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Coming Closer

Wer sagt, dass Liebe einfach ist?
von

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Mind Forest

12 Mind Forest
 

****Inmitten wirbelnden Lichts sah ich dich spielen. Aus dem Rauschen der Bäume, erklingt ein Lachen.

In die unwiederbringliche Zeit in der Vergänglichkeit der Ewigkeit. An einen Ort fortgebracht, den meine Hand nicht erreichen kann. Die Erinnerung an dich ist schöner als alle frisch blühenden Blumen.

Irgendwo erklingen Glocken, mit einer arglosen Melodie, die das Innerste meines Herzens ruft.****
 

Die Tür des Abteils ging auf und Nina stolperte polternd herein.

„Habt ihr das gesehen?! War das nicht schön?“

Ertappt setzten sich Hyde und Chrissie blitzartig und übertrieben gerade wieder in ihre Ursprungsposition und begrüßten Nina mit einem erzwungen ungezwungenem Lächeln. Die junge Frau hatte beide Arme voll mit Fressalien.

„Ich hab ewig gesucht, der Speisewagen war natürlich im vordersten Wagon und dann musste ich auch noch warten, weil andere Passagiere vor mir dran waren. Und dann mit den ganzen Sachen auf die Toilette… na ja.“

Ihre rothaarige Freundin zog die Nase angeekelt kraus.

„Du hast dir doch hoffentlich die Hände gewaschen, bevor du die Lebensmittel wieder angefasst hast, oder?“, begann sie Nina sogleich zu necken.

„Was denkst du denn von mir?! Außerdem ist das alles eingeschweißt!“, entgegnete sie entrüstet.

Hyde schüttelte lachend den Kopf, Nina blickte verwirrt drein und Chrissie grinste nur. Da war sie wieder, die gute, alte Chrissie, wie sie leibt und lebt…
 

Sie aßen, plauderten über den herrlichen Ausblick auf den Fuji-san bei Sonnenuntergang und jammerten darüber, dass nun niemand von ihnen ein Foto davon gemacht hatte. Chrissie war mit Nina zusammen wieder heiter wie gewohnt und redete auch gerne. Hyde versuchte zu verstehen, wie sie wirklich war und vermutete, dass sich hinter der äußeren, starken Schale ein sehr weicher, sensibler Kern verbergen musste. Die Erinnerung an den Abend in Yokohama kehrte zurück, an dem sie mit Gackt aneinander geraten war und eine undeutliche Anspielung auf etwas gemacht hatte, das zwischen ihr und Nina einst vorgefallen war. Die Neugier packte ihn, doch diese Frage würde er aufschieben müssen, denn sie erreichten den Tokioer Hauptbahnhof.

„Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen soeben unseren Endbahnhof in Tokyo. Wir möchten uns herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mit uns gefahren sind und hoffen, Sie bald wieder als Passagiere begrüßen zu dürfen. Bitte vergessen Sie keine Gepäckstücke und kontrollieren Sie auch die Ablage über Ihren Sitzen noch einmal.“

Aufgeregt rutschten Nina und Chrissie von ihren Sitzen und lugten durch die Fenster auf der anderen Seite des Wagons. Hyde stand gelassener auf und wurde von seinem Bodyguard empfangen.

„Nehmt schon mal eure Taschen, aber wartet mit dem Aussteigen, bis die meisten Leute ausgestiegen und außer Sichtweite sind, verstanden?“

Sie nickten und holten ihr Gepäck. Der Zug kam zum Stillstand und alle anderen Türen des Shinkansen öffneten sich und eine Menge Menschen strömten hinaus auf den Bahnsteig. Sie standen nicht nah an den Türen, die Angst gesehen und erkannt zu werden war zu groß, aber mit fragenden Blicken musterten die Mädchen einige Leute, die in rosafarbenen Ganzkörperanzügen und mit Mundschutz ausgerüstet an die Türen herantraten.

„Das ist Reinigungspersonal. Keine Sorge.“, erkläre Hyde, der schmunzelnd ihre verwirrten Gesichter verstanden hatte.

Die meisten Leute waren weg, der Personenschutz trat vor, sah durch die Scheibe in alle Richtungen und winkte sie drei dann zu sich heran. Hyde verkroch sich wieder hinter seiner Sonnenbrille und dem Rest seiner Tarnung und machte sich hinter seinem Vordermann noch kleiner, als er ohnehin war. Reflexartig postierten Nina und Chrissie sich noch um ihn herum, als die Türen aufgingen und sie hinaustraten. Rechts und links von ihnen machten rosa Gestalten eine Verbeugung und grüßten sie mit einem „Arigatou gozaimasu!“. Sie lächelten freundlich zurück, aber der Mann in schwarz führte sie zügig voran und so fügten sie sich und versuchten so unauffällig wie möglich das Tempo zu halten und Hyde in ihrer Mitte abzuschirmen.

Sie waren schnell vom Bahnsteig runter und durch die Halle gelaufen, draußen im Freien war das Tageslicht nur noch ein unscheinbarer Schimmer am Horizont, es war inzwischen nach halb zehn Uhr nachts. Der Bodyguard führte sie nach rechts zu einem matt silbernen Kombi, der etwas abseits von den anderen Autos stand, die direkt vor dem Bahnhof an der Straße parkten oder in dem nahen Kreisverkehr davor. Der große Mann zückte einen elektronischen Autoschlüssel hervor, die Schlösser piepten und die Lichter leuchteten kurz auf.

„So, steigt ein, wir fahren nach hause.“

Es war ein komfortableres Auto, als sie erwartet hatten. Zwischen den Rücksitzen war genug Platz um entspannt zu sitzen und sich trotzdem nicht eingeengt zu fühlen, die Polster sahen weich und bequem aus. Ohne Umschweife verstauten sie ihr Gepäck in den Kofferraum und stiegen wortlos ein, Hyde folgte ihnen auf den Rücksitz.

„Zu mir nach hause bitte, die Adresse haben Sie ja.“, leitete er den Personenschutz, der jetzt auch der Fahrer war, an, der mit einem klaren “Ja“ antwortete und dann den Motor aufheulen lies.

Chrissie tippte Nina an um sie auf die Aussicht über den Bahnhof aufmerksam zu machen. Der Bahnhof entsprach überhaupt nicht ihren Erwartungen, er war weder hoch gebaut noch sonderlich modern, seine Mauern waren altmodisch errichtet. Roter Backstein und ein anthrazitfarbenes Schindeldach verliehen ihm sein imposantes wie denkmalwürdiges Erscheinungsbild. Jetzt wo es dunkel wurde, beleuchteten ihn Scheinwerfer. Die weißen, kleinen Fenster erinnerten sie an die Bauweise aus ihrem Heimatland, viele erhaltende Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert sahen genauso aus. Der Bahnhof passte nicht ins Bild, um ihn herum war der Trubel von dicht befahrenen Straßen und die ersten gläsernen Hochhäuser wuchsen um ihn herum aus dem Boden.

„Na, gefällt er euch?“, fragte Hyde, der den Anblick genauso genoss.

„Ja, er könnte auch aus Deutschland sein… viele Bauten bei uns sehen so aus, vor allen in den eher ländlichen Gegenden.“, antwortete Nina.

„Dieser Bahnhof ist noch von 1914, vielleicht liegt es daran, dass er einen altertümlichen Charme hat. Und der Haupteingang soll dem Amsterdamer Bahnhof nachempfunden sein.“

„Wow, niederländischer Einfluss also… und so alt schon. Er ist gut gepflegt.“, stellte Chrissie fest.

„Nun ja, ein großer Teil wurde im 2. Weltkrieg zerstört, er wurde also wieder neu aufgebaut und später noch erweitert, damit unser Tokaido-Shinkansen angeschlossen werden konnte. Ich glaube sogar mich zu erinnern, das in den Neunzigern noch eine weitere Linie hinzugefügt wurde, die man auf Stelzen baute.“

Bewundernd raunten sie, aber schnell ließen sie den Bahnhof hinter sich und konzentrierten sich auf die anderen Dinge, die es zu bestaunen gab. Hochhäuser! Wolkenkratzer, Leuchtreklame, viele Lichter und viele Menschen auf den Straßen. Kein Vergleich zum ruhigen Kyoto!

„Hier in der Nähe ist der Kaiserpalast und das Ginza Viertel. Vielleicht schaut ihr euch das mal an, wenn ihr euch bei uns eingelebt habt.“

Die Mädchen waren beeindruckt von dem, was Hyde ihnen erzählte und freuten sich, dass er seine Aufgabe als Gastgeber direkt so ernst nahm und sie unterhielt.

Die Fahrt dauerte nicht lange, Shinjuku war nicht weit weg von der Ginza, aber je näher sie an diese Viertel fuhren, desto heller wurde es um sie herum. In Shinjuku waren die Hauswände geradezu gepflastert mit Reklametafeln und überall waren bunte und laute Läden, in denen vergnügte und ausgelassene Japaner verkehrten. Ihnen beiden drängte sich die Frage auf, wie ein Star wie Hyde ausgerechnet in so einem Viertel leben konnte ohne laufend mit der Angst unterwegs zu sein, dass man erkannt wurde. Andererseits hatten sie gehört, dass Shinjuku als nobleres Viertel galt.

„Und hier in der Nähe lebst du?!“, fragte Chrissie ungläubig, als sie an den leuchtenden Gebäuden, die zunehmend höher wurden, vorbeifuhren.

„Ja, so ist es. Aber keine Sorge, nicht direkt hier im Zentrum. Ich weiß es aber zu schätzen, wie anonym man ist, wenn man unter vielen Menschen unterwegs ist.“

„Ach so…“, entgegnete Nina erleuchtet.

So betrachtet machte das Ganze natürlich auch einen Sinn. Wo viele Leute waren, rechnete natürlich niemand direkt damit ausgerechnet Hyde über den Weg zu laufen. In der Masse war man zu sehr damit beschäftigt sich selber nicht zu verlieren.

Sie bogen nach wenigen Minuten in ein Viertel ein, in dem es schlagartig ruhiger und gemächlicher zuging. Die Häuser blieben so hoch, aber sie wirkten auch im Dunkel der Nacht irgendwie eindrucksvoller. An den Eingängen waren edle Markisen und unter ihnen lag bis zum Eingang Teppich. Nicht zu vergessen die Portiers, die in Uniformen immer straff aufgerichtet neben den Drehtüren standen.

„Sag nicht, du wohnst in einem solchen Gebäude, das würde ich im Kopf nicht aushalten.“, flüsterte Chrissie dem ruhigen Sänger zu, als sie spürte, wie der Fahrer langsam Geschwindigkeit wegnahm.

Hyde zog seine Sonnenbrille hinunter auf sein Nasenbein uns sah ihr in die verblüfften Augen. Sein rechter Mundwinkel zuckte verdächtig und sie rollte mit den Augen.

„Oh nein, das kann doch nicht wahr sein… Nina~ Hyde hat seine Wohnung in einem von diesen Promi-Bunkern!“

„Nani?!“, kam es ihr ungläubig aus dem Hals heraus.

Hyde verkniff sich ein leises Lachen und zeigte mit der ausgestreckten, linken Hand auf ein freistehendes Hochhaus, das hinter der nächsten Abbiegung auftauchte.

„Wir sind da.“

Der Mund blieb ihnen offen stehen und es begann überall zu kribbeln, Nervosität machte sich in ihnen breit und gleichzeitig waren sie jetzt so voller Erwartungen, dass sie sich am liebsten quietschend in die Arme werfen wollten.

„Parken Sie uns bitte direkt vor den Eingang, Sie brauchen nicht erst ins Parkhaus zu fahren.“

Der Fahrer befolgte Hydes freundliche Anordnung und setzte sie sauber und präzise genau vor dem Wohnhaus ab. Die beiden Freundinnen stiegen aus und holten schon mal ihr und das Gepäck von Hyde aus dem Wagen, während dieser sich noch verabschiedete.

„Ich wünsche Ihnen und ihrer Begleitung eine gute Zeit, Hyde-sama.“, verabschiedete sich der hochgewachsene Mann äußerst höflich und verbeugte sich. Hyde reichte ihm die Hand, erwiderte seinen Gruß und drückte seine Dankbarkeit aus. Da standen sie jetzt also, in Tokyo vor einem Schickimicki Hochhaus in dem Hyde seine gemeinsame Wohnung mit Megumi und ihrem gemeinsamen Kind hatte. Megumi… oh Gott! Wie würde jetzt wohl die bevorstehende Begegnung mit ihr verlaufen? War sie denn um diese Uhrzeit überhaupt noch wach? Fragen über Fragen häuften sich in ihren Köpfen und bereiteten ihnen schwitzige Hände. Hyde führte sie an, am Portier vorbei durch die Drehtür und dann in die große, vertikal geschnittene Eingangshalle. Fußboden und Wände waren mit großen, hochglanzpolierten Fliesen in Bernsteinoptik, durchzogen von dunkelgrauen Adern, verkleidet. Auf der rechten Seite war ein großer Tresen, der zu einer Information gehörte. In dem länglichen Bereich dahinter standen einige lederbezogene Bänke und Tische und ein paar mediterrane Pflanzen. Die Decke war unglaublich weit oben, es waren mehrere Etagen, ehe jene begann. Die unteren Wohnbereiche mussten kleiner sein als die darüberliegenden. Beleuchtet wurde alles von ebenerdigen Spots und kleine Überwachungskameras versteckten sich in den Ecken und Winkeln.

„Bestaunt ihr gerade die Empfangshalle? Ich würde meine Wohnung vorziehen.“

Grinsend stand der schlanke, dunkelhaarige und noch immer vermummte Mann an einem Fahrstuhl. Davon gab es entlang der linken Wand insgesamt fünf Stück. Amüsiert folgten sie ihm. Im Fahrstuhl selbst entledigte Hyde sich den überflüssigen Kleidungsstücken, bevor er eine kleine Kunststoffkarte hervorzauberte, die er durch einen Schlitz neben den Etagenknöpfen zog und dann auf die 20 drückte.

„Wissen die Leute hier im Haus, das du hier wohnst?“

„Die, die hier arbeiten wissen es, ja. Das müssen sie auch. Ihr habt es nicht gesehen, aber es gibt genug Sicherheitspersonal und Vorkehrungen hier im Gebäude, die mir und meiner Familie garantieren, dass wir nachts ruhig schlafen können.“

Der Lift setzte sich surrend in Bewegung, er war schneller als gewöhnliche Fahrstühle, Nina musste schlucken. Fahrstühle waren gleich nach Flugzeugen etwas, das sie verabscheute. Vor allem dann, wenn es so hoch hinaus ging wie hier und die Fliehkraft machte es ihr schwer, sich zu entspannen.

„Alles in Ordnung, du wirst auf einmal so blass?“, fragte Hyde besorgt, als er in ihre gequälte Mine sah.

„Nina hat Flug-, Höhen- und bedingte Platzangst.“

„Oh je, dann hätte ich dich vielleicht darauf vorbereiten sollen, was gleich kommt.“

Er zeigte nur an ihr vorbei, sie drehte sich um zur Rückwand des Fahrstuhls die nicht wie die anderen Seitenwände geschlossen war, sondern aus Glas. Verschwommen rauschten die Fliesen an ihnen vorbei in die Tiefe, bis sich plötzlich vor ihnen Tokyo bei Nacht auftat. Geschockt trat die Dunkelhaarige zurück bis an die Türen, wo sie sich fest gegen drückte.

„Oh mein Gott, ist das hoch! Warum ist der Fahrstuhl auf einmal draußen?!“, wollte sie etwas panisch im Tonfall wissen.

Chrissie tätschelte ihr tröstend den Kopf und hakte sich bei ihr unter.

„Das gehört einfach mit zur Bauweise dieses Hauses. Die unteren Etagen sind kleiner mit Büroräumen drin und es befindet sich auch noch ein Restaurant dort. Ab den richtigen Eigentumswohnungen fährt der Fahrstuhl dann eingerahmt vom Mauerwerk außerhalb.“

„Keine Angst, Ninchen. Wir stürzen schon nicht ab.“

„Na danke! Ich kann gar nicht hinsehen!“, jammerte Nina und versuchte sich abzulenken, indem sie auf ihre Schuhe starrte.

Hyde war froh, dass sie keine ausgewachsene Hysterie-Attacke bekam und belächelte ihr ängstliches Verhalten.

„Wir sind gleich oben, das ist ein Hochgeschwindigkeitslift.“

Er behielt Recht, aber das Gefühl bei der Ankunft war mehr als unangenehm und sogar Chrissie stöhnte ganz leise. Es war wie einen Moment lang schwerelos zu sein, bevor sich dann die inneren Organe wieder auf ihre vorgeschriebenen Plätze absenkten, sodass einem übel davon werden konnte. Der Fahrstuhl gab ein ankündigendes PLING von sich und dann fuhren die Türen beiseite. Hyde zog einen Schlüssel heraus, um die dahinterliegende, massiv wirkende Tür vor ihnen aufzuschließen. Sie schwang auf und erst jetzt begriffen Chrissie und Nina, dass dieser Lift ein Direktzugang zu den einzelnen Wohnungen bildete. Schummriges Licht empfing sie, übereilt stolperte Nina mit wackligen Knien nach Hyde in die Wohnung hinein.

„Hyde?“, rief eine leise, klare Stimme von irgendwoher aus der Wohnung.

„Ja, ich bin es Megumi. Wir sind angekommen.“

Ganz leise Schritte waren zu hören, die zwei Ausländerinnen richteten sich gerade auf und atmeten angespannt tief ein. Da kam eine Frau um die Ecke gelaufen. Äußerst schlank mit schönen Proportionen, sofern man dem glauben schenken mochte, was sich unter der schlichten Jeans und dem legeren, cremefarbenen Oberteil mit weitem Rundhals abzeichnete. Sie hatte offene, lange Haare die in leichten Schillerlocken in der Mitte ihres Rückens endeten. Bewundernd erwarteten sie den Moment, in dem diese Frau direkt vor ihnen stehen würde. Mit strahlenden Zähnen kam sie lachend auf Hyde zugelaufen, der sogleich seine Tasche fallen lies und umarmte ihn erfreut. Diese vertraute und liebevolle Begrüßung war süß anzuschauen und ein wenig fühlten sich die Freundinnen fehlplaziert und störend. Doch es bleib bei der Umarmung.

„Ach ist das schön, war die Reise angenehm?“, fragte sie neugierig, aber höflich ihren Mann.

„Die Zugfahrt und auch die Anreise im Taxi ist problemlos verlaufen. Darf ich dir Enah und Nina vorstellen?“

Hyde machte eine vielbedeutende Handbewegung und sogleich galt Megumis freundliches Lächeln ihnen beiden ohne irgendein Zeichen von Erzwungenheit. Sie hatte eine respektable Haltung mit vor dem Bauch verschränkten Händen eingenommen und neigte sich kurz begrüßend vor.

„Ihr seid also die zwei Damen aus Deutschland, von denen ich inzwischen schon so viel Gutes gehört habe. Freut mich euch kennenzulernen, ich bin Megumi, Hydes Ehefrau.“

Sie verbeugte sich wieder kurz, unsicher taten sie es ihr nach, es war erleichternd, als sie ihnen dann doch noch ihre ausgestreckte Hand zur Begrüßung nacheinander anbot.

„Ich bin Christin, aber Sie können mich gerne Enah nennen. Meinen Namen richtig auszusprechen fällt immer so schwer.“

„Und ich bin Annina, aber Nina reicht vollkommen aus.“

„Das sind reizende Namen, aber bitte sprecht mich nicht mit Sie an, sagt einfach Megumi zu mir.“

Sie war unglaublich liebreizend, ihre Gesichtszüge waren weich und hübsch geschnitten, sie hatte tolle, braune Augen und ihr Mund hatte etwas sehr Jugendliches. Überraschender Weise war sie nicht annähernd so groß, wie sie beide immer gedacht hatten. Ein winziges Stück größer als Nina vielleicht und sie maß ja gerade mal 165 Zentimeter. Dennoch sichtbar größer als Chrissie und Hyde, die sich gute fünf Zentimeter unter Ninas Scheitel bewegten, was durch ihr Schuhwerk im Moment jedoch kaum auffiel.

„Wie hübsch deine Haare sind, Enah-chan.“, stellte Megumi fest und bestaunte gefesselt deren kupferne Wellen, die in dem schummrigen Licht wie flüssiges Gold über ihre Schultern fielen.

Schüchtern lächelte Chrissie und verbeugte sich dankbar ein kleinwenig, das Namensanhängsel lies sie ihrer Gastgeberin ohne zu murren durchgehen.

„Oh, bitte kommt doch erstmal richtig rein. Ich habe mir gedacht, dass ihr zu so später Stunde vielleicht noch ein wenig Hunger habt und habe etwas vorbereitet. Hyde, würdest du ihnen erklären wo was ist? Ich muss rasch noch mal in die Küche.“

„Natürlich.“

Megumi sprach Hyde also mit seinem Synonym an, ob sie das nur jetzt tat, da sie da waren?

„Und dann reden wir noch ein bisschen, wenn ihr nicht zu müde seid, ich habe viele Fragen an euch!“

Sie lächelte wie ein glückliches Kind, ihre Art war heiter und ungezwungen.

„Lasst eure Taschen hier stehen und zieht eure Schuhe aus, dann zeige ich euch ein wenig die Wohnung.“

Jetzt, wo er von Wohnung sprach, nahmen sie erst ihre Umgebung etwas gründlicher unter die Lupe. Sie standen in einer rechteckigen Flurnische ohne Fenster, direkt gegenüber vom Fahrstuhl war eine weiße Tür in der Wand. Links ging es nach oben weiter, wahrscheinlich zum Rest der Wohnung von wo auch das seichte Licht herrührte. Die Nische war spärlich eingerichtet, links war eine kleine Garderobe und ansonsten gab es nur ein paar schlichte Bilder an den freien Stellen der kahlen Wände. Der Boden unter ihren Füßen war aus nussbaumfarbenen Parkett. Das war irgendwie edel.

„Also diese Tür hier führt zur Einliegerwohnung. Die würde ich euch aber ganz gerne erst zum Schluss zeigen, ist das in Ordnung für euch?“

Sie nickten stumm, sie befanden sich auf unbekanntem Terrain und fühlten sich noch unbehaglich in ihrer neuen Umgebung. Hyde lief voraus den Gang aus der Nische heraus. Ein „Ooh!“ entfleuchte den Freundinnen, als sie somit in den eigentlichen Flur traten. An der rechten Wand standen ein großer, schmaler Kleiderschrank und ein Sidebord, beides modern, klar geschnitten und glänzend weiß, während die Wand dahinter cappuccinofarben angestrichen war. Von hier hatten sie freie Sicht auf einen Teil des gegenüberliegenden Wohnzimmers und – so wie es aussah – auch auf Tokyo. Die gesamte Wand bestand aus Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen mussten. Nina schwirrte bei dem Anblick der Kopf, aber zum Glück schien davor noch eine Terrasse zu sein. Links von ihnen ging der Flur als ein langer schmaler Gang bis zur nächsten Wand weiter, die ein kleineres Fenster hatte. Links und rechts davon waren die anderen Zimmer angereiht.

„Das hier gleich links ist unser Badezimmer. Daneben sind das Kinderzimmer und unser Schlafzimmer.“

Sie folgten seinem Finger und zählten die drei Türen, von denen er sprach.

„Die beiden kleinen Räume rechts gegenüber sind Megumis Hauswirtschaftsraum und Ruheort und mein eigenes Arbeitszimmer.“

Wieder verfolgten sie seine Wegweisung.

„Und wie ihr ja eben schon staunend betrachtet habt, geht es geradeaus direkt in unser Wohnzimmer mit Blick auf die Stadt.“

Er lief wieder vor, er grinste und rieb sich die Hände. Er schlenderte gemütlich voran, bis seine Füße auf einen überdimensionalen, cremefarbenen Hochflorteppich traten, der bis rechts um die Ecke liegen musste. Dort drehte Hyde sich um seine eigene Achse zu ihnen herum und breitete einladend seine Arme aus.

„Kommt her und schaut euch um.“, rief er sie zu sich mit interessierten Blick auf die Gesichter seiner Gäste.

Sie sahen sich an, nahmen sich an die Hand und liefen zu ihm. Die Decke über ihnen war auf einmal viel höher als eben noch. Sogar höher als in einem Berliner Altbau! Große, chromummantelte Spots sowie moderne Papierstehleuchten spendeten Licht. Der Raum war unheimlich großzügig geschnitten und die Einrichtung passte sich dem an. Wie vermutet führte der verführerisch weiche Teppich über den gesamten rechten Bereich des Wohnzimmers. An der rechten Wand stand eine meterhohe, massive Anbauwand aus Nussbaum in der unzählige Bücher, Bilder, Blauglasfiguren sowie CDs standen. Sie Bildete den Rahmen für eine große, kaffeefarbene Couchlandschaft. Das Polster war glatt und die Sitzfläche breiter als der Standard. An der Rückenlehne waren unzählige Kissen in allen möglichen Größen angereiht. Die Farben reichten von Cremeweiß über Latte bis Cappuccino, mal uni, mal längsgestreift. Vor dem Wohlfühlsofa stand ein flacher, rechteckiger Glastisch, der vom Holz her perfekt zur Schrankwand passte. Dahinter wiederum waren zwei rundliche Sessel in Farbe der Couch aufgestellt, zwischen denen genug Freiraum war, damit man auf den Flachbildschirm sehen konnte, der dahinter aufgestellt direkt vor den Fenstern auf einem niedrigen TV-Schrank stand. Nina konnte nur anerkennend pfeifen. Die Fenster hingen meist frei, aber in regelmäßigen Abständen waren cremefarbene Papiervorhänge auf einer Schiene angebracht, die eine angenehme Atmosphäre schufen und die Glasfront nicht so kalt wirken ließen.

„Da seit ihr ja schon, na, wie gefällt es euch?“

Sie drehten sich nach links zu Megumi um, die mit guter Laune in ihrer amerikanischen Küche stand. Der linke Bereich des Raumes war mindestens so atemberaubend wie der Rechte. Zuerst war da ein großer Esstisch mit weißen Füßen, dunkelbraunem Körper und Tischplatte, der horizontal von der linken Wand bis fast zum Fenster führte. Fünf mit weißem Leder bezogene Stühle waren um ihn herum aufgestellt, an der Seite rechts außen stand ein hochwertiger Kinderhochstuhl. Der Tisch war ein Model von der Sorte, die man bei Bedarf aus der Mitte heraus ausziehen und verlängern konnte. Dahinter begann der eigentliche Küchenbereich. Eine lange und hochmoderne Küchenzeile mit weißen, glänzenden Fronten, dunkelbraunem Rahmen und einer Arbeitsplatte aus erdfarbenem Granit zog sich fast über die Hälfte der linken Wand entlang bis in die hinterste Ecke. Dort machten die Küchenmöbel einen Bogen in die Ecke nach rechts hinein, von wo aus sich dann anschließen in den Raum hinein ein halbkreisförmiger Tresen mit großer Fläche erstreckte. Auch hier war der Sockel weiß, der Korpus ebenholzbraun und die Arbeitsfläche aus dem terrakottafarbenen Granit, der im Licht der Spots über ihm, die integriert in ein herabgehangenes, halbkreisrundes Holzelement eingearbeitet waren, edel glänzte. Vor dem äußeren, runden Teil des Tresens, standen vier weiße Barhocker, die sich in das gesamte futuristische Raumkonzept einfügten.

„Das ist so… unglaublich! Das ist der Wahnsinn!“, schwärmte die Rotblonde atemlos.

„Das ist nicht nur wahnsinnig, das ist der Hammer Süße!“, bekräftigte Nina Chrissies Aussage.

Hyde grinste in sich hinein und legte gespannt einen Zeigefinger in Denkerpose an sein Kinn, er zwinkerte seiner Frau zu, die ganz offensichtlich hoch erfreut war, dass den beiden Frauen gefiel, wie sie lebten.

„Das ist ganz anders als bei Gackt…“

Megumi kicherte als sie das hörte und fing an große Unterteller auf den Esstisch zu stellen.

„Hast du denn gedacht, wir wohnen so wie er?“, hinterfragte sie an Nina gewandt und noch immer amüsiert.

Hyde setzte sich auf den äußersten Stuhl an der Wandseite, die Mädchen standen noch unsicher davor.

„Setzt euch ruhig schon mal hin, ich bin gleich fertig.“

So wie es roch musste es eine kleine Suppe sein, auch der große, dampfende Topf auf dem Cerankochfeld lies darauf schließen. Hyde klopfte einladend mit der flachen Hand auf die Tischplatte und lächelte ihnen aufmunternd zu. Sie folgten seiner Aufforderung und setzten sich auf die zwei Stühle vor ihnen. Megumi bewegte sich fließend und geschickt, jede Handbewegung saß als sie die kleinen Schüsseln befüllte und sie ihnen vorsetzte. Miso, Gemüse, Glasnudeln, wie genau das Süppchen hieß wussten sie beide nicht, aber es roch sehr lecker!

„Lasst es euch schmecken, es ist schon spät, ihr wollt danach doch sicherlich schlafen gehen, nicht wahr?“

Megumi lies sich gar nicht davon beirren, dass sie sich so schweigsam und schüchtern verhielten, sie konnte sich vorstellen, dass das alles hier für sie einfach unglaublich sein musste.

„Ja, dankeschön.“, antwortete Chrissie leise und nahm den flachen, traditionalen Löffel in die Hand.

„Itadakimasu.“, wünsche Hyde und alle taten es ihm im Chor nach.
 

Nach dem Essen räumte Megumi schnell ab, Nina und Chrissie boten ihre Hilfe an, doch die Herrin des Hauses bestand darauf, diese Arbeit am Tag ihrer Anreise gerne allein zu verrichten.

„Wie gefällt es euch denn in Japan so?“, begann sie ein neues Gespräch, als sie sich wieder zu ihnen setzte.

„Es ist schön und sehr aufregend hier.“, antwortete Nina gleich.

„Wir haben so viel vom eigentlichen Japan noch gar nicht gesehen, aber alles was wir bislang kennengelernt haben, war sehr beeindruckend und interessant.“, ergänzte die Rothaarige.

Hyde lachte leise in sich hinein und Megumi warf ihm ein kurzes Grinsen zu.

„Oh, das kann ich mir vorstellen! Hyde hat mir schon viel erzählt, war es nicht spannend mit Gackt zusammenzuleben? Ich war schon ziemlich erstaunt, als ich hören musste, was der Liebe da angestellt hat… Einfach zwei wildfremde Fans mitnehmen… tse.“

Es schwang keine Verachtung oder Ärger in ihrer Aussage mit, trotzdem schämten sich die Freundinnen fast ein wenig dafür, dass es alle so unglaublich und abwegig fanden, dass man sie eingeladen und mitgenommen hatte.

„Ich denke, es war das Beste, was ihm je an Dummheiten einfallen konnte. Ich habe ihn selten so erlebt wie in der letzten Woche, er war endlich mal ein wenig abgelenkt von seiner Arbeit, hat mehr geschlafen, besser gegessen und kam einfach aus seinem Trott heraus. Wir haben viel gemeinsam erlebt und gelacht.“

„Und dann nimmst du sie ihm weg? Ich finde, er könnte öfter mal etwas mehr leben und erleben.“

Sie neckten sich, wie süß! Chrissie lächelte Nina vielsagend an und ihre Freundin nickte ihr bestätigend zu.

„Jetzt sind sie jedenfalls hier bei uns und ich hoffe, es gefällt ihnen hier.“

Er sah sie beide dabei an, die Sprechweise in dritter Person war durchaus als eine versteckte Frage aufzufassen.

„Nun lass sie mal in Ruhe, Hyde. Ihr seid bestimmt geschafft jetzt, wir können morgen noch reden, ich werde euch gleich mal eure Wohnräume für die nächste Woche zeigen.“

Sie stand auf und warf ihre schönen Haare hinter sich, Chrissie musterte eine Strähne ihres eigenen Haars und fragte sich, was Megumi daran hübsch gefunden hatte. Ein leises Weinen lies sie und alle anderen Anwesenden aufhorchen.

„Oh, das ist Hiro-chan!“, stellte Megumi fest und wollte gerade loseilen, als Hyde sie mit einer Geste zurückhielt.

„Lass mich gehen, ich habe ihn schließlich eine ganze Weile nicht gesehen.“

Chrissie und Nina wurden wieder ganz kribbelig und saßen unruhig auf ihren Stühlen. Hiro-chan? War das der Name, des Kleinen? Wie er wohl aussah? Unglaublich, sie hatten mit Hydes Frau an einem Tisch gesessen, waren in seiner Wohnung und ein paar Meter weiter hatten sie soeben das Weinen seines Kindes gehört!

„Hat euch Hyde schon etwas von unserem Sohn erzählt?“

Chrissie schüttelte schnell den Kopf.

„Wir wissen nur, dass es ein Junge ist und er im November zwei Jahre alt wird.“, sagte sie noch schnell, dann sah sie wieder wie Nina in Richtung Flur, wo ihr Lieblingssänger rechts um die Ecke verschwunden war.

Sie hörten wie eine Tür geschlossen wurde, dann sahen sie Hyde langsam aus dem Halbdunkel hervortreten. Auf dem Arm hatte er ein kleines Kind mit dichten, schwarzen Haaren, das sein Köpfchen in der Beuge zwischen dem Hals und der Schulter seines Vaters müde abgelegt hatte. Sein kleiner Windelpo stützte sich auf einen von Hydes Unterarmen, mit der anderen Hand streichelte er liebevoll über den kleinen, gebeugten Rücken. Entzücken erfüllte die Gesichter von Nina und Chrissie, in ihren Kehlen sammelte der Drang loszuquietschen.

„Schau mal, da ist deine Mama.“, flüsterte Hyde dem kleinen Buben liebevoll ins Ohr und streichelte ihn dabei mit seiner eigenen Wange.

Hiro-chan hob sein ach so schweres Köpfchen und sah mit einem zerknautschten Gesicht in die Richtung, wo seine Mutter stand und streckte augenblicklich seine Arme nach ihr aus.

„Hiroki, mein Schätzchen. Kannst du nicht schlafen?“

Der Kleine hieß also Hiroki! Chrissie war sich sicher schon mal irgendwo gelesen zu haben, dass dieser Name spekuliert wurde zu Hydes Kind zu gehören, aber aus sicherer Quelle hatten sie das nie erfahren können. Hiroki hatte große, schokobraune Augen, eine hohe Stirn, momentan rote Schlafbäckchen und eine kleine Zuckerschnute. Alle Punke des typischen Kindchenschemas wurden erfüllt! Seine vielen Haare waren lang und völlig zerzaust vom Schlafen.

„Ist der nicht süß?“, hauchte Nina ihrer älteren Freundin ins Ohr, die ihre Augen ebenfalls gar nicht abwenden konnte.

Megumi lief mit dem Kleinen, den sie Hyde abgenommen hatte, zur Küche und bot ihm etwas zu Trinken an, was er auch dankbar annahm. Verschlafen rieb er sich die Augen, dann sah er wieder seinen Papa an, der ihn mit selig leuchtendem Blick betrachtete.

„Baba.“, brabbelte Hiroki und streckte seine kleinen Händchen wieder nach seinem Vater aus, der ihn sofort entgegen nahm.

Die Mädchen pressten ihre Hände auf ihre Münder und liefen rot an, das war zu goldig um es nicht auszusprechen, doch der Moment war so intim, dass sie es unmöglich über sich brachten, mit Niedlichkeitsbekundungen alles zu ruinieren. Klein Hiro kuschelte sich wieder an seinen Papa, der automatisch ein wenig hin und her schaukelte und leise Schhh-Geräusche machte. Tatsächlich hatte Hyde über die Situation hinaus ganz ausgeblendet, dass er nicht mit seiner Frau und dem Kleinen alleine war. Verlegen lächelnd zwinkerte er ihnen zu, doch sie beide schüttelten verständnisvoll ihre Häupter und lächelten zurück.

„Komm, wir bringen ihn wieder zurück in sein Bettchen, unseren Besuch kann er auch morgen früh noch kennenlernen.“, schlug Megumi vor.

Sacht an der Schulter schob sie ihren Mann an und folgte ihm dann in das Kinderzimmer, die deutschen Mädchen folgen ihnen mit ihren Blicken wieder nur bis in den Flur.

„Chrissie, ich weiß, dass der Spruch inzwischen abgedroschen ist, aber ich sterbe…“

„Macht nichts, ich jedenfalls bin schon im Himmel. Das hier kann entweder nur bedeuten, dass ich den verrücktesten Traum überhaupt habe, oder ich schon Engelsglocken läuten höre.“

„Bleib auf dem Boden, abheben und sterben war immer mein Part!“

„Das ist unfair, du bist doch schon sooft bei Gackt gestorben, jetzt bin ich mal dran. Meine Hände sind schließlich schon leichenkalt.“

Das stimmte, aber dazu brauchte es keine Japanreise oder ein Treffen auf die beiden genialsten Sänger überhaupt. Chrissie hatte immer kalte Hände, egal wann und wo.

„Mal im Ernst, Hiroki ist doch total schnuffig, oder?“

„Ja! Und Hyde erst! Baba, ich hätte mich am liebsten auf den Boden geworfen bei seinem Honigkuchenpferd-Grinsen, als der Kleine das gesagt hat!“

Ha~i! Kreisch, das ist nicht zum aushalten! Wir werden an einem Zuckerschock sterben, wenn das ab morgen nur noch so geht!“

„Erinnere mich nicht an morgen, ich kann ja kaum das Heute begreifen und verarbeiten!“

Hyde kam wieder um die Ecke gebogen, er streckte sich müde und gähnte.

„Es wird Zeit, wir zeigen euch noch die Einliegerwohnung und dann gehen wir am besten alle schlafen.“

Schlafen… das klang in ihren Augen wie Hohn, wie sollten sie beide einschlafen können bei dem, was sie hier gerade erlebten? Es war wieder genau wie am Anfang bei Gackt. Lampenfieber, Nervosität, Unsicherheit und was sie nicht sonst noch alles daran hinderte ganz sie selbst zu sein, war wieder da.

„Na kommt, aber macht schön leise, damit Hiroki weiterschlafen kann.“, ermutigte sie Megumi, die das Licht im Flur anschaltete.

Sie folgten ohne Widerworte, klaubten ihre Taschen vom Boden auf und sahen zu, wie Megumi mit einem Schlüssel die Tür zur Einliegerwohnung öffnete. Gleich rechts war der Lichtschalter, ein großer Deckenstrahler mit insgesamt vier Leuchten ging an und vor Ihnen lag nun die Einliegerwohnung. Der Stil war anders als im Rest der Wohnung, der Boden war wesentlich heller, Ahorn vielleicht. Die rechte Seite bestand wieder aus einer kompletten Fensterfront, vor der filigrane, durchsichtige Vorhänge aufgehängt waren. Zwischen den Fenstern und der rechten Wand stand ein ovaler, weißer Tisch mit vier braunen, gemütlichen Stühlen drum herum. An der linken Wand, die als einzige nicht weiß, sondern kräftig rot angestrichen war, stand eine kleine weiße Sitzbank mit Schuhablage darunter und Kleiderharken darüber. An der roten Wand hingen außerdem versetzt schwarz eingerahmte Kalligraphien von japanischen Sprichwörtern sowie ein Wandkalender zum Jahr des Hahns. Gegenüber vom Eingang war in den halben Raum hinein eine Wand eingezogen, an der eine kleine anthrazitfarbene Küchenzeile stand. Die Hängeschränke hatten Milchglasfronten. Rechts daneben ging es noch etwas tiefer in den Raum hinein, in der kleinen Ecke stand links vertikal ein einfaches, weißes Bücherregal und horizontal daneben ein rundliches, rotes Sofa das fast wie ein Bett aussah, wenn man sich die vielen Kuschelkissen und zusammengelegten Decken wegdachte. Daneben stand eine kleine weiße Musikanlage und über der Couch prangte ein großes Leinwandbild in warmen Gold- und Ockertönen. Es schien aus sich heraus zu leuchten, eine lebendige, geschwungene schwarze Linie zog sich durch die Mitte des Gemäldes und vollendete die Silhouette einer Gitarre. Unausgesprochen erkoren Chrissie und Nina diesen Platz dort hinten unabhängig voneinander schon jetzt zu ihrer Lieblingsecke.

„Das ist sie nun, unsere Gästewohnung. Ich hoffe, es gefällt euch, ich habe heute extra noch mal sauber gemacht, die Betten frisch bezogen und euch Blumen auf den Tisch gestellt.“

Es stimmte, auf dem Esstisch lag ein kleines Bambusdeckchen mit einer schmalen, dunkelroten Vase drauf, in der drei einzelne, weiße Callas standen.

„Ihr sollt aber nicht glauben, ihr müsstet auf diesem Sofa dort schlafen. Hinter der Küchenwand und dem Bücherregal ist ein kleiner, versteckter Bereich, in dem euer Bett steht.“

„Es ist doch richtig, dass ihr gemeinsam in einem Bett schlaft, oder? Ich wollte das meinem Mann zuerst nicht glauben, aber er hat beteuert, dass ihr bei Gackt auch so übernachtet habt.“

Sie beide grinsten sich an, als sie sich daran erinnerten, wie sie vor Gackt zweideutige Scherze darüber gemacht hatten, dass sie sich nicht scheuten das Bett zu teilen.

„Nein, nein. Es ist völlig in Ordnung für uns ein Bett zu teilen.“, beruhigte Chrissie ihre Gastgeberin.

„Nina hat definitiv einen friedlicheren Schlaf als Gackt.“, setzte sie noch hinzu und grinste Hyde an, der unwillkürlich lachen musste.

Megumi konnte nicht mitlachen, also wusste sie nicht, worauf die zierliche Deutsche anspielte.“

„Das erkläre ich dir später, in Ordnung Megumi?“

„Darauf bestehe ich, ich möchte gerne wissen, was es da zu lachen gibt.“

Sie zwinkerte Chrissie mit einem Auge zu und bekam zum ersten Mal an diesem Abend ein ungezwungenes Lächeln von ihr zurück.

„Und hier gleich rechts ist die Tür zu eurem Bad. Es ist nicht besonders groß, aber es hat eine Dusche und sogar ein kleines Fenster.“

„Das ist super. Vielen, vielen Dank für eure Gastfreundschaft. Ich werde das wohl erst glauben können, wenn ich morgen früh hier aufwache… du doch auch, oder Enah?“, fragte Nina ihre Freundin, die hinter vorgehaltener Hand gähnen musste.

„Ich finde momentan nicht die richtigen Worte dafür, aber mir geht es mindestens genauso.“

„Das ist schön. Ich mache morgen früh für euch mit Frühstück, ich klopfe dann, wenn es fertig ist, in Ordnung?“

Ihre Augen wurden größer.

„Bitte nicht zu viele Umstände wegen uns!“, kam es von Chrissie, die einen flüchtigen Blick zu ihrer eigenen Küchenzeile warf.

„Das macht mir doch keine Umstände! Wenn ihr Lust habt gehen wir dann gemeinsam morgen ein wenig einkaufen, ich möchte unbedingt mehr über euch und eure Gewohnheiten erfahren und ich habe mich nicht getraut eure Vorräte eigenmächtig aufzustocken, ohne zu wissen was ihr mögt.“

„Das ist sehr nett.“, stammelte Nina kleinlaut.

Megumi war nicht nur schön und elegant, sie hatte auch etwas Fürsorgliches und Mütterliches an sich, das es fast einschüchternd auf sie wirkte.

„Gut, ihr zwei. Wir sehen uns auch morgen früh am Esstisch wieder, ich habe frei und kann es ruhig an diesem Samstag angehen lassen.“

Chrissies Augen leuchteten kurz unmerklich auf, es war irgendwie beruhigend zu wissen, dass sie und Nina nicht gleich ganz ins kalte Wasser geworfen wurden und wenigstens für den nächsten Tag noch eine vertraute Person um sie herum war, damit sie sich langsam eingewöhnen konnten.

„Das du es ruhig angehen lässt, will ich dir auch raten, mein Lieber.“, ermahnte Megumi ihn freundlich und wand sich dann zum Rausgehen um.

„Gute Nacht.“, wünschten sie sich alle gegenseitig.

Jetzt waren Chrissie und Nina allein. Augenblicke in denen sie einfach nur schweigend auf die geschlossene Wohnungstür starrten und sich nichts um sie herum rührte. Dann sahen sie sich an und sprangen einen Augenaufschlag später jauchzend in die Luft, fielen sich überschwänglich in die Arme, quietschten und lachten ausgelassen, als sie auf die Couch zustürmten und sich rücksichtslos zwischen die Kissen warfen. Sie achteten darauf, dass sie sich dabei auf Zimmerlautstärke beschränkten.

„Das ist so geil! Ich fass es einfach nicht!“, rief Chrissie laut aus.

Es war unheimlich befreiend sich so gehen zu lassen, alles was sie bis hierhin aus Anstand an Emotionen angestaut hatten, war endlich raus und nun konnte sich das Gefühl auf einer Wolke zu schweben endlich ungestört einstellen.

„Die Wohnung ist einfach total chic, richtig modern und edel! Und das hier… sieh dich um, das ist doch total schön und gemütlich hier! Ich meine, ich fand es auch sehr, sehr schön bei Gackt, aber ich hätte nicht gedacht, das Hyde so mit seiner Familie wohnt.“

„Du sagst es… und Megumi scheint eine total Liebe zu sein. Ich hab gedacht, sie würde vielleicht etwas komisch gucken, wenn wir uns das erste Mal begegnen, aber sie hat uns direkt mit offenen Armen begrüßt. Neben ihr fühlt man sich irgendwie total unscheinbar.“

„Ich weiß, was du meinst, aber sie hat deine Haare bewundert! Das ist doch ein schönes Kompliment, oder nicht? Ich finde nicht, dass du unscheinbar bist. Deine blauen Augen, deine klare, helle Haut und deine rotgoldenen Haare… und du bist mindestens so schlank wie Megumi!“

Chrissie war es peinlich, dass ihre Freundin sie so mit Komplimenten überhäufte.

„Sie ist gar nicht so groß, wie ich dachte. Sie war kaum größer als du.“

„Hmh, aber für eine Japanerin ist das vielleicht schon groß, ich hab auf den Straßen kaum Frauen gesehen, die größer waren als ich.“

Sie sahen stumm zur Decke und akklimatisierten sich wieder. Vor ihrem inneren Auge erschien Nina der letzte Augenblick, als sie sich von Gackt verabschiedet hatten. Die Stille um sie herum rief ein merkwürdig melancholisches Gefühl hervor.

„Chrissie?“

„Hm? Ja?“

Sie drehte ihren Kopf zu Nina um, die auf einmal ganz anders klang, als eben noch und heftete ihre himmelblauen Augen auf ihre Mine.

„Was glaubst du, geht jetzt in Gackt vor? Ich meine, wird er froh sein, dass wir jetzt weg sind und die letzte Woche schnell wieder vergessen? Oder wird er noch eine Weile an uns denken?“

Eine nachdenkliche Falte bildete sich auf Chrissies Stirn.

„Wir sind noch nicht mal einen halben Tag weg, wie kommst du jetzt darauf?“

„Nur so… weißt du, da sind ein paar Dinge gewesen, durch die ich das Gefühl habe, dass er und ich uns irgendwie ähnlich sind.“

„Hä? Hab ich was verpasst? Wovon redest du?“

Genau, was redete sie da eigentlich? Sie lies sich eindeutig zu sehr von ihren wankelmütigen Emotionen leiten. Nina verwarf ihre wirren Gedanken, was sie durch ein Köpfschütteln verdeutlichte.

„Ach nichts, ich mag einfach nur keine Abschiede. Das war alles so schnell vorbei und jetzt sind wir schon wieder woanders gelandet. Wie du schon sagst, es ist einfach alles unglaublich. Komm, ich will ins Bett.“

Sie wühlte sich durch das weiche Polster an die Kante und raffte sich auf. Ihre Taschen standen noch bei der Wohnungstür, sie nahm gleich beide mit und lief durch die Lücke zwischen der Wand hinter der Küche und dem Bücherregal neben der Couch.

„Oh wow, Mausi komm mal und sieh dir das an!“, stieß sie beeindruckt hervor.

Animiert hopste Chrissie mit den Füßen voran ebenfalls vom Sofa und gesellte sich zu ihrer Freundin. Der versteckte Bereich war größer als erwartet, links an der Wand stand ein weißer Kleiderschrank mit Schiebetüren und rechts daneben stand ein großes Futon-Doppelbett mit beigefarbener Tagesdecke und Zierkissen. Papierleuchten mit japanischen Schriftzeichen drauf hingen rechts und links neben dem Bett an den Wänden. Über dem Bett war eine Malerei aus Kirschbaumzweigen mit vielen, vielen Kirschblüten dran, die sich vom Kopfende bis unter die Decke erstreckten. An der rechten Wand hingen lauter kleine Bilder von asiatischen Landschaften. Das es kein Fenster gab störte nicht, das hier war ein kleiner, kuscheliger Rückzugsort, an dem es sich bestimmt gut schlafen ließ.
 

Der Morgen kam ohne sie zu überfallen, umhüllt von himmlisch weichen Decken und einem angenehmen Duft nach frischer Wäsche, fanden sie ganz entspannt ihren Weg heraus aus der Traumwelt. Nina, die schon immer eine Bauchschläferin war, blinzelte mit verhangendem Blick und sah ihre rothaarige, noch schlummernde Freundin neben sich liegen. Sie hob ihren Kopf leicht und ließ den Blick durch den kleinen Raum um sie herum gleiten.

»Es ist alles noch da, es ist noch immer Wirklichkeit.«

Langsam wurde es Zeit, dass sie es begriff und nicht nur sie, auch Chrissie. Die letzten sechs Tage waren passiert, was sie erlebt hatten war real, denn sie waren hier. Ungern rollte Nina sich auf den Rücken und lugte durch den kleinen Zugang des Zimmers hinaus. Draußen war es sommerlich hell, aber es konnte noch nicht allzu spät sein.

„Chrissie? Magst du mit aufstehen?“

Ihre Freundin atmete lautstark aus, sie war also schon wach, auch wenn sie ihre Augen noch geschlossen hielt.

„Es müsste verboten sein aus einem solchen Bett aufzustehen…“, brubbelte sie in eines der Kissen hinein und streckte sich dann ächzend.

Nina kratzte sich durch ihre Bettfrisur und stand auf. Der Wohnbereich sah bei Tageslicht noch viel schöner aus als in der letzten Nacht. Die klaren Linien der Einrichtung, die Farbwahl, die kleinen Details und Accessoires verbreiteten ein wohnliches und freies Gefühl. Es war genug Raum um sich zu entfalten aber weder steril noch kalt. Eine liebevolle Note schwebte über dem Gesamtbild.

„Schön hier, oder?“, fragte Chrissie, die hinter ihr hergetrabt kam.

„Total, ach… wenn ich das alles so sehe, dann habe ich das Gefühl meine eigene Wohnung ist total zugestellt und chaotisch.“

„Frag mich mal, bei meiner Zelle von Zimmer, was bis oben hin zugestellt ist mit allerhand Krimskrams.“

„Das stimmt wohl.“, entgegnete Nina leise lachend.

„Komm, waschen, anziehen, striegeln! Megumi wollte uns doch holen kommen, wenn sie das Frühstück fertig hat. Ich will dann nicht im Nachthemd vor ihr stehen.“
 

Dem Badezimmer hatten sie in der letzten Nacht verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt, überhaupt war ihr Kopf so voll gewesen, dass sie jetzt kaum noch sagen konnten, wie sie überhaupt ins Bett gekommen waren. Das Bad war komplett gefliest, der Boden mit fast schwarzen, von weißen Äderchen durchzogenen Hochglanzfliesen, die Wände mit Weißen, durch die sich hellgraue Rinnsäle zogen. Rechts stand ein großzügiger Waschtisch, links in der Ecke waren die ebenerdige Dusche mit Milchglaswänden und die Toilette. Es hingen frische Handtücher auf einer Wandheizung und auch Waschlappen waren ordentlich zusammengefaltet auf dem Sims daneben abgelegt. Wie jeden Morgen restaurierten sie sich angemessen und suchten sich frische Kleider zusammen.

„Oh je, das ist meine letzte ungetragene Garnitur…“, stellte die Ältere unerfreut fest, als sie die Sachen in ihrer Tasche zur Seite schob und sortierte.

„Mir geht es auch so. Lass und Megumi und Hyde fragen, ob hier irgendwo in der Nähe ein Waschsalon ist, so hatten wir es doch eh geplant.“

„Sicher gibt es so was hier, wir sind jetzt immerhin in Tokyo!“

Was sie jetzt noch zum Anziehen hatten war von einfacherer Art, beide hatten noch Stretch-Jeans, Chrissie hellblau, Ninas etwas dunkler und mit Schlag. Die Jüngere hatte noch ein einfaches T-Shirt in violett mit einem deutlichen Hang zu pink, das locker geschnitten- und sowohl an den kurzen Ärmeln, als auch im Hüftbereich weit ausgestellt war. Da sie fraulich gebaut war, trug es nicht auf und verlieh ihr sogar einen extra Touch Femininität. Ihre kleinere Zimmergenossin hatte noch ein sonnengelbes, figurbetonendes Shirt mit weiß verschnörkelter Schrift als Aufdruck, über der sich noch Ranken mit kleinen, weißen Blümchen räkelten. Heute wagten sie den Versuch ihr Haar auch bei Sommertemperaturen offen zu tragen.

Die Zeit verstrich und nichts tat sich, aber sie trauten sich auch nicht unaufgefordert ihre zugeteilte Räumlichkeit zu verlassen. Wie bereits befürchtet waren sie wie schon sooft weit vor der üblichen Frühstückszeit aufgewacht. Ihre innere Uhr spielte ganz schön verrückt, seit sie in Japan waren. Vielleicht war es aber auch nur die permanente Gegenwart von diversen VIPs in ihrem Unterbewusstsein, die sie morgens früher wach werden ließ. Um sich abzulenken beschäftigten sie sich, so wie Chrissie mit Lesen, oder mit einem Laptop. Die Uhrzeit auf ihren Handys zeigte 8:30 Uhr, als es bei ihnen erlösend an die Tür klopfte. Chrissie warf ihr Buch beiseite und eilte zur Tür, hinter der Megumi freundlich lächelnd stand. Sie trug ein lindgrünes Longshirt und die Hose vom Vorabend. Ihre Haare waren locker zu einem Dutt im Nacken hochgedreht.

„Guten Morgen ihr zwei! Hattet ihr eine geruhsame erste Nacht?“

„Guten Morgen, ja, kurz zwar, aber gut.“, flunkerte Chrissie ein wenig.

Sie hatten sehr gut geschlafen, aber viel, viel zu wenig… verräterische Augenringe hatten sie nur mit viel kaltem Wasser fortgespült.

„Kommt ihr zum Frühstück? Hyde und Hiroki sitzen schon am Tisch, ich hoffe, ihr habt Hunger!“
 

Auch Hydes Wohnung erstrahlte an diesem Morgen noch mal in einem ganz neuen Licht, es war sehr, sehr hell überall. Die Sonne stand genau über der L-förmigen Fensterfront, der Wohn- und Küchenbereich musste also Ostseite haben. Die verwendeten Brauntöne bei den Möbeln und der Wandgestaltung waren warm und unaufdringlich und erst jetzt fielen ihnen die vielen kleinen, liebevollen Details auf wie Topfpflanzen in den Zimmerecken, Dekoration durch Blumenarrangements, aufgestellte Fotos von ihrer Familie und was sonst noch einem Heim die persönliche Note verlieh. Man spürte die feminine Note in diesen vier Wänden. Als sie im Wohnzimmer ankamen sahen sie auch eine farbenfrohe Spieldecke auf dem Boden liegen und ein paar verstreute Spielsachen wie Bauklötze, handliche Gummifiguren und leichte Babypuzzle drum herum. Hiroki saß in seinem Hochstuhl, ein Lätzchen war ihm umgebunden damit er sein weißes Hemdchen und die dunkelblaue, kurze Shorts nicht bekleckerte.

„Guten Morgen.“, begrüßte sie Hyde, der mit einem verführerischen Lächeln aufwartete.

Seine Ellenbogen waren auf die Tischplatte gestützt und seine Hände unter seinem Kinn verschränkt. Seine Haare fielen in perfekter, seidiger Manier um sein Gesicht, die rotbraunen Spitzen setzten auf dem hohen Kragen seines weißen, schmeichelnd geschnittenem Hemd auf. Seine Knopfleiste war erst ab dem Punkt des Solarplexus geschlossen, um seinen Hals und um das vom langen Ärmel verdeckte Handgelenk, hing sein üblicher, typischer Schmuck. Unter dem Tisch vermuteten die Mädchen eine matte, schwarze Lederhose an ihm. Der Großteil ihrer Aufmerksamkeit jedoch war ausnahmsweise nicht auf den gutaussehenden Mann am Tisch gerichtet, sondern auf die Vielzahl an reich bestückten Tellern und Schalen, die vor ihm standen. Das ähnelte keinesfalls dem Frühstück, das sie gewohnt waren! Mit großen Augen standen Nina und Chrissie vor ihren Stühlen und betrachteten die herzhaft duftenden Speisen. Hiroki musterte sie beide eingehend und sah immer wieder fragend zu seinem Papa, der einen Stuhl weiter saß. Neben ihn setzte sich Megumi, die ihn mütterlich über seine gekämmten Haare strich und ihm ins Ohr flüsterte, dass die zwei fremden Frauen jetzt ihr Besuch waren.

„Was ist, habt ihr keinen Hunger?“

Hyde wusste ganz genau, warum sie so verdutzt waren, als sie den Frühstückstisch betrachteten, aber diesen kleinen Spaß erlaubte er sich.

„Mögt ihr etwa etwas nichts, davon?“, fragte Megumi besorgt, die Hydes Aussage falsch verstanden hatte.

„Nein, nein. Das ist es nicht… wir haben jetzt nur nicht mit so einem Frühstück gerechnet…“, erklärte Nina uns setzte sich langsam.

Die Speisen vor ihnen würden in Deutschland gut und gerne als ein ausgewachsenes Mittagessen durchgehen.

„Oh, ja natürlich. Ich erkläre euch, was das alles ist, in Ordnung? Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, dass ihr anderes Essen gewohnt seid, bitte entschuldigt.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, wir waren nur überrascht!“, beruhigte sie die Blauäugige.

„Wenn das wirklich so ist, dann bin ich beruhigt. Also einiges werdet ihr ja bestimmt selbst erkennen, wir haben hier Misosuppe, gebratenen Lachs, Nattô, Reis und ein wenig Nori und Eingelegtes.“

Alles sah sehr gut aus und roch auch köstlich, nur das von Megumi als Nattô geoutete Gericht wurde kritisch beäugt.

„Ähm, darf ich fragen, was das Nattô genau ist?“, fragte Nina hilflos, die die hellbraunen Böhnchen, oder was das auch immer war, was dort in einer Art Schleim schwamm, mit nervös zuckenden Augenbrauen begutachtete.

Hyde, der sich begann aufzutun, verkniff sich ein belustigtes Grinsen und tat, als würde er die Skepsis in den Blicken seiner Gäste gar nicht wahrnehmen.

„Nattô? Das sind vergorene Sojabohnen in natürlichem Eiweißschleim, der sich bei der Herstellung bildet. Es ist sehr nahrhaft!“

Aus Megumis Mund klang es, als müsste man diesen Pamps anpreisen, ihre Beschreibung jedoch lies die Hautfarbe der beiden Freundinnen auf einmal aschfahl werden. Das, was aussah wie Honigpops, die zu lange in saurer Milch gelegen hatten, würde vermutlich nicht ihr neues Leibgericht werden. Hyde konnte kaum an sich halten, gönnerhaft lächelte er und lies sie zappeln. Er war gespannt ob sie beide seiner Frau gegenüber auch aussprechen würden, was man in ihren Gesichtern bereits ablesen konnte.

„Und… wie schmeckt das?“, fragte Chrissie halblaut und schämte sich fast dafür, dass sie überhaupt fragen musste.

Langsam dämmerte Megumi, dass ihre Gäste nicht aus purem Interesse fragten, sondern weil sie sich im gewissen Sinne vor dem Nattô fürchteten. Ihre Erleuchtung war nicht zuletzt Hyde zu verdanken, dem sie seine kindliche Schadenfreude an der Nasenspitze ablesen konnte.

„Am besten, ihr probiert einfach ein ganz klein wenig davon, wenn ihr mögt. Es wird schon alle werden, mein Mann hat immer einen gesegneten Appetit und wem würde Nattô jetzt wohl besser tun, als dir? Nicht wahr?“

Hyde blieb einer seiner Bissen im Halse stecken, doch Megumi wartete gar nicht erst ab, bis er protestieren konnte und begann Chrissie und Nina endlich aufzutun, die leise lachend auf ihren Stühlen saßen.
 

Das Frühstück verlief ab da ausgelassener als der nächtliche Imbiss vom Vortag, Megumi scherzte mit den deutschen Urlauberinnen über Hydes Appetit und ohne Schonung plauderten die Freundinnen die urkomischen Situationen zwischen ihm und Gackt aus. Außerdem schlug dieser sich tapfer durch die Unmengen Nattô, die übrig waren und die ihm Megumi ganz selbstverständlich zuschob. Den Freundinnen hatte diese nahrhafte Speise nicht so gemundet, es schmeckte irgendwie bitter und hatte etwas Herbes im Nachgeschmack. Allein schon die klebrig matschige Konsistenz und die käsigen Fäden, die die Masse zog wenn man sie sich zu Munde führte, wirkten abschreckend. Hiroki, der anfangs noch mit vorsichtiger Zurückhaltung alles beobachtet hatte, gewöhnte sich an die Anwesenheit des Besuchs und fing bald an zu plappern und - als er satt war - mit seinem Essen zu spielen.

„Nein, mein Schatz, wenn du satt bist kommt der Teller weg.“

Frech grinsend lachte er seiner Mama ins Gesicht, als sie ihm den Teller unter den Fingern wegzog und klatschte vergnügt. Nina unterdrückte diesmal nicht den Drang den kleinen Fratz verboten niedlich zu finden und dies auch kund zu tun, Chrissie schüttelte den Kopf und ihr Gesichtsausdruck sah aus als dachte sie “Wie typisch“.

„So, wie sind denn jetzt eure Pläne für den Tag?“, fragte der malträtierte Sänger schließlich, um sich so aus der Rolle des Verspotteten zu winden.

„Na ja, ich denke, ich werde mal bei den Reiseveranstaltern anrufen um zu fragen, ob es möglich ist unseren Heimflug umzumodeln.“

Nicht nur Hyde sah die Rotblonde überrascht an, auch Nina warf ihr verwunderte Blicke zu.

„Guck nicht so, Nina. Um unseren Flug in Osaka zu bekommen müssen wir den ersten Bus vor dem Kyoto-Bahnhof bekommen. Der geht aber schon kurz vor sechs Uhr… und ich glaube nicht, dass du schon mitten in der Nacht aufstehen willst, damit wir einen Shinkansen dorthin nehmen können.“

Den Zahn zog Hyde ihr mit einem Kopfschütteln.

„Der Shinkansen fährt erst ab sechs Uhr morgens wieder.“

„Da hast du’s! Wenn wir unseren regulären Flug bekommen wollen, müssten wir also am Freitag schon wieder nach Kyoto fahren und dort irgendwie für die Nacht eine Unterbringung finden. Vielleicht in einem Kapsel-Hotel!“

Ihr ironischer Tonfall und das Rollen ihrer Augen zauberte ein Schmunzeln auf das Gesicht ihrer Gastgeber, sogar Hiroki quietschte vergnügt.

„Enah-chan, dann ruf doch schon mal an, ich räume derweil ab und dann könnten wir doch einkaufen gehen. Erinnert ihr euch, das ich darüber gestern Nacht gesprochen habe?“

Sie nickte. Nina stand auf und räumte ein paar Teller zusammen.

„Lass mich dir heute Morgen helfen, ok?“, bat sie freundlich.

„Dann hab ich ja gar nichts mehr zu tun!“, stellte Hyde fest, schien deswegen aber nicht ernsthaft enttäuscht zu sein.

„Das ist auch besser so, mein Lieber. Du kannst dem Kleinen den Mund waschen gehen und vielleicht ein bisschen mit ihm spielen, bis wir Frauen fertig sind“, sie zwinkerte den beiden Mädchen zu, „und ansonsten erteile ich dir heute absolutes Ausruhgebot. Du solltest mehr auf dich und deine Gesundheit achten, das Konzert morgen wird dich fordern, bitte arbeite heute nicht. Verstanden?“

Liebevoll aber bestimmt. Resignierend schüttelte Hyde den Kopf und widmete sich dann seinem Sohnemann.
 

Als Chrissie zurück aus der Einliegerwohnung kam, von wo aus sie mit ihrem Handy die Reiseverantwortlichen kontaktiert hatte, wischte ihre langhaarige Freundin gerade den Esstisch mit einem Tuch ab und Megumi spülte Essenreste aus dem Waschbecken fort. Hyde hockte neben seinen Sohn auf der Spieldecke und ließ aus Bauklötzen kleine Türme und Brücken entstehen, die Hiroki lachend wieder zunichte machte und noch vergnügter war, wenn sein Vater mit kindlich verblüfften Augen die spielerische Zerstörung mit Oh!-Tönen kommentierte. Nina sah ihrer rotblonden Freundin sofort deren Unmut an und hielt von daher mit ihrer Frage nicht hinter den Berg.

„Und? Was hast du erreicht?“

„Erstmal nicht viel. Du darfst nicht vergessen, dass Deutschland sieben Stunden hinter uns liegt, dort ist es gerade mal halb drei Uhr nachts. Wir werden wohl bis zum Nachmittag warten müssen.“

Nina zog eine Schnute, das war wirklich ein Grund frustriert zu sein.

„Erstaunlich, so ein Zeitunterschied, oder? Wie habt ihr denn den Jetlag so verkraftet, als ihr hier angekommen seit?“

Megumi trocknete sich die Hände ab und setzte auf den Stuhl, der Hyde und Hiroki am nächsten war und beobachtete beide stolz, während sie fragte.

„Eigentlich ganz gut, es hat sich ja nur angefühlt, als würde man später ins Bett gehen als gewohnt und da wir im Flugzeug schlafen konnten... Es ging nach den ersten beiden Tagen gut wie immer.“, erklärte Chirssie.

„Schlimm wird es bestimmt, wenn wir wieder zuhause sind.“, ergänzte Nina und sinnierte darüber, wie sich dieser Flug in die vermeintliche Vergangenheit wohl auf ihren Kreislauf auswirken würde.

„So, na dann können wir uns doch langsam fertig machen, nicht wahr? Hyde, gibst du mir den Kleinen hoch, ich muss ihn noch eincremen.“

„Warum lässt du ihn nicht einfach bei mir und machst dir mit Enah und Nina ein paar Kinderfreie Stunden?“, schlug ihr Mann überraschend vor.

Hiroki hüpfte in Hydes Schoß auf und ab und wiederholte dabei fortwährend das Wort Papa. Megumi sah ihn verblüfft an.

„Ich soll Hiro-chan bei dir lassen? Aber du sollst dich doch ausruhen…“, erwiderte sie nachdenklich und unschlüssig.

„Mein Sohn ist doch keine Last für mich, außerdem hab ich ihn jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen und wir genießen beide unsere gemeinsame Zeit, nicht war, Hiro-chan?“

Hirokis Kulleraugen strahlten und er quiekte vergnügt, als sein Vater ihm in die Seiten piekte und kitzelte. Wieder pressten Chrissie und Nina angestrengt ihre Lippen aufeinander und liefen akut Gefahr dabei einen Grinsekrampf zu bekommen.

„Hm, na schön. Er muss aber bis spätestens zwölf Uhr sein Essen bekommen und dann seinen Mittagsschlaf halten, sonst ist er bis zum Abend ungnädig.“

„Meg, das weiß ich doch.“

Sie hob warnend ihren rechten Zeigefinger.

„Und das du ja nicht auf dumme Ideen kommst oder dich heimlich mit deiner Arbeit beschäftigst! Im Kühlschrank habe ich noch ein paar aufgehobene Reste vom Abendessen, das müsste für euch beide reichen.“

Sie sah auf ihre schmale Armbanduhr.

„Ich denke, wir sind wieder da, wenn Hiroki aufsteht. Ich habe mein Handy dabei, wenn etwas sein sollte.“

„Jetzt geh schon und amüsier dich gut.“, forderte Hyde seine Frau langgezogen auf und verdrehte die Augen.

„Sag deiner Mama und unserem Besuch Tschüss, Hiro-chan.“

Er führte den kleinen Arm seines Sohnes zu einem Winken an.

„Schüssi!“, rief er lächelnd, als seine Mama ihm ebenfalls zuwinkte und dann mit den Mädchen im Flur verschwand. Sie schlüpften nur in ihre Schuhe, hingen sich ihre Handtaschen über die Schultern und dann kam auch schon der Fahrstuhl, den Nina nur unter wehleidigem Stöhnen betrat.
 

„Man sollte meinen, dass du deine Höhenangst nach dem Flug hierher endlich überwunden heben solltest.“, zog Chrissie ihre jüngere Freundin auf, als sie drei das Gebäude bereits verließen.

„Flugzeug und Fahrstuhl kann man ja wohl kaum miteinander vergleichen! Ich kann nichts dafür, ich muss mich erst dran gewöhnen, dann wird es gehen… es ist immer etwas anderes, je nachdem wo ich bin.“, antwortete Nina schuldbewusst und war dankbar für den festen Boden unter ihren Füßen.

„Hat es einen besonderen Grund, dass du Angst vor Höhe hast?“, fragte Megumi interessiert, die sich eine große, rundglasige Sonnenbrille über die Augen schob.

„Nein, eigentlich nicht. Es ist auch nicht wirklich die Höhe allein, die ich nicht mag, sondern der Zustand ihr hilflos ausgeliefert zu sein. Ein Flugzeug kann abstürzen, ein Fahrstuhl auch, das kann ich nicht selber beeinflussen. Von einer Klippe oder einem hohen Balkon kann man fallen und bei Fenstern habe ich immer Angst, sie könnten sich aushängen.“

Chrissie musste lachen, Megumi unterdrückte aus Höflichkeit ihre Belustigung.

„Fenster, die aus ihrem Rahmen fallen?“, fragte die Rotblonde und hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Hey, das ist nicht lustig! Als ich noch klein war, hab ich es geschafft mein Kinderzimmerfenster auszuhängen! Das war noch so ein altes Ding, wo man zwei Hebel an der Seite und unten umlegen musste, je nachdem wie man öffnen wollte… ich hab aus Versehen beide offen gehabt und schon kam es mir entgegen!“

Erschrocken hob Magumi ihre Hand vor den Mund.

„Es ist doch aber hoffentlich nichts passiert!“

„Oh nein! Ich hab schreiend versucht es festzuhalten, ich stand dabei nämlich auf meinem Bett und dann kam mir meine Oma zur Hilfe.“

„Deine Oma?“

„Ja, ich hab meine Kindheit bei ihr verbracht, weil meine Mutter immer gearbeitet hat, da sie sich von meinen Vater hat scheiden lassen.“

„Oh, das tut mir leid…“

„Muss es nicht. Ich war glücklich bei meiner Großmutter und ich war noch so klein damals, dass ich das alles gar nicht mitbekommen habe. Ich hab kein gutes Verhältnis zu meinem Vater und meinem leiblichen Bruder.“

„Du hast Geschwister?“

Chrissie rollte mit den Augen, jetzt musste Nina ihre ganze Familiengeschichte auspacken. Die Leier konnte man schon gar nicht mehr hören.

„Ja, wenn man es ganz genau nimmt fünf Stück.“

Ihre Gastgeberin war so erstaunt, dass ihr fast die Augen raus fielen. Mit stummem Entsetzen in ihrer Mine hörte sie weiter gespannt zu.

„Ich bin die Älteste, mein leiblicher Bruder ist zwei Jahre jünger und lebt bei meinem Vater. Beide sehe ich praktisch nie. Dann habe ich noch zwei halbindische Geschwister, meinen Bruder der acht- und meine Schwester die zehn Jahre jünger ist. Mit dem Mann hat es aber auch nicht geklappt. Und vor ein paar Jahren jetzt hat meine Mutter wieder geheiratet und dieser Mann hat zwei große Söhne, die älter sind als ich mit in die Ehe gebracht. Sie leben aber nicht bei meiner Familie und ich bin vor ein paar Monaten daheim ausgezogen.“

Nina lies ihren Bericht erstmal wirken, Megumi schien irgendwie verwirrt.

„Und du, Enah-chan, hast du auch so eine große Familie?“

„Um Himmels Willen, meine Familienverhältnisse sind halbwegs normal! Ich habe eine zwei Jahre jüngere, leibliche Schwester, meine Eltern leben in intakter Ehe zusammen und das war’s.“

„Und… ihr wohnt alleine ohne Partner? Als was arbeitet ihr denn?“

Perplex sahen sich die jungen Frauen an und zuckten unschuldig mit den Schultern.

„Na ja, also ich bin gerade mitten in meinem Abitur und Nina hat gerade ein Berufsvorbereitendes Jahr hinter sich gebracht.“

Megumi blieb stehen, verwirrte Gesichtsausdrücke machten die Runde. Die anmutige Japanerin nahm sie prüfend von oben bis unten ab.

„Entschuldigt, das ich frage, aber wie alt seit ihr denn?“

Diese Frage klang irgendwie komisch, so als wollte sie sich über etwas klar werden, das nicht von vorneherein offensichtlich war. Scheu antwortete Chrissie, die ein bisschen Bammel davor hatte, was ihre Antwort wohl bei Megumi für eine Reaktion hervorrufen würde.

„Ähm, 18?“

»Na toll, das klang ja sehr selbstsicher…«, strafte sie sich.

„Honto?!“, entfuhr es Megumi und noch einmal wanderten ihre Blicke von den Scheiteln bis zu den Zehenspitzen.

Als sie damit fertig war und ihr die Angst und Irritation in den Augen ihrer Begleiterinnen auffiel, straffte sie sich und nahm wieder eine würdevolle Haltung ein. Sie fand ihr Lächeln wieder und schüttelte ihre Verwirrung ab.

„Bitte entschuldigt, das war nicht sehr höflich. Ihr müsst wissen, dass alles weiß ich von euch noch gar nicht, Hyde hat mir nichts davon gesagt und so habe ich angenommen, dass ihr älter seit.“

War das jetzt ein Grund sich geschmeichelt zu fühlen? Mit gemischten Gefühlen blieben sie beide erstmal stumm.

„Ich habe euch auf ca. Mitte zwanzig geschätzt.“, ergänzte Megumi schließlich.

Das erklärte ihr Verhalten natürlich, erleichtert atmeten Nina und Chrissie aus.

„Ach so~, wir haben jetzt schon gedacht, dass das ein Problem wäre.“, kam von Nina.

Sie nahmen das Laufen wieder auf, Megumi sagte ihnen nicht wohin sie gingen, aber das war auch nicht nötig. Sie würde schon wissen, wo sie hin mussten.

„Es ist kein Problem, aber umso mehr staune ich, dass Gackt euch einfach so mitgenommen hat.“

„Hm, You hat auch schon mal angedeutet, dass man uns auch für älter halten könnte…“

Gleichgültig verwarf Chrissie den Gedanken daran, sie liefen inzwischen in einer ganzen Traube von Menschen und um sie herum wurde es turbulenter, was stattdessen ihre Aufmerksamkeit erregte. Inmitten von so vielen Menschen und umringt von beeindruckenden Hochhäusern, konnte man sich schnell noch kleiner und unbedeutender als ohnehin fühlen.

„Wo gehen wir denn eigentlich einkaufen?“, fragte Nina nach einer Weile, als sie einen Laden nach dem nächsten und praktisch jedes Einkaufszentrum vorbei ziehen ließen.

„Wir gehen in ein Viertel, in dem es leichter ist ungestört einzukaufen, weil man dort mehr unter sich ist.“

Mehr unter sich? Was meinte die schlanke Prominentenfrau damit? Chrissie hakte sich bei Nina unter und so liefen sie eine Weile schweigend hinter Megumi her.

„Ihr seid so still, habt ihr keine Lust einzukaufen?“

„Doch, doch! Wir wüssten nur nicht, was wir jetzt erzählen könnten…“, erwiderte die Zierlichere.

„Also mir fallen da eine ganze Menge Dinge ein, die ich über euch gern erfahren würde! Mein Mann mag mir viel erzählt haben, aber bestimmt nicht alles. Es stimmt doch, dass ihr über Manga und Anime zu Japan kamt, oder?“

„Ja und damit auch zur Musik, die seither unser ständiger Begleiter ist.“, antwortete Chrissie erneut für sie beide.

„Und was habt ihr sonst noch für Interessen?“

Sie bogen um einen Häuserblock herum, dort waren nur noch vereinzelt Leute die ihnen entgegen kamen und allesamt waren edel angezogen oder trugen trügerische Sonnebrillen auf ihren Nasen vor sich her. Sie ahnten, dass sie Megumis Ziel näher kamen. Chrissie seufzte augenrollend, als Nina ihr einen auffordernden Klaps ins Kreuz gab, damit diese die Frage endlich beantwortete. Die Japanerin kicherte heimlich.

„Also ich lese sehr gerne. Gemischte Sachen, meistens Fantasy-Romane und Fanfictions. Manchmal schreibe ich auch ein bisschen. Ansonsten sitze ich viel an meinem PC oder spiele Ninas Muse und Beraterin.“

Megumi verzog ihre hübsch gezupften Augenbrauen zu einer Frage auf ihrer Stirn. Nina sah verlegen zu Boden und hoffte, dass sie auch diesmal drum herum kommen würde damit rausrücken zu müssen, was für Fanfictions sie in jüngster Zeit geschrieben hatte.

„Ich lese auch ziemlich gerne, zeichne viel in meiner Freizeit, widme mich aber vor allem meiner Schreiberei von Fanfics oder eigenen Geschichten.“

Die 32-jährige nickte nur absegnend.

„Und sonst? Macht ihr nichts anderes?“

„Eher nicht, wir sind weder Partygänger noch haben wir einen großen Freundeskreis.“

„Verstehe… ihr seid lieber unter euch, nicht wahr?“

Sie lächelten einander an, die Größere zog ihre Freundin in einer freundschaftlichen Geste zu sich heran und drückte sie kurz liebevoll.
 

Auf ihrem weiteren Weg durch die angenehme Vormittagswärme unterhielten sie sich mit Megumi ein wenig über das, was sie beide zu Freundinnen gemacht hatte. Das Gespräch half ihnen allen noch etwas mehr aus sich herauszukommen und lockerer zu werden. Hydes Frau machte es ihnen dabei sehr einfach, sie hörte aufrichtig zu und immerzu lächelte oder lachte sie, wenn Chrissie und Nina wieder einen ihrer berüchtigten, gespielt zickigen Wortwechsel hatten. Diese Frau war eine echte Frohnatur und wirkte viel jünger, als sie war.

„Ihr seid wirklich witzig, ich fange an zu begreifen, was Gackt und Hyde so anziehend an euch finden.“

Das Wort “Anziehend“ zauberte den Mädchen ein verlegendes Lächeln und einen Hauch von Rosa ins Gesicht. Natürlich waren sie sich im Klaren darüber, dass Megumi das anders meinte, als wie man es noch verstehen konnte, aber der Gedanke an die andere Bedeutung trat wie von allein in ihre verrückten Köpfe. Ihre Gastgeberin deutete ihre Reaktion als Scham über das vermeintliche Kompliment, was bis zu einem gewissen Grad ja auch stimmte, und blieb dann vor einem Drehtüreingang stehen.

„So, jetzt gehen wir einkaufen und ein wenig Bummeln!“, kündigte sie vergnügt an und lief durch die rotierenden Glastüren.

Hinter der Drehtür verbarg sich eine Einkaufsstraße der gehobeneren Art, ebenerdig waren eine Vielzahl von Läden angereiht, die alle nicht danach aussahen, als könnte ein Ottonormalverbraucher mit Durchschnittsgehalt in ihnen verkehren. Beklommen schluckten Nina und Chrissie einen Kloß hinunter. Sie kamen sich schrecklich underdressed vor in ihren einfachen Shirts und in den Jeans, aber da Megumi nicht viel anderes herumlief, rissen sie sich zusammen und versuchten nicht wie neugierige Touristen die Menschen um sich herum anzustarren.

„Schaut euch ruhig die Schaufenster an, der Lebensmittelmarkt ist erst ganz am Ende der Passage.“, ermutigte Megumi sie freundlich und machte selbst den Anfang, indem sie hier und da mal kurz stehenblieb und schwelgte.

„Oh, schau mal Nina! Die Klamotten sind doch chic, oder?“, rief Chrissie ihre dunkelhaarige Freundin herbei und deutete auf ein paar Schaufensterpuppen.

„Oha, ja, die Preise sind genauso ansehnlich.“, entgegnete Nina nur ernüchtert, ihr Blick war direkt auf die kleinen Schilder gefallen.

So als hätte Chrissie sich die Finger an der Scheibe verbrennen können, zog sie sich erschrocken zurück. Verdutzt blinzelte Megumi sie an. Die Sachen im Schaufenster waren alle ziemlich westlich, die Auswahl unterschied sich doch deutlich von der bei dem C&A, in dem sie gewesen waren. Auch die Materialien waren hochwertiger, da war von ägyptischer Baumwolle über Seide und Cashmeere alles irgendwie vertreten. Die erschreckend hohen Preise waren nicht so hoch wie in einer Boutique oder wenn man Labels wie Prada einkaufen würde, aber an Läden wie P&C kam es schon nah heran.

„Die Preise sind hier normal, das ist eine Einkaufstraße in der vor allem Prominente ab und an mal einkaufen gehen, einfach weil man weniger von Fans behelligt wird und natürlich ist es für den Vermögenden auch eine prima Gelegenheit sein Geld an den Mann zu bringen.“, erkläre Megumi ausführlich, als sie die Blicke ihrer Begleiterinnen verfolgt und gedeutet hatte.

Sie schmunzelte und legte der Kleineren ihre Hand auf die linke Schulter.

„Schaut nicht so, niemand setzt voraus, dass ihr in solchen Läden einkauft, damit Hyde oder ich euch gleichwertig behandeln, also keine bekümmerten Gesichter mehr und weiter geht’s!“

Während sie liefen und auch einige beeindruckende Parfümerien und Juweliere hinter sich ließen, fachte Megumi ihr Gespräch erneut an.

„Unterscheiden sich eure Kleidungsstücke stark von den Hiesigen?“

„Ich würde sagen, das kommt drauf an wo man einkauft… genau wir hier eben auch.“, antwortete Chrissie knapp.

„Sie meint damit, auch wir haben ja Bekleidungsläden mit ganz unterschiedlichen Preisen und von variierender Qualität. Und Enah und ich, wir leisten uns eher Sachen aus der günstigen bis mittleren Preisklasse.“

Sie zupfte dabei demonstrierend am Saum ihres Shirts.

„Letztendlich zählt nicht, was ihr für eure Sachen ausgegeben habt, sondern wie ihr sie tragt und so wie ich das sehe, könnt ihr durchaus selbstbewusst durch Japans Straßen laufen.“

Die Mädels schenkten ihr ein dankbares Lächeln, richteten sich in ihrer Haltung unbewusst gleich etwas auf und liefen sicherer neben Megumi her, der sie nunmehr nicht mehr einfach nur folgten wie dressierte Hunde. Als sie den Supermarkt betraten und sich einen Einkaufswagen gezogen hatten, fühlten sie sich sowohl wohler als auch wie in eine andere Zeit versetzt. Wohler, weil dieser Laden sich nicht wirklich von anderen unterscheid und in eine andere Zeit versetzt, weil es Lebensmittel gab, von denen sie nicht mal wussten, dass sie existieren, geschweige denn, das man so was essen konnte! Und es war auch ein sehr interessantes Gefühl, wenn um einen herum nur Kanjis waren. Ob sich Asiaten in deutschen Supermärkten wohl auch so fühlen würden?

„Verratet mit bitte, was ihr alles gerne esst, damit ich die Möglichkeit habe auch auf eure Bedürfnisse bei den Mahlzeiten einzugehen. Ich würde euch beide nämlich ganz gerne zu den regulären Mahlzeiten immer mit einplanen, ich finde es unheimlich spannend und auch ziemlich lustig mit euch bei Tisch zu reden und Erfahrungen auszutauschen. Außerdem würde ich den Kühlschrank in der Einliegerwohnung auch ganz gerne mit dem Nötigsten bestücken, wenn es euch recht ist.“

„Danke, dass ist sehr lieb von dir!“, freute sich Nina während Chrissie schon mal überlegte, inwiefern sie beide andere Lebensmittel bevorzugten, als die meisten Japaner.

„Also ich denke, so was die großen Mahlzeiten betrifft sind wir nicht wählerisch, wir essen gerne asiatisch!“

Chrissie fiel das Nattô vom Morgen wieder ein, hastig führte sie ihre Rede fort.

„Ano~ vielleicht verzichten wir aber lieber auf exotische, ausgefallene Dinge wie sämtliche Meeresfrüchte außer Fisch und Garnelen, vergorenem Irgendwas, Insektenspezialitäten oder gar Kost aus China, wofür man Haustiere in die Pfanne haut.“

Megumi lachte augenblicklich los, das Gesicht der Rotblonden war köstlich verzerrt bei dem Gedanken an die zweifelhaften Köstlichkeiten, die sich vor ihrem inneren Auge abwechselten.

„Chrissie, hast du nicht grade ein wenig übertrieben?“

Nina kicherte leise und kopfschüttelnd, der Drang ihrer älteren Freundin zur Übertreibung und theatralischem Klang war ihr mehr als bekannt.

„In Ordnung, ihr Lieben. Keine Experimente in meiner Küche für die nächste Woche, verstanden.“

Hydes Frau salutierte Spaßes halber und schob dann ihren Einkaufwagen weiter vor sich her.

„Und was wollt ihr Spezielles für euch haben, wenn ihr mal Hunger zwischendurch bekommt?“

Sie wechselten schnelle Blicke untereinander.

„Also bei den Temperaturen ist Obst immer eine gute Sache, ansonsten vielleicht noch Brot und ein bisschen Belag.“, antwortete die Kleinere.

„Au ja und ich würde gerne Milch kaufen, mir fehlt mein Kakao am Morgen und am Abend und ab und zu ein Joghurt wäre einfach traumhaft!“, ergänzte Nina.

Schon wieder guckte Megumi perplex mit ihren großen, braunen Augen in die Runde.

„Ui, ich macht es mir schwerer, als gedacht!“

Sie lachte, aber sie konnten sich den imaginären Tropfen an der Schläfe der schlanken Japanerin lebhaft vorstellen.

„Brot, vor allem so wie ihr als Deutsche es kennt ist in Japan sehr schwer zu bekommen. Wisst ihr, es ist bei uns nicht üblich Brot zu essen, aber es erfreut sich dort wo man es kaufen kann einer hohen Beliebtheit. Ich habe gehört, dass kein Land wie eures so viele Brotsorten hervorbringt.“

Sie lächelten schelmisch und fuhren sich verlegen durch ihre offenen Haare. Ja, was das Brot anging war Deutschland weltweit eine Besonderheit. Nina erinnerte sich an ihre seltenen Urlaube im Ausland, wo es jedes Mal eine Odyssee gewesen war überhaupt irgendwie an das beliebte Getreideprodukt zu kommen, Weißbrot war noch einigermaßen gut zu aufzutreiben, aber dunkles Brot, oder gar welches mit Körnern war anscheinend anderen Nationen fremd und suspekt. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihr der Gedanke kam, dass das glibberige Nattô vielleicht das japanische Brot war. Getreide war das schließlich auch mal gewesen.

„Ihr habt Glück, in diesem Laden hier kann man zwei, drei Sorten Brot wie ihr es kennt kaufen. Milch gibt es hier auch, wir selber trinken sie kaum, wir vertragen sie nicht so gut… so wie die Meisten, die ich kenne.“

Chrissie nickte wissend.

„Ja, ich hab gelesen, dass nur wenige Asiaten Milch vertragen, die Meisten leiden an einer Laktoseintoleranz. Überhaupt sollen nur 25 % der Erdbevölkerung Milch ohne Probleme trinken können!“, erzählte sie.

„Das ist interessant, nicht wahr? Wie kommt es nur, das Europäer damit so viel besser zurecht kommen?“

„Keine Ahnung, wir vertragen ja auch besser Alkohol als Asiaten. Es muss einfach an den Enzymen liegen, die euch fehlen.“, leitete sich Nina her und das wurde zustimmend benickt.

„Na dann packen wir mal zusammen, was wir brauchen!“, schlug Megumi vor und führte sie erklärend durch die Gänge des Supermarktes.

Einen kurzen Schreckmoment verursachte die Tatsache, dass Megumi aus Gewohnheit Hirokis Kinderwagen als Transportmöglichkeit eingeplant hatte, denn sie wollte für ihre Gäste noch eine Stiege Mineralwasser mitnehmen. Chrissie und Nina konnten sie jedoch schnell beruhigen, immer wieder beteuerte Nina, dass sie kräftig genug war einen Sechserträger mit einer Hand bis zu ihrer Wohnung zu tragen. Die Vorstellung von einer derartigen Puckelei behagte ihr zwar nicht, aber allein schon aus Höflichkeit bot sie das an. Sie war robuster als Megumi oder Chrissie und würde das ganz sicher schaffen. Unter immer wiederkehrenden Besorgnisbekundungen ihrer Gastgeberin schlängelten sie sich bis zur Kasse vor und ab da gab es eh kein Zurück mehr. Sie sorgten dafür für ihre eigenen Unkosten weitgehend selbst aufzukommen.
 

„Komm, wenn du schon so schwer tragen musst, dann möchte ich euch jetzt schnell noch zu einem kleinen Mittagessen einladen, bevor wir wieder heimgehen.“

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass die Mittagszeit bereits ihren Lauf genommen hatte, eine warme Mahlzeit war überfällig und solange würden die Lebensmittel in den Tüten schon aushalten können. Die Einkaufspassage war schließlich klimatisiert. Megumi führte sie zu einem schlichten Restaurant nahe des Ausgangs, wo sie sich direkt an einen Tresen setzten, von wo aus sie die Möglichkeit hatten einem Sushimeister auf die Finger zu schauen.

„Ihr mögt doch hoffentlich Sushi?“

„Und wie!“, kam es wie aus einem Mund.

Mit Megumi dort zu sitzen und genüsslich die kleinen Reishappen mit allerlei rohem Fisch zu verzehren, erinnerte die zwei Freundinnen an den Abend in Kyoto, wo Gackt und Hyde sie mit einer großzügigen Sushiplatte zum Abendbrot überrascht hatten.

„Ihr lächelt so verträumt, darf ich fragen, woran ihr denkt?“

„Na ja, wir haben an einem der ersten Abende in Kyoto mit Gackt und Hyde ebenfalls Sushi gegessen.“

Nina gab ihr einen kleinen Stupser gegen die rechte Schulter, Megumi saß links außen.

„Hey, daran hab ich auch eben gedacht!“

Chrissie grinste sie breit an, Nina erwiderte ihre Geste.

„War es schön bei Gackt? Oder vielmehr, habt ihr euch wohl gefühlt dort?“

Während die Blauäugige gelassen nickte, artete es bei ihrer Freundin beinahe in Headbanging aus. Megumi lächelte belustigt.

„Ist es nicht so, dass er einfach ein cooler Typ ist? Ich finde er ist ein lieber, guter Kerl, der definitiv zu viel arbeitet, was meint ihr?“

So wie sie mit ihren Augen in weit entfernte Gegenden abtauchte, erinnerte sie sich wohl an die Erfahrungen, die sie mit ihm gesammelt hatte. Chrissie zuckte mit den Augenbrauen, schluckte einen Bissen herunter und setzte als erstes zu einer Antwort an.

„Er ist sehr gastfreundlich und bemüht. Es war auch oft ziemlich lustig mit ihm und Hyde, aber er kann auch manchmal ein wenig anstrengend sein, wenn er seinen Dickkopf durchsetzen will.“

Chrissie dachte dabei vor allem an die Situation backstage, bei der er sie angemacht hatte, oder an die Sache danach bei ihrer Überraschung in Yokohama. Nicht zuletzt an seine Depression, als sie glaubten, Belle wäre verschwunden. Wobei sie Letzteres noch am ehesten nachvollziehen konnte.

„Aber ja, ich denke auch, dass er ein lieber Typ ist.“, setzte sie noch der Fairness halber hinzu.

Nina schob etwas enttäuscht die Unterlippe vor, sie hatte anscheinend eine etwas andere Meinung von ihm, als ihre beste Freundin.

„Also ich finde, er ist der bewundernswerteste Mann, den ich kenne! Das was er leistet ist unglaublich und dafür arbeitet er weiß Gott härter als er müsste und als es gut für ihn ist. Aber ich ziehe den Hut vor seiner Arbeit und kann einfach nur sagen, dass er mich komplett begeistert, auch wenn ich ihn manchmal in Gedanken dafür ohrfeigen könnte, dass er es regelmäßig übertreibt. Und ich denke, dass das Meiste seiner coolen Art nur Gehabe ist und zu seinem Bild als Künstler passt, er selbst ist viel sensibler als er zugeben würde. Ich fand ihn sehr menschlich und humorvoll!“

„Ey Nina, heb dir das für deine Schreiberei auf, ich sehe schon kleine Engel um deinen Kopf rumschwirren.“, zog Chrissie sie grinsend auf.

„Nina-chan, kann es sein, dass du ein wenig für Gackt schwärmst?“

Ertappt wurde sie hochrot und sah beschämt auf ihr Sushi, Chrissie lachte laut auf und schlug ihr tröstend zwischen die Schultern. Megumi lächelte verständnisvoll und fand Ninas Reaktion einfach nur süß.

„Das muss dir nicht peinlich sein! Ich glaube es gibt keine Frau die sein Fan ist, die ihn nicht wenigstens ein bisschen anhimmelt“

Schüchtern sah Nina sie an, Megumi zwinkerte ihr ermutigend zu.

„Deine Einstellung ihm gegenüber finde ich übrigens großartig! Wenn du so viel Verständnis und Geduld für ihn aufbringen kannst, wie ich nach deiner Rede eben vermute, dann wärst du genau der richtige Umgang für ihn.“

„Nina traut sich sogar an ihm auch mal öffentlich Kritik zu üben, bei seinem Tourfinal in Yokohama, wo er am Ende abgeklappt ist, ist sie total ausgerastet und hat vor sich hingeflucht, wie verantwortungslos er sich selbst gegenüber agiert.“

»Oh Chrissie, wenn du wüsstest, was ich außer dem noch für ein eingehendes Gespräch mit ihm hatte…«, dachte Nina heimlich für sich und suchte sich ein Versteck hinter ihren Stäbchen vor weiteren Erinnerungsfetzen ihrer Freundin, die sie in Verlegenheit bringen konnten. Davon gab es schließlich Einige!

„Tatsächlich? Aber so wie ich dich einschätze, bist du bestimmt auch ziemlich temperamentvoll. Irgendwas muss ja dran sein an den roten Haaren und wenn ich mich an Hydes Erzählungen erinnere, warst vor allem du oft als schlagfertige und redegewandte Partei aktiv.“

Nervös schob Chrissie ein Sushi vor sich auf dem Teller hin und her und warf sich unbewusst die angesprochenen, rotgoldenen Wellen wieder über die Schulter zurück.

„Das täuscht, ihr loses Mundwerk funktioniert nur, wenn ich in der Nähe bin. Alleine würde sie sich das nie trauen.“, revanchierte Nina sich für die erlittenen Peinlichkeiten süffisant grinsend.

Sie kassierte prompt einen glühenden Tötungsblick.

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen, vielleicht muss Enah-chan nur vertrauter mit ihren Gesprächspartnern sein um ganz aus sich herauszukommen. Wie ist es denn bei dir, wen bevorzugst du denn? Auch Gackt, oder eher Hyde?“

Chrissies anfängliche Dankbarkeit für Megumis Mutmaßung über ihre Zurückhaltung anderen gegenüber schlug direkt in peinlich berührtes Schweigen um. Verlegen schlug sie die Augen nieder und suchte nach den richtigen Worten. Die Frau ihres vermeintlichen Lieblings kicherte leise.

„Ich kann damit umgehen, wenn du mir sagst, dass du eher ein Fan von meinem Mann bist. Glaub mir, ich bin das gewöhnt! Tagtäglich bekommt er sogar Liebesbriefe von wildfremden Fans in denen manchmal sogar drinsteht, dass sie so gar nicht verstehen können, wie Hyde nur mit mir verheiratet sein kann! Da macht es mir wirklich nichts aus, wenn ich von dir weiß, dass du ihn Gackt vorziehen würdest.“

Ihr Lachen klang weder bitter noch genervt, tatsächlich schien sie es vollkommen kalt zu lassen, also lockerte sich die Situation schnell wieder auf und man konnte sich Themen widmen, wie was ihre Lieblingslieder waren oder worüber Frauen unter sich sonst noch so sprachen.
 

In ihrem anregenden Gespräch über zwei ganz bestimmte Männer und deren Vorzüge und Macken, hatten sie glatt die Zeit vergessen. Mit großzügigen Schritten legten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, beladen mit den Tüten vom Einkauf. Das Meiste waren leichte Sachen wie Gemüse oder eine Vielzahl an asiatischen Nudeln und Gewürzen, auch neuen Reis hatten sie gekauft und sogar die gewünschten, typisch deutschen Lebensmittel hatten sie dabei. Nur die arme Nina triefte in der Nachmittagshitze und ächzte leise vor sich her, als sie versuchte trotz pochender Finger durch das Gewicht des Wasserträgers Schritt zu halten. Tapfer und unter gelegentlichen Anfeuerungen ihrer gut gelaunten Freundin biss sie sich bis zum Wohnhaus und dem erlösenden Fahrstuhl durch. Als sie das schwere Wasser endlich abstellen konnte, hatte sie das Gefühl, dass sich ihre Bandscheiben entspannten und sie direkt wieder einen Zentimeter größer war. Die Fahrt nach oben war durch die Erleichterung, endlich angekommen zu sein, nur noch halb so schlimm.

Tadaima! Hyde, Hiroki, wir sind wieder zuhause!“, rief Megumi fröhlich in die große Wohnung hinein, als sie der Fahrstuhl in ihrem Rücken wieder schloss und sie alles ablegten, was sie im Moment nicht brauchten.

„Hyde? Hiro-chan?“, wiederholte sie noch ein Mal, als sie keine Antwort bekommen hatte.

Überhaupt war es ziemlich still in der Wohnung, misstrauisch prüfte die Frau des Hauses die Uhrzeit auf ihrer Armbanduhr. Es war Nachmittag geworden, ihr Sohn musste also theoretisch wach sein und irgendwo spielend seine Zeit verbringen, zwangsläufig in Gesellschaft seines Vaters.

„Wir stellen erstmal den Einkauf in die Küche.“

Sie lief anführend voran. Als sie in den Wohnbereich traten, verharrte Megumi auf dem übergroßen Läufer und betrachtete den Couchtisch zu ihrer Rechten. Auch die Mädchen schauten sich das kleine Chaos an, das sich ihnen bot. Auf der Tischplatte lagen ein paar Bögen Papier, teils bekritzelt, andere blank und unbenutzt. Bekritzelt war auch nicht der richtige Ausdruck, es waren unvollendete Schwarzweißzeichnungen, die sie aus der Ferne nicht näher erkennen konnten. Links auf dem Esstisch stand noch Geschirr vom Mittagessen herum, die andere Hälfte stand auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Kaum hörbar grummelte Megumi leise und seufzte. Als sie die Tüten abgestellt hatten, überflog sie wieder das kleine Chaos, gezielt lief sie am Esstisch vorbei und schob mit einem Handgriff die losen Blätter auf dem Couchtisch zusammen. Stumm und irritiert beobachteten Chrissie und Nina sie.

„Das sieht nicht so aus, als ob mein lieber Gatte sich wie versprochen ausgeruht hätte.“, sagte Megumi schließlich in die Stille hinein, den Stapel weißer Blätter an ihre Brust gedrückt.

Da geschah etwas in ihrer nachdenklichen Miene, das fast aussah wie eine Erleuchtung. Sie lief davon in Richtung Flur, ihre Gäste folgten ihr hastig. Rechts um die Ecke stand sie vor der ersten Tür und lauschte vorsichtig, es war der Raum, den Hyde ihnen beiden als sein Arbeitszimmer beschrieben hatte. Megumi klopfte nicht an, es war als wüsste sie, dass niemand sie hören würde, selbst wenn sie es getan hätte. Durch den Türspalt, der sich auftat als sie die Türklinke runterdrückte, drangen Klänge einer Akustikgitarre heraus. Ein stummes “Oh!“ entfuhr den Freundinnen, die fließenden, ruhigen Klängen ergaben nach wenigen Akkorden eine unbekannte, ruhige Melodie. Nina war überfragt, sie erkannte den Song einfach nicht, auch bei Chrissie blieb eine wegweisende Reaktion aus, es musste sich um eine Neukomposition handeln, denn die Rotblonde würde fast jedes Lied von ihm oder L’arc~en~Ciel im Schlaf erkennen. Megumi öffnete die Tür ganz, jetzt sah man auch, wieso man vorher von der Musik nichts gehört hatte, denn die Wände waren mit einer speziellen Wandverkleidung schalldicht gemacht worden. Links an der Wand erstreckte sich ein langes, schmales und offenes Bord mit vielen Büchern und Tonträgern. Darüber hingen eingerahmte CDs, Poster und Fotos. Geradezu standen einige Gitarren, was rechts war konnte man nicht direkt sehen. Megumi wand sich zu ihnen um und winkte sie heran. Als sie um die Tür herum schmulten sahen sie neben ihr einen Schreibtisch mit einem Laptop drauf, an der rechten Wand stand eine Liege, die unausgeklappt wohl eine Schlafcouch darstellte. Und genau auf dieser Couch saßen Hyde und Hiroki. Der Kleine blätterte in einem Bilderbuch mit dicken Kartonseiten und sein Kopf wackelte halbwegs rhythmisch zu Hydes Musik und Gesang, der ihm im Schneidersitz gegenüber saß. Sie beide schienen noch gar nicht gemerkt zu haben, dass sie längst Zuschauer hatten, die geradezu entzückt von diesem Anblick waren. Ein natürlicher, weiblicher Impuls rührte sich in den drei Frauen. Egal ob selbst Mutter oder nicht, wer von so einem Mann und Vater nicht bedingungslos angetan und hingerissen war, konnte nicht richtig im Kopf sein! Hydes Stimme verstummte und mit Auflegen seiner Hand auf die Saiten brach auch das Nachhallen der Gitarre ab.

„Es ist unhöflich andere Leute zu belauschen.“

Keck warf er ihnen von unten nach oben einen schelmischen Blick und ein herausforderndes Lächeln zu. Auch seine Zunge konnte er wie üblich nicht da lassen, wo sie hingehörte. Er hatte also doch gemerkt, dass sie gekommen waren.

„Mama!“, freute sich Hiroki überschwänglich und kletterte von der Liege herunter, mit ausgestreckten Armen lief er seiner Mutter entgegen und kuschelte sich an ihren Hals, nachdem sie ihn hochgehoben hatte.

„Na mein Schätzchen, war es lustig mit Papa?“

Der Kleine nickte süß lächelnd und zeigte mit seinem linken Zeigefinger zurück auf die Schlafcouch, von der sich sein Vater gerade erhob.

„Buch!“, sagte er fröhlich, dann sah er zu wie sein Papa seine Gitarre wieder an die Wand zu den anderen stellte.

„Papa ’sik!“

Musik, Hiro-chan, es heißt Musik. Papa hat für dich Musik gemacht, stimmt’s?“

„Das Beste hast du verpasst, am Anfang haben wir noch gemeinsam auf der Gitarre gespielt, nur einer von uns beiden muss definitiv noch an seinem Stil arbeiten.“

Megumi warf Hyde einen schiefen, ermahnenden Blick zu.

„Hatte ich dir nicht ausdrückliches Arbeitsverbot erteilt, mein Lieber?“

„Behauptest du etwa, ich hätte mich nicht daran gehalten?“

Gespielte Entrüstung lag in seiner Stimme, er machte auch übertrieben große, entsetzte Augen, Megumi rollte daraufhin mit ihren Eigenen und ihre beiden Gäste kicherten leise.

„Nun ja, das kommt drauf an, als was du das hier bezeichnen würdest.“

Sie drückte ihm prompt den Stapel Papier in die Hände, den sie noch immer mit sich rumschleppte. Schuldbewusst überflogen Hydes Augen die oberste Seite, er grinste verschmitzt.

„Und Musizieren im Arbeitszimmer gilt bei mir auch als Arbeit.“

„Aber Megumi, Musik ist gut für die Entwicklung eines kindlichen Gehirns, soll ich das unserem Sohn vorenthalten, wo er es doch so genießt?“

„Oh Haido~, warum nur konnte die Musik dir nicht deine Flausen aus dem Kopf treiben oder wenigstens deine Ausreden glaubhafter machen?“

„Ich habe auch wirklich nicht zu viel gemacht und habe mich gut erholen können!“, verteidigte sich der angeklagte Sänger vehement und tauschte einen funkelnden Blick mit seiner Frau nach dem anderen.

„Das glaube ich dir auch, ich habe unseren Esstisch gesehen.“

Hyde hatte verloren und weil er das wusste, biss er sich kurz ergebend lächelnd auf die Unterlippe. Sie verließen das Arbeitszimmer, Megumi setzte ihren Sohn zu seinen Spielsachen im Wohnzimmer und widmete sich dann dem Verräumen der Einkäufe, während Hyde sich ohne Aufforderung seinem zurückgelassenen Geschirr zuwendete.

„Hattet ihr denn eine schöne Zeit zu dritt?“, fragte er neugierig nach und versuchte vorab eine Antwort aus den Gesichtern von Chrissie und Nina abzulesen.

Etwas unbeholfen standen sie in der Nähe des Tresens und beobachteten, wie Megumi das eingekaufte Gemüse abwusch, bevor sie es sorgfältig im Kühlschrank verwarte, direkt in Obstschalen oder auf der Arbeitsfläche verteilte.

„Es war sehr unterhaltsam unterwegs und vor allem sehr interessant und aufschlussreich! Stell dir vor, ich habe tatsächlich richtiges Brot und Milch eingekauft! Und überhaupt, wir haben über die unterschiedlichten Dinge unterhalten, wahrscheinlich würden wir noch immer plaudernd unterwegs sein, aber du siehst ja, die Zeit rennt und jetzt ist es schon bald wieder Abend.“

Megumi strahlte richtig, also musste sie wirklich ihren Spaß gehabt haben. Zufrieden rieb er sich die Hände, er wusste doch, dass die beiden Ausländerinnen ein Zugewinn als Gesellschafterinnen für seine Frau waren.

„Entschuldigt bitte, ich würde gern eine Weile in der Einliegerwohnung verschwinden, ich bin noch ganz verschwitzt vom Tragen und möchte mich deswegen frisch machen.“, lenkte Nina kurz vom Thema ab.

„Ach Gott, ja das habe ich schon ganz vergessen. Natürlich, geh nur! Nina hat die Getränke für sie beide ganz allein getragen, Hyde. Wo wir gerade bei frisch machen sind, ich würde eure Sachen die ihr mit in den Urlaub genommen habt durchwaschen, wenn da Bedarf besteht. Eure Reisetaschen sind für einen zweiwöchigen Urlaub recht klein, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass da genug Wechselwäsche hineinpasst.“

Innerlich riefen sie ein seliges Hallelujah aus, Chrissie nickte dankbar.

„Das wäre fantastisch, wir hatten uns nämlich schon überlegt, wo wir in der Nähe vielleicht einen Waschsalon finden könnten.“

„Dann begleite Nina-chan doch direkt und leg mir einfach alles raus, was gewaschen werden muss. Ich werfe dann direkt eine Waschmaschine an, dann ist morgen alles schon wieder sauber und trocken.“

Hydes Frau war wirklich eine Perle, ihre Fürsorge brachte sie beide dazu sich zu fragen, ob sie später dem richtigen Mann auch so eine tolle Partnerin sein würden.

„Danke, das mach ich. Ich wollte eh noch mal die Reiseveranstaltung anrufen, wegen der Sache mit dem Rückflug. Bis gleich dann.“

„Bis gleich!“, riefen Megumi und Hyde ihnen hinterher.
 

Umsichtig hatten sie gleich noch die eine Tüte mit ihren eigenen, speziellen Lebensmitteln und die Wasserflaschen in die kleine Wohnung mitgenommen. Nina rauschte angeekelt vor sich selbst ins Bad und Chrissie räumte das wenige Essen weg. Dann nahm sie ihr Handy zur Hand und führte endlich das aufgeschobene Gespräch vom Morgen.

Als Nina erfrischt zurückkam hatte sie ihre Haare im Nacken zu einem losen Knoten hochgebunden und sich den Pony mit zwei Haarklemmen zur Seite gesteckt. Ihre rothaarige Freundin war da bereits fertig mit ihrem Telefonat.

„Ninchen, ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht.“

Ihr bedröppelter Gesichtsausdruck mit der vorgeschobenen Unterlippe, den Hundewelpenaugen und die Art, wie sie ihren Kopf zwischen ihre angehobenen Schultern sinken lies, erschreckten die Größere einen Augenblick lang, doch was sie davon halten sollte würde sie wohl nur erfahren, wenn Chrissie es ihr erzählte. Sie wartete mit verschränkten Armen ab.

„Ich fange mit der Guten an, ok? Also ich habe das Reisebüro erreicht und tatsächlich ist es möglich, dass wir vom Narita Flughafen hier in Tokyo unsere Heimreise antreten und nicht erst zurück nach Kyoto, beziehungsweise Osaka dafür müssen.“

„Ok, das klingt ja ganz gut… und die schlechte Nachricht?“

„Wegen der Kurzfristigkeit und den Zusatzkosten durch die Umbuchung des Flugs etc., müssen wir schon Freitagabend fliegen und nicht erst am Samstagmorgen.“

Nina klappte der Mund auf.

„Wir verlieren also einen halben Tag???“

Chrissie nickte seufzend und entspannte ihre Haltung wieder.

„Aber es macht eigentlich keinen Unterschied ob wir nun schon Freitagabend wieder nach Kyoto fahren um auf unseren Flug zu warten, oder ob wir einfach entspannt die letzten Tage hier genießen und dann Freitag ohne Stress von hier aus in den Flieger steigen.“

Da musste sie ihrer älteren Freundin Recht geben, trotzdem war es ein deprimierendes Gefühl. Ihnen blieben jetzt also noch sechs Nächte in ihrem Lieblingsland, in dem sich in den letzten Tagen ihre unglaublichsten Träume erfüllt hatten. Mit Schwermut dachte Nina an die Zeit mit Gackt zurück und bedauerte zutiefst, dass sie die Erinnerung daran nicht wie einen Film abspeichern konnte. Jede Stunde hier in Tokyo bei Hyde und seiner Familie, so schön das auch war, vernebelte das Erlebte der vergangenen Woche Stück für Stück mehr. Sie ahnte nicht, dass die neue Organisation ihrer Zeit auch in Chrissie etwas schmerzvoll bewegte. Nur war sie sich selbst noch nicht mal im Ansatz darüber im Klaren, woran das genau lag und das unangenehme Pieksen in ihrer Magengegend war auch noch nicht präsent genug, um darüber mit ihrer besten Freundin zu reden, geschweige denn ernsthaft darüber nachzudenken.

Gestrafft gesellten sie sich wieder zu Megumi in den Küchenbereich, sie hatten zwei Beutel mit Schmutzwäsche bei sich, die sie zuvor aus ihren Reisetaschen gezückt hatten.

„Wo hast du denn Hyde gelassen?“, fragte Chrissie neugierig.

„Er ist mit Hiroki im Kinderzimmer, dort spielen sie wahrscheinlich jetzt noch ein wenig, bevor das Abendessen dann fertig ist. Dem Kleinen wird hier im Wohnzimmer immer so schnell langweilig, aber ich hab es nicht gern, wenn dann alles hierher getragen wird, wo er doch ein Kinderzimmer für sich hat. Normalerweise spielt er natürlich trotzdem hier, denn er ist noch zu klein um ganz allein für sich zu sein. Jetzt wo Hyde hier ist, ist es natürlich einfacher für mich und ich kann in Ruhe kochen.“

Nina sah ihr neugierig auf die Finger.

„Was genau kochst du denn?“, fragte sie interessiert.

„Ramen nach Shoyo-Art, eines von Hydes Lieblingsgerichten, damit er für morgen auch richtig gestärkt ist.“

Ramen! Da lief auch ihnen das Wasser im Munde zusammen!

„Kann ich dir helfen? Oder zumindest zusehen? Bitte, ich koche selber sehr gerne und ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ich das Wissen um die Zubereitung von echten, japanischen Ramen mit nach Hause nehmen könnte!“

Megumi war überrascht, aber fühlte sich geschmeichelt und freute sich, dass Nina so viel Interesse zeigte.

„Warum nicht? Du kannst mir gerne ein wenig helfen und dir was abschauen, vielleicht bringst du mir ja auch ein, zwei deutsche Gerichte bei? Sich beim gemeinsamen Kochen zu unterhalten vertreibt auch die Zeit sehr gut.“

Aufgeregt klatschte Nina ihre Hände zusammen und wusch sie sich noch mal vorsorglich an der Spüle.

„Und was soll ich solange machen?“, fragte Chrissie, die sich ein wenig übergangen und überflüssig fühlte.

„Wenn du möchtest kannst du auch mitmachen.“, lud ihre Gastgeberin sie ein.

Ihre blauen Augen überflogen flüchtig den Platz um die Kochfläche herum, dann schüttelte sie nur höflich den Kopf.

„Lieber nicht, kochen ist nicht unbedingt meine Stärke und zu viele Köche verderben den Brei… ein deutsches Sprichwort an dem eine Menge dran ist.“

„Na ja… dann bring doch die Beutel mit der Wäsche in den Hauswirtschaftsraum und stell sie einfach vor die Waschmaschine, den Rest erledige ich später.“, ermutigte Megumi sie erneut.

Chrissie fügte sich ohne Widerworte und nahm sich ihrer Aufgabe gewissenhaft an.

»Es war der Raum links neben Hydes Arbeitszimmer, oder?«

In dem Gang zwischen den fünf Türen musste sie sich erst noch einmal darauf besinnen, wo laut Hydes Beschreibung welches Zimmer gewesen war. Ihre Sorge den richtigen Raum nicht auf Anhieb zu finden war jedoch unbegründet. Der Hauswirtschaftraum bestand aus drei Bereichen, die ineinander übergingen. Rechts und geradezu an den Wänden standen Regale in denen allerhand Vorräte und Getränke gelagert wurden. Hier stand auch Hirokis vermeintlicher Buggy drin. Links daneben im mittleren Bereich stand eine Waschmaschine und ein Trockner, die Geräte sahen jedoch so futuristisch aus, dass sie sich kaum traute näher hinzusehen, wie sie wohl funktionierten. An der Wand gegenüber standen angelehnt ein zusammengeklappter Wäscheständer und ein Bügelbrett, in den Hängeschränken darüber standen dann wahrscheinlich die Waschmittel und Wäscheklammern - insofern so was hier Verwendung fand - und das Bügeleisen. Über den Rest dachte sie nicht nach, denn der hinterste Bereich war der Schönste. Die linke Wand hatte wieder diese Typischen Fenster, darunter stand ein kleiner Zweisitzer und auf einem rollfähigen Beistelltisch eine kleine, silberne Anlage. An einer Wand hingen Regale mit ein paar Büchern. Hier herrschten warme, weibliche Farbtöne vor. Chrissie konnte sich gut vorstellen, dass Megumi dieses Zimmer auch mal dazu aufsuchte um ganz für sich zu sein und vielleicht sogar etwas eigener Arbeit nachzugehen. Oder was immer eine japanische Prominentenehefrau tat, die daheim ein Kleinkind großzuziehen hatte.

Nachdem sie genug gesehen hatte wollte sie zurück ins Wohnzimmer, doch Kinderlachen und die verstellte Stimme ihres Lieblingssängers lies sie vor dem Kinderzimmer inne halten. Sie zögerte, ob sie anklopfen sollte, oder lieber übervorsichtig der Privatsphäre wegen einfach planmäßig weiter zurück zu Nina und Megumi gehen sollte. Doch sie war einfach zu neugierig auf das Zimmer des Kleinen und von Hyde allein hatten sie seit ihrer Ankunft auch nicht mehr wirklich was gehabt.

»Anklopfen tut ja nicht weh, ich platze ja nicht gleich herein.«

Ihrem Bauchgefühl folgend klopfte sie einfach an und wartete, was passieren würde.

„Komm doch einfach rein!“, rief Hyde von innen, nervös folgte Chrissie seiner Einladung.

„Ach du bist es, Enah.“

Hätte er das jetzt betont, als wäre er enttäuscht oder gar negativ überrascht gewesen, wäre sie wahrscheinlich auf dem Hacken wieder umgedreht, doch seine schokoladenfarbigen Augen lachten und auch sein Lächeln schien ehrlich.

„Ist denn das Essen schon fertig? Megumi hat doch gerade erst angefangen.“

Wie aus einem tiefen Gedanken erwachend schüttelte Chrissie desorientiert ihr Haupt. Einen Moment lang hatte sie durch den Gedanken an Hydes ausdrucksstarkes Gesicht ihre Umgebung ausgeblendet, auch seinen fragenden Blick, der auf ihr lag.

„Äh, nein, nein! Nina hilft ihr und mir ist jetzt ein wenig langweilig, weil ich da ungern auch noch meine Finger mit reinstecken möchte.“, plapperte sie schnell die Wahrheit herunter und rang um etwas mehr Selbstsicherheit.

Hyde belächelte ihr schüchternes Auftreten liebevoll und winkte sie aus dem Türrahmen heraus und zu sich und seinen Sohn heran. Erst jetzt fiel ihr auf, wie bunt und groß das Kinderzimmer des Kleinen war. Hier lag Kurzfloorteppich und er war Sonnengelb, überall auf dem Boden verteilt lagen große, flauschig aussehende Läufer die aussahen wie bunte Spiralbälle in sämtlichen Farben von Hellgelb bis Dunkelrot. An den Wänden fanden sich in unterschiedlicher Anordnung und Gestaltung Farben wie Grün und Dunkelblau in Streifen wieder. Selbst die hellen Ahornmöbel, in denen fast ausschließlich hochwertiges Spielzeug stand, hatten teilweise farbige Fronten. Das Zimmer war nicht zugestellt, die Möbel die es gab waren funktionell und praktisch ausgesucht worden. Ein paar Kisten, eine große Spielzeugtruhe, kleine Regale für die größeren Spielsachen, ein Wickeltisch und ein dreitüriger Kleiderschrank. Natürlich auch ein Bettchen und das war echt ein Highlight! Anders wie die meisten Kinderbettchen war das hier nicht nur etwas größer, sondern hatte auch einen pastellblauen Himmel, der quer über die gesamte Breite des Betts verlief anstatt nur auf der Kopfseite. In der Mitte am höchsten, zentralen Punkt baumelten zwei kleine, kuschelnde Teddys. Die Wand gegenüber der Tür bestand wieder nur aus Fenstern, die verborgen hinter schwer fallenden, weißen Gardinen lagen. An den Seiten hingen verdunkelnde, dunkelblaue Vorhänge herab die wahrscheinlich zur Schlafenszeit zugezogen wurden. Hier drang noch das meiste Tageslicht hinein, Chrissie vermutete, dass dieses Zimmer Westseitenausrichtung hatte.

„Möchtest du dich zu uns setzten? Man kann nie genug Architekten haben, nicht wahr, Hiroki?“

Chrissie sah Hyde und seinen Sohn in Unmengen an Lego Duplo Steinen sitzen und wenn sie an Unmengen dachte, dann meinte sie MASSEN davon! Gemeinsam hatten sie schon eine halbe Kleinstadt aus Lego-Häusern um sich herum errichtet, Hiroki steckte gerade wieder einen von vielen einsteinigen Türmen zusammen und beachtete sie gar nicht weiter.

„Na klar, gerne.“

Ein wenig unbeholfen setzte sich die schmale Frau im Schneidersitz zu ihnen und nahm ein paar Steine in die Hand, bei denen sie noch grübelte, welche Verwendung sie wohl finden würden.

„Wie ist es, mögt ihr Megumi?“, stellte Hyde aus dem Nichts heraus eine Frage an sie.

„Ja! Sie ist toll, ich hätte sie nur niemals so… locker eingeschätzt.“, antwortete sie und entscheid sich für den Bau einer Lego-Brücke.

„Ist locker gut oder schlecht?“

„Locker ist sehr gut!“, versicherte sie Hyde und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln.

Es machte sie nach wie vor nervös, wenn sie praktisch alleine mit ihm war und er ihr dann immerzu Fragen zu allem Möglichen stellte.

„Dann lass uns doch auch immer ganz locker miteinander umgehen.“

Verdutzt sah sie ihn an. Die Frage, sie ihr ins Gesicht geschrieben stand, war nicht misszuverstehen. Hydes Miene war freundlich, aber sein Blick verriet, dass er meinte, was er sagte.

„Enah, wie kommt es, dass wir immer, wenn wir untereinander sind, ins Stocken geraten mit unserem Gespräch? Ich kann dich ehrlich sehr gut leiden, nur wirst du immer ganz still ohne jemand anders in der Nähe und das verstehe ich gar nicht.“

Chrissie steckte ihre Brücke fertig zusammen und überlegte mit hitzigem Kopf, wie sie Hyde klarmachen sollte, wie es ihr dabei ging, wenn sie zusammen waren.

„Nun… ich bin einfach keine große Rednerin, wenn es um mich allein geht. Wenn man mich nicht speziell fragen würde, dann würde ich wahrscheinlich so gut wie gar nichts von mir erzählen.“

„Aber warum denn? Ich würde gerne mehr über dich wissen, es ist ein seltsames Gefühl, mit der Gewissheit zu leben, dass du und Nina wahrscheinlich viel mehr über mich wisst, als ich über euch.“

Er lachte dabei ganz leise, der Gedanke war wirklich irgendwie komisch, da hatte er Recht. Sie errötete sacht durch seine freundliche Aufforderung doch mehr von sich Preis zu geben.

„Ich mache mich nicht gerne wichtig, schon gar nicht, wenn ich mit jemand wie dir zusammen bin.“

„Mit jemand wie mir, aha.“, wiederholte er mit einem verführerischen, schiefen Lächeln auf den Lippen, seine Augen glänzten hungrig.

Diesen Gesichtsausdruck kannte Chrissie aus Videos, in denen er absichtlich seinen Sexappeal ausspielte um andere in Verlegenheit zu bringen, oder sich verrucht zu geben. Ob das jetzt jedoch beabsichtigt war, blieb fraglich, seine Wirkung auf sie verfehlte er jedoch nicht. Starkes Herzklopfen und ein Kopf in dem alles wirr schwirrte waren die Folgen. Es war ein ähnlich umwerfendes Gefühl wie als sie ihn auf der Bühne in Kyoto gesehen hatte, nur besser, denn jetzt saß er ihr gegenüber.

Ein plötzlicher Trotzanfall Hirokis aufgrund zweier sperriger Legosteine unterbrach die beiden kurzzeitig und sofort war Hyde wieder der kindliche Vater für seinen Sohn. Das gab der Rotblonden einen Moment Zeit sich wieder zu akklimatisieren, doch der Sänger hatte keinesfalls vergessen, wo sie stehengeblieben waren.

„Es ehrt mich, dass du dich so bescheiden gibst, aber das brauchst du nicht. Ich meine es ehrlich wenn ich sage, dass ich mich gerne mit dir unterhalte. Du brauchst dich weder zu schämen noch übertrieben viel Respekt vor mir zu haben oder denken, ich fände uninteressant, was du mir erzählst.“

Er klang aufmunternd und motivierend.

„Du warst unbefangener, als wir uns kennengelernt haben und noch bei Gackt in Kyoto waren. Diese Enah wünsche ich mir auch hier, fühl dich Megumi und mir gegenüber frei, ich hätte euch nicht eingeladen wenn ich mir nicht sicher wäre, dass wir mit eurer lockeren Art zurrecht kommen.“

Das aufmunternde Strahlen, welches sich jetzt über sein Gesicht erstreckte, war so entwaffnend, dass es Chrissie die Sprache verschlug und sie nur ein stumpfsinniges Lächeln hinbekam. Schmachten war sonst nicht so ihre Art, aber sie konnte einfach nicht anders!

„Versprichst du mir, dass du wieder mehr aus dir herauskommst? Und das du dasselbe auch noch mal Nina sagst?“

Sie nickte nur, um ihren Kopf schwebten lauter Wölkchen, die ihr Reaktionsvermögen deutlich einschränkten. Hyde war zufrieden mit dem Ergebnis dieses Gesprächs, er würde schon noch dahinter kommen, warum sich diese junge Frau so schwer dabei tat, sich anderen als ihrer Freundin so ganz zu öffnen. Da machte es Klick bei ihm und eine aufgeschobene Frage drängte sich wieder in sein Bewusstsein.

„Darf ich dir eine Frage stellen?“, begann er vorsichtig herantastend.

Hiroki zwischen ihnen beschäftigte sich derweil destruktiv mit der Lego-Stadt und zerlegte sie langsam aber sicher und unter freudigem Gequietsche in ihre Bestandteile.

„Ja, wie könnte ich jetzt noch nein sagen?“, entgegnete sie belächelnd.

„Das beschäftigt mich jetzt schon eine ganze Weile, du musst aber nicht darauf antworten, wenn du nicht möchtest.“

Dass er so seine Frage anfing machte sie stutzig und ihr Lächeln wurde dünner.

„Was war da zwischen dir und Nina, was dich einst so fertig gemacht hat? Du hast es Gackt gegenüber erwähnt, als du ihm nach dem Tourfinal die Meinung gesagt hast.“

Es war, als würde ein schwerer Stein in ihre Magengrube fallen, schwer ausatmend und mit leerer Miene blickte sie auf die Trümmer der Legobauten. Hyde war erschrocken darüber, wie plötzlich die ganze Wärme und Weichheit aus dem Gesicht seiner Gesprächspartnerin gewichen war, alles an ihr wirkte auf einmal steif und puppenhaft. Gerade als er seine Frage zurücknehmen wollte, begann Chrissie zu antworten.

„Es ist ungefähr zwei Jahre her, aber Nina und ich reden eigentlich nicht darüber. Wir haben alles geklärt und es ist schwer zu erklären… Es kam damals relativ unerwartet als ich mit meiner Großmutter in den Urlaub fliegen wollte… Irgendwas lief in unseren Absprachen und unserer Kommunikation schief, auf jeden Fall hat sie einen Fehler gemacht, der an sich nicht schlimm war, aber danach lief irgendwie plötzlich alles aus dem Ruder, wir gerieten per SMS aneinander und auf einmal stand alles Kopf. Nina war plötzlich nicht mehr meine Freundin und ich hab geglaubt, ich bedeute ihr nichts mehr und sie würde alles ernst meinen…“

Ihre Stimme war immer leiser geworden, einen flehentlichen Blick an Hyde gewandt und er verstand, dass sie dabei nicht weiter ins Detail gehen wollte.

„Danach haben wir uns beide irgendwie unreif verhalten und es kam über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg nicht zu einer persönlichen Aussprache. Irgendwas hat es immer gegeben, das im Weg gestanden hat und ich hab angefangen abzubauen. Ich hatte mein Lachen verloren, ohne Nina erschein mir alles öde und farblos, ich fühlte mich verraten und fallengelassen. Niemand kümmerte es jetzt, wie es mir ging und ich hatte auch keinen Appetit mehr. Alles schmeckte gleich fade, ich hab mich selber einfach verloren. Aber irgendwann war sie wieder da und hat mir praktisch ein Seil zugeworfen. Ich konnte es gar nicht fassen, dass sie selber auch gelitten und mich vermisst hatte, aber es war so. Wir sprachen uns unter etwas erschwerten Bedingungen aus und dann ging es langsam wieder aufwärts. Seither sind wir enger befreundet als zuvor, zu spüren wie sehr wir aneinander hängen hat uns zusammengeschweißt.“

Als sie geendet hatte herrschte erstmal eine trübe Stille. Hyde wusste nicht, was er sagen sollte und Chrissie war sich sicher, dass sie noch nie jemanden annähernd so viel über diese Geschichte preisgegeben hatte, wie ihm. So unangenehm es ihr auch irgendwo war, so froh und erleichtert war sie auch, dass es jetzt raus war und dieses “Geheimnis“ nicht länger zwischen ihnen stand.

„Ist das der Grund, warum du nicht gerne von dir erzählst und dich immer so schlagfertig präsentierst? Das man dir wehtun könnte, wenn du zu viel von dir preisgibst?“

„Ich weiß nicht, darüber habe ich noch nicht nachgedacht… Ich war auch vorher schon irgendwie so, aber vielleicht hat mich das vorsichtiger gemacht, da könntest du Recht haben.“

Etwas verwirrt musterte er sie, noch hatte er nicht in vollem Umfang verstanden, was genau so schlimm an dieser Sache zwischen ihr und Nina gewesen war, dass sie so gelitten hatte und imstande war ihr Wesen zu verändern.

„Wenn das, was Nina damals getan hat so schlimm war, wieso hast du ihr dann verziehen? Warum ist sie dir so wichtig? Ich meine, ich sehe, dass euch beide etwas ganz Festes verbindet, aber ich verstehe es leider irgendwie nicht richtig…“

Er wollte sie nicht weiter mit solchen Fragen belasten, denn er merkte, dass es ihr unangenehm war, doch sie war gewillt ihm zu antworten und setzte wieder an.

„Bevor ich mich mit Nina angefreundet habe führte ich ein langweiliges, normales Leben. Ich richtete mich nach den Regeln meiner Eltern und der Gesellschaft, war wohlerzogen, sittsam, bemühte mich in der Schule und bekam meinen Alltag halt irgendwie rum. Ich hatte halt dieses Hobby, das ich aber mit niemanden geteilt habe, weil es mir unangenehm war mich vor anderen dazu zu bekennen.“

„Du meinst Manga und Anime?“

„Ja, das ist manchmal ein schwieriges Thema Leuten gegenüber die, es nicht verstehen oder Vorurteile dagegen haben. Man wird schnell ausgelacht.“

Chrissie sprach ohne große Betonung und auch ohne Hyde wirklich dabei anzusehen. Sie schweifte mit ihren Augen in die Vergangenheit ab.

„Als Nina und ich durch Zufall entdeckt haben, dass wir genau dieselben Interessen haben und uns gut verstehen, hab ich zum ersten Mal so was wie einen Sinn in allem gesehen. Sie war ein bisschen losgelöster als ich von den ganzen Regeln und Normen, durch sie bin ich mutiger und selbstbewusster geworden. Man könnte auch sagen, dass ich durch sie der Mensch wurde, der ich heute bin. Wir waren ziemlich schnell so eng befreundet, dass das unser Dasein davon bestimmt wurde, wir gaben uns gegenseitig Halt und sie war der erste Mensch, bei dem ich mich anlehnen und auch mal weinen konnte, wenn es mir schlecht ging.“

Sie machte eine Pause um sich zu sammeln, das Thema ging ihr sehr nah, kritisch beäugte Hyde sie, jederzeit bereit das Gespräch zu unterbrechen, wenn sie nicht mehr konnte, doch jetzt nickte er nur verstehend zu jeder ihrer Ausführungen und war gespannt, was ihn erwartete.

„Sie zu verlieren war mein ganz persönlicher, kleiner Untergang. Alles woran ich glaubte, worin meine Überzeugungen lagen, was mich ausmachte hatte ich zum Teil ihr zu verdanken und sie hat mich spüren lassen, dass auch ich ihr wichtig bin… und auf einmal sollte das alles grundlos vorbei sein? Da war ich einfach nicht mehr ich und ich weiß heute, dass es ihr genauso ging. Es war einfach dumm, was da passiert ist und heute spielt das keine Rolle mehr zwischen uns. Es hat uns stärker gemacht, aber mich vielleicht ein kleines bisschen vorsichtiger darin werden lassen, wie ich mich anderen gegenüber gebe und öffne.“

Eine Pause entstand. Das erklärte natürlich einiges, anerkennend sah er sie an und bewunderte die Freundschaft zwischen ihr und Nina jetzt auf eine ganz andere Weise. Chrissies Blick blieb gesenkt, alles war ihr auf einmal so einfach und leicht über die Lippen gegangen und es hatte sich gut und richtig angefühlt.

„Danke, dass du mir das erzählt hast.“

Mutiger sah sie wieder auf und tauschte ein einfaches Lächeln mit ihm.

„Aber das du das nicht sein musst, also so vorsichtig zu sein, solange du hier bist, das weißt du doch, oder?“

»Wenn ich das nicht spüren würde, dann hätte ich dir das alles nicht erzählt. Dir würde ich wahrscheinlich alles erzählen.«

„Ja, klar weiß ich das, danke dafür.“

Es war erschreckend für Chrissie, wie vertrauensselig sie sich ihm gegenüber verhielt, doch er zog sie einfach in seinen Bann und seine natürliche Art machte es ihr unmöglich sein freundliches Verhalten auszuschlagen.

„Hyde? Enah-chan?“, fragte Megumis Stimme hinter der Tür, gefolgt von ihrem neugierigen Gesicht, dass durch einen Türspalt lugte.

Chrissie folgte Hydes Blick, sodass sie sich umdrehte und Megumi lächelnd begrüßte.

„Ach, ihr spielt beide mit Hiroki! Das ist schön, ich wollte nur mal sehen, wo du abgeblieben bist. Das Essen braucht noch ein bisschen, aber vielleicht räumt ihr mit dem Kleinen dann trotzdem langsam zusammen und leistet uns ein bisschen Gesellschaft. In Ordnung?“

„Ja, Meg. Wir kommen gleich.“

Hydes Frau schloss die Tür wieder und Chrissie übermannte ein schlechtes Gewissen. Mit Hyde so vertraut umzugehen und dann auch noch persönliche Gespräche unter vier Augen zu führen, fühlte sich ein wenig anstößig und verkehrt an, wenn man bedachte, dass seine Ehefrau einen Raum weiter war und sein Lieblingsessen kochte. Hyde merkte davon nichts und motivierte seinen Sohn dazu alle Steinchen so schnell sie drei nur konnten zurück in die Kisten zu räumen. Chrissie beteiligte sich eifrig am Geschehen, doch in ihrem Kopf durchlief sie immer wieder derlei Gedanken, die sich um Hyde und ihr Miteinander drehten. Sie wünschte sich, dass die Zeit, die sie hier verbrachten noch länger andauern würde als nur die nächsten sechs Tage, sie wollte die Erinnerungen an alles festhalten. Sie würde nie vergessen, wie er sie anlächelte oder wie stark seine Aura sein konnte, egal ob auf der Bühne oder privat, doch es würde kein Zurück danach geben. Ihr blieb nur das Hier und Jetzt… und da war es wieder, dieses unangenehme Zwicken in der Magengegend.
 

Anmerkung der Autorin:

Ich habe ein Halloween-Special zu "Coming Closer" hochgeladen, zu finden bei meinen Fanfictions ;)

=> Wer gerne weiterhin über Uploads per ENS informiert werden möchte, meldet sich bitte per Kommi/ENS! Ich gehe nicht mehr die Favoritenlisten durch, weil die Resonanz zu gering ist! ^.~



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  SummerRiver
2012-05-08T11:11:03+00:00 08.05.2012 13:11
Soooo... endlich habe ich alles gelesen :)
Ich bin einfach begeistert von deinem Schreibstil.
Es liest sich sehr flüssig.
Die Story selber finde ich einfach umwerfend und Nina und Chrissie erinnern mich total an mich und meine beste Freundin :D
Ich konnte mich echt gut in die Charas herein versetzen und bin echt begeistert!
Einfach mal Danke für diese echt schöne und gelungene FF :)

Beste Grüße
Shinda
Von: abgemeldet
2010-11-25T19:14:58+00:00 25.11.2010 20:14
Bin zwar spät dran, aber jetz hab ich mich endlich dazu aufgerafft, dir noch ein Kommi dazulassen.
Bei anderen Fics mit Haido wird Megumi ja meist ausgeblendet oder als unausstehliche Furie dargestellt, es ist schön, mal etwas anderes zu lesen.
Die Einkaufstour mit Megumi fand ich sehr interessant... Du hast ein paar nette Hintergrundinformationen eingebaut... und Ninas Gackt-schwärmerei ^^ Bis jetzt war wirklich jeder in der Geschichte meint, sie würde gut zu ihm passen. Na wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl ist! XP Gaku wird sich sicher bald wieder blicken lassen.
Am interessantesten finde ich aber die Beziehung zwischen Hyde und Enah. Ein kleiner Einblick in Haidos Gefühlswelt wäre mal ganz nett, ich fürchte nämlich, das Enah trotz aller guten Vorsätze dabei ist, sich ziemlich zu verknallen! XDD
Ach ja, und ich finde es wirklich toll, dass du Natto eingebaut hast! ^^
Armer Haido, der dann alles auffuttern musste! Igittttt! Es schmeckt tatsächlich so, wie du es beschrieben hast! XDDD
Schreib schön brav weiter! ^^
Von:  Gackto_Sama
2010-11-03T00:17:13+00:00 03.11.2010 01:17
Ernst, aber toll. Kann ich sehr gut nachvollziehen, wie die Freundschaft zwischen Enah und Nina ist. Vor allen Dingen hat mir Hyde als liebervoller Vater sehr gut gefallen. Weiter so (vielleicht wieder etwas lustiger) ...
Von: abgemeldet
2010-11-02T22:27:32+00:00 02.11.2010 23:27
Wirklich ein schönes Kapitel. Kann mich den anderen nur anschließen; normalerweise gibt es ja immer was zu lachen in den einzelnen Kapitelchen aber dass dieses mal ernster war....das war richtig gut! v.a. merkt man hier einmal, dass auch zwischen den Freundinnen nicht immer Eitelsonnenschein war.... Freu mich schon auf die nächsten Seiten :)
Von:  Asmodina
2010-11-02T12:56:12+00:00 02.11.2010 13:56
Ich liebe dieses Kapitel^^...Funkenflug!
Von:  -Arisa-
2010-11-02T10:08:10+00:00 02.11.2010 11:08
Ein schönes Kapitel. Es ist ernster wie das zuvor, aber es passt gut. Ich finde es schön, dass die Zwei sich durch das Gespräch irgendwie näher gekommen sind.^^ Obwohl ich es mir auch ziemlich schwierig vorstelle, dadurch dass es ich sag mal Megumi "gibt". Aber Megumi ist wirklich lieb. Ich bin schon gespannt, was die Zwei noch so alles in Tokyo erleben.
Ich freue mich auf das nächste Kapitel.
Grüße
Von: abgemeldet
2010-11-01T13:19:49+00:00 01.11.2010 14:19
Ein wirklich schönes pitelchen.
Es tut gut mal etwas mehr überr die Freundschaft zwischen nina und Enah zu erfahren und den kleinen hast du echt süß beschrieben.



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