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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Tut mir Leid, dass es ausgerechnet an einer so spannenden Stelle, so lange gedauert hat, aber dafür ist das nächste Kapitel ganz sicher in spätestens drei Tagen on.

Ach ja, in diesem Kapitel ist ein Zitat, das ich nicht im eigentlichen Text sondern nur in der Fußnote übersetzt habe. Es ist nämlich ein Teil von einem wirklich schönen Gedicht, dass ich nicht angemessen übersetzen konnte und zu dem ich auch keine offizielle Übersetzung gefunden habe. Wort für Wort ist die Übersetzung in der Fußnote.
 

Der Schuss traf mich in den Rücken durch den Pectorialis Minor und die Kugel setzte ihren zerstörerischen Pfad durch die neunte und zehnte Rippe direkt unter dem Schulterblatt fort. Sie durchbohrte mein Zwerchfell und kam schließlich nahe meiner Milz zur Ruhe. Sie verfehlte mein Herz nur um wenige Zoll. Es war das dritte Mal, dass eine Kugel aus meinem Körper entfernt wurde, aber das erste Mal, dass sie aus meiner eigenen Pistole stammte. Ich wurde in das nächste Krankenhaus in Plymouth gebracht, woran ich so gut wie keine Erinnerungen habe: Nicht mehr als ein kurzer Augenblick des Bewusstseins, während dem ich mich an nichts als Licht und intensive Hitze erinnern kann. Ich erfuhr später, dass eine Staphylokokkeninfektion, die auf die Operation folgte, und ein Fieber in der Höhe von 104 Grad [1] schuld daran waren. Nach einer Woche, die in meinem Geist nie existierte, wurde ich entgegen der ausdrücklichen Empfehlung der Ärzte ins Londoner Charing Cross Hospital verlegt. Holmes hatte darauf bestanden. Ich weiß das, obwohl er behauptete, die Ärzte hätten meinen Zustand für stabil genug für eine Reise von 200 Meilen erklärt.
 

Es ist unumgänglich, auch von jenen Ereignissen zu erzählen, die geschahen, bevor ich wieder gesund genug war, um mich selbst daran zu erinnern. Als erstes muss ich in jedem Fall berichten, was mit meinem teuren Freund geschah, während ich im Koma lag. Auch wenn ich diesen Ereignissen nicht persönlich beiwohnte, erfuhr ich davon zunächst von Holmes und später auch von Mrs. Hudson, Mycroft Holmes und Josh. Indem ich ihre Erzählungen nun kombiniere, habe ich – wie ich meine – einen recht guten Überblick über das, was tatsächlich passierte. So schmerzlich es auch war.
 

Holmes kam spät am zweiten Abend zuhause in der Baker Street an. Er hatte Mrs. Hudson und Josh kein Telegramm geschickt, um ihnen alles zu berichten, daher konnten sie noch nichts über meinen Gesundheitszustand wissen. Oder auch nur, wo ich war. Holmes gestand mir später – in einem seiner seltenen schwachen Momente – dass wenn ihn nicht ein Arzt nach den nächsten Verwandten gefragt hätte, er vielleicht sogar völlig vergessen hätte, nach London zurückzukehren.
 

Es war kurz nach zehn in einer dunklen, feuchtkalten Nacht, als seine Kutsche die 221B erreichte. Das sonst so geschäftige Treiben in den Straßen war bedeutend gesunken und bestand nur noch aus Betrunkenen und den Unglückseligen, die stetig durch die feuchten Gassen wanderten. Und zumindest dieses eine Mal wirkte mein Freund unter ihnen nicht fehl am Platz. Nach diesen zwei Tagen war er zerzaust, unrasiert und wirkte beinahe körperlos. So jedenfalls beschrieb ihn Mrs. Hudson.
 

„Ich sage Ihnen, Doktor“, erzählte sie mir später. „So habe ich ihn noch nie zuvor gesehen. Ich hätte niemals gedacht, er wäre überhaupt fähig, eine solche…entsetzliche Angst zu empfinden. Denn das war es, Sir, das habe ich in seinen Augen gesehen. Angst.“
 

Ich selbst, der ich schließlich den Großteil meines Lebens mit diesem Mann verbracht hatte, hatte ihn natürlich schon früher – wenn auch selten – angsterfüllt gesehen. Ich denke da an den Fall der Baskervilles und vielleicht auch an den mit dem gefleckten Band. Ich kann mich daran erinnern, dass seine Hand zitterte, als er das Licht löschte und wir in der Dunkelheit von Helen Stoners Zimmer auf das unbekannte Monster warteten. Aber ich traue Mrs. Hudsons Nerven und ihren scharfen Augen. Wenn sie in seinen Augen entsetzliche Angst gesehen hatte, dann hatte er sie auch empfunden.
 

Unsere Wirtin stand in der Küche und spülte Geschirr in ihrem nie enden wollenden Kampf um vollkommene Sauberkeit. Sie hatte sich schon zum Schlafen bereit gemacht und trug ihr Nachthemd und eine Schlafhaube. Ich bin mir sicher, dass – auch wenn sie es nicht zugeben würde – die Ungewissheit über den Verbleib ihrer Mieter bei ihr eine gewisse Schlaflosigkeit hervorrief.
 

Ihr entfuhr ein Aufschrei, als er erschien. Es war das zweite Mal in nur wenigen Monaten, dass er einfach aus dem Nichts auftauchte. „Mr. Holmes! Mein Gott…“
 

„Mir…mir geht es gut, Mrs. Hudson“, erklärte mein Freund mit dem Versuch eines beruhigenden Blickes. Er sank schwer auf einen Stuhl nieder und ignorierte die Hand, die sie hilfsbereit nach ihm ausstreckte.
 

„Du liebe Güte, Mr. Holmes! Sie sehen ja furchtbar aus! Ich werde Ihnen sofort einen wirklich starken Kaffee kochen. Sie sehen aus, als könnten Sie den jetzt gut gebrauchen.”
 

„Nein“, erwiderte er. „Keinen Kaffee. Ich werde etwas weit Stärkeres brauchen, um diese Nacht zu überstehen.“
 

Aber die pflichtbewusste Mrs. Hudson hantierte bereits mit Kanne und Filter. „Was ist mit Ihnen geschehen, Mr. Holmes? Man könnte meinen, Sie wären dem Teufel persönlich begegnet. Und wo ist der gute Doktor? Sein Sohn ist schon ganz krank vor Sorge…Ich wünschte, er würde Ihnen nicht einfach so ohne Vorwarnung hinterherlaufen. Ich weiß, wie schwer es für ihn ist, ganz allein ein Kind aufzuziehen, aber der Junge hat doch niemanden sonst…“
 

„Man hat auf ihn geschossen, Mrs. Hudson. Auf ihn wurde geschossen! Hören Sie auf damit! Er hat…auf ihn wurde geschossen.“ Ich habe auf ihn geschossen. Er liegt dort wegen mir. Ich habe abgedrückt. Das war es, was ihm durch den Kopf ging. Ich kann ihn beinahe vor mir sehen, wie er dort sitzt in Anzug und Krawatte, wie er verzweifelt versucht seine Gefühle zu unterdrücken, verzweifelt versucht die kalte Vertrautheit der Logik aufrecht zu erhalten. Und ich kann sehen, wie er den Kampf verliert.
 

„Geschossen? Was soll das bedeuten…Oh nein. Nein, Sir, er ist doch nicht…“ Mrs. Hudson brach nun selbst zusammen und sank auf einen Stuhl. In blankem Entsetzen starrte sie auf ihren Mieter, die Hände krampfhaft auf den Mund gepresst. Auf den allerschlimmsten Mieter in ganz London, aber trotzdem weiß ich nur zu gut, wie sehr sie sich tief im Innern ihrer schottischen Sturheit um uns beide sorgte. Es zeigte sich in all den kleinen Dingen: heißes Wasser, gutes Essen, die Sorge um mein Kind und natürlich durch alle Gefühlsregungen, die einer Frau erlaubt sind, wenn jemand, den sie kennt und der ihr etwas bedeutet, einfach nicht mehr da ist.
 

„Nein, Mrs. Hudson…er ist nicht tot“, sagte Holmes ausdruckslos. „Es tut mir Leid, dass ich Ihnen kein Telegramm geschickt habe…ich hatte…ich war sehr beschäftigt, verstehen Sie…und jetzt würde ich – wenn Sie erlauben – gerne ein Bad nehmen und mich umziehen.“
 

„Aber, Mr. Holmes!“, rief unsere Wirtin und packte ihn am Arm. „Was ist mit dem Doktor? Oh, und was ist mit dem armen Kind? Er hat doch schon seine Mutter verloren, das kleine Lämmchen, und nun auch noch den Vater…“
 

„Mrs. Hudson, er hat seinen Vater nicht verloren, verdammt!“
 

Ich kann wohl sagen, dass dieser Ausruf den Zustand seiner Nerven zu jener Zeit am besten widerspiegelt. Mein alter Freund war schon früher wütend auf unsere Wirtin gewesen und auf Frauen im Allgemeinen erst Recht, aber normalerweise verbarg er seinen Ärger oder zeigte ihn zumindest nur mir gegenüber. Selbstverständlich gehört es sich nicht für einen Gentleman, eine Dame anzuschreien, von fluchen ganz zu schweigen. Aber ich wage zu behaupten, dass Holmes, wenn Mrs. Hudson weiter gesprochen hätte, sogar mehr getan hätte als nur zu schreien. Der Gedanke an meinen Sohn…
 

„Ich meinte nur…das hören zu müssen, wird schmerzhaft für Josh sein“, erklärte Mrs. Hudson, wenn auch nicht ganz klar war, an wen sich ihre Worte richteten. „Ich wollte nicht…ich weiß natürlich, dass es auch für Sie hart sein muss, Sir…Sie und der Doktor stehen sich doch so nah.“
 

Holmes’ Augen weiteten sich vor Angst und er presste unwillkürlich die Kiefer zusammen. Mit zitternder Hand griff er auf dem Weg ins Wohnzimmer Halt suchend nach dem Treppengeländer. „Machen Sie sich keine Umstände…ich werde es dem Jungen sagen. Und wegen Watson…“ Er schüttelte den Kopf. Wie um alles in der Welt konnte er es erklären? „Gute Nacht, Mrs. Hudson.“ Er fasste sich wieder und nahm den Rest der Treppe, so schnell es seinem entkräfteten Körper möglich war.
 

Ich habe ihm in all den Jahren, da ich die Chroniken seines Lebens niederschrieb, nur zu oft geistige Fähigkeiten zugeschrieben, über die gewöhnliche Menschen scheinbar nicht verfügen. Eine dieser Fähigkeiten ist die der Vorahnung. Er würde das ohne Zweifel abstreiten, darauf bestehen, dass es sich dabei um bloße Logik, um reine Schlussfolgerungen handelt: Dass man, wenn man die Glieder einer Kette Stück für Stück miteinander verbindet, unweigerlich zur Lösung gelangt. Aber ich kann ihm in diesem Punkt nicht zustimmen. Alle wirklich großen Detektive müssen es erahnen können, wenn der Fall sich dem Höhepunkt zuwendet. Holmes hat diese Fähigkeit. Und er war nicht die einzige Seele in der 221B, auf die das zutraf. Auch mein Sohn besaß sie. Im Laufe seines Lebens verstärkte sie sich bei ihm zu fast schon so etwas wie einem sechsten Sinn. Sie zeigte sich in jener Nacht. Vielleicht besonders in jener Nacht. Doch ich schweife ab.
 

Anschließend an ein heißes Bad, das Holmes trotzdem nicht das erhoffte Gefühl der Sauberkeit schenkte, goss er sich ein großzügiges Glas Brandy ein (Er zumindest behauptet, es sei Brandy gewesen, ich vermute allerdings, dass es Whiskey war) und setzte sich in seinen abgenützten alten Lehnstuhl, während er in die erlöschenden Flammen des Kamins starrte. Er nahm hin und wieder Alkohol zu sich, besonders Portwein oder einen Italienischen, aber er trank niemals, nur um zu trinken. So weit ich weiß, war er niemals zuvor in den Alkohol geflohen. Aber vielleicht verursachten die Ereignisse jener Nacht (so wie jene, die noch folgen würden) in ihm mehr Emotionen, als selbst sein Geist ertragen konnte. Ich weiß, dass es so war. Was dagegen wirklich außergewöhnlich ist, ist die Tatsache, dass er dieses eine Mal nicht rauchte. Er tat nichts außer dazusitzen, ins Leere zu starren und sich gelegentlich weiteren Mut zuzutrinken.
 

„Onkel?“
 

Holmes blinzelte mehrmals und erblickte neben seinem Sessel unseren kleinen Namensvetter. Er hielt seinen Stoffhund fest umklammert und wirkte zumindest einmal wahrhaftig wie ein Dreijähriger. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass dies kein Augenblick war, nach dem sich mein Freund gesehnt hatte.
 

„Was machst du außerhalb deines Bettes? Hast du irgendeine Ahnung wie spät es ist?“ Ärger ist immer ein nützlicher Schild.
 

„Der große Zeiger ist auf der Drei“, erklärte Josh. „Und der kleine Zeiger ist auf der Elf. Das heißt es ist…ähm…“
 

„Schon lange Schlafenszeit für dich.“
 

„Aber Onkel…irgendwas stimmt mit dir nicht. Ich will wissen was es is’. Du und Papa wart ganze zwei Tage weg und habt mir nicht gesagt warum. Und jetzt siehst du krank aus. Da muss was passiert sein.“
 

Holmes blickte auf das mittlerweile leere Glas, in dessen klarem Kristall sich das Feuer spiegelte. „Wenn Trauer eine Krankheit ist, dann könnte auch alle Medizin der Welt dieses Leiden nicht lindern. ‚Es ist die Trauer, die uns alle wieder zu Kindern macht, die allen Intellekt auslöscht. Selbst der Klügste weiß nichts mehr.’[2] Das ist der schwerste Teil, John Sherlock. Das ist der schwerste Teil.“
 

Josh presste Blackie fest gegen seinen kleinen Körper. „Ich könnte Papa für dich holen gehen. Er ist der beste Doktor in London. Ich glaube du brauchst Medizin.“
 

„Nein, Josh, komm zurück“, rief Holmes, als der Junge sich zur Tür wandte. „Dein Vater ist nicht hier. Eigentlich hatte ich nicht vor, dir alles zu einer solchen Uhrzeit zu erklären, aber es ist wohl besser so.“
 

„Soll ich edduzieren, was es ist?“
 

Ich bin davon überzeugt, dass diese Frage Holmes gleichzeitig amüsierte und schmerzte. Josh versuchte selbst in solchen Momenten mit aller Kraft den großen Meister zu imitieren. „Nein, ich denke nicht. Es wäre besser, wenn ich…ich sollte dir am besten einfach alles erklären.“
 

„Ist gut“, erwiderte der Junge und kletterte auf seinen Schoß, als erwarte er, nun ein fantastisches Märchen zu hören. Und noch einmal kann ich – auch wenn ich physisch nicht anwesend war – Holmes vor mir sitzen sehen, während er die richtigen Wörter sucht, um etwas Emotionales ausdrücken zu können. Es war etwas, gegen das er schon seit so vielen Jahren ankämpfte.
 

„Mein lieber Junge“, sagte Holmes. „Trotz der seltenen Fähigkeiten, mit denen du gesegnet wurdest; Fähigkeiten, diesem Geist, dem ich nicht erlauben werde, ungeschult zu bleiben, muss ich zugeben, dass ich keinen Weg finde, dir zu erklären…“ Er konnte seinen Blick nicht von Joshs Augen wenden. Sie hatten in der Gegenwart dieses Mannes immer einen ganz besonderen Glanz.
 

„Es ist sehr schwer, weißt du, solche Angelegenheiten in Worte zu fassen…“ Besonders wenn du es bist, der es getan hat.
 

„Es gibt einen Grund dafür, dass Wat…dein Vater und ich fort waren…“ Ja, einen sehr guten Grund. Ich habe auf ihn mit seiner eigenen Waffe geschossen und nun liegt er da und ringt mit dem Tod.
 

„Verdammt…“ Er fluchte leise durch zusammengebissene Zähne. Er konnte es nicht sagen. Er konnte es nicht ertragen, meinem Sohn wehzutun. Zum ersten Mal in all der Zeit konnte ich in ihm das Erwachen väterlicher Gefühle erkennen. Doch es würde nicht das letzte Mal sein, das kann ich versichern.
 

„Onkel“, sagte Josh mit leiser Stimme. „Ist was mit Papa passiert?“
 

„Ich…ja. Ja, mein Junge. Etwas ist passiert. Es war auf unserem letzten Fall, weißt du…der Mann, den wir verfolgten, konnte nicht mehr klar denken. Dein Vater…
 

<Peng!>
 

<Oh Gott, was habe ich getan? John…>
 

Warum um Himmelswillen hat er sich zwischen uns gestellt? Welcher Teufel hat ihn nur geritten?
 

„Dein Vater hat mein Leben gerettet, John Sherlock. Dieser Mann, er hatte eine Pistole. Er hätte mich erschossen. Aber in letzter Sekunde stellte sich dein Vater zwischen uns. Die Kugel traf ihn…“
 

Lügner! Warum belügst du das Kind? Schämst du dich, die Wahrheit zu gestehen? Ist es logisch, seine Gefühle zu schonen?
 

Holmes nahm einen tiefen Atemzug der leicht alkoholgetränkten Luft. Sein logisches, sonst so kaltes Denken begehrte auf und für dieses Mal konnte er nicht damit umgehen. Zu viel war geschehen. Und zu viel würde mit Sicherheit noch geschehen.
 

„Kommt er zurück?“
 

„Was?“, fragte Holmes aus seinen Gedanken gerissen.
 

„Papa. Kommt er wieder zurück? Oder ist er auch in den Himmel gegangen so wie Mama?“ Die Stimme des Jungen war nur noch ein kaum hörbares Flüstern.
 

„Natürlich kommt er wieder zurück. Ich kenne deinen Vater seit Jahren und ich versichere dir, noch nie konnte ihn eine solche Kleinigkeit wie eine Schusswunde ernsthaft aufhalten. Du brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen, Junge…nein, er wird zurückkommen. Ich bin mir sicher. Er…er muss. Ja. Ich bin mir sicher…“
 

„Bist du in Ordnung, Onkel? Du siehst aus…Ich wünschte Papa…ich…“ Tränen quollen aus seinen Augen und sein kleines Gesicht rötete sich. „Das ist nicht gerecht!“, weinte er und schlang seine Arme – wie es jedes kleine Kind getan hätte – Trost suchend um das nächste Ding in Reichweite, seinen geliebten ‚Onkel’. Ich kann seinen Schmerz beinahe fühlen. Das arme Kind hatte eben erst seine Mutter verloren und nun auch noch beinahe den Vater. Ich hätte all meinen Besitz, alles was ich jemals besessen hatte, hergegeben, um in jenem Moment bei ihm sein zu können und ihn zu trösten. Selbst heute noch fühle ich einen leichten Stich, wenn ich erfahre, dass mein Kind Schmerzen hat. Es ist der Fluch aller Eltern.
 

Aber es blieb alles allein Holmes überlassen. Holmes, der erst vor ein paar Monaten niemals damit gerechnet hätte, jemals einen weinenden Dreijährigen trösten zu müssen. Er saß einfach steif da, rang mit seiner Selbstbeherrschung und wusste nicht, was er tun sollte. Als seine Erstarrung schließlich schwand, presste er eine zitternde Hand auf den Rücken des Jungen. Der letzte Zweifel, ob er in der Lage wäre, diese neuen Gefühle zu kontrollieren, wurde in jenem Moment hinweggespült und er war sich dessen auch bewusst. Er wusste, dass sein großartiger Geist von nun an zwei Dachböden beherbergen musste. Einen erfüllt mit Wissen, Fakten und kalter Logik und einen zweiten erfüllt mit jenem lästigen Gefühl, das sich bisher nur in den dunklen Lücken seines Hirns versteckt gehalten hatte: der Liebe.
 

Holmes gestand mir später, dass ihm kein einziges passendes Wort hatte einfallen wollen. Der Mann, der die unverständlichsten Kryptogramme gelöst hatte, zu dessen Klienten zahlreiche Königshäuser gehört hatten, einschließlich unserem eigenen; der Mann, der so belesen war, dass er sowohl aus der Bibel wie aus Caryle, aus Darwin wie aus Poe zitieren konnte, war nicht in der Lage, einem verzweifelten Kind ein einziges Wort des Trostes zu spenden. Er saß einfach nur da, eingefroren in seiner Bewegung und hielt mein Kind an sich gepresst. Das könnte der Augenblick gewesen sein, da er endgültig erkannte, dass er nicht so weiterleben konnte.
 

Als Josh schließlich zu weinen aufhörte, erhob er sich nicht vom Schoß meines Freundes, sondern blieb starr liegen, unbeweglich wie eine Stoffpuppe, erschöpft von dem, was geschehen war. Holmes konnte sich nicht rühren, auch wenn er es gewollt hätte.
 

„Ich bin nicht fehlerlos, John Sherlock“, sagte er in einer seltsamen, beruhigenden Stimme. „Es ist für mich schwerer, das zuzugeben, als für die meisten Männer, denn nur zu viele erwarten es von mir. Teilweise habe ich das Dr. John Watson, meinem eigenen Biographen, zu verdanken.“ Er hielt inne und verweilte in einem matten Lächeln.
 

„Nicht dass ich ihn beschuldigen würde. Aber wenn du beschrieben wirst, als ein Mann bar jeden menschlichen Gefühls und diese Behauptung von tausenden Menschen gelesen wird, dann erwarten sie genau das von dir. Gott weiß, was ich dafür geben würde, einen solchen Geist zu besitzen. Zeitweise denke ich, dass ich es erreichen könnte. Aber am Ende weiß ich genau, dass es nur ein flüchtiger Wunsch ist. Ich weiß es jedes Mal, wenn ich…jedes Mal, nun, du musst dir das nicht anhören.“
 

„Onkel?“, fragte Josh schläfrig. „Bist du froh, dass Papa und ich hier bei dir sind?“
 

„Natürlich bin ich das…warum sollte ich es nicht?“
 

„Weiß nicht…wann kommt Papa wieder nach Hause?“
 

„Bald denke ich. Sehr bald.“
 

„Soll ich ihm eine Karte machen?“
 

„Er würde sich sicherlich freuen. Und jetzt solltest du aber wirklich zurück in dein Zimmer. Es ist spät.“
 

„Bitte“, sagte Josh und griff nach seiner Hand. „Kann ich nicht hier bei dir bleiben? Nur heute Nacht. Ich will nicht ganz allein da oben sein.“
 

Holmes war zu müde, um zu streiten. Normalerweise würde er sich niemals den Luxus von Schlaf gestatten, während sein Geist an einem Problem arbeitete. Schlaf war ein bloßer Lückenfüller für jene langen Tage der Lethargie, wenn sein Körper und sein Geist verbraucht waren und er keinerlei Interesse an seiner freudlosen Existenz fand. Aber nun, nachdem er 48 Stunden so gut wie katatonisch an meinem Krankenbett gesessen hatte, erkannte er, dass er mehr als alles andere zumindest ein paar Stunden brauchte, in denen er die Gegenwart vergessen konnte. Er hob den Jungen hoch und legte ihn auf das Kanapee und deckte ihn mit einer Wolldecke zu. Er selbst würde in jener Nacht in seinem Sessel schlafen, in einer Stellung, die die meisten Menschen als schmerzhaft empfinden würden. Aber es war schon immer das Wohnzimmer gewesen, das sowohl er als auch ich am behaglichsten fanden.
 

„Onkel?“
 

„Ach, schlaf endlich, Josh…“, seufzte Holmes.
 

„Kann ich dir noch eine letzte Frage stellen?“
 

„Als ob ich eine Wahl hätte…“
 

„Du hast mich und Papa sehr lieb, nicht wahr?“
 

„Ja…natürlich. Und jetzt schlaf endlich.“
 

„Aber…liebst du uns auch?“
 

Holmes’ Augen zuckten zurück zu dem Jungen. „Wieso fragst du so etwas?“ Seine Stimme war wesentlich höher als gewöhnlich.
 

Aber Josh war bei Weitem zu jung, um irgendeinen versteckte Bedeutung in seiner unschuldigen Frage zu sehen.
 

„Weil wir dich lieben.“
 

„John Sherlock…da gibt es etwas, das du verstehen musst“, begann Holmes mit einem Male hellwach und erfüllt mir einem Gefühl der Hilflosigkeit. „Es ist in unserer Gesellschaft für einen Mann nicht angemessen, Liebe zu zeigen. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen. Männer dürfen ihre Ehefrauen lieben, ihre Kinder, ihrer Mütter…aber dass ein Mann einen anderen Mann…ich meine, ob er es nun tut oder nicht, er sollte nicht…“
 

„Onkel?“
 

„Ja?“
 

„Ist schon gut. Ich schlaf jetzt. Gute Nacht.“ Er legte Blackie unter seinen Kopf und steckte sich ein paar Finger in den Mund.
 

Holmes griff nach seiner Karaffe und schüttete sich noch einen Schluck die Kehle hinab. Während der Alkohol in seiner Kehle brannte, lehnte er seinen Kopf zurück gegen die Sessellehne und starrte auf Reichenbach über dem Kamin. „Ja…Gute Nacht. Denn nur in der Nacht sitze ich da und denke an alles und an nichts. Liebe. Für manche bedeutet es alles, für manche ist es nichts. Aber schlussendlich…‚If this be love, to live a living death, then do I love and draw this weary breath.’[3]“
 

Holmes erzählte mir später von dieser Nacht mit Josh, nachdem ich aus dem Hospital entlassen worden war. Das zusammen mit dem, was ich von Josh und Mrs. Hudson erfuhr, ergab, was ich eben beschrieben habe. Jahrelang wusste ich sonst nichts über jene zwei Wochen, in denen ich im Koma lag, abgeschottet von der Welt. Erst viel später erfuhr ich von einem anderen Gespräch, das Holmes in jener Zeit geführt hatte. Dieses allerdings hatte einen gänzlich anderen Gesprächspartner: seinen Bruder Mycroft.
 

Die Holmesbrüder erschienen mir immer einmalig ungewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass sie nur eine Handvoll Meilen von einender entfernt lebten, sich aber so selten sahen, dass ich Holmes bereits ganze fünf Jahre [4] gekannt hatte, bevor ich auch nur von Mycrofts Existenz erfuhr.
 

Die Brüder waren sich in einigen entscheidenden Punkten sehr ähnlich: Beide führten ein recht isoliertes Leben, hatten nur wenige Freunde, keinerlei Interesse am schönen Geschlecht (so weit ich das beurteilen konnte) und beide verfügten über extrem logisches Denken. Ihre Unterschiede kann ich auf zwei beschränken: Sherlock hatte den Scharfsinn und die Energie aus jener gottgegebenen Logik Nutzen zu ziehen und er hatte außerdem – irgendwann während unserer langen Bekanntschaft – ein Bedürfnis entwickelt, dass Mycroft nicht empfand. Das Bedürfnis, nicht allein sein zu wollen. An irgendeinem Punkt in ihrer Vergangenheit mussten Mycroft und Sherlock beschlossen haben, ihr Leben niemals mit jemandem zu teilen. Welches einsame oder entsetzliche Ereignis in ihrer Jugend dazu geführt hatte, konnte ich zu jener Zeit noch nicht sagen, aber bei allem, was ich über ihre Beziehung wusste, schien es mir sehr seltsam, dass Sherlock sich ausgerechnet Mycroft für sein Geständnis aussuchen sollte. Rückblickend wird mir der Grund allerdings klar. Er hatte niemanden sonst.
 

Mycroft Holmes ist, wie sich meine Leser wohl erinnern werden, einer der wichtigsten Männern der Regierung, ein Mann mit einem so rationalen Geist, dass er, wenn ein Disput entgleiste, die eine Stimme der Regierung werden konnte. Er war ein sehr großer, schwerer Mann, der seinem Bruder nicht sehr ähnelte, sah man von den Augen ab. Durchdringende graue Augen, die einen bis ins Innerste zu durchbohren schienen. Er hätte ein Detektiv werden können, mit sogar noch ausgezeichneterem Ruf als sein jüngerer Bruder, wenn er es nur gewollt hätte. Aber er hatte, wie ich von Sherlock wusste, keinerlei Ambitionen in diesen Angelegenheiten. Er spazierte jeden Tag von seinen Räumen nach Whitehall und danach in seinen Klub. Er machte ansonsten überhaupt keine Bewegung und verbrachte seine Tage damit Zeitung zu lesen, Fakten zu absorbieren, zu essen und zu schlafen und so zu tun, so als ob die ganze Gesellschaft nicht existieren würde, bis er sie benötigte. Die Brüder standen sich nicht nah, wie man es wohl ausdrücken würde und sie schienen in der Tat in zwei verschiedenen Londons zu leben; vielleicht sogar in zwei verschiedenen Welten. Aber sie verstanden einander. Mycroft verstand Sherlock in einer Art und Weise, wie ich es niemals konnte und umgekehrt war es genauso. Doch das war auch schon das ganze Ausmaß ihrer Beziehung.
 

Mycroft longierte in Pall Mall, aber wenn er nicht in Whitehall war, verbrachte er den Großteil seiner Zeit in einem Klub, den er mitbegründet hatte: dem seltsamsten Klub in ganz London – der Diogenesklub. Jedem, dem die Geschichte „Der Griechische Dolmetscher“ bekannt ist, sind zweifellos auch schon Mycroft Holmes und der einsame, isolierte Diogenesklub bekannt, in dem kein Mitglied auch nur ein Wort spricht, daher werde ich nun auf eine detaillierte Beschreibung verzichten.
 

Sherlock schickte seinem Bruder früh am nächsten Morgen ein Telegramm, während er sein übliches Frühstück in Form von starkem Tabak einnahm und ein wachsames Auge auf den immer noch schlafenden, zusammengekauerten Ball von Josh auf dem Kanapee warf. Danach würde er – wie an jedem Tag während meiner Genesung – die dreistündige Zugfahrt nach Plymouth machen, wo er lediglich da sitzen, rauchen und auf mein Krankenbett starren würde. Er hätte es niemals zugegeben, aber ich weiß, dass er da war. Zum ersten Mal seit vielen Jahren kümmerte er sich weder um seine Fälle noch um sein Kokain.
 

Mycroft erwartete ihn im Fremdenzimmer, dem einzigen Raum, in dem es erlaubt war zu sprechen.
 

Da es sich um einen Sonntagvormittag handelte, war der Klub so gut wie verlassen, allerdings bin ich überzeugt, dass das kein Zufall war. „Ah, Bruder“, erklärte der ältere Holmes, als Sherlock erschien. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber ich kann mich so früh am Morgen unmöglich mit einem deiner kleinen Probleme befassen, ohne zumindest eine gewisse Unterlage zu haben.“ Er verlangte mit einem Wink ein Tablett aus Sterlingsilber und eine große, polierte Kaffeekanne. Mycroft warf seinem Bruder einen schnellen Blick zu, während er zwei Tassen des heißen Getränks einschenkte. „Dann allerdings erkenne ich deutlich, dass es kein Fall sein kann, der dich hierher bringt.“
 

Sherlock nickte und setzte sich vorsichtig auf einen der zahlreichen leichten Sessel des Klubs. „Das ist offensichtlich. Du weißt, dass ich den Sonntagmorgen am wahrscheinlichsten deshalb gewählt habe, weil…“
 

„Ihn die meisten Männer entweder in der Kirche oder aber mit ihren Familien verbringen, ja. Und der Klub wäre leer. Außerdem war das Telegramm, dass du mir gesendet hast…“
 

„Natürlich sehr vage formuliert“, sagte Sherlock mit einem knappen Lächeln. „Außerdem lässt mein Benehmen zweifellos…“
 

„Darauf schließen, dass eine private Angelegenheit den berühmten Detektiv aus der Baker Street plagt.“
 

„Ja…ich gebe es zu.“
 

„Ha!“, rief Mycroft aus und klatschte in die Hände, ehe er sie nach einem Geflügelgericht ausstreckte. „Also ist mein Bruder schlussendlich doch ein menschliches Wesen.“
 

„Das musst du gerade sagen, Bruderherz”, erwiderte Sherlock, während er angewidert beobachtete, wie sein korpulenter Bruder Räucherhering neben seinem Hühnchen auftürmte. Dieser griff daraufhin nach dem kleineren Tablett, hob leicht den Deckel an und seufzte zufrieden, als darunter ein ziemlich großer Sirupkuchen zum Vorschein kam.
 

„Bist du dir sicher, dass du nichts essen willst? Es wäre wahrlich ein Verbrechen, wenn irgendetwas von diesen extra zubereiteten Speisen verschwendet würde.“
 

Sherlock lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog eine Zigarette hervor. Er hatte in den letzten 48 Stunden bei der Nahrung an einen strikten Plan gehalten: Tabak und Alkohol. Sein Körper war jedem Essen momentan verschlossen. Ich fürchte fast, ich habe mich geirrt. Es gibt zumindest drei Unterschiede zwischen den beiden Brüdern. „Oh, ich würde mir keine Sorgen machen, dass es verschwendet werden könnte.“ Er deutete auf den umfangreichen Bauch seines Bruders, der gerade noch von dessen Weste gehalten wurde.
 

„Wir haben doch alle unsere kleinen Schwächen, Sherlock. Unsere Kleinigkeiten, die das Leben lebenswert machen. Für mich sind das gutes Essen, Vintagewein, langes Schlafen und das Wissen, dass ich meiner Königin und meinem Land von Nutzen bin. Mehr verlange ich nicht, und mehr erwarte ich auch nicht. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, dann ist es genau eine der Notwendigkeiten des Lebens, die dich an einem ansonsten sicher mit Klienten erfüllten Tag hierher bringt.“
 

Sogar Sherlock Holmes, normalerweise der Lieferant dieser Art von faszinierenden Schlussfolgerungen, war nun der Empfänger einer solchen geworden. „Woher wusstest du das?“
 

„Es ist recht einfach. Gesternfrüh empfing ich ein Telegramm in Whithall von deiner Vermieterin…“
 

„Mrs. Hudson hat dir ein Telegramm geschickt?“, fragte Holmes ungläubig.
 

„Oh, ja…sie ist mit Sicherheit eine reizende Frau. Aber nicht sehr gut informiert. Sie dachte tatsächlich, ich könnte etwas über deinen Aufenthaltsort wissen, da sie seit über 24 Stunden weder von dir noch von Dr. Watson gehört hat. Ich hatte natürlich nicht die kleinste, verdammte Ahnung. Ich musste augenblicklich an Genesis denken. ‚Bin ich vielleicht meines Bruders Hirte?’ Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Stattdessen habe ich ihr versichert, du würdest mit Sicherheit früher oder später wieder auftauchen, so wie ich dich kenne. Ich hatte anscheinend Recht. Allerdings begann ich nachzudenken…und ich kam zu dem Schluss, dass auch wenn du etwas nachlässig bist, wenn es darum geht Menschen, die sich um dich sorgen, über deinen Aufenthaltsort zu informieren, diese Eigenschaft auf den Doktor nach allem, was ich von ihm weiß, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zutrifft.”
 

„Nein, das tut es auch nicht”, sagte Sherlock ruhig.
 

„Ah! Nun, wenn er trotzdem nicht an die Sorgen seines kleinen Kindes denkt, dann ist es nur logisch, dass etwas…etwas mit ihm geschehen ist…ja, ich bin mir sicher, darum geht es.“
 

Mycroft setzte seine Tasse ab und schenke sich Kaffee nach, während er seinen Bruder beobachtet, der eben seinen Zigarettenstummel ins Feuer zwischen ihnen warf und mit zitternder Hand eine neue hervorzog. Er brauchte drei Streichhölzer, bis es ihm schließlich gelang sie anzuzünden. Während er rauchte, erklärte er seinem Bruder alles über den Fall von Black Bishop. Er hielt inne, als er bei dem Teil anlangte, in dem sie Richard Bishop beim See entgegentraten. „Er rettete mein Leben, Mycroft. Nun…Ich wünschte nur, die Kugel hätte mich getroffen. Ich glaube…nein, es ist eine Tatsache, dass alle meine Probleme dann gelöst wären.“
 

Mycroft, der gerade ein zweites Stück Siruptorte beäugt hatte, legte augenblicklich seine Gabel nieder und blickte auf seinen Bruder mit jedem Fünkchen von Autorität, das er in jenen schweren, wässrigen, grauen Augen ausdrücken konnte. „Sprich nicht in dieser Art, Bruder“, sagte er in unnatürlich tiefer Stimme. „Es ist weder logisch noch angemessen. Unsere Eltern mögen keinerlei Kontrolle über dich gehabt haben und wir mögen uns auch nicht so nahe stehen wie viele andere Geschwister, aber ich soll verdammt sein, wenn ich meinem Bruder erlaube, auf so respektlose Art zu sprechen.“
 

„Dann ist die Wahrheit also respektlos, Bruder?“ Sherlock sprang auf die Füße. „Du weißt…nur du allein weißt, warum ich wirklich vor drei Jahren beschloss, England zu verlassen. Ich dachte…vielleicht jetzt, wo er wieder allein ist…aber ich sehe mich vor dieselbe Wahl gestellt wie schon damals. Leidend dahinzuleben, nicht in der Lage, das ganze Ausmaß meiner Fähigkeiten zu nutzen, weil ich abgelenkt bin oder wieder zu gehen und es nicht zu ertragen…ohne…“
 

„Sherlock“, sagte Mycroft. „Du weißt, dass der einzige Weg dich davon zu erlösen, darin besteht, dem Doktor alles zu beichten.“
 

Welch ein verheißungsvoller Augenblick. Nach all diesen Jahren des Versteckens erfüllt von der Angst, dass seine Ehre und sein Name ruiniert werden würden, in denen er niemals zugeben konnte, was sein Herz ihm sagte (denn es war nicht das Organ, dem er normalerweise zuzuhören pflegte), nicht einmal sich selbst gegenüber. Am Ende war es sein Bruder – die einzige Familie, die ihm geblieben war und die einzige Person, die sich über ihre Verbindung zu ihm Sorgen machen konnte – der ausgesprochen hatte, was er selbst nicht konnte.
 

„Sieh mich nicht so erstaunt an, Sherlock. Mir ist klar, dass du zeitweise in der Illusion lebst, in deiner Welt völlig einzigartig zu sein. Aber trotz deiner unbestreitbaren Unnachahmlichkeit, wirst du dich daran erinnern, dass in unseren Adern das gleiche Blut fließt.“
 

„Ich habe niemals behauptet, unnachahmlich zu sein, werter Bruder. Und mir ist absolut klar, dass es dein Gehirn mit dem Orakel von Delphi aufnehmen kann. Aber trotzdem...ich habe niemandem jemals von meinen…Gefühlen in jener Hinsicht erzählt, über die du dir anscheinend bereits im Klaren bist.“
 

„Ich weiß schon seit vielen Jahren von deinen Neigungen, Sherlock. Allerdings denke ich, dass es dein Bewusstsein ganz außerordentlich erleuchten würde, wenn du es selbst aussprechen würdest.“ Die schönen grauen Augen meines Freundes schnellten zu seinem Bruder, wie ein heftiger Blitzangriff. Ich kann nur raten, was er in jenem Moment fühlte. Furcht zweifellos. Furcht und Unsicherheit. Zuzugeben, was er war, bedeutete nicht weniger, als ein schweres Verbrechen zu gestehen. Mycroft behandelte es allerdings nicht wie ein solches. „Bitte setz dich wieder, Bruder. Setz dich und ordne deine Gedanken. Und dann sprich.“
 

Mein Freund setzte sich gegenüber des älteren, weiseren Holmes und versuchte mit einer weiteren Zigarette seine zerschlagenen Nerven zu festigen. Die beiden grauen Augenpaare – beide wässrig und glänzend – glitzerten im fahlen, blassen Licht des Fremdenzimmers. Auch wenn ich nicht anwesend war, kann ich die beiden vor meinem inneren Auge sehen, die beiden Männer vor dem Kaminfeuer, eingehüllt in einen Schleier aus schweren Tabakwolken, ein so alltägliches Bild, als diskutierten sie lediglich über das Wetter oder die Politik. Und dennoch war mein Freund gerade im Begriff, etwas zu gestehen, das ihn so unendlich viel kosten konnte. „Du musst es aussprechen, Sherlock“, sagte Mycroft. „Wenn du es nicht einmal mir gestehen kannst, wirst du niemals in der Lage sein, es dem Doktor zu gestehen.“
 

„Ich…nun gut, er bedeutet mir viel.“
 

Mycroft schnaubte. „Er bedeutet dir viel? Du wirst dir wohl etwas mehr Mühe geben müssen.“
 

„Wie kann ich das?” Sherlocks Hände zitterten. „Wie kann ich das, Bruder?“ Sogar ich konnte das Beben der Mauer fühlen, als er mit der Faust dagegen schlug. „Wie kann ich gestehen, dass ich in all diesen Jahren in seiner Gegenwart eine Lüge gelebt habe? Dass meine Gefühle nicht rein geschäftlich sind? Oder auch nur freundschaftlich, brüderlich? Dass ihm in Wahrheit mein ganzes Herz gehört. Dass…“ Er hielt inne um zu schlucken und mehr von dem Tabakrauch einzuatmen. „Dass ich ihn liebe.“
 

Mycroft Holmes saß weit nach vorne gebeugt in seinem Sessel, war zweifellos so aufmerksam, wie es ihm auch nur im Entferntesten möglich war, die Hände in Konzentration verschränkt – eine Familieneigenart. Seine Augen musterten seinen jüngeren Bruder, betrachteten die Stiefel aus Kalbsleder, den perfekt geschneiderten, mit Seide gefütterten Anzug, das gestärkte weiße Hemd, das nach hinten gekämmte Haar, das leicht gerötete Gesicht, das raub-vogelartige Profil und den bebenden Körper. Er nickte, die erste Person, die akzeptierte, was sie sah, was sie wirklich sah. „Das hast du gerade, Bruder. Das hast du gerade.“ Er hievte seinen massiven Körper auf die Füße und schlenderte quer durch den Raum zu dem Sprossenfenster, wobei er gerade lange genug innehielt, um seinem jüngeren Bruder beruhigend auf die Schulter zu klopfen.
 

Sherlock rührte sich nicht. Seine Zigarette hing wie ein Anhängsel zwischen zwei seiner langen Finger, aber er hatte vergessen, sie zu rauchen. Er war verloren in der Welt seiner eigenen Schöpfung, in jene Welt, in die er in diesem Augenblick zum ersten Mal jemanden hatte eintreten lassen. Ja, er hatte schlussendlich jemandem seine wahre Natur gestanden, aber es war sein Bruder gewesen. Sein Bruder, der viele seiner Eigenheiten mit ihm gemeinsam hatte: seinen Sinn für Humor, seinen exzentrischen Lebenswandel, seine rasende Intelligenz und am allerwichtigsten seine Vergangenheit. Er verstand, wie es kein anderer verstehen konnte, was ihm zu dem gemacht hatte, was er heute war. Wie konnte er irgendjemand anderem erlauben diese Welt zu betreten. Irgendjemand anderem, der all das nicht wusste und all das nicht teilte. Wie konnte er es mir erlauben? „Nun weißt du es also“, sagte er zu Mycroft. „Ich habe es vor der einzigen Familie zugegeben, die ich noch besitze. Der einzigen Familie, die verstehen würde.“
 

Mycroft schnaubte, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und studierte ganz London von seinem Fenster aus. „Ich kenne zumindest ein anderes Mitglied unserer Familie, das es verstanden hätte. Du nicht auch?“
 

„Wir wollen nicht über sie reden, Bruder.“
 

„Wenn du darauf bestehst.
 

„Du hast mir noch nicht erzählt“, sagte Mycroft. „Wie schwer Watsons Verletzungen sind.“
 

„Du hast Recht. Das habe ich nicht.“
 

Mycroft schüttelte leicht seinen Kopf und wand sich wieder dem Fenster zu. Aber er verstand. Es war exakt jenes Fenster, von dem mir vor Jahren, als ich den älteren Holmes kennen lernte, gesagt worden war, dass genau dies der richtige Platz war, sollte ich die Menschheit studieren wollen. Doch ich bin mir sicher, dass das, was sich an jenem Tag in diesem Fenster spiegelte, eine wesentlich interessantere Studie der Menschheit ergab.
 

„Was würdest du tun, wenn er stirbt?“
 

Sherlock warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Es war derselbe enttäuschte Blick, den ich selbst bei zahlreichen Gelegenheiten zu spüren bekommen hatte. Aber es war eine ehrliche Frage. Vielleicht sogar eine besorgte Frage. Und trotzdem eine, von der beide Männer wussten, dass darauf keine Antwort gegeben würde. „Ich muss jetzt gehen, Bruder“, sagte Sherlock. „Aber ich danke dir…für alles.“
 

„Sherlock“, rief sein Bruder und hielt ihn auf, ehe er die Tür erreichte. „Ich hoffe, du denkst an meinen Rat. Und dass du wie in der Vergangenheit die Situation mit Logik betrachten wirst. Und nicht mit voreiliger…Angst.“
 

Holmes schenkte ihm sein pfeilschnelles Grinsen, bevor er die Tür öffnete. „Ich bin mir sicher, Mycroft, dass ich keine Ahnung habe, wovon du sprichst.“
 

Aber er wusste es genau. Während er seinen Zylinder aufsetzte und nach seinem Stock griff, gab es in seinem Kopf nur einen…oder eher zwei Gedanken. Der erste war der an meinen Tod, an mein Sterben, in dem Wissen, dass er mir nichts von dem gestanden hatte, was er in seinem Herzen fühlte. Und der zweite Gedanke…nun, ich kann nur raten, dass er an eine Spritze dachte. Aber nicht an eine Nadel gefüllt mir siebenprozentigem Kokain. Er dachte an eine Spritze, gefüllt mir Luft, durch die jenes verfluchte Herz endlich aufhören würde, ihn zu kontrollieren.
 


 

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[1] Watson meint natürlich Fahrenheit. (In Celsius wären es 40°)
 

[2] Von Ralph Waldo Emerson – 1842, niedergeschrieben wenige Tage nach dem Tod seines Sohnes. (Original: “It is sorrow that makes us all children again, destroys all intellect. The wisest know nothing.”)
 

[3] Wort für Wort: “Wenn es Liebe sein sollte, einen lebenden Tod zu leben, dann liebe ich und tue diesen müden Atemzug.”
 

[4] Da “Der Griechische Dolmetscher” nicht datiert ist, habe ich keine Ahnung, wie lange Watson Holmes kannte, bevor er von Mycroft erfuhr. Fünf Jahre sind nur eine Vermutung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Teilchenzoo
2007-06-03T08:30:46+00:00 03.06.2007 10:30
Och, Selbstmord muss doch nicht sein. Lass die Gedanken an die Spritze, mein lieber Holmes.
Ein sehr brisantes Thema, dass er da ausgesprochen hat. Aber täte er es nicht, würde es ihn bis an sein Lebensende belasten.

Wer ist "sie"? Gibt es eine Dame in der Familie, von der ich nichts weiß?

Lg neko
Von:  Sasuke_Uchiha
2006-10-14T12:57:33+00:00 14.10.2006 14:57
Schön beschrieben.
Fand es toll, wie du Watsons Aufzeichnungen dargestellt hast.
Das er sich diese Dinge erst später zusammen gesucht hat.
Die Informationen von mehreren Leuten bekommen hat.
Hat mir wirklich toll gefallen das Kapitel.


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