages Dein Vater zu mir. Er gehörte dem niedren Hochadel an, die sich dieses Stückchen Land fruchtbar gemacht hatte und hier lebten. Feinde bedrohten sein Reich und er brauchte viel mehr als Waffen, um sie zu besiegen. Ich wurde ständig von unerwünschten, unwürdigen Freiern bedrängt und hatte mein Reich daher mit, für andere, gefährlichen Kräften umgeben. Aber Dein Vater hatte den langen Weg in mein Himmelsschloß bezwungen und hatte den Stürmen getrotzt, die ich ihm entgegen warf, um ihn zu entmutigen.“

Ihre Stimme verlor sich und ihre Augen sahen eine Vergangenheit, die die meinen nicht sahen. Mit einem Anflug von Lächeln fuhr sie fort : „Er war ebenso...tapfer wie entschlossen. Ich war beeindruckt...“

Nun sah sie mir wieder fest in die Augen. „ Er bat mich, ihm gegen seine Feinde zu helfen und versprach, er und seine Männer würden mich dafür dann vor jedem unerwünschten Freier beschützen. Ich willigte in diesen Handel ein...“

Sie stockte uns ich spürte, daß sie heftig zitterte. „ Aber als meine Winde die feindlichen Heere besiegt hatten, trat er vor mich hin, um mir seine Liebe zu erklären und schwor, mich vor jedem anderen Mann zu schützen, wenn ich nur einwilligte, die Seine zu werden. Ich wies ihn zornig zurück. Aber er nahm mich, mit Gewalt.“

Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen schwanken. War ich das Kind einer Vergewaltigung? Fragte ich mich erschrocken, wie vor den Kopf geschlagen.

Miranda schluckte und fuhr dann stockend fort.

„ Er... nahm mich... und brachte mich in Ketten hierher. Ich weigerte mich, mich seinem Willen zu beugen...und so ließ er mich in dieser Zelle, allein...von meinem Wind getrennt.“

Wieder zitterte sie vor Wut und Pein. Die Winde strichen um uns herum und klagten und flüsterten dabei.

„ Mutter...“ stöhnte ich und Tränen flossen gegen meinen Willen über meine Wangen.

„ Ohne die Winde war ich ohnmächtig. Dann spürte ich, daß ich ein Kind unter dem Herzen trug. Nun mußte ich beugen... und er ließ mich geloben, meine Macht über die Winde nie gegen ihn zu nutzen und sein Kind nie etwas vom mütterlichen Erbe wissen zu lassen...Er war überzeugt, daß ich ihm einen Sohn gebären würde, einen Thronerben...“

Odim drehte sich zu ihr um, und ich sah erschüttert, daß seine Augen vor Tränen glänzten.

„ Ich wollte doch nur Deine Liebe...und einen Erben.“

„ Du hast zuviel von mir gewollt!“ erwiderte sie schneidend und ihr bleiches Gesicht rötete sich vor Zorn. Der Wind nahm zu und über dem See zu unseren Füßen tanzten kleine Schneeböen.

Sehr leise fragte ich : „ Was hat der König Dir versprochen?“

„ Daß er mich nie bitten würde, daß zu tun, was ich nicht zu tun vermochte. Er konnte weder erwarten, daß ich ihn liebe, noch, daß ich den Winden gebiete, die ich hatte verlassen müssen.“

Die Winde wurden beißender, kälter, und ich hörte sie hoch über den Türmen klagen.

„ ...verlassseeennnnn......“

Ich wischte mir die Tränen ab, die mir im Gesicht zu frieren drohten. „ Und seither haben sie versucht, Rache zu nehmen...?“

„ Ja. Rache am König. Und meine Macht über sie... und über mich selbst...schwand in den Jahren immer mehr. Erst als sie Dich fanden, wagte ich zu hoffen...“

Da fiel mir ein, wie mein Zorn aufgelodert war, als ich Odim meine Mutter schlagen gehört hatte, wie die Winde auf der Such nach mir durch die Burg geheult waren...gab ich ihnen die Kraft? Und hatte meine Mutter mich umarmt, um mich vor ihnen zu beschützen - oder um ihnen zu zeigen, daß ich ihr Kind sei und sie mir deshalb genauso zu gehorchen hätten wie ihr selbst?
 

Mein kleiner Wind umtanzte mich und nahm an Stärke zu, als sich die anderen, mächtigeren Winde ihm zugesellten. Er war geblieben, um mir den Weg zu weisen...damit ich erfahren sollte, wer und was meine Mutter wirklich war!

Nun fiel mein Blick auf meinen Vater, der abseits von uns stand.
 

„ Was für eine Treulosigkeit...welche Unverfrorenheit...“, begann ich. Die Stimme versagte mir.

„ Wie konntest Du das nur tun, Vater?“

Die Winde bliesen nun immer heftiger und eisiger, aber uns konnte die furchtbare Kälte nichts anhaben.

„ Ich tat es...aus Liebe, Haruka!“

„ ...nnneiiinnn...“ seufzten die Winde.
 

Und ich fühlte, wie sie mich in die Arme nahmen, als die Welt um mich herum versank und die tanzenden Schneeflocken hoben uns, meine Mutter und mich, in den Himmel empor und trugen uns gen Mirandapalast...dem Heimatort, der weit über der Oberfläche des berstenden Planeten lag und nach dessen Entfernung meine Mutter mich Haruka genannt hatte...
 

Als ich in der Entfernung das fliegend Gebäude sah, umfing mich ein wunderbares Gefühl... zuhause...nach so langer Zeit war ich endlich da, wo ich schon immer hingehörte...

Während der Schlaf mich übermannte, hörte ich den sanften Zephyr freundliche und liebevolle Weisen singen....
 

Ende
 

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Mir kam die Idee zu dieser Geschichte, als ich in einem Buch stöberte...die Grundidee der Story klang sehr nach Haruka...die keine Ahnung hat, wer sie ist...und erst recht nicht, warum ihr Vater ihre Mutter so seltsam behandelt...

Sie ist noch keine Senshi, aber sie beherrscht schon den Wind...

Ja mata ne...Michiru Kaioh 

Oder auch Nimue



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Melodya
2006-06-12T20:41:30+00:00 12.06.2006 22:41
echt gut gemacht^^, stimme michiruKaio vollkommen zu mit dem hineinversetzen...
weiter so...

grüssle,
kajika
Von:  MichiruKaio
2006-06-12T09:23:13+00:00 12.06.2006 11:23
Der FF ist klasse ^^
Liest sich gut und man kann sich richtig reinversetzen.
*gg*

Super!

Weiter so ^^


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