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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Das letzte Kapitel in diesem Jahr!

Ich hoffe ihr habt alle einen guten Rutsch (bzw. hattet für alle, die das erst nächstes Jahr lesen) und genießt das neue Kapitel.
 

Ein kalter Luftstoß traf mich, als ich hinaus auf die Baker Street stürzte. Ich hatte weder an Hut noch an Mantel gedacht, doch es gab kaum etwas, was mir in jenem Moment unwichtiger erschien als die Kälte, die durch meine Kleider drang. Ich wusste nur noch, dass ich weg musste. Was gerade passiert war, konnte einfach nicht…nun ja, passiert sein. Aber das war es.
 

Es ging bereits auf Mitternacht zu und mit einem erneuten Einbruch des Winters hatte die Unvorhersehbarkeit des März ihren unrühmlichen Höhepunkt erreicht. Die viel versprechenden ersten Zeichen des nahenden Frühlings waren vergangen. Und der Wind heulte und zischte in meinen Ohren. Sogar Mutter Natur wusste es.
 

Weil ich fürchtete, Holmes könnte mir nachkommen, hielt ich sofort nach einer Kutsche Ausschau und entdeckte auch bald eine, die scheinbar untätige in der Nähe von Regents Park wartete. Der Fahrer schien zu schlafen; er war auf dem Fahrersitz mit verschränkten Armen eingenickt. Das Pferd stampfte mit dampfenden Nüstern ungeduldig auf das Pflaster. Mit einem schnellen Blick über die Schulter hämmerte ich laut genug gegen die Tür, um den Kerl aus dem Schlaf zu reisen. Ich kannte ihn Gott sei Dank nicht.
 

Er zuckte heftig zusammen und starrte mich verärgert an. Allerdings griff er unverzüglich nach den Zügeln. „Wohin, Kollege?“
 

„Einfach irgendwo anders hin“, sagte ich, während ich einstieg. „Und sparen Sie nicht mit der Peitsche, wenn es Recht ist.“
 

„Äh – Sie wiss’n nich, wo Sie hinwoll’n, aber Sie woll’n schnell da hin?“
 

„Ganz genau. Also fahren Sie jetzt bitte los, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Ich klang gelassen. Vollkommen normal.
 

Ich lehnte mich zurück gegen die kalte Sitzbank, sodass ich nach vorn gerissen wurde, als der Kutscher die Peitsche knallen ließ und der Klepper lostrottete – nach Westen, Richtung Marylebone Road.
 

Ich konnte Holmes neben mir spüren, obwohl er meines Wissens immer noch verblüfft auf dem Sofa im Wohnzimmer der 221B saß. Oder vielleicht hatte er den ersten Schrecken überwunden und analysierte gerade die Situation. Vielleicht rannte er mir auch in genau diesem Moment hinterher. Doch wo auch immer er war, ich konnte den Nachhall seiner Gegenwart spüren. An mir, um genau zu sein. Warm. Kräftig. Unerfahren und doch selbstsicher.
 

Der Alkohol. Der Tabak und die Minze. Was sein war, war mein. Für einen Augenblick waren wir eins gewesen. Und ich war auch noch derjenige, der es verschuldet hatte. Warum hatte ich das getan?
 

Und ganz offensichtlich hatte es mich nicht angewidert. Wenn überhaupt dann hatte sich mein Körper nach jenen physischen Empfindungen gesehnt, die er in mir ausgelöst hatte. Immer noch verspürte ich jenes verlangende Pulsieren, das nicht hätte da sein dürfen. Das niemals zuvor von einem Mann erweckt worden war. Nicht einmal in jenen Zeiten, da keinerlei Frauen verfügbar gewesen waren. So wie in diesen langen, kalten Nächten in Afghanistan, als wir zu Dutzenden in enge Zelte gezwängt worden waren und ich stets den üblen Geruch meiner Kameraden in der Nase hatte. Es sind diese Zeiten an der Kippe zwischen Leben und Tod, die einen Mann zeitweise dazu bringen, sich selbst zu vergessen.
 

Als ich mich an all das Geschwätz und an all die Prahlereien erinnerte, die mit dem Dienst in Kriegssituationen Hand in Hand gehen, konnte ich nicht anders, als mir vorzustellen, was all meine alten Kumpanen dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass John H. Watson soeben einen Mann geküsst hatte und davon erregt worden war.
 

Oh Gott. Großer Gott.
 

„Kutscher!“, rief ich, während ich meinen Kopf aus dem Fenster lehnte. „Ich muss sofort zur Ave Maria[1]…ähm…lassen Sie mich einfach bei Saint Paul’s raus.“
 

Mein Freund der Kutscher wand sich um, um mir über die Schulter einen Blick zuzuwerfen. Er wusste, was ich dort wollte, aber es war mir egal. „Sind nur mit dem Besten zufrieden, hä, Kollege?“
 

Meine Augen verengten sich angesichts seines Spottes und ich kämpfte mit dem Verlangen, ihm einen Kinnhacken zu verpassen. Aber im Grunde hatte er Recht. Ich war bei Gott nicht wohlhabend, aber ich würde mich nicht mit irgendeiner Hinterhof-Hure aus dem West End begnügen, die zulässt, dass du sie gegen die erstbeste Wand drückst und darauf hofft, dass du zu betrunken bist, um zu merken, dass sie dich nicht weiter als zwischen ihre Schenkel lässt. Das allerletzte was ich nach alldem noch brauchen konnte, war mir nun auch noch irgendeine garstige Geschlechtskrankheit einzufangen.
 

Die Kirchturmuhr von Saint Paul schlug Mitternacht, als meine Kutsche in die Ave Maria einbog. Der Kutscher empfing sein Fahrgeld ohne höhnisches Grinsen und machte sich aus dem Staub. Kurz blieb ich stehen und fragte mich, wie viele Geheimnisse diese vergessenen Kreaturen wohl mit sich herumtragen mussten. Die Affären eines jeden Mannes, sei er nun arm oder reich. Und nun auch meine eigenen.
 

Es war einer meiner Zeitgenossen aus dem Saint Bart’s Hospital gewesen (welches zufälligerweise genau auf dem Weg gelegen hatte), durch den ich von diesem Freudenhaus erfahren hatte. Es war teuer, war mir gesagt worden, aber die Mädchen waren erstklassig; weder krank noch unansehnlich. Jeder, der einen gewissen Rang innehatte, hatte diesen Ort bereits aufgesucht und es war gut möglich, dass das sogar einige hochrangige Regierungsmitglieder einschloss. Auch wenn ich einen Eid geschworen habe in diesen Memoiren weder zu lügen, noch irgendwelche Aspekte meinen Lebens zu verfälschen oder auszulassen, wozu ich in meinen veröffentlichten Werken gezwungen war, kann ich nicht in gutem Gewissen die Namen derjenigen enthüllen, die mir nichts Böses getan haben. Und deshalb werde ich weder die genaue Lage dieses Ortes, noch die Namen derjenigen preisgeben, die dieses Haus führen.
 

Auch ist es nur vernünftig, hier nicht vornehm zu tun. Sie mögen gelesen haben, dass meine Kenntnis von Frauen recht umfassend ist und sich über drei Kontinente erstreckt. Ich will Sie auch nicht in dem Glauben lassen, ich hätte noch niemals einen Fuß in ein solches Haus gesetzt, aber ich bestehe darauf, dass, egal welche Schwäche ich in der Vergangenheit auch für die Fleischeslust gehabt haben mochte, all dies ein Ende fand, als ich der Ehemann meiner Frau wurde. Es mag für einen Mann nicht ungewöhnlich sein, innerhalb oder außerhalb des eigenen Haushalts Geliebte zu suchen, aber ich liebte sie von ganzem Herzen und hätte niemals etwas getan, was sie traurig machen würde.
 

Und weil ich seit Mary keine Frau mehr gehabt hatte, fühlte ich mich nun teilweise schuldig und beschämt. Aber es war im Grunde nicht die Fleischeslust, die mich hierher trieb. Es ging um mein eigenes Wohl. Ich musste etwas beweisen.
 

Die Tür wurde von einer Frau im mittleren Alter mit stahlgrauem Haar und ebensolchen Augen geöffnet. Früher musste sie wohl sehr attraktiv gewesen sein, aber die Mühen des Lebens hatten sie vorzeitig altern lassen. „Ja?“, fragte sie auf mein Läuten. „Wer hat Sie geschickt?“
 

„Niemand. Dieses Haus ist mir empfohlen worden.“
 

Das schien ihr zu reichen. Die Tür öffnete sich ganz und mir wurde Einlass gewährt. Das Innere wirkte wie ein normales Heim mit all dem dazugehörigen Schmuck, den man erwarten würde. Aber dafür gab es einen guten Grund und der sollte eigentlich offensichtlich sein.
 

„Wissen Sie wie spät es ist?“, sagte Madam, während sie mich durch das Haus auf einen Vorhang zuführte.
 

„Ich bitte um Verzeihung.“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
 

„Meine Mädchen sind daran gewöhnt. Sie werden sie sich an alles gewöhnen, was Sie verlangen, solange Sie gut zahlen.“
 

„Das kann ich Ihnen versichern.“
 

Sie lächelte. „Dann gehört Ihnen die Welt, Sir. Ich vermute Sie suchen nach einem unberührten Mädchen?“
 

„Nun…“ Ich räusperte mich und fühlte mich mit einem Mal sehr unwohl. Was tat ich hier eigentlich? Was würde es an der Lage ändern, wenn ich hier nur mit meinen Lenden anstelle meines Kopfes dachte?
 

„Vielleicht suchen Sie auch etwas ein wenig…Unorthodoxeres? Ich habe Mädchen, deren Spezialität“—
 

„Nein! Überhaupt nicht!“ Das letzte, was ich wollte, war etwas Unorthodoxes. Ich wollte es einfach, gewöhnlich, normal…so wie es sein sollte.
 

Die Dame sah mich an und ich drehte mich hastig weg. „Sie brauchen Sich keine Sorgen über Ihre Anonymität zu machen, Sir. Ich versichere Ihnen, dass wir hier bereits die Geheimnisse von Männern in den mächtigsten Positionen bewahrt haben“—
 

Geheimnisse bewahrt?
 

Es war genau wie bei Holmes. Die Sorgen wie vieler Klienten hatte er schon besänftigt, indem er ihnen versicherte, dass sowohl er als auch ich vollkommen vertrauenswürdig waren? Ich wusste es nicht, aber ich hatte in jenem Moment das sichere Gefühl, als verletze ich irgendeine Art des Vertrauens. Was würde Holmes sagen…
 

„Stimmt etwas nicht?“
 

Ich fuhr aus meinen Gedanken hoch, um der Eigentümerin ins Gesicht zu blicken. „Ich bitte um Vergebung“, sagte ich. „Aber ich…ich muss gehen. Ich fürchte, ich bin aus ganz falschen Gründen hierher gekommen.“
 

„Aus falschen Gründen?“ Sie lachte. „Sir, es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ein Gentleman hierher kommt.“
 

„Ja…“ Normalerweise würde ich ihr zustimmen. Aber damals konnte ich es nicht. Ich war mir nicht mehr sicher, warum ich überhaupt dort war. „Aber ich muss wirklich gehen. Es tut mir Leid, Sie gestört zu haben.“ Und bevor sie antworten konnte, war ich auch schon mit hochrotem Kopf aus der Tür gestürmt. Mein neues Ziel lag nur eine Straße entfernt. Zum Teil war ich erleichtert, dass ich nichts Unüberlegtes oder Unvernünftiges getan hatte. Aber ein anderer Teil von mir war vollkommen entsetzt, dass ich gerade wirklich wie ein vollkommener Narr aus diesem Haus gerannt war.
 

Als ich schließlich den Saint Paul’s Friedhof erreichte, war ich völlig außer Atem und meine Lungen brannten. Schweiß tropfte mir in die Augen und die wachsende Kälte der Nacht ließ meinen verschwitzen Körper zu Eis erstarren. Aber selbst in der pechschwarzen Dunkelheit wusste ich instinktiv wohin ich gehen musste.
 

Mary Morstan Watson
 

Geliebte Ehefrau und Mutter
 

Ich fiel vor dem Grab auf die Knie, was einen stechenden Schmerz durch meine alte Wunde jagte. Mit einer Hand umklammerte ich sie, während ich auf die eingravierten Worte starrte, als hoffte ich, darin die Lösung für all meine Probleme zu finden. „Oh, Mary…“, flüsterte ich. „Was soll ich nur tun?“
 

Aber die Dunkelheit antwortete nicht. Da war nur der Wind, der mir eiskalte Schauer über jeden Zoll meines Körpers jagte.
 

„Ich kann einfach nicht daran denken“, erklärte ich dem Grab. „Ich kann nicht daran denken…was passieren könnte. Was er über uns beide gesagt hat…“
 

„Nein, Watson, du missverstehst das Wesentliche! Wir sind nicht grundverschieden , wir sind was die alten Chinesen ‚Yin und Yang’ nannten. Zwei Teile eines Ganzen. Ohne das eine, würde das andere aufhören zu existieren.“
 

„Ich habe ihn noch nie so gesehen, Mary. Er war…verletzlich. Er versuchte tatsächlich, etwas so Emotionales wie Liebe logisch zu erklären. Aber ich muss zugeben…dass ich ihm folgen kann. Es ist natürlich nur seine Ansicht und doch…ich habe immer über die Theorie des Schicksals nachgedacht. Ich könnte mir vorstellen, dass es das war, was uns zusammenführte, als Holmes und ich uns vor 14 Jahren an jenem eisigen Februarnachmittag begegneten. War es Schicksal, dass ich dem jungen Stamford damals im Criterion über den Weg lief und das sowohl Holmes als auch ich nach einer Unterkunft suchte? Es war außergewöhnliches Glück, dass ich meine Verletzungen lang genug überlebte, um es überhaupt nach London zu schaffen…und dann Moriaty…wie viele Male hatten wir beide dem Tod selbst ins Gesicht geblickt und hatten überlebt? Und wieso hatten wir überlebt?“
 

„Du willst damit also sagen – so weit ich es verstanden habe – dass wir sind, was die romantischen Dichter ‚Seelenverwandte’ nennen?“
 

„Ist es das, was wir sind, Mary, Seelenverwandte? Erklärt das die unheimliche Faszination, die dieser Mann schon immer auf mich ausgeübt hat? Erklärt das, warum ich immer diese Verbindung zwischen uns gefühlt habe? Oder sind die Gründe dafür viel einfachere?“
 

Die Erinnerung an jenen Kuss durchströmte mich ein weiteres Mal und wieder fühlte ich Schmerz in jeder meiner drei Wunden.
 

Ich streckte die Hände aus und packte den Grabstein meiner Frau. Oder war es Schmerz?
 

Machte ich alles viel komplizierter als es war?
 

Gab es einen menschlicheren Grund, warum ich Holmes umarmt und es genossen hatte?
 

Nein. Nein, das konnte nicht sein! Oder doch?
 

Und dann erinnerte ich mich an den Traum. Mary, so schön wie das reine Morgenlicht, verblasste vor mir, während mein Körper gegen meinen Willen sein Bewusstsein wiedererlangte. Ich erinnerte mich daran, was sie gesagt hatte: „Du musst dir selbst vergeben. Für das, was geschehen ist und für das, was noch geschehen wird. In meinen Augen bist du frei von jeder Sünde.“
 

Für das, was noch geschehen wird? Aber wie konnte ich…war es überhaupt ein Traum gewesen? Oder etwas anderes…eine Vision.
 

Du musst dir vergeben, für das, was noch geschehen wird.
 

Oh, Gott.
 

Es stimmte.
 

Ich kann ehrlich sagen, dass ich in jenem Moment, als ich dort allein in der tiefsten Dunkelheit kniete, größere Angst vor mir selbst empfand als jemals zuvor. Und auf einmal hatte ich keinerlei Möglichkeiten. Es gab nichts, was ich tun konnte.
 

Außer jeden Gedanken auszulöschen. Meinem Erbe nachzugeben. Und so stolperte ich auf Füßen, die meinen Körper kaum noch aufrecht halten konnte, in Richtung der weniger eleganten Teile von London, die ich normalerweise mied. Ich hatte nur noch einen Gedanken. Zu trinken, bis die Erkenntnis nicht mehr da war. Ganz egal wie lange es dauern würde.
 

Das Cock and Bull direkt neben der Newgate Street war die erste Kneipe die meinen Weg kreuzte und so weit ich weiß, hatte ich noch nie auch nur einen Fuß hinein gesetzt. Sie war gefüllt mit Fischhändlern, Obstlieferanten und sogar noch niedereren Lebensformen. Zuerst dachte ich an Bier oder Portwein, die größten Wagnisse, die ich gewöhnlich bei Alkohol einging, aber dann entschied ich mich für die Milch meines Vaters: Scotch-Whiskey. Pur. Der Wirt reichte mir das Glas ohne zu zögern.
 

Die Qualität war wohl kaum erstklassig. Aber nachdem ich den grotesken fruchtigen Weißwein aus Afghanistan gekostet hatte, den die meisten Männer meiner Kompanie tranken, wenn sie nichts Zivilisierteres in die Finger bekamen, konnte ich mich mit allem anfreunden. Es war stark, brannte und schmeckte verdorben. Aber ich trank es trotzdem. Und dann noch einen. Und noch einen…
 

War ich genauso wie Holmes? Hatte ich es all die Jahre verleugnet, auch mir selbst gegenüber? Schließlich konnte ich nicht leugnen, was ich nach nur ein paar Sekunden mit ihm gefühlt hatte. Und wäre ich früher vor den erwartungsvollen Armen einer Frau geflohen, auch wenn sie nur meine Lenden und nicht mein Herz befriedigen würde?
 

Mit ziemlicher Sicherheit nicht.
 

Mit nervösen Blicken versuchte ich die anderen Männer in der Kneipe zu mustern, ohne dass es jemand bemerkte. Hatte irgendein anderer Kerl – und sei es auch in dem einsamsten Augenblick des Krieges weit weg von Zuhause – jemals auch nur die geringste Anziehung auf mich ausgeübt?
 

Auch wenn der Whiskey meinen Geist immer mehr umnebelte, versuchte ich darauf eine ehrliche Antwort zu finden. Aber ich konnte diese Frage zu meiner größten Erleichterung ehrlich verneinen. Niemals. Ich hatte niemals Gefallen an Männern gefunden. Ich bevorzugte mit Sicherheit das schöne Geschlecht, wie es nur natürlich ist.
 

Aber was zum Teufel war dann jetzt mit mir los?
 

Die einzige Lösung, die sich anbot, war die, die mir Holmes gegeben hatte. Schicksal. Yin und Yang. Vorsehung. Seelenverwandte.
 

Ich kann nicht sagen, dass ich jemals viel über solche Dinge nachgedacht hatte. Das Schicksal schien mir ein interessantes Konzept, aber es ließ sich nicht beweisen. Und ein Seelenverwandter war jemand, den Shakespeare für seine von den Sternen verfluchten Liebenden erfunden hatte und nicht für einen exzentrischen Detektiv und seinen Biographen.
 

„Und außerdem“, sagte ich laut, ohne es wirklich zu merken. „Sollte mein Seelendverwandter nicht eine gottverdammte Frau sein?“
 

„Was ist los, mein Freund?“, fragte der Wirt.
 

„Nichts…Gott vergebe mir, aber ich muss meine Probleme nicht in Worte fassen.“
 

„Schwachsinn. Hier redet jeder über seine Probleme.“
 

„Ja, gut, aber ich habe mehr als meinen gerechten Anteil abgekriegt. Gib mir noch einen.“
 

Irgendwann zwischen meinem achten und neunten Scotch setzte sich ein alter Landstreicher zu mir an die Bar. Zuerst verschwendete ich keinen Gedanken an ihn; ich bemerkte nur seine schäbig Kleidung und die wilden, grauen Haare. Aber nach mehreren Minuten des Schweigens, drehte er sich zu mir. „Probleme, Junge?“ Seine Stimme war tief und ernsthaft.
 

Als er sich umwandte, sah ich, dass sein Gesicht mehr schwarz als weiß war. „Nichts Besonders“, antwortete ich, während ich mit dem Glas gegen die Theke schlug, um die Aufmerksamkeit des Wirtes auf mich zu richten.
 

„Einen Penny für deine Gedanken?“
 

„Ich denke nicht, dass du auch nur einen einzigen entbehren kannst, mein Freund. Aber komm schon, trink einen mit mir.“ Ich wühlte in meinen Taschen und warf ihm einen Shilling zu.
 

„Danke, Junge, sehr gern, aber ich bin aus einem ungewöhnlichen Grund hier.“
 

„Einem ungewöhnlichen Grund?“, lachte ich. „Mein Freund, wer kommt in ein solches Loch schon aus einem anderen Grund als sich zu…nun, sich abzufüllen?“
 

„Ich bin hier, um einen lieben Freund davon zu überzeugen, dass er einen schweren Fehler macht.“
 

Er klang ganz sicher nicht wie ein Landstreicher. „Nun, dann wünsch ich dir Glück, alter Junge. Möge der ‚schwere Fehler’ ein leichterer sein als der meine.“
 

„Dann gibst du zu, dass du einen machst, Junge, indem du dem einsamen Trinken in die Falle tappst?“
 

„Es scheint die einzige Lösung.“
 

„Die einzige Lösung, hm? Es gibt nur eine einzige Bedrängnis, die einen Mann zu einem solchen Ende treiben kann. Liebe.“
 

Ich starrte ihn kurz mit trüben Augen an. „Sie sind sehr scharfsinnig, Sir“
 

„Unsinn. Es steht dir in jeder verwirrten Linie deiner Stirn und in jedem Zittern deiner Hand geschrieben, wenn du sie hebest, um deinen Verstand noch weiter zu vergiften.“
 

„Nun ja“, sagte ich, während ich kurz mein Spiegelbild in dem Glas betrachtete. „Meine Liebe ist nicht wie die der meisten anderen Männer.“
 

Er lachte. Es war ein trockener und abgehackter Laut, der sich als Husten fortsetzte. Die Verstopfung klang sehr nach Schwindsucht. „Ich bin der Meinung, mein lieber Junge, dass jeder Mann denkt, seine Liebe ist anders als die aller anderen.“
 

„Ich weiß, dass meine es ist.“
 

Er schnalzte mit der Zunge. „Armer Brutus…“
 

Ich begann zu husten. „Was?“
 

Er lachte leise und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln. „Shakespeare, Junge. ‚Der arme Brutus, mit sich selbst im Krieg, vergisst den andren Männern Liebe kund zu tun.’[2]“
 

Ich drehte mich um und starrte ihn fassungslos an. Seine Worte entsetzten mich. „Wer zur gottverdammten Hölle sind Sie?“, fragte ich den Landstreicher, aber im selben Moment, durchschaute ich Perücke und Verkleidung. Zwei graue Augen, die mir nur zu vertraut waren, durchbohrten mich. Ich packte seinen Arm.
 

„Holmes!“, schrie ich wütend. „Was zum Teufel machst du hier?“
 

„Ich könnte dich dasselbe fragen, Doktor. Aber die Antwort ist offensichtlich. Und ich muss sagen, dass das ziemlich dumm von dir ist. Unglaublich unreif und selbstsüchtig.“
 

Ich versuchte aufzustehen, denn ich war rasend, dass er meinen Zustand so ausnutzen würde. Ich schaffte es beinahe nicht. Im selben Moment, als meine Füße den ihn berührten, wendete sich der Boden in die Vertikale. Ich versuchte nach der Theke zu greifen, aber ich verpasste sie um ganze Fuß. Glücklicherweise packte die Hand von Holmes, dem Landstreicher, in letzter Sekunde meinen Ellebogen und ich war gerettet. Trotzdem hätte ich ihn am liebsten so gründlich verprügelt, wie es mein Zustand zuließ. „Du…du…“ Aber mir fiel keine Beschimpfung ein, die übel genug gewesen wäre. „Du gemeiner Schuft! Du hast das mit Absicht getan! Du wolltest, dass ich…dass ich es gestehe! Du hast mich dazu gebracht, zuzugeben, dass ich wirklich etwas gefühlt“—
 

„Um Himmelswillen, Mann, sprich leise!“, zischte Holmes. „Willst du wirklich, dass dieses ganze verfaulte Loch der Niedertracht mithört?“
 

Und wir bekamen misstrauische Blicke. Aber ich war bei Weitem nicht ich selbst und es könnte mich nicht weniger gekümmert haben. „Das werde ich dir niemals verzeihen.“
 

Es schmerzt selbst jetzt noch, daran zu denken, dass ich tatsächliche etwas so Hartes zu ihm gesagt hatte.
 

Aber er erkannte, dass der Alkohol aus mir sprach. „Meine Absicht war, dich zu finden und nach Hause zu bringen, Doktor. Es ging mir nicht um meine eigene Belustigung oder meinen eigenen Nutzen. So unüberlegt zu handeln, wie du es tatest, ist der sicherste Weg, sich eine ganze Menge Schwierigkeiten einzuhandeln.“
 

„Ich habe schon eine Menge Schwierigkeiten! Es ist Schande, Entehrung und gegen das Gesetz…“
 

Der Wirt beäugte uns mittlerweile ziemlich aufmerksam.
 

Holmes zog mich am Arm näher zu sich, bis sein Mund direkt neben meinem Ohr war. „Begehe keine noch größere Dummheit, als du ohnehin schon hast. Du wirst jetzt augenblicklich mit mir nach Hause kommen. Du bist so am Ende, dass du nicht einmal mehr weißt, was du tust.“
 

Der Wirt verengte seine Augen. Ich konnte sein Misstrauen beinahe riechen. „Vielleicht hast du Recht“, sagte ich zu meinem Freund. „Ich glaube…ich glaube, ich sollte besser nach Hause gehen.“ Ich wollte auf die Tür zu gehen, aber wurde sofort zurückgerissen.
 

„Nein, Watson“, sagte Holmes. „Wir sollten besser nach Hause gehen. Komm mit.“
 

Irgendwie schaffte ich (oder eher, schafften wir) es zurück in die Baker Street. Alles vor meinen Augen war verschwommen, ich konnte kaum noch gehen und mir war schrecklich übel. Ich schaffte es noch ins Wohnzimmer, wo ich sofort auf dem Sofa zusammenbrach. Zumindest drehte sich nicht mehr alles.
 

„Hier“, sagte Holmes und drückte mir ein Glas in die Hand.
 

Ich nahm einen Schluck und spuckte es sofort wieder aus. Es war das Übelste, was ich jemals gekostet hatte. „Was ist das denn? Versuchst du mich zu vergiften?“
 

„Es soll die Nachwirkungen von exzessivem Trinken kurieren“, sagte Holmes. „Es ist ein Heilmittel, das ich irgendwo aufgeschnappt habe.“
 

„Es ist widerwärtig!“
 

„Es ist warme Milch und Ruß.“
 

„Was?!“
 

Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Die Milch soll den Körper dehydrieren und den Magen besänftigen, während der Ruß für die Entgiftung zuständig ist…“
 

„Das ist Wahnsinn! Völlige Quacksalberei! Holmes, wie kannst du nur auf so was hereinfallen?“
 

„Sag niemals, etwas sei Wahnsinn, nur weil es neu und seltsam klingt“, erwiderte er und schwenkte einen Finger in meine Richtung. „Denk an all jene, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe. Jeder andere Vorschlag war Wahnsinn.“
 

„Nun gut…“ Ich stellte das Glas auf den Boden und versuchte meinen Körper zu entspannen. In Wahrheit wollte ich einfach einen ganzen Monat lang schlafen und diesen grässlichen Tag nur noch vergessen. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir diese Möglichkeit nicht offen stand. „Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht noch mehr Stufen ertragen kann“, murmelte ich Augenblicke später. Ich wäre nicht einmal dann auf die Füße gekommen, wenn die 221B in Flammen gestanden hätte.
 

„Wenn du es versuchen würdest, würdest du stürzen und dir den Hals brechen. Wie viele Whiskeys hattest du – ähm…mindestens neun, schätze ich.“
 

„Ich kann mich nicht erinnern. Sie verschwimmen alle.“
 

Er schnaubte und ich konnte deutlich seinen unterdrückten Zorn spüren. Früher war er nur dann zornig auf mich gewesen, wenn ich mir irgendwelche groben Schnitzer erlaubte, während ich ihm bei einem Fall assistierte. Aber in jener Nacht erinnere ich mich an mehr als bloßen Zorn. Da war Sorge. Und Erleichterung.
 

„Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich. „Es muss tausende Kneipen in London geben. Woher wusstest du, dass ich in genau dieser sein würde?“
 

„Wenn man es genau nimmt und sowohl die Wirtshäuser als auch die gewöhnlichen Biergeschäfte zusammenzählt, sind es in der ganzen Metropole über 20.000.“
 

„Wirklich?“
 

„Absolut. Und ich wusste nicht, dass du im – wie hieß es noch mal? Ach ja, im Cock and Bull sein würdest.“
 

„Aber“—
 

„Ich hatte mir gedacht, dass du beim Friedhof von Saint Paul’s sein würdest.“
 

Ich schloss kurz die Augen. „Das war ich.“
 

„Ja – ich weiß. Selbst im Dunklen war es offensichtlich, dass jemand das Grab erst vor kurzem verlassen hatte. Das Cock and Bull war die nächste Kneipe.“
 

„Und die Verkleidung? Um mir eine Falle zu stellen?”
 

„Ganz sicher nicht! Um dich zu schützen. Und mich selbst.”
 

„Woher wusstest du, dass ich meine Zuflucht im Alkohol suchen würde?“
 

Er starrte mich an, als wollte er andeuten, dass ihm jeder Schritt, den ich machen mochte, bekannt sei und wir beide ignorierten die Frage. Er wollte nicht darauf antworten und ich wollte seine Antwort ganz sicher nicht hören.
 

„Holmes?“, fragte ich nach einem kurzen Schweigen. „Es gibt etwas, das ich wissen muss.“ Er war im Begriff sich die Pfeife zu stopfen. Die Calabash. „Was habe ich in Meiringen gesagt?“
 

Seine Augen leuchteten auf, als er das Zündholz auslöschte. „Kannst du es dir nicht denken?“
 

„Oh doch, das kann ich. Ich vermute, ich habe dir gesagte, ich würde dich lieben, wollen, brauchen…all solche Dinge, die ich bei klarem Verstand wohl niemals sagen würde.“
 

„Tatsächlich hast du nichts Derartiges gesagt.“
 

„Ha…habe ich nicht? Das ist sel…Ich meine, was habe ich dann gesagt?“
 

„Es war größtenteils Kauderwelsch. Aber von Zeit zu Zeit hast du nach verschiedenen Personen gerufen…deiner Frau, deinem Sohn. Sogar nach deinem Bruder und deiner Mutter.“
 

„N-nicht nach dir?“
 

„Zu mir hast du nur eines gesagt.“
 

„Und was war das?“
 

Er lehne sich in seinem Sessel zurück, wand sich ans Fenster, das mit einer viel zu späten Schicht aus Raureif überzogen war. Als er wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme ganz anders. „Du sagtest…du sagtest nur, dass es dir Leid tue.“
 

„Leid tue?“
 

„Du sagtest…du sagtest, es tue dir Leid, dass du nach allem, was ich für dich getan hätte, diese eine Sache nicht für mich tun könntest.“
 

Meine Augen weiteten sich augenblicklich angesichts dieser Erkenntnis, doch dann schloss ich sie. Mein Kopf drehte sich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Aber ich glaubte ihm. Er würde nicht lügen. Er würde mich nicht anlügen. Nicht mich, nicht in dieser Sache. Genau als ich etwas – irgendetwas – sagen wollte, spürte ich, wie eine Decke über mich gebreitet wurde und ich sah Holmes über mir stehen. „Es ist sehr spät“, sagte er. „Und du wirst mit Sicherheit einen höllischen Morgen haben. Ich schlage vor, du solltest versuchen zu schlafen.“
 

Ich nickte und er wand sich ab und ging auf sein Zimmer zu. Aber ich hörte seine Stiefel auf halbem Wege innehalten. „Watson, wärst du überrascht gewesen, wenn ich dir erzählt hätte, dass du, als du im Fieber lagst, tatsächlich gesagt hättest, du würdest mich lieben und brauchen?“
 

Ich wälzte mich auf die andere Seite, um die Überreste des Feuers zu betrachten. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie er dort stand. Die Flammen fühlten sich trotz meiner geröteten Haut wunderbar warm an. Meine Augen brannten bereits und ich konnte fühlen, wie mein Kopf zu schmerzen begann, doch ich konnte zumindest klar denken. Und genau wie er mich nicht belogen hatte, so würde ich auch ihn nicht belügen. „Nein, Holmes“, sagte ich ihm. „Ich wäre nicht überrascht gewesen.“
 

Ich konnte nicht sehen, ob er lächelte oder nickte oder irgendetwas dergleichen, aber er sagte nichts. Ich konnte nicht sagen, ob ihn dieses Eingeständnis wütend oder überglücklich machte. Er ging in sein Zimmer und schloss die Türe leise hinter sich.
 

Während der Alkohol begann mir Geist und Sinne zu verwüsten, fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Traumähnliche Bilder begannen an meinem Verstand zu nagen und ich durchlebte jene Erinnerungen, die ich vergessen wünschte. Aber nicht die Erinnerungen an den Krieg, an meine Familie oder dergleichen. Einfach der schrecklichste Augenblick meines Lebens.
 

Er war tot.
 

Sein Kampf mit Moriaty war vorbei.
 

Aber anders als bei Gott und Luzifer hatte dieser Kampf keinen Sieger.
 

Seine Nachricht, sein Brief lag in meiner Hand. Der brausende Sturzbach ergoss sich auf den Körper meines Freundes. Ich sollte jemanden holen. Die Behörden…irgendjemanden. Jemand sollte hier sein und wissen, was geschehen war.
 

Aber ich konnte nicht.
 

Ich konnte nur dort auf jenem Felsen stehen und hinab starren. Tränen rannen über mein Gesicht, aber ich konnte nicht schluchzen. Es schmerzte zu sehr.
 

Seit meiner Kindheit kann ich mich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, an denen ich geweint hatte.
 

Und beide Male war es vor ihm gewesen.
 

Der großartigste Mann…nein, der großartigste Mensch, den ich jemals gekannt hatte, war tot.
 

Und ich konnte nur daran denken, dass mich ihm anschließen wollte.
 

Der Verlust war so viel größer, als ich es mir vorstellen konnte. So als ob…
 

…ich halbiert worden wäre.
 

Mit blankem Entsetzen öffnete ich meine Augen. Nein, ich war nicht in Reichenbach. Ich war zuhause, zurück in der Baker Street, wo ich sein sollte. Und ich hatte erkannt, dass ich es schon damals vor beinahe vier Jahren gewusst hatte. Dies war nicht die Nacht der Erkenntnis. Das war damals gewesen. Seit dreieinhalb Jahren hatte ich ein Doppelleben geführt. Ich hatte meine Frau und mein Kind, aber das erklärte so vieles. Warum ich ihn nicht vergessen konnte. Warum ich alle meine Notizen über ihn und seine Fälle behalten hatte. Warum ich in Ohnmacht gefallen war, als er zurückgekehrt war. Und warum ich so wütend war, weil er mir nicht vertraut hatte.
 

Es war als ob der Regen nicht darauf vertraute, dass die Sonne wieder scheinen würde.
 

Er hatte mich gebraucht, aber ich hatte ihn noch viel mehr gebraucht.
 

Ich griff nach meiner Uhr, immer noch in den Kleidern, die ich nicht ausgezogen hatte und sah, dass es beinahe fünf Uhr Morgens war. Die Sonne würde bald schon aufgehen und ich fühlte mich, als ob ich gerade in jene Wasserfälle in meinen Tod gestürzt wäre. Mein Kopf schmerzte, meine Augen standen in Flammen und mein Magen schlingerte. Ich wusste, wie ich diesen Tag verbringen würde. Verborgen vor all den neugierigen Augen. Unbehaglich machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, entledigte mich von Mantel und Stiefeln und vergrub meinen Kopf meinem Kissen. Es war ein Versuch, meinen Kopf sowohl vom Pochen als auch vom Denken abzuhalten.
 

Als ich wieder erwachte, hatte sich das tränende Brennen meiner Augen und das trockene Pocken meiner Schläfen gelegt und ich konnte an der Länger der Schatten, die die glimmende Lampe warf, erkennen, dass jene Nacht vergangen und von einer neuen ersetzt worden war.
 

Meine Kehle hatte die Konsistenz von Teer angenommen und schmeckte auch so. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal – wenn überhaupt – jemals so berauscht gewesen war. Die verwischten bernsteinfarbenen Erinnerungen an jene Septembernacht schienen darin ihren Nachhall zu finden, aber das war mehr eine erschöpfende Müdigkeit gewesen. Überhaut nicht wie das hier. Verträglichkeit gegen Whiskey lag mir im Blut und Betrunkenheit stellte sich normalerweise nur langsam ein.
 

Auf jeden Fall langsamer, als in der letzten Nacht.
 

Ich griff unaufmerksam nach den Krug auf meinem Nachttisch und leckte das lauwarme Wasser von meiner Hand. Der Geschmack milderte sich ein wenig und auch der widerliche Schleim, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, aber genug blieb erhalten, dass ich nicht hoffen konnte, alles sei nur ein sehr lebendiger Traum gewesen. Alles – angefangen von Abigail bis zu meiner kurzen Intimität mit Holmes; von meinen dummen und von Hormonen gesteuerten Handlungen im Bordell bis zu jener schrecklichen Erkenntnis…und dann erst recht die Tatsache, dass ich Holmes erzählt hatte, ich würde etwas für ihn empfinden…
 

Meine Liebe ist nicht wie die der meisten anderen Männer…
 

Genau in jenem Moment sah ich wie sich die Tür langsam mit einem leichten Ächzen öffnete. Für einen Augenblick fühlte ich Panik – ziemlich unsinnige, wenn man es recht bedenkt – aber bald sah ich, dass es sich nicht um meine wahr gewordenen Alpträume handelte, sondern in der Tat nur etwa drei Fuß groß war. Ich zog meine Hand vom Nachttisch weg, wo ich meine Waffe aufbewahrte. Der Schatten trat in das wenige Licht, das mein Zimmer erfüllte und Josh spazierte mit einem zerstreuten und besessenen Gesichtsausdruck herein.
 

Ich hatte ihn noch nie zuvor so gesehen. Ich dachte zuerst, dass er wohl schlafwandeln musste. Er wirkte mit Sicherheit…nun, ehrlich gesagt, nicht normal. „Josh?“, fragte ich. „Was… Stimmt irgendetwas nicht, mein Sohn?“
 

Er machte keinerlei Anstalten mir zu antworten, sondern stand nur da, hielt seinen Stoffhund umklammert und starrte mich aus großen blauen Augen an.
 

„Josh?“
 

Nichts.
 

„Was ist denn los, Liebling?“, ich packte seinen Arm und er reagierte augenblicklich. Indem er beinahe aus der Haut fuhr. Er reagierte, als ob meine Berührung ihn verbrannt hätte, rannte rückwärts gegen die Tür und schlug sie zu. Aber dann schien er seinen Kopf leicht zu schütteln und sich zu erholen. Er sah mich an und starrte nicht mehr leer und wahnsinnig. Wenn überhaupt dann wirkte er verwirrt. „Papa?“, fragte er. „Was tust du hier?“
 

„Ich? Du bist in meinem Zimmer, Sohn. Bist du in Ordnung?”
 

Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaub schon. Aber das letzte, woran ich mich erinnere, ist dass ich mit einem großen Hund gespielt habe…es war eine schwarze Bulldogge und hatte Zähne. Große Zähne, mehr wie ein Monster als wie eine Bulldogge. Er wollte mich beißen, aber ich hatte keine Angst, weil Mama da war. Sie hat ihn weggejagt.“
 

„Du hast deine Mutter gesehen?“, unterbrach ich ihn. Er war nicht der Einzige.
 

„Ja.“
 

„Was hat sie zu dir gesagt?“, fragte ich, obwohl ich seine Antwort fürchtete.
 

„Sie hat gesagt…sie hat gesagt…oh, ich weiß nicht mehr!“ Er begann zu weinen und ich hob ihn auf dem Bett in meinen Schoß.
 

„Aber, aber, Liebling. Deshalb musst du doch nicht weinen.“
 

„Aber es war wichtig! Was Mama gesagt hat, war wichtig!“
 

„Natürlich war es das, aber du musst dich deshalb nicht so aufregen. Es war nur ein Traum.“
 

„Aber das war es nicht!“
 

Ich starrte ihn an. „Was meinst du damit?“
 

„Ich habe sie gesehen, Papa. Sie war da. In meinem Zimmer.“
 

„Oh, Josh…mein lieber Junge, ich bin mir sicher, dass du dir das gewünscht hast, aber es war nur ein Traum.“
 

„Das war es nicht!“
 

„Widersprich mir nicht. Du bist erschöpft. Leg dich hier hin und versuch wieder einzuschlafen.”
 

„Erzählst du mir eine Geschichte?“
 

„Oh, Sohn, ich glaube nicht, dass ich mir jetzt irgendwelche Geschichten ausdenken kann…“
 

„Bitte! Erzähl mir die über dich und Onkel und den Monsterhund.“
 

„Ich denke, dass du für eine Nacht genug von ‚Monsterhunden’ hast.“
 

„Dann…erzähl mir von der Zeit, als ich geboren wurde.“
 

„Als du geboren wurdest? Warum willst du davon hören?“
 

„Weil ich gerne Geschichten über mich höre.“
 

Ich lachte. „Na gut. Unter die Decke und Augen zu. Lass mich mal sehen. Der Tag, als du geboren wurdest. Ich glaube das war im Oktober…vor ein paar Jahren, hmm…”
 

„Papa! Du weißt, welcher Tag es war!“
 

„Ah, du hast Recht, ich weiß es! Damals war ich ausgegangen, um mir ein Fußballspiel anzusehen und Kensington triumphierte am Ende…“
 

„Papa!“
 

Ich lächelte. „Ich zieh dich doch nur auf. Natürlich erinnere ich mich an jenen Tag. Ich werde ihn niemals vergessen. Aber wie auch immer…es war ein kühler Tag, wenn ich mich Recht erinnere. Ich konnte deine Mutter natürlich nicht sehen und…“
 

„Warum nicht?“
 

„Nun…darüber reden wir ein anderes Mal. Wenn du ein bisschen älter bist. Aber du kamst auf jeden Fall gegen Abend an, rechtzeitig zum Essen. Darin liegt eine gewisse Ironie, denn seit jenem Moment hast du ununterbrochen gegessen. Deine Mutter pflegte zu sagen, dass wir uns darin am meisten ähnelten.“ Josh kicherte und ich sprach weiter. „Du warst klein und rosa und hattest keine Haare…“
 

„Dann sah ich in etwa wie ein Nacktmull aus?“
 

„Wann hast du jemals einen Nacktmull gesehen?“
 

„Im Zoo mit Onkel. Das sind afrikanische Nagetiere, die Wurzeln essen und in Rudeln leben mit einer Königin, die sie beherrscht. Und sie sind klein und rosa und haben keine Haare.“
 

„Ah, ich verstehe. Nun, am Anfang sahst du so aus. Aber du wurdest schnell größer und dir begannen fast sofort Haare zu wachsen. Du sahst deiner Mutter sehr ähnlich. Am Anfang hast du nur geweint…und gegessen. Jedes Mal als ich ins Kinderzimmer kam, um dich zu sehen, hast du gerade geweint. Aber deine Mutter – und auch das Kindermädchen – hatten beide die Geduld von Heiligen und du bist dem schon bald entwachsen.“
 

„Geh zurück zu dem Tag meiner Geburt.“
 

„Ja, ja, der Tag deiner Geburt. Nun, sobald ich konnte, bin ich gekommen, um dich und deine Mutter zu sehen. Du warst ganz eingewickelt, aber ich erinnere mich, dass ich in meinem ganzen Leben noch nicht so stolz gewesen war. Ich hatte mir so sehr einen Sohn gewünscht. Und nun hatte ich einen. Deine Mutter, Gott habe sie selig, sagte, sie glaube nicht, dass ich jemals wieder so glücklich sein könne.“
 

„Das ist es!“
 

„Was?“
 

Er strahlte über sein ganzes Gesicht. „Ich erinnere mich wieder! Als ich Mama heute Nacht gesehen habe, sagte sie, dass sie so stolz auf mich sei. Und sie sagte, dass sie sich wünscht, dass du wieder glücklich bist. Und aufhörst…“
 

„Womit…aufhöre?“, fragte ich flüsternd.
 

„Ich glaube…es war…“
 

„Josh, hör auf damit! Deine Mutter ist tot! Wir beide vermissen sie, aber…“
 

„Es tut mir Leid, Papa, aber ich hab sie heute Nacht gesehen.“ Er gähnte laut und steckte sich mehrere Finger in den Mund, während er seinen Kopf auf dem Kissen zurecht rückte. „Es war irgendetwas über ein Verleu…“
 

„Ein Verleu? Verleu…Verleugnung?
 

„Ja, das war es…“
 

Ich sprang aus dem Bett. „Aber wie…wie konntest du so etwas wissen? Wie konntest du dir so etwas auch nur ausdenken?“ Aber dann erinnerte ich mich an meine Vision im Krankenhaus, genau dieselbe Vision, an die ich mich gestern Nacht an ihrem Grab erinnert hatte. Es war…unmöglich. Und doch konnte ich es nicht verleugnen. Offensichtlich konnte ich überhaupt nichts mehr verleugnen. Hab Vertrauen, wie Mary mir zu sagen pflegte. Ihr Glauben war schon immer so viel zuversichtlicher gewesen als mein eigener.
 

„Stimmt was nicht, Papa? Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Josh, obwohl er schon beinahe eingeschlafen war.
 

„Nein…nein, Liebling. Es hat nichts mit dir zu tun. Schließ deine Augen und schlaf ein.“
 

Er tat es, ohne viel zu protestieren. Ich selbst dagegen brach in einen Stuhl zusammen und beobachtete atemlos seinen Schlaf. Die Uhr draußen am Gang schlug die Stunde – elf – dann die halbe Stunde und schließlich Mitternacht.
 

Irgendwann kurz nachdem mit jener Stunde der neuen Tag begonnen hatte, erhob ich mich schließlich auf die Füße. So leise, wie ich zur Tür ging, schloss ich Josh in mein Zimmer ein und machte mich auf den Weg die Treppe hinab. Holmes Zimmertür war wie gewöhnlich geschlossen, aber ich wusste, dass er sie nie absperrte. Ohne auch nur anzuklopfen, öffnete ich sie und trat ein.
 

Ich verriegelte sie von innen.
 


 

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[1] Ave Maria Alley – einer von Londons zahlreichen Plätzen der Prostitution.
 

[2] Julius Caesar 1:2:46 ( Original: ‘Poor Brutus, with himself at war, forgets the shows of love to other men’)



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2007-06-03T15:46:07+00:00 03.06.2007 17:46
Ah ja, die Verkleidungen ... darin war er schon immer gut. Und Watson erkannte ihn eher selten, also eine Glanzleistung in diesem betrunkenen Zustand.
So langsam könnte er einsichtig werden. Na los, alter Junge! Selbstverleugnung kann lebensgefärhlich sein.
Josh ist wirklich niedlich. In seiner kindlichen Unschuld ist es für ihn nichts Erschreckendes, eine vison seiner mutter zu haben.
Die gute, liebe Mary. So eine gütige Frau zu haben ist wirklich ein großes Glück.

Soso. Er verriegelt die Tür von innen.

Lg neko
Von:  Sasuke_Uchiha
2007-01-02T15:28:07+00:00 02.01.2007 16:28
Das Gespräch in der Kneipe war lustig. Hat mir gefallen. Mal schauen, was so als nächstes kommt.


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