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Der Garten des Lebens

Krieg der Engel
von

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Die Ankunft

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und öde, und Finsternis lag auf der Urflut und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.

Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war, und Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und es ward Abend und es ward Morgen: ein erster Tag.

(1.Mos. 1, 1-5)

Prolog: Die Ankunft
 

Wir schreiben das Jahr 2040. Rohstoffe wie Erdöl werden knapp, die Staaten der Welt führen Kriege um die letzten Tropfen, während in den afrikanischen Ländern das Trinkwasser immer verschmutzter wird. Viele Menschen sind bereits an AIDS gestorben, bevor man ein Gegenmittel fand. Englisch ist zur öffentlichen Sprache geworden. Sie wird nun überall gesprochen, während die Muttersprachen in Vergessenheit geraten. Auf dem Mars gibt es bereits eine kleine Kolonie, während auf der Erde die Bevölkerung weiter zunimmt. Das Klonen der ersten Menschen hat begonnen. Man kann nun Erb-Krankheiten heilen. Das Klima hat sich stark verändert. Die Polkappen schmelzen weiter, während Wissenschaftler versprechen etwas dagegen zu unternehmen. Die Kirche und ihre Religion gerät immer mehr in Vergessenheit. Wissenschaft ist nun die neue Religion.

Und in all diesem Chaos steht sie. Eine junge Frau, im alter von gerade mal 15 Jahren. Ihr Name ist...
 

Joannes Blick irrte umher. Auf der Suche nach ihrem Bruder hatte sie sich in den Menschenmassen auf dem Tokyo Airport völlig verlaufen. Nur schwer konnte sie den Flughafen überblicken, obwohl sie sich extra auf eine Bank gestellt hatte, in der Hoffnung um ihn so zu finden. Doch was sie sah, waren lediglich viele dunkle, ab und zu auch blonde Haarschöpfe, die entweder zu Japanern oder Touristen gehörten. Alle diese Menschen waren furchtbar laut. So laut, dass das Dröhnen in ihren Ohren fast unerträglich wurde und sie Mühe hatte sich zu konzentrieren. Somit wäre ich auch beinahe das Piepen ihres Handys entgangen. Sie nahm den leisen Ton nur so schwach war, dass sie im ersten Moment meinte, sie hätte es sich eingebildet. Einzig und allein um sicher zu gehen zog sie das kleine Gerät aus der Brusttasche ihres Hemdes und las die Nachricht:
 

Treffen uns draußen. Hab das Gepäck geholt. Jack
 

Schweigend packte sie es zurück wo sie es her hatte, dann schulterte sie sich ihren Rucksack auf und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die so eng war, das sie kaum noch Luft bekam, ab ins Freie. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, wie eine Gruppe Mädchen ihr hinterher starrte und leise grinste sie in sich hinein.

Sicher, sie war ein Mädchen, schlank und mit blassem, schmalen Gesicht, über dessen linke Wange sich eine dunkle Narbe zog, die sie von einem Unfall hatte. Das hellblonde Haar hatte sie rot gefärbt und kurz geschnitten, so dass es einen Kontrast zu den grünen Augen. Was jedoch nicht so typisch für ein Mädchen war, war die Tatsache, das sie sich die Brust abschnürte und Jungen-Kleidung trug, damit man sie nicht für eines hielt.

Weshalb sie das tat war ihr kleines Geheimnis. Ein Geheimnis von dem nicht ein Jack wusste. Ein Geheimnis, das sie niemals jemandem anvertrauen würde. Derjenige, der es kannte hatte es mit ins Grab genommen und es ihr allein hinterlassen.

Endlich hatte sie es geschafft. Sie war an der großen Eingangstür angelangt und erkannte Jack schon von weitem, wie er ungeduldig wartend in die Menge starrte. Als er sie allerdings kommen sah, legte sich ein breites Grinsen über sein dunkles Gesicht und seine blauen Augen strahlten noch ein wenig heller als sonst. Sein braunes Haar war lang, er trug ein blaues Stirnband. Er trug immer ein Stirnband. Es verdeckte ein wenig die Narbe, welche sich senkrecht über sein rechtes Auge zog. Was es jedoch wirklich verdecken sollte, das war weitaus schlimmer als diese Narbe.

Joanne weigerte sich daran zu denken, auch wenn die Erinnerungen immer wieder hochkamen, sobald sie ihn ansah. Still verscheuchte sie ihre Gedanken.

"Es ist so voll dort drinnen", murmelte sie leise und den Blick noch einmal nach hinten gewandt.

Jack nickte langsam. "Ja... Willkommen in Japan." Mit diesen Worten hievte er zwei der vier schweren Reisetaschen hoch. Es waren seine. Die anderen gehörten zu Joanne. Sie waren schwer, so ziemlich ihr ganzes Hab und Gut befand sich dort drinnen. Nicht viel, wenn man bedachte, das dies alles war, was sie zum Leben benötigte. Ein bisschen Kleidung zwei, drei Bücher, diese und jene Kleinigkeit. Es war ein armseliges Leben, das sie und Jack führte. Es war ein scheiß Leben.

"Machen wir und auf den Weg zu unserer Wohnung", Jack war viel zu erschöpft als das er hätte aufmunternd klingen können. Joanne folgte ihm. Zu Fuß. Ein Taxi konnten sie sich nicht leisten. Alles Geld was sie besaßen war für den Flug nach Japan drauf gegangen. Für ihre Flucht aus Amerika.

Die Stadt

Mein Leben schwindet dahin wie ein Rauch, mein ganzer Körper glüht wie ein Ofen. Meine Lebenskraft verdorrt wie Gras in der Sonnenglut, denn ich kann keinen Bissen mehr anrühren. Ich kann nur noch stöhnen und bin nichts als Haut und Knochen. Ich gleiche dem Vogel in der Wüste, der Eule, die in Ruinen haust. Ich liege wach, ich bin ein Vogel, einsam und allein auf dem Dach.

(Psalm 102, 4-8)
 

Die Wohnung, oder wohl eher das Zimmer, in dem Jack und Joanne von nun an wohnten, lag in dem Keller eines großen Miethauses. Es war feucht und roch moderig und an den schlecht verputzten Wänden bildete sich Schimmel. Der Raum war so klein, das nur ein Bett, welches die beiden Geschwister sich teilten, und einen Schrank platz war. Mehr Luxus konnten sie sich nicht leisten. Dennoch bestand Jack darauf, das sie eine Schule besuchten. Danach würde er arbeiten gehen, während Joanne zu Hause immer schön lernen sollte. Er wollte nicht, dass sie arbeitete, sondern sich ganz auf die Schule konzentrierte. Er meinte, das Geld, welches er verdiente, würde für sie zum Leben reichen.

Joanne hasste die Schule. Sie hasste die Schuluniformen, sie hasste die Schüler, sie hasste das Lernen. Alles in dieser Stadt war ihr zuwider. Die grauen Wolken am Himmel, die stickige Luft, das modrige Zimmer. Nachmittags war sie stets allein, denn Jack arbeitete bis spät in die Nacht. Manchmal blieb sie so lange wach, bis er kam, doch oftmals schlief sie vorher schon ein. Sie war erschöpft und müde. Erschöpft vom Leben und müde von dieser Welt.

Die Nachmittage verbrachte sie auf den Straßen Tokios. Sie unternahm lange Streifzüge mit den Bahnen und erkundete die Gegend. Entdeckte sie einen Stand an dem Burger verkauft wurden, brachte sie Jack welche mit. Er hatte es immer gemocht sie zu essen und es erinnerte sie ein wenig an die alte Heimat. An New York, New Orleans, Chicago, San Francisco, all die Städte in denen sie für kurze Zeit gelebt hatte. An jeder einzelnen hing ein kleines Stück ihrer Erinnerungen.

Mit gerade mal 15 Jahren schon total aufgebraucht fühlen, dachte sie manchmal in einem Anflug von Selbstmitleid, das ist doch echt kein Leben.

Doch sie ahnte nicht, wie sehr sich ihr Leben noch verändern und wie sehr sie sich wieder seine Einfachheit zurückwünschen würde.
 

Alles begann an einem warmen Augusttag. Sie war jetzt seit zwei Monaten in Japan und noch immer hatte sich nichts geändert. Es war ein heißer Nachmittag, sie hockte an einer Brücke irgendwo in der Nähe des Tokioter Hafen. Sie wusste nicht wo genau sie sich befand. Sie hatte etliche U-Bahn-Stationen abgeklappert ehe sie hierher gekommen war. Nun hockte sie auf dem Geländer jener Brücke und starrte nach unten, betrachtete ihr Spiegelbild im schmutzigen Wasser. Sie Sonne schien heiß auf ihr Gesicht und ihr war so warm, das ihr Schweißperlen auf dem Gesicht standen. Dennoch hockte sie unverändert da. Hinter sich den hektischen Feierabendverkehr, vor sich eine Wand aus Wolkenkratzern.

Schweigsam nagte sie an einem kleinen, trocknen Keks, als sie hinter sich plötzlich eine Bewegung wahr nahm. Im Wasser spiegelte sich auf einmal neben dem ihrem, auch das Gesicht eines Mannes. Erschrocken fuhr sie herum.

Er war vielleicht etwas älter als zwanzig und er war hoch gewachsen. Seine schwarzen Augen blickten sie düster an und sein schwarzes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Er schien abgekämpft und erschöpft. Sein blasses Gesicht war schmutzig und blutig. Joanne war entsetzt über den Anblick den der Fremde ihr bot. Hastig sprang sie vom Geländer auf die Straße und umfasste mit der einen Hand seine Schulter. Doch genau in dem Moment, in dem sie ihn berührte geschah etwas seltsames.

Blut, überall Blut, ein Meer von Leichen und weißen und schwarzen Federn. So viele Federn...

Joanne fuhr zurück. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Fremden an, dessen Blicke noch immer unverändert auf ihr hafteten. Ein eigenartiges Gefühl stieg in ihr auf. War es Panik, die sie da erfasste?

Und dann geschah alles sehr schnell. Sie stieß einen langen, schrillen Schrei aus, bäumte sich auf, umklammerte mit den Händen ihren Kopf. Sie wusste nicht was in ihr gefahren war, Sie sah lauter Bilder in ihrem Kopf. Menschen, Blut, Verderben, Krieg... Engel. Wimmernd fiel sie auf die Knie. Er stand direkt vor ihr und sah auf sie herab. Dann streckte er seine Hand nach ihr aus und griff in ihr Haar. Gewaltsam zerrte er sie daran hoch. Sie wusste gar nicht wie ihr geschah. Das einzige was sie jetzt noch wahrnahm war der pochende Schmerz in ihrem Kopf.

Sie konnte genau in seine schwarzen Augen sehen. Schwarze, kalte Augen, Blicke die töten konnten und so eisig waren, das es ihr kalt den Rücken herunterlief. Wer war er? War er der Tod? Der Teufel? Kein Mensch konnte jemand anderen mit so viel Hass und Verachtung ansehen. Und dennoch erkannte sie auch eine tiefe Verbitterung in ihnen.

"Ich kann dir etwas geben, was du von niemanden sonst bekommen kannst", seine Stimme prasselte auf sie herab wie messerscharfe Eiskristalle. "Ich kann dir ein anderes Leben als dieses schenken. Du müsstest mir dafür nur etwas geben..."

Joanne war viel zu sehr verwirrt, als das diese Worte in solch einem Moment für sie einen Sinn ergeben hätten. Sie wich noch mehr zurück. Doch dann riss sie sich aus seinem Bann. Instinktiv trat sie ihm in den Bauch. "Lass mich bloß in Ruhe, du Spinner!", rief sie mit zitternder Stimme und stürmte davon. Sie hastete bis zum Ende der Brücke, sprintete die Straße entlang, an Häusern vorbei, die bis in den Himmel ragten, bis in eine menschenbelebte Einkaufspassage, wo sie nach Luft ringend inne hielt. Zitternd suchte sie Halt an einer Hauswand und ließ sich auf die Knie fallen. Dann erst blickte sie zurück. Menschen, überall Menschen, aber er war nirgends zu sehen.

Das muss ein Teufel gewesen sein!, schoss es ihr durch den Kopf. Teufel, so ein Quatsch! So etwas gab es nur in irgendwelchen seltsamen Horrorfilmen oder in alten Märchen. Aber dies hier war die Reale Welt. Schmutziger und dunkler als in Filmen. Hier gab es keine Teufel.

Sie blieb noch einige Zeit dort hocken, dann machte sie sich auf den Heimweg. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte das Gefühl verfolgt zu werden nicht von sich schütteln. Unsicher sah sich um. In der U-Bahn kam ihr jeder verdächtig vor. Sie fühlte sich unwohl und war mehr als froh, als sie endlich das alte, dunkle Gebäude erreicht hatte, in dem sie und ihr Bruder wohnte. Doch bevor sie die Tür zu ihrer kleinen, schmutzigen Wohnung aufschloss, sah sie sich noch einmal um. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Den Gang entlang, in der hintersten, dunkelsten Ecke, von dort kam es, und es kam näher!

"Wer ist da?", rief sie und war darauf bedacht ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. Doch in ihrem Innersten stieg blanke Panik auf. Er wusste wo sie wohnte! Angstschweiß stand ihr auf die Stirn, sie konnte ihr Herz schlagen hören, während sie beobachtete wie sich aus der Dunkelheit etwas hervorhob. So, als währe das Dunkel selbst Mensch geworden.

Seine Schritte waren leicht als er auf sie zuging. Sein Gesicht war nun nicht mehr schmutzig, sondern ganz sauer und seine Blässe hob es von der Dunkelheit ab. Es war das einzigste was sie von ihm genau erkennen konnte. Der Rest von seinem Körper schien sich mit der Schwärze zu vermischen.

"Du warst ein wirklich böses Mädchen", beschuldigte er sie spöttisch.

Joanne war verwirrt. Er wusste, das sie ein Mädchen war? War ihre Tarnung etwa aufgeflogen. Sie begann zu zittern. Einige Schritte vor ihr kam er zum Stehen. Still blickte er sich um. "Jemand wie du hat ein solches Loch nicht verdient. Dir gebührt ein Palast."

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen um etwas zu entgegnen. "Was wissen sie schon von mir? Wer sind sie überhaupt?"

Als Antwort gab er jedoch nur ein leises Lachen von sich, während er ihr noch ein wenig näher kam, bis er schließlich unmittelbar vor ihr stand. Er überragte Joanne um mehr als eine Haupteslänge, als er mit ihr sprach, beugte er sich zu ihr hinunter. Sein Gesicht war nun ganz nahm an dem ihren. Sie konnte seinen kalten Atem spüren und ihr lief ein Schauer den Rücken hinunter.

"Ich möchte dir etwas vorschlagen." Seine Stimme war nicht mehr, als ein eisig scharfes Flüstern. "Einen Pakt."

Joanne wollte etwas erwidern, doch er legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen. "Nein, sag nichts, warte noch, bis ich fertig bin. Schließe die Augen."

Trotz der Warnungen ihres ganzen Körper konnte sie nicht anders; sie tat wie ihr geheißen. Sie wehrte sich nicht einmal, als er seine kalten Lippen auf die ihren drückte. Sie hatte ja nicht einmal eine Chance dazu, denn in genau diesem Moment, spürte sie, wie ihr Geist in eine andere Welt abdriftete.
 

Da waren Engel! Es waren Scharen von Engeln! Viele von ihnen hatten weiße Flügel, aber manche auch schwarze. Und unter all diesen Engel sah sie ihn. Den Mann aus dem Flur. Wunderschön und stolz schwang er sein blutverschmiertes Schwert, seine schwarzen Flügel schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne, welches Bald diese ganze Grausamkeit dieser Schlacht offenbaren würde.

Er war ein Gefallener. Er war der Gefallene! Luzifer höchstpersönlich. Und trotz dieser Energie-raubenden Schlacht und seines leuchtete sein Antlitz über denen der anderen Engel.

In diesem Moment, in dem die Sonne sie gänzlich über den Horizont geschoben hatte, teilte sie sich die Menge und formte einen Korridor.

Wie geblendet von seinem Licht fuhren die Gefallenen zusammen und hoben die Arme über ihre Augen, um nicht zu erblinden. Doch sein Weg führte an ihnen vorbei, er würdigte sie nicht einen Blickes, denn der, den er wollte, stand am Ende dieses Korridors.

Nun würde der größte Kampf aller Zeiten beginnen. Der Kampf zwischen Luzifer und Michael.
 

Mit einem lauten Schrei fuhr Joanne auf. Sie war schweißgebadet und gleichzeitig zitterte sie noch am ganzen Körper, verschreckt von Bildern, die sie gesehen hatte. Umso erstaunter war sie, als sie sich in ihrem eigenen Bett wiederfand. Um sie herum herrschte die gewohnte, matte Düsterheit, und auf einem Stuhl neben ihrem Bett hockte Jack, die Beine angezogen und eine Tasse heißen Tee in der Hand.

"Na, endlich wieder wach?", mit diesen Worten reichte er ihr die Tasse. Dankend nahm sie sie an.

"Was... was ist passiert", fragte sie unsicher, während sie am heißen Tee nippte.

Jack zuckte die Schultern. "Wenn du das nicht weißt. Kein Ahnung, was passiert ist. Als ich kam, lagst du bewusstlos vor der Tür. Ich hab mich ganz schön erschrocken. Ich hab dich dann ins Bett gebracht."

Der Versuch, sich an das Geschehene zu erinnern, ließ erneut die Bilder des Traumes in ihr auf-steigen... Sie begann zu zittern. Was war das nur für ein seltsamer Traum gewesen, den sie da gehabt hatte. War es denn wirklich nur ein Traum gewesen? Oder eine Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit.

Sie ermahnte sich selbst, nicht solch einen Unsinn zu denken. Eine Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit... wahrscheinlich war sie einfach nur übermüdet gewesen, und die Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt.

Aber was war dann mit dem Mann vor der Wohnungstür. War der denn nicht real gewesen. Er hatte sie doch geküsst. Oder etwa nicht? War er letzen Endes etwa auch ihrer Fantasie entsprungen?

"Du siehst sehr müde aus." Jacks ruhige Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Du solltest mehr schlafen. Vielleicht war das ein Schwächeanfall..."

Still griff Joanne nach Jacks linker Hand, die auf seinem Knie ruhte. "Es ist nicht", erklärte sie mit leiser Stimme. "Mach dir nur keine Sorgen, es geht mir gut... wirklich."

Ihr Bruder seufzte und umfasste ihre kleinere, schmalere Hand etwas fester, während er sich schweigend nach vorn beugte und die Stirn an ihre Schulter lehnte. Sein Stirnband verrutschte dabei leicht und sie konnte flüchtig ein kleines Stück einer dunklen Narbe, unmittelbar neben jener über seinem rechten Auge, erkenne. Doch sie sagte nichts, stattdessen fuhr sie ihm langsam durch sein braunes, weiches Haar und schmiegte ihre Wange an seinen Kopf. Sie konnte seinen Atem spüren, genauso wie die leisen Schläge seines Herzens.

"Ach Jack", murmelte sie leise nach einer langen Zeit des Schweigens, "was soll nur einmal aus uns werden..."

Zur Antwort schüttelte er nur leicht den Kopf.

Joanne begann zu grübeln. Ihr kamen die Erinnerungen an die Worte des Fremden wieder hoch. Dir gebührt ein Palast! Ein Palast, hatte er gesagt. Ob es wohl ernst gemeint war, oder ob er sich nur über sie lustig gemacht hatte? Vorrausgesetzt, es gab ihn überhaupt...

"Jack?" Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauchen.

"Hm?"

"Was würdest du sagen, wenn wir in einem richtigen Palast leben könnten?"

Er richtete sich auf und blickte sie verständnislos durch seine strahlend blauen Augen an. "Wie meinst du das?"

"Na ja, was wäre, wenn wir das könnten? Wäre das nicht toll?"

"Joanne... du musst es mir sagen wenn du Drogen nimmst!"

"Ich nehme keine Drogen!"

"Dann kannst du mir ja vielleicht mal sagen, was das mit dem Palast soll!"

"Das war doch nur so ein Gedanke gewesen!"

Wieder Schweigen.

Beide blickten sich verständnislos an.

Für eine lange Zeit standen sie so da und starrten sich an. Keiner sprach auch nur ein Wort. Schließlich stieß Joanne ein lautes, trauriges Seufzen aus.

"Ach Jack... warum verstehst du mich denn nicht?"

Er antwortete nicht. Er legte unendlich langsam die Arme um sie und zog sie an sich heran.

"Joanne... ich verstehe dich ja... ich verstehe ja, das du dieses Leben nicht willst... wer will ein solches Leben schon? Dunkel und kalt in einem Keller... ich wünschte ich könnte dir etwas besseres bieten... ich bin nutzlos..."

Seine Worte entsetzten sie so sehr, das sie ihn fest an sich drückte. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, während sie erwiderte: "Nein, Jack, das bist du nicht... du bist kein Versager! Du bist der beste Bruder den man sich wünschen kann. Wenn ich dich nicht hätte, ich wüsste nicht was ich tun sollte. Jack! Ohne dich wäre ich verloren! Versprich mir, das wir für immer zusammen bleiben!"

Er nickte leicht. "Ja... für immer..."

So saßen sie lange. Dicht aneinandergedrückt und sich in den Armen haltend. Joanne wünschte sich fest und von ganzem Herzen, das dieser Moment nie vorübergehen würde, sondern das die Zeit für immer stehen bliebe. Doch wurde die friedliche Stimme von einem lauten, unerwarteten Klopfen an der Tür gestört. So stark, das selbst das Bett, auf dem Joanne saß, noch vibrierte. Sie und Jack fuhren erschrocken auf.

"Aufmachen!", klang es dumpf von draußen. Es war eine männliche, zornig klingende Stimme.

Joanne blickte ihren Bruder fragend an. "Wer ist das?", fragte sie flüsternd. Sie wagte es nicht laut zu reden.

Jack antwortete mit einem Kopfschütteln, wobei er die Tür nicht aus den Augen ließ. Das Klopfen brach ab. Es musste sich um mehrere Personen handeln, denn Joanne konnte hören, wie man sich unterhielt. Ihr Bruder drückte sie fest an sich. Und dann ging alles unglaublich schnell:

Ein lauter Knall erklang, der Schuss einer Pistole und die Tür wurde aufgetreten. Während Jack sie ganz fest hielt und ihr die Hände über die Ohren legte, stieß sie einen entsetzten Schrei aus. Entsetzt sah sie wie zwei Männer eintraten. Sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen, doch sie spürte wie ihr plötzlich unglaublich übel wurde. Alles begann sich zu drehen. Da war Jacks Stimme... sie klang laut und wirr. Und die Stimmen der beiden anderen. Zornig. Die Bilder überschlugen sich in ihrem Kopf. Bilder aus der Vergangenheit... verschwommene Bilder, wie von einem kaputten Fotoapparat gemacht. Und dann sackte sie reglos in Jacks Armen zusammen.
 

"Mum, sieh nur, da hinten geht die Sonne unter!" Aufgeregt deutete Joanne vom Wagen aus auf die Berge, die rot vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlt wurden. "Es sieht aus als würden sie brennen!"

Sie fuhr mit ihren Eltern und Jack in dem blauen Mercedes eine abgelegene, nicht mehr sehr gut erhaltene Straße entlang. Sie befanden sich in der Nähe von San Francisco, auf dem Heimweg von Grandma, die sie in ihrem abgelegenem Häuschen zum Kaffeetrinken besucht hatten. Während Dad das Auto mit seiner ruhigen Fahrweise über die Kurvenreiche Straße lenkte, beschäftigte sich Mum mit der fünfjährigen Joanne, denn Jack war bereits eingedöst und saß zusammengesagt hinter dem Beifahrerplatz.

"Du hast recht", erwiderte sie mit ihrem warmen Lächeln, während sie sich die braunen, lockigen Haare aus dem Gesicht strich. "Sie nur Noah, ist es nicht wunderschön?"

Dad wandte für einen kurzen Moment den Blick von der Straße um das wunderschöne Panorama zu betrachten. Als er sich wieder umwandte, stieß er einen entsetzten Schrei aus, riss das Lenkrad herum um den Wagen an das plötzlich auftauchende Hindernis vorbeizusteuern. Der Wagen kam unmittelbar neben der Straße auf dem trockenem, sandigem Boden zum Stehen.

Dad standen Schweißperlen auf der Stirn, Mum betrachtete ihn verwirrt, Joanne war noch viel zu erschrocken um überhaupt irgendeine Reaktion zu zeigen und Jack war noch ganz benommen von seinem Nickerchen.

Auf der Trasse stand ein riesiger Truck. Er stand längs über der Straße und versperrte sie gänzlich. Davor hatten sich einige Männer platziert gehabt, die nun auf das Auto der Familie zukamen.

"Noah", zitternd griff Mum nach der Hand ihres Mannes, welche fest den Knüppel der Gangschaltung umschloss. Sie war ganz kalt.

"Bleib ganz ruhig, Kate." Dad versuchte ruhig zu klingen, doch in seiner Stimme lag ein leiser Hauch von Panik. Doch Mum blieb nicht ruhig. Hastig wandte sie sich um und schrie, mit einer solch schrillen Stimme, wie Joanne sie noch nie von ihr vernommen hatte "Lauft fort Kinder!"

In diesem Moment ein lauter Knall, das Splittern von Glas und ein lauter Schrei von Dad. Das war das erste mal, das Jack und Joanne das Geräusch einer Pistole vernahmen. Kurz darauf ein zweiter Schuss. Dad sackte in seinem Sitz zusammen. Ein erneuter Schuss ließ das Glas der hinteren Tür zerspringen. Glasscherben regneten auf die Kinder nieder.

"Los, Joanne!", brüllte Jack und griff nach seiner kleineren Schwester. "Tun wir was Mum gesagt hat."

"Aber Mum und Dad", schrei Joanne und wehrte sich gegen ihren Bruder, der sie aus dem Wagen zerren wollte.

"Sie sind tot, Joanne!"

Joanne spürte einen glühend heißen Schmerz auf ihrer linken Wange und sie sah, das Jack über dem rechten Augen stark blutete, aber das einzigste, was sie wahrnahm, waren nur noch die Worte "Sie sind tot, Joanne!"
 

Sie sind tot...

NEIN!

"Nein!!"

Schwer atmend richtete Joanne sich auf, eine weiße Baumwolldecke fest umklammernd und schweißgebadet hockte sie da, in einem fremden Bett, in einem fremden Raum. Verwirrt sah sie sich um. Wo zum Teufel war sie hier? Es war ein weißer, steriler Raum in dem sie sich befand. Karg eingerichtet mit einem Nachttisch, dem Bett in dem sie lag und einer Lampe. An der weißen Wand lehnte ein schwarz gekleideter Mann der sie aus dunklen Augen anblickte. Nur sie anblickte und schließlich mit tiefer Stimme sprach: "Bist du schließlich doch aufgewacht, Joanne."

Der Pakt

Joanne wäre beinahe das Herz vor Schreck stehen geblieben, doch bei näherem Hinsehen, erkannte, das es sich nicht um den eigenartigen Fremden handelte, auch wenn dieser Mann hier große Ähnlichkeit mit ihm hatte. Doch er sah eher aus wie ein Japaner, er war kleiner, seine Haare waren lang und zu einem Zopf zusammengebunden, nur einige Strähnchen hingen ihm wirr ins düsterblickende Gesicht. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte er an der Wand und blickte Joanne mit bohrenden Blicken an, so das ihr fröstelte.

"Wo bin ich? Wer sind die? Was mache ich hier? Und woher wissen sie überhaupt das ich...", sie stockte. Woher wusste er ihren wahren Namen? Sie hatte keine Papiere bei sich gehabt. Außerdem war sie hier unter dem Namen Jo Winselt angemeldet.

Er antwortete nicht. Schweigend betrachtete er sie durch seine schwarzen Augen, so das es ihr kalt den Rücken herunterlief.

"Sagen sie mir bitte wer sie sind..." Es war ein Gefühl kalter Panik das Joanne erfasste, als sie ihn nahezu flehend nach seinem Namen fragte. Ihr Finger krallten sich noch einen kleinen wenig fester in die Decke und ihre Nackenhaare stellten sich auf.

"Wieso ist das so wichtig für dich, wer ich bin?" Er lächelte leicht, während er diese Frage stellte. Immer noch lehnte er unverändert an der Wand, starr den Blick auf sie gerichtet. Mit dunklen Augen durchbohrte er sie, drang tief in ihre Gedanken ein, tief in ihre Seele... Ihr war, als könne er genau sehen, was in ihr vorging. Als könne er die Bilder ihrer Vergangenheit genauso klar erblicken wie sie selbst.

Sie zögerte, doch schließlich überwand sie sich und entgegnete: "Sie erinnern mich an jemanden, den ich kenne. Einen flüchtigen Bekannten, eigentlich nur, und ich war nicht sicher, vielleicht kennen sie ihn ja auch, vielleicht sind sie ja mit ihm verwandt." Vielleicht war er der Bruder dieses Fremden, vielleicht auch ein entfernterer Verwandter. Vielleicht konnte er ihr aber auch einfach nur sagen, wer dieser Fremde gewesen war.

Wieder Schweigen. Diesmal war er es, der zögerte ihr eine Antwort zu geben.

"Ich weiß wen du meinst", während er antwortete stieß er sich von der Wand ab und kam zu ihr ans Bett, mit langsamen, ruhigen Schritten, "ich kenne ihn nicht persönlich, aber eins möchte ich dir sagen: Halte dich von ihm fern!"

Jetzt stand er direkt vor ihr. Er war nicht groß, wenn sie aufrecht gestanden hätte, hätte er sie sicher nur knapp überragt. Er war Japaner, oder Chinese, sie konnte es nicht genau sagen. Seine Augen jedenfalls waren schmal, seine Haut dunkel, sein Haar glänzte fast ein wenig bläulich. Er war hübsch. Und in dem Moment, in dem sich ihre Blicke genau berührten, regte sich in Joanne etwas, ein Gefühl, wie sie es noch nie zuvor gehabt hatte. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, sie konnte spüren, wie das Blut in ihren Adern pulsierte.

Er beugte sich zu ihr herab. Langsam und elegant ließ er sich auf der Bettkante nieder. Es war wie in einem Traum. Doch genau jetzt spürte sie etwas anderes. Etwas kaltes. Es war das gleiche Gefühl, als sie aus dem Traum mit den Engeln erwacht war. Panik, Zorn und Trauer mischten sich in ihrem Inneren zu etwas seltsamen, zu einem Gefühl, welche so stark war, das es ihr den Brustkorb zerschmettert hätte, wäre dies möglich gewesen. Ein unendlicher Schmerz, eine unendliche Dunkelheit ergriffen von ihr Besitz, zerrten in ihrem Innersten, fraßen an ihr, nagten an ihr.

"Aaaaaaaaaah!"

Sie griff ihren Kopf mit den Händen, bäumte sich auf, wälzte sich, schrie, kreischte, klammerte sich an der Matratze fest, riss Löcher mit ihren Fingernägeln in das Laken, weinte, schlug um sich. Doch das alles half nichts. Es wurde nicht besser.

Erst als eine Hand sich nach ihr ausstreckte. Sie sachte an der Schulter berührte, dann fester griff und sie an einen kräftigen Körper heranzog, und Arme um ihren dürren Körper gelegt wurden, fühlte sie eine Besserung, die von einer sanften Wärme und einem fahlen, sanften Licht ausging. Der ruhige Atem einer fremden Person beruhigte sie, gab ihr den Rhythmus ihrer eigenen Atmung vor, und ließ sie schließlich ruhig zurück in das Bett sinken und einen leichten Schlaf fallen.

Als sie wieder erwachte war sie allein. Diesmal hatte sie nicht geträumt. Diesmal hatte sie ruhig geschlafen, und draußen war es dunkel geworden. Die Lichter der Stadt drangen als einzigstes durch das Fenster und erhellten den kleinen Raum so gut sie es vermochten, wobei sie dunkle Schatten an die Wände warfen. Der erste Eindruck hatte sie betrogen. Sie war nicht allein!

"Ich weiß das du hier bist...", murmelte sie und blickte sich um, "du kannst mich nicht an der Nase herumführen. Zeig dich und sag mir endlich wer du bist!"

Die Schatten formten sich zu einer männlichen, schwarzen Gestalt, mit einem blassen Oval als Gesicht, auf welchem ein beinahe teuflisches Grinsen lag. Er blieb dort stehen, wo er war, als er sprach: "Du kennst mich. Schon seit du klein bist kennst du mich. Du kennst mein Gesicht, meine Gestalt, mein Auftreten. Und selbst meinen Namen, selbst den kennst du auch! Streng dich an! Schließe die Augen und erinnere dich. Ich war bei dir. Seit dem Tag an dem deine Eltern starben. Schließe einfach du Augen und streng dich an."

Zwischen Joannes Augenbrauen erschien eine steile Falte. Zorn stieg in ihr auf. "Hör auf mich an der Nase herumzuführen!"

Er legte seinen schmalen, blassen Zeigefinger auf seine ebenfalls schmalen Lippen. "Psst, meine kleine. Nicht so laut, du willst doch nicht, das sie dich hören, oder etwa doch?"

Nun trat er aus dem Schatten hervor. Sein schwarzes, langes Gewand wallte um seinen schlanken Körper. Er stand aufrecht und würdevoll vor ihr, wie ein junger Adliger, doch seine Kälte erfasste den gesamten Raum. Wer auch immer er war, er war eine eindrucksvolle Person.

Noch immer sah Joanne ihn mit zornigen Blicken an, so das er seufzte: "Du möchtest mir wohl nicht glauben, wenn ich das richtig verstehe. Ein Fehler, wenn ich dir das sagen darf. Denn dieser Mann, der dich vorhin in den Armen gehalten hat, wird dich einmal töten. Er wird dein Untergang sein, liebe Joanne, und dies kannst du nur verhindern, indem du dich mir öffnest."

"Du Spinner!", sie schrie so laut sie konnte. "Verzieh dich, hau endlich ab! Lass mich in Ruhe! Ich weiß nicht wer du bist!"

Nun war er es, der sie zornig anblickte. "So hat noch nie jemand mit mir gesprochen! Ich werde nicht zulassen, das du dummes Gör mich zum Narren hältst! Ich werde dir schon zeigen, was es heißt, den Fürst der Finsternis zu beschimpfen."

Mir diesen Worten war er verschwunden. Mit der Dunkelheit eins geworden. Verblüfft starrte Joanne ins Leere, und dann plötzlich in ein blasses schmales Männergesicht, wenige Zentimeter vor ihr. Sie schrie auf. Im gleichen Moment legte er seine kalte Hand um ihren Hals, ohne zuzudrücken, stattdessen strich er sanft über ihre glatte Haut, während er fast schon zärtlich zu ihr sprach: "Du bist schön, Joanne. Warum verstehst du es denn nicht...?"

Seine Hand strich langsam ihren Hals hinunter bis zum Kragen ihres Hemdes. Sie hielt die Luft an und sah ihn aus großen, weit aufgerissenen Augen an, ohne das sie sich rühren konnte. Erst als er vorsichtig die Hemdknöpfe öffnen wollte, schlug sie seine Hand fort und rückte hastig von ihm ab, den Rücken an die Wand gedrängt und zitternd brüllte. "Lass das! Lass mich in Ruhe!"

Sie saß wie ein Kaninchen in der Falle, in eine Ecke gedrängt und weder ein noch aus wissend. Nur diesen schlanken Fremden vor sich, der sie zwar weder lüstern noch feindselig ansah, und ihr dennoch eine Heidenangst einjagte.

Abermals streckte er die Hand nach ihr aus, diesmal strich er ihr aber nur sanft über die Wange. "Mein armes, kleines Mädchen, was haben sie nur mit dir gemacht? Ganz blass und kränklich siehst du aus. Ich meine es doch nur gut mit dir. Wenn du jetzt tust, was ich dir sagen, dann brauchst du nie wieder etwas zu fürchten."

"Sag mir endlich wer du bist!" Ihre Stimme klang erstickt und sie zitterte am ganzen Leib. Was wollte dieser Fremde von ihr? Wer war er? War er ein Psychopath? Sie konnte nichts gegen ihn tun. Er berührte sie, er plante etwas mit ihr und sie war vollkommen hilflos. Niemand da, der ihr helfen konnte. Wenn doch nur Jack hier gewesen wäre. Aber das war er nicht. Er war irgendwo anders... irgendwo... sie konnte spüren, das er sich genauso um sie ängstigte, wie sie um ihn. Er war in einem anderen Raum. Sie konnte ihn wahrnehmen, sie konnte ihr spüren, ganz nahe, aber dennoch unerreichbar für sie. Und sie wusste, das er sehen konnte, was hier mit ihr geschah. Ob sie mit der Hilfe des Fremden zu ihm gelangen konnte? Ob sie ihn mit seiner Hilfe beschützen und hier herausholen konnte?

Wieder kam er näher, doch diesmal wehrte sie sich nicht, als seine Hand unter ihr Hemd strich. Sie wusste, das dieser Akt mehr war. Es sollte ein Ritual sein.

"Bist du bereit einen Pakt mit mir einzugehen, Joanne?" Seine Stimme war nun nicht mehr als ein leises flüstern. Sie nickte langsam. "Gut, du wirst es nicht bereuen, meine kleine." Mit diesen Worten begann er, ihr schweigend das Hemd auszuziehen, und die Bandage, mit welcher sie sich die Brüste abschnürte, um nicht als Mädchen erkannt zu werden, zu entfernen. Er tat es ohne jede Regnung zu zeigen, mit einer eisigen Kälte und völlig gefühllos. Was war er nur für ein Mensch. Nein, kein Mensch, denn jetzt fühlte sie, wer er war. Er war ein Teufel. Nein, nicht nur irgendein Teufel. Er war der Teufel. Er war Luzifer, der Fürst der Finsternis.

"Luzifer...", flüsterte sie leise.

Und sie wusste es, er hatte sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet. Und nun würde er sie für immer begleiten. Nun würde er sie nie wieder verlassen. Selbst am nächsten Morgen spürte sie seine Anwesenheit noch im Zimmer, seine eisige Kälte, die alles vereinnahmte. Sie selbst lag nackt in der Decke eingehüllt. Leicht fröstelnd und von einem eisigen Gefühl gepackt. Auf ihrer rechten Brust prangte eine Tätowierung. Ein schwarzes, geflügeltes Kreuz, umschlungen von dornigen Ranken. Dies machte den Pakt nun für ewig gültig. Sie würde sich niemals davon lösen könne, selbst wenn sie es wollte. Doch in diesem Moment war sie sicher, das sie dies nie wollen würde.

Sie erhob sich und zog sich unendlich langsam an. Noch immer wusste sie nicht, wo sie sich befand. Ein kalter, weißer Raum. Sie kannte ihn nicht. Als sie zur Gänze angekleidet war, ging sie mit langsamen Schritten zur Tür. Ihr war schwindlig und sie war noch völlig benommen. Das, was in dieser Nacht geschehen war, durfte sie keinem sagen. Aber selbst wenn, wer würde ihr schon glauben? Sie war ja selbst kaum dazu fähig. Alles, was sie bis jetzt stets für ein Ammenmärchen gehalten hatte, war nun Wahrheit geworden. Und sie wusste, das alles real war. Sie wusste, das er Luzifer gewesen war. Sie wusste es einfach.

Sie griff nach dem Türknauf, doch als sie ihn drehte, tat sich nichts. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie war zugeschlossen. Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie war eingeschlossen. Mutterseelenallein in einem fremden Raum. Eingeschlossen. Eingesperrt! Wie in einem Gefängnis. Vielleicht war dies hier ja sogar eines. Ein Gefängnis.

"Werde nicht albern!", ermahnte sie sich selbst mit lauter Stimme. "Du wurdest nicht eingesperrt. Du hast doch gar nichts getan!"

Aber es half nichts. Die Panik in ihr wuchs mehr und mehr und mehr... Sie wurde hektisch, ohne etwas dagegen tun zu können. Sie lief im Raum hin und her, klopfte die Wände ab, suchte unter dem Bett, ohne genau zu wissen, was sie zu finden gedachte.

Und dann hielt sie inne. Von einer plötzlichen Kälte geschüttelt stockte sie mitten in der Bewegung und blieb regungslos stehen, die Augen weit auf. Ein einziger, winzig kurzer Gedanke war ihr durch den Kopf geschossen gekommen. Du trägst jetzt die Macht Luzifers in dir! Und ohne genau sagen zu können weshalb, wusste sie plötzlich, was zu tun war.

Ruckartig wandte sie sich um, ging mit kurzen, selbstsicheren Schritten zur Tür und streckte sie Arme aus. Es bedurfte nicht viel, nicht einmal einer kleinen Anstrengung, und sie Tür knallte, wie von einer heftigen Wucht getroffen, aus den Angeln und prallte gegen die ihr gegenüberliege Wand, die einen langen Flur begrenze. Dabei wurde die Tür so stark verbeult, das es aussah, als hätte jemand etwas riesiges, unglaublich schweres, mit einer solchen wucht dagegen geworfen.

Joanne dagegen blieb unverändert da. Ihr Atem ging etwas schwerer und ihre Augen waren vor Erstaunen weit aufgerissen, doch ansonsten fühlte sie sich wie immer. Sie fand es seltsam, das dies so leicht war. Sie hätte erwartet, das es eine enorme psychische wie physische Anstrengung für sie bedeutete. Aber sie war ja nicht einmal richtig erschöpft.

Noch etwas zögernd trat sie auf den Gang und spähte vorsichtig nach links und rechts. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite lag nur eine weiße Wand, ohne Fenster, nur ab und zu eine Tür, in regelmäßigen Abstände, wie auch der Seite, auf der ihr Zimmer lag. Licht wurde durch grelle Neonleuchten erzeugt. Sie brannten in ihren Augen.

Wo bin ich hier nur gelandet?

Was sollte sie nun tun? Hier darauf warten, das sie irgendwann einmal irgendwer dazu bequemte zu ihr zu kommen und die ganze Sache aufzuklären, oder sich selbst auf die Suche machen? Das sie von der ersten Möglichkeit wenig angetan war, entschied sie sich lieber für die zweite und setzte sich auch gleich darauf in Bewegung.

So leise wie möglich stapfte sie den Flur entlang. Manchmal hielt sie an einer Tür an um zu lauschen, konnte aber nichts hören, vermutlich waren sie schalldicht.

Ich muss Jack finden...

Sich konzentrierend versuchte sie ihren Bruder ausfindig zu machen. Sie wusste genau, das er hier war, das er hier in der Nähe war. Gestern Nacht hatte sie seine Aura gespürt. Seinen Schmerz. Er hatte sich geängstigt. Um sie geängstigt. Erinnerungen stiegen in ihr auf...
 

Sie war wieder fünf Jahre alt und stapfte den Gang des Krankenhauses entlang, auf der Suche nach Jack. Sie hatte ihn seit dem Unfall noch gar nicht besucht. Der Arzt hatte sie nicht gehen lassen, er hatte irgendetwas von Trauma erzählt und war dann gegangen, wohl um sich um andere Patienten zu kümmern.

Dann plötzlich hatte sie jemanden Schreien gehört. Sofort hatte sie gewusst, das es Jack war und war zu dem Zimmer gelaufen, aus dem der Schrei gekommen war. Und dort hatte sie sie gesehen. Männer, drei an der Zahl, in schwarz gekleidet, mit einem glühendem Stab in der Hand. Ihren schreienden Bruder festhaltend, hatten sie ihm etwas in die Stirn gebrannt. Sie hatte den Schmerz gespürt als wäre es ihr eigener gewesen.
 

Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich selbst, und legte die Hände auf ihr warmes Gesicht. Die Erinnerungen aus der Vergangenheit lösten eine unbeschreibliche Übelkeit in ihr aus. Am liebsten hätte sie sich übergeben, doch die beherrschte sich. Matt lehnte sie sich und atmete tief durch.

Nicht daran denken, einfach nicht daran denken, dann wird es schon wieder gut!

Ihr wurde so schwindelig, das sie in die Hocke gehen musste, und regungslos für lange Zeit in dieser Stellung verweilte, wobei sie sich immer wieder ermahnte, das alles einfach zu vergessen. Es einfach zu vergessen. Die dunklen Bilder einer grausamen Vergangenheit durften nicht wieder hochkommen. Sie durfte nicht zulassen, das sie sie vereinnahmten. Viel wichtiger war es jetzt Jack zu finden und dann nichts wie raus hier. Fort von diesem Ort an den sie fremde Menschen verschleppt hatten.

"Joanne?" Der dumpfe klang einer wohlbekannten Stimme ließ sie aufhorchen. Sie hatte die ihr gegenüberliegende Tür noch nicht einmal bemerkt. "Joanne?", erklang es erneut.

"Jack!", sie sprang auf und alle Übelkeit und all die schlimmen Bilder waren wie fortgewischt. "Jack, bist du da drinnen?" Sie legte den Kopf ganz nah an die Tür, damit er sie besser verstand.

"Ja!" Sie konnte hören, das auch er ganz dicht an der stand. Sie hatte das Gefühl, sogar die Wärme seines Körper zu spüren. "Sie haben mich eingesperrt. Was ist mit dir? Wie fühlst du dich, Kleines?"

"Mich haben sie auch eingesperrt, aber ich bin da rausgekommen."

"Wie das?"

"Warte einen Moment, dann zeigen ich es dir..."

"Joanne, was..."

"Geh bitte weit von der Tür weg!"

"Joanne, was hast du vor?"

"Bitte, vertrau mir einfach, Jack, ja?"

Einen kurzes Zögern, dann wieder seine Stimme: "Ist gut Joanne, ich vertraue dir. Warte einen Moment."

Sie konnte hören, wie er von der Tür wegtrat, dann tat sie es ihm gleich. Sie verfuhr genauso wie bei der Tür ihres Raumes. Sie streckte die Arme aus, konzentrierte sich und die Tür flog aus den Angeln.

Vorsichtig trat sie in den Raum.

"Jack?"

Es dauerte einen Augenblick, dann trat er hervor, sodass er ihr genau gegenüberstand. Er blickte sie ungläubig durch seine blauen Augen an.

"Jo... Joanne... warst du das?"

Fast wie eine Anschuldigung klangen seine Worte. Sie senkte betroffen den Blick.

"Ich kann es dir nicht erzählen... Jack..."

Zuerst schwieg er, dann antwortete er mit einem Nicken. "Das ist schon okay. Lass uns lieber sehen, wie wir hier heraus kommen..."

Er wollte sich an ihr vorbei durch die Tür drängen, doch hielt sie ihn am Ärmel fest. Den Blick fest auf ihn gerichtet stellte sie geradezu die Frage, die sie schon die ganze Zeit beschäftigt hatte: "Jack, wer waren diese Leute, die uns hierher gebracht haben"

Wie erwartet wich er ihren Blicken aus. Das tat er immer wenn er nicht so recht mit der Antwort herausrücken wollte. Doch schließlich gab er sie doch: "Ich habe dir etwas verheimlich, Joanne. Etwas, das ich dir eigentlich hätte sagen müssen." Daraufhin begann er in seiner Hosentasche herumzunesteln. Es dauerte etwas ehe er einen zerknitterten Briefumschlag hervorholte. In dicken, großen Buchstaben standen ihre Namen darauf.

An Jack und Jo Winslet

Joanne blickte immer wieder verwirrt auf den Briefumschlag und dann Jack an. Schließlich griff sie einfach danach und öffnete ihn. Zögernd las sie, was darin Stand.
 

An Jack und Jo Winslet,
 

Als Söhne der berühmten Wissenschaftler Dr. Kate Winslet und Prof. Dr. Noah Winslet, möchten wir ihnen noch einmal unser herzlichstes Beileid zu dem Tod ihrer geliebten Eltern aussprechen und ihnen sagen, wie sehr wir das geschehene bedauern, sowie, das es tragischer Verlust, nicht nur für unsere Firma, sondern auch für die gesamte Welt der Wissenschaft ist. Da wir und nicht ganz unschuldig fühlen, möchten wir ihnen anbieten, das sie in unserer Firma arbeiten können. Wir würden ihnen Wohnung, sowie Schul- und Studienplätze zur Verfügung stellen, sodass ihre Zukunft sicher ist. Noch sind sie klein, aber sollten sie irgendwann einmal die Möglichkeit haben, würden wir und freuen, wenn sie uns in unserer Firma in Tokio einmal besuchen würden.
 

NeoGP

Leiter Yuhiro Karakaze,
 

Irritiert legte Joanne den Brief fort und sah geradewegs an.

"Von wann ist der Brief?"

"Er wurde uns kurz nach dem Tod unserer Eltern zugesandt. Ich war damals noch zu klein um es zu verstehen. Ich dachte er wäre verloren gegangen und habe mich nicht weiter darum gekümmert. Ich dachte, wir würden ja eh nie nach Tokio kommen. Aber dann hab ich ihn vor zwei Jahren wiedergefunden."

"Vor zwei Jahren hast du mir das erste mal vorgeschlagen nach Tokio zu gehen."

Jack nickte.

"Aber was hat das mit dem hier zu tun?"

"Nun ja, ich habe dann noch beschlossen, das mit der Firma fürs erste ruhen zu lassen und später einmal mit dir darüber zu reden. Aber sie müssen irgendwie herausgefunden haben, das wir nach Tokio gekommen sind. Die Leute in unserer Wohnung waren von denen. Wir befinden und im Hauptgebäude der Firma. Ich habe es gesehen, als sie uns hierher brachten."

"Aber was gibt das für einen Sinn? Warum sollten sie uns hierher verschleppen?"

Joanne war ratlos und auch Jack konnte nicht mehr als nur mit den Schultern zucken. "Wer weiß wofür sie und wirklich haben wollen."

"Okay", murmelte Joanne ganz langsam. Sie musste Ruhe bewahren. Es würde nichts nützen wenn sie hier panisch werden würde. "Dann würde ich vorschlagen, das wir und schleunigst aus dem Staub machen, unsere Sachen packen und aus Tokio verschwinden."

"Ich persönlich finde das eine sehr dumme Idee, Kumpel!"

Eine tiefe unbekannte Stimme hinter ihr und das Klicken wenn eine Waffe entsichert wurde ließen sie zusammenzucken. Aus Jacks Gesicht konnte sie ablesen, wie sehr er sich erschrocken hatte. Mit geweiteten Augen starrte er an ihr vorbei.

Die Begegnung

Der Schrecken greift nach mir mit kalter Hand;

ein Windstoß wirbelt meine Würde fort, mein Wohlstand löst sich auf wie eine Wolke. Ich spüre wie mein Leben aus mir fließt. Seit Tagen schon umklammert mich die Qual.

Nachts bohrt der Schmerz in allen meinen Knochen,

als sollten sie aus meinen Körper fallen; die Nerven können keine Ruhe finden

(Ijob 30, 15-17)
 

Der Fremde war groß. Hochgewachsen, hatte dunkle haut, schwarzes Haar und Augen, so grau, das sie geradezu hervorstachen. Sie blieben starr auf Joanne gerichtet und sie fühlte sich unglaublich unbehaglich. Doch nicht nur deswegen. Viel eher lag es wohl daran, das sie unvermittelt in den Lauf einer Waffe starrte. Schwarz klaffte er ihr entgegen, bereit, jederzeit eine tödliche Kugel abzufeuern.

Die beiden Geschwister wagten kaum zu atmen. Eine ungeheure Spannung lag im Raum. Stille. Es war so leise, das Joanne die sich nähernden Schritte schon aus weiter Entfernung vernahm. Tip Tap Tip Tap... kamen sie näher und näher.

Das Gesicht, die Gestalt, der Mann, der hinter dem kaputten Türrahmen vortrat, war ihr wohlbekannt. Es war jener Fremde, der gestern da gewesen war, als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Er schien nicht erstaunt, als er sie erblickte. Seine Blicke streiften sie stattdessen nur und blieben dann an der verbeulten Tür am Boden hängen. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen brauen und zog sich noch einen kleinen wenig über seine Stirn.

"Steck die Waffe weg", murmelte er schließlich, an seinen Kollegen gewandt. "Sie würde dir eh nicht viel bringen." Und damit fiel sein Blick wieder auf Joanne. Doch diesmal war er anders. Kalt und ein wenig verdrießlich. Ahnte er womöglich was geschehen war? Nein, das konnte nicht sein, das bildete sie sich ein. Sie wandte sich ab.

Der Große packte währenddessen augenverdrehend seine Waffe wieder fort, in einem Gurt unter seiner schwarzen Jackettjacke. Darunter trug er ein blutrotes Hemd, dessen obere Knöpfe lässig geöffnet waren und außerdem eine schwarze Hose. Er war groß und kräftig. Doch Joanne wusste, das er gegen sie nicht die geringste Chance gehabt hätte. Sie war ihm überlegen. Sie hatte die Dunkelheit auf ihrer Seite. Sie brauchte nichts zu fürchten.

"Ich habe dich unterschätzt", der kleinere, der Japaner, sprach jetzt an sie gewandt. "Ich habe dich unterschätzt... Jo..." Sie atmete auf. Sie hatte befürchtet er würde ihre wahre Identität verraten. Wobei, nun wäre es eigentlich so oder so egal gewesen. Die beiden würden sterben.

Was denke ich denn da! Verwirrt hielt sie inne, denn sie war gerade im Begriff gewesen, ihre Hand zu heben und anzugreifen. Du darfst Menschen nicht töten! Du darfst keine Menschen töten. Nicht einmal daran denken.

Ihr Blick senkte sich beschämt. War dies Luzifer, der ihr solche Gedanken eintrichterte?

"Was haben sie mit uns vor?", erklang Jack kraftvolle Stimme hinter ihr. Er war zornig. "Was fällt ihnen ein uns hierher zu verschleppen? Wer sind sie überhaupt."

Bei dieser Frage musste der kleinere von beiden Lächeln. "Oh, wie unhöflich. Wir haben uns ja noch nicht einmal vorgestellt. Meine Name ist Chin Huang und er heißt Joseph Fallington... Wir arbeiten für diese Firma."

"Sie waren es doch, die uns entführt haben?" Jack war so sehr in Rage, das Joanne gar nicht anders konnte als ihn verblüfft anzusehen. So kannte sie ihn gar nicht. Sonst war er doch immer so ruhig. "was ist das hier für eine Firma? Sie haben behauptet unsere Eltern hätten für sie gearbeitet. Unsere Eltern würden niemals für einen solchen Verein arbeiten!"

"Neo GP ist eine in der Welt hochgeachtete Firma", entgegnete Joseph ruhig und mit eisigem Blick.

Jetzt mischte auch Joanne sich ein. Zorn war in ihr aufgestiegen. "Springen sie denn mit ihren Mitarbeitern denn genauso um?" Sie quetschte diese Frage beinahe zwischen ihr Zähnen hervor.

Als Antwort bekam sie nicht mehr als ein Schulterzucken von Chin und die Worte: "Nur mit denen, von denen wir wollen, das sie bei uns arbeiten." Mit einem mal wurde seine Stimme eindringlicher und er sah ihr fest in die Augen als er weitersprach: "Wir brauchen euch! Wir sind auf euere Hilfe angewiesen. Ich weiß nicht weshalb, aber Mr. Karakaze hat ausdrücklich angeordnet, euch hierher bringen zu lassen."

"Na wunderbar." Entnervt rollte Jack mit den Augen. "Sie entführen und, zwingen uns hierher und wollen das wir für sie arbeiten. Weshalb? Wir haben keine Ausbildung für so etwas - was auch immer sie hier tun - wir wären ihnen sicher keine gute Hilfe."

"Das ist nicht unser Problem", entgegnete Chin gleichgültig und noch während er sprach, klang ein dumpfes Klingeln aus seiner Tasche. Er holte ein kleines Handy hervor, drückte aus einen Knopf und legte es an sein Ohr, während er fragte: "Ja, bitte, Chef?" Schweigen. "Ja, ich habe verstanden! Ich bringe sie sofort zu ihnen." Ohne jedes weitere Wort drückte er erneut einen Knopf und steckte das kleine Teil zurück in seine Tasche. Dann erklärte er, an Joseph gewandt: "Die anderen sind jetzt auch hier, wir können jetzt zu Mr. Karakaze."

Damit gingen sie auf Joanne und Jack zu. Chin ergriff Joannes Handgelenke und dreht sie so nach hinten, das er beide mit einer Hand festhalten konnte. Kein großes Kunststück, ihre Handgelenke waren dünn. Aber es war eine unbequeme Haltung, aus der sie zusehen konnte, wie Joseph das selbe mit Jack tat. Doch noch dazu zog dieser seine Waffe erneut hervor und presste sie Jack an den Hinterkopf, zusammen mit den Worten: "Ein dummer, kleiner Fehler, mein Freund und ich knall dich ab!" Er sagte es ohne jede Regung. Sein Stimme blieb kühl und hart.

"Hey!" Joanne wand sich unter Chins festem Griff. "Lass meinen Bruder in Ruhe du Mistkerl! Wenn du ihm was tust, dann bringe ich dich um, das verspreche ich dir!" Doch ein heftiger Ruck nach hinten ließ sie wieder verstummen. Sie musste die Zähne zusammenbeißen um nicht laut aufzuschreien.

Chin legte seinen freien Arm um ihren Hals, fest, und zog sie an sich, so das sein Mund direkt an ihrem Ohr war und er ihr leise zuflüstern konnte: "Mach bloß keinen Mist, meine Kleine! Du hast schon genug Schaden angerichtet, das reich fürs erste. Du wirst jetzt genau tun, was man dir sagt. Du wirst mit und mitkommen, du wirst zuhören, was Mr. Karakaze dir zu sagen hat, und dann werden wir uns erst einmal in aller Ruhe unterhalten."
 

Hätte man sie später gefragt, wie der Weg zu Mr. Karakazes Büro war, hätte sie es nicht mehr gewusst. Zu vielen Abzweigungen waren es gewesen. Und stets waren sie nur in einen weiteren, weiß tapezierten Flur gelangt. Ohne Fenster, mit Neonleuchten erhellt. Steril und kalt, so das es einen fröstelte wenn er in ihnen entlang lief. Und es fröstelte Joanne. Die ganze Zeit. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Sie spürte Chins Atem hinter sich und seine Ruhigen Bewegungen. Sie konnte jede einzelne Kleinigkeit seines Körpers genau fühlen. Und seine Art, mit der er sie anblickte. Ihr standen die Nackenhaare zu Berge.

Sie versuchte eine Lösung zu finden. Doch sie wagte es nicht, ihre neu erlangten Kräfte einzusetzen. Sie hatte das Gefühl, nein, sie wusste, dass sie erfolglos bleiben würde. Etwas sagte ihr, das Chin zu mächtig für sie war. Er strahlte eine ungeheuere Kraft aus, die ihr Angst machte. Was, wenn sie nicht die einzigste war, die einen Pakt mit Luzifer hatte? Und auch Joseph wurde von einer Aura umgeben, feinselig, aber kleiner. Wer waren diese Männer? Wer waren sie?

Schließlich waren sie am Büro von Mr. Karakaze angelangt. Joanne war der Weg ewig lang vorgekommen. Mit der Zeit fühlte sie sich immer müder und matter.

An der Tür zum Büro hing ein goldenes Türschild, auf dem der Name Yuhiro Karakaze prangte. Ansonsten unterschied sich die Tür nicht im geringsten von den anderen. Ohne anzuklopfen öffnete Chin die Tür und die traten ohne weiteres ein.

Der Raum war groß, mit einem riesigen Schreibtisch, der vorn einem Fenster stand, welches fast die ganze, ihnen gegenüberliegende Wand einnahm und einen wunderschönen Blick auf die Stadt ermöglichte. Sie mussten sich sehr weit oben befinden, denn man konnte von hier aus sogar auf einige der riesigen Gebäude draufgucken. Am Schreitisch stand ein großer Stuhl, auf dem Mister Karakaze saß und sie bereits erwartete. Links und recht von ihm erhoben sich riesige, bis zur Decke reichende Bücherregale.

Joanne war erstaunt, denn sie waren nicht die ersten die in diesem Raum eintraten. Es stand bereits eine Gruppe Jugendlicher. Zwei Jungen und zwei Mädchen, die ihnen angespannt entgegenblickten als sie hereingeführt wurden. Und Joanne kannte jeden einzelnen von ihnen, denn es waren alle Schüler aus ihrer Schule.

Da war Farry Johnson, ein vierzehnjähriges Mädchen mit braunen, großen Augen und dunkler Haut. Ihr braunes langes Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und wirkte extrem verängstigt. Neben ihr stand ein etwas kleinerer, kräftiger Junge von 15 Jahren, dessen Name Chikara Nakuto war. Er war ein Japaner der versucht hatte, seine Haare blond zu Färben, weswegen sie nun eher gelb aussahen. Seine dunklen Augen strahlten Feindseligkeit aus. Hinter ihnen stand Saruu Higgans, 16 Jahre alt, mit honigblondem kurzen Haar und strahlend blauen Augen. Seine Hand hielt die von Hanara Kokoro, einem vierzehnjährigen Mädchen mit weichem blonden Haar und dunklen mandelförmigen Augen.

Verwundert hielt Joanne inne, doch wurde sie hart von Chin in den Raum gestoßen, wobei er sie losließ, so das sie zu Boden fiel. Sie hörte noch wie Jack ihren Namen rief und gleich drauf neben ihr auf dem Boden landete.

"Arschloch", murmelte Joanne missmutig während sie sich aufrappelte und dann Jack aufhalf. Ohne zu zögern fuhr sie Chin zornig an: "Was fällt dir ein!" Doch dieser legte zur Antwort nur den Finger auf den Mund: "Psst!"

Sie bemerkte das alle im Raum sie anstarrten und das im Endeffekt jeder darauf wartete, das Mr. Karakaze mit Sprechen begann und ihnen endlich erklärte, weshalb sie hier waren. Und das würde er natürlich nicht tun solange noch jemand anders ein Wort sagte. Errötend senkte Joanne den Blick und zwang sich zur Ruhe.

"Zuerst einmal möchte ich mich für ihr Erscheinen bedanken", begann Mr. Karakaze und noch während er dies sagte erhob Joanne erzürnt ihre Stimme: "Sie tun ja gerade so als wären wir freiwillig hier. Verschleppt haben sie mich und Jack. Wie wär's denn da mit einer Entschuldigung?" Wieder richteten sich alle Blicke auf sie. Doch diesmal ignorierte sie es. Sie spürte einen unglaublichen Zorn in sie Aufsteigen.

Vernichte ihn! Vernichte dieses Zimmer! Vernichte dieses Gebäude! Und alle die sich drin befinden!

Luzifers Stimme in ihrem Kopf wurde laut. Er war hier! Er war in ihr drin. In ihrem Körper. Sie brauchte nichts zu fürchten. Nicht einmal Josephs Waffe. Sie war stark. Sie war stärker als alle anderen. Sie war die Stärkste!

Beinahe wäre sie Extase geraten. Sie spürte wie ihr Körper Endorphine ausschüttete. Doch auf einmal war alles vorbei. Als sie spürte wie eine kräftige Hand ihren Bauch umfasste und eine andere sich fest über ihren Mund legte, so das sie unfähig zu sprechen. In diesem Moment war alles vorbei. Schlaff sackte sie in sich zusammen. Der einzigste Grund, das sie nicht zu Boden fiel, war die Tatsache, das Chin sie festhielt. Seine kräftigen Arme hielten ihren Körper umklammert, während er an Mr. Karakaze gewandt sprach: "Es tut mir leid! Er hat eine ziemlich große Klappe und es ist uns noch nicht gelungen ihn zum Schweigen zu bringen."

"Das ist nun auch nicht nötig, es ist wichtig das er mitanhört war ich zu sagen habe." Mr. Karakazes Stimme blieb ruhig und kühl. Ungerührt fuhr er fort: "Jedenfalls bin ich froh, das sie alle hier versammelt sind. Der Grund dafür ist ein ganz einfacher. Ihre Eltern waren einst bedeutende Wissenschaftler, die hier für uns gearbeitet haben. Es tut mir in der Seele weh, das jeder einzelne von ihnen gegangen ist. Noch dazu, wo die von ihnen begonnene Aufgabe noch nicht zuende gebracht werden konnte. Nun ist es an ihnen, dies zu tun, denn sie sind die einzigsten, die dazu fähig sind."

"Und worin besteht diese Aufgabe?"

Joanne konnte nicht sehen wer diese Frage gestellt hatte. Es musste einer der Jungen gewesen sein. Für sie selbst waren die von Mr. Karakaze gesprochenen Worte nicht mehr als Fetzen, die in ihrem Gehirn hängen blieben, die sie aber nicht verarbeiten konnte. Sie fühlte sich so matt und so unendlich müde.

"Eine andere Firma - GTO - gehört zu einer der führenden Firmen im Gebiet der Genforschungen. Doch sind ihre Experimente nicht gerade ethisch vertretbar. Sie führen Experimente an Menschen durch, auf der Suche nach einem Supermenschen. Es gibt viele kranke Experimente in ihren Laboren. Viele von ihnen benutzen sie, um unsere Firma, die sich in aller Öffentlichkeit gegen ihre Experimente stellt, anzugreifen. Ihre Aufgabe soll es nun sein, dies zu verhindern. Ihre Eltern haben damit begonnen, indem sie Mittel gegen diese Ungeheuer entwickelt haben. Sie sind nun dafür verantwortlich diese Mittel einzusetzen."

"Und wie?" Es war die selbe Stimme, welche auch schon die erste Frage gestellt hatte.

"Indem Sie kämpfen, meine Lieben."

"Kämpfen?!" Viele Stimmen.

Kämpfen... Joanne war viel zu erschöpft um zu sprechen. Ich kann nicht kämpfen... ich bin zu müde zu kämpfen... ich will jetzt schlafen... schlafen... schla... fen...

Sie musste tatsächlich für einen kurzen Moment weggedöst sein, denn plötzlich wurde sie von Chin gerüttelt, wobei er ihr leise zuflüsterte: "Hey, du musst dich zusammenreißen! Das hier ist wichtig... Jo... Joanne...!" Sie fühlte sich unfähig die Augen zu öffnen. Sie spürte nur noch Chins Wärme. Seinen Atem ganz nah an ihrem Gesicht. Seine unbeschreiblich starke Aura... Und dann sah sie es:

Er stand vor ihr. Er hielt ein Katana in der Hand. Sie selbst lag am Boden. Etwas warmes rann ihr übers Gesicht. Blut! Und dann... stieß er zu!

"Nein!", mit lauter Stimme schriller Stimme wand sie sich in seinen Armen, so das er sie nicht mehr halten konnte uns sie zu Boden fiel. Sie rollte sich umher. Die Hände an den Kopf gepresst. Und sie schrie. Laut und schrill schrie sie, bis ihr schließlich die Stimme versagte und sie wimmernd liegen blieb.

"Jo!" Sanft legte Jack den Arm um sie und half ihr sich aufzusetzen. Wie ein kleines verängstigtes Kind klammerte sie sich an ihn, das Gesicht fest an seine Brust gedrückt.

"Jack...", wimmerte sie leise, so das nur er es hören konnte, "Jack... ich will nicht sterben... ich will nicht... ich will nicht sterben..."

"Psst...", machte er und strich ihr mit der Hand über den Kopf, wobei er sie sanft hin und her wiegte. "Psst... Liebes... Kleines... nein, du wirst doch nicht sterben... du wirst nicht sterben. Niemand wird dir etwas tun... Ich bin ja hier..."

"Es ist besser wenn Sie jetzt gehen!" Mr. Karakaze hatte sich von seinem Platz erhoben und stand nun unmittelbar vor ihnen. "Joseph und Chin werden Ihnen nachher alles zeigen. Gehen Sie erst noch in den Aufenthaltsraum und wartet bis er sich wieder beruhigt hat. Joseph, bring sie dort hin und hilf Jack mit seinem Bruder! Chin, ich muss mit dir reden!"

Missmutig führte Joseph die andere nach draußen. Er wollte Jack helfen, Joanne in den Flur zu tragen und sie dann in ein Krankenzimmer zu bringen, doch dieser funkelte ihn nur zornig an und hob sie stattdessen selbst hoch und trug sie allein nach draußen. Sie war ja nicht schwer und abgemagert noch dazu.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Mr. Karakaze langsam zu Chin um. Dieser lehnte still an eine Wand gelehnt. Es war nicht schwer zu erkennen, das er sich erschrocken hatte.

"Was war das gerade?", erkundigte sich Mr. Karakaze in ruhigem Ton. "Was ist mit ihm?"

"Wohl eher mit ihr", entgegnete Chin mit leichtem, matten Grinsen.

"Ihr?"

"Ja, es handelt sich bei Jo um eine Joanne."

"So was..."

"Ich konnte nicht herausfinden, weshalb sie es tut. Sie ist sehr verschlossen. Hat viel schlimmes erlebt, das arme Ding."

"Nun gut, aber was hat sie?"

"Sie ist den Pakt mit ihm eingegangen?"

"Den Pakt? Tatsächlich?"

"Ja... Die Verzweiflung wird sie dazu getrieben haben."

"Was macht dich da so sicher?"

"Ich spüre es."

"Und deshalb dieser Anfall."

"Es ist nicht leicht für einen Menschen einen solchen Pakt mit dem Teufel, mit Luzifer, einzugehen. Er ist nun ein Teil von ihr. Er lebt in ihrem Körper wie ein Parasit. Sie teilen sich jedoch nicht nur den selben Körper, sondern auch die selben Erinnerungen und die selben Kräfte. Sie ist noch nicht stark, aber bald wird sie erkannt haben wie stark sie ist und ihre Kräfte auch einsetzen."

"Das ist schlecht."

"Ja... aber man kann ihr zeigen, wie man sie richtig einsetzt. Sie ist kein schlechter Mensch, sie braucht einfach nur einen Lehrer, der ihr zeigt, wie man damit umzugehen hat, damit sie niemanden verletzt. Es ist sicher nicht ihre Absicht jemanden etwas zu tun."

"Aber nun lebt der Teufel in ihrem Körper."

"Oh, ich denke, das ist kein Problem."

"Wie kommst du darauf?"

"Sie ist ein hübsches Ding und Luzifer hat seine Gründe, das er sie ausgesucht hat. Er wird sie sicher nicht dazu zwingen, etwas schlechtes zu tun..."

"Warum sollte er sie dann erwählt haben. Ist es denn nicht der Sinn des Teufels den Menschen etwas schlechtes zu tun."

"Der Sinn des Teufels, aber nicht Luzifers Sinn. Ich kenne den Grund, weshalb er sich ausgesucht hat, aber ich kann ihn ihnen leider nicht verraten. Doch wenn sie es wünschen, dann werde ich mich persönlich um sie kümmern. Ich werde ihr Lehrmeister sein. Ich habe ja schließlich genügend Erfahrung damit."

"Gut, dann tu dies. Ich habe nun noch zu tun. Geh und sie nach ihr und dann hilf Joseph den anderen dieses Gebäude zu zeigen."

"Jawohl."

Mit diesen Worten verließ Chin den Raum und begab sich auf den Weg zum Aufenthaltsraum. Mit leichten, sicheren Schritten lief er an den kahlen Wänden vorbei. Doch dann, ganz plötzlich, und ganz sanft nur, spürte er, wie es kalt hinter ihm wurde. Mit einer ruhigen, einzigen Bewegung wandte er sich um.

"Luzifer", seine Stimme ließ nicht den geringsten Schrecken erkennen.

Der Mann vor ihm überragte ihn um eine Haupteslänge. Sein eisiger Blick war fest auf ihn gerichtet und es schien als wolle Luzifer ihn damit durchbohren. "Chin... oder sollte ich besser sagen Michael?"

"In diesem Augenblick bin ich Chin." Er hielt Luzifers Blicken stand.

"Oh, Michael schläft wohl gerade. Nun gut, Chin, du weißt also, das sie den Pakt mit mir ein gegangen ist."

"Es ist mir nicht entgangen."

"Spaßvogel..."

"Ich tue mein bestes."

"Okay, es ist genug. Wenn du sie tötest, dann werde ich dich töten!"

"Und wie willst du das tun, Luzifer! Ohne einen Körper der dich nährt bist du machtlos. Außerdem habe ich nicht vor sie zu töten. Sie ist so hübsch."

"Das sagtest du letztes mal auch... jetzt ist Kaori tot."

Chins Blick verfinsterte sich. "Das ist lange her. Damals wusste ich nicht was ich tat."

"Das war ja auch beabsichtigt, mein Lieber... Denkst du nicht, Michael hätte es so eingefädelt. Pass nur auf, sonst wird er noch anfangen dich gänzlich zu beherrschen. Ich weiß das, euer Pakt unterscheidet sich nicht im geringsten von unserem. Außer vielleicht das Joannes sich mit der Hölle verbündet hat und du dich mit dem Himmel. Dieses Mal wird jedoch alles anders. Diesmal wird Luzifer über den Himmel siegen..."

Ein kaltes Lachen, dann war er plötzlich verschwunden, genauso schnell wie er aufgetaucht war. Chin war wieder allein. Mit verbittertem Blick ins nichts.

Die Träume

Du Morgenstern, wie konnte es geschehen, das du vom hohen Himmel niederstürztest?

Du hast so viele Völker unterworfen, jetzt liegst du selbst zerschmettert auf der Erde!

In deinem hattest du beschlossen: Ich steige immer höher bis zum Himmel. Dort will ich meinen Thron errichten, ich will noch höher sein als Gottes Sterne.

(Jes 14, 12-13)
 

"Cool, wir bekommen unsere eigenen Klamotten zum Kämpfen!" Begeistert hielt Farry einen seltsamen Anzug nach oben, der aus Latex oder etwas ähnlichem zu bestehen schien. Es war beinahe abartig, wie sehr sie sich darüber freute.

Joanne dagegen hockte teilnahmslos in einer Ecke neben Jack. Sie fühlte sich nicht gut. Ihr war schwindlig und ihr Körper schlaff. Außerdem gingen ihr die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte gesehen wie Chin sie umbringen wollte. Seltsam. War es wirklich nur eine Art Tagtraum gewesen oder hatte sie die Zukunft gesehen. Zögernd warf sie einen Blick auf Chin, der am Türrahmen lehnte und die anderen mit gleichgültigem Blick betrachtete.

Es war ein unglaubliches Gewusel in dem kleinen Raum in dem die Kleidungsstücke und die Waffen gelagert wurden. Jene Waffen, welche die Eltern der hier anwesenden entwickelt hatten. Auch Joannes und Jacks Mum und Dad.

Joanne wurde übel bei dem Gedanken das ihre Eltern so etwas erfunden hatten. Wie konnten sie so etwas nur tun? Waffen... um Menschen zu töten. Nun ja, auch wenn in diesem Fall die Menschen etwas anders waren.

Dies war noch so eine Sache die Joanne einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Es gab tatsächlich eine Organisation, die einen Supermenschen züchten wollten. Das klang ja wie aus einem schlechten Science-Fiction Film.

"Und wann soll das ganze hier losgehen?", erkundigte sich Chikara in einem leicht aggressiven Ton. Er schien sowieso ein sehr aggressiver Mensch zu sein. Er wirkte auf Joanne ein wenig wie der Anführer irgendeiner Straßengang. Auf jeden Fall nicht wie der Sohn eines Wissenschaftlers.

"Morgen beginnt eure Ausbildung", entgegnete Joseph, der sich gerade eine Zigarette anzündete. Er wirkte äußerst genervt auf Joanne. Dieser Joseph war wirklich ein eigenartiger Typ. Groß und kräftig, und ein Blick, der so kalt war, das einem kalt wurde wenn er einen ansah.

"Was denn für 'ne Ausbildung?" Farry blickte ihn aus großen Augen an.

Joseph rollte mit den Augen. "Na ja, ihr könnt ja auch völlig unvorbereitet da rausgehen, wenn euch das Spaß macht."

"Es war ja nur eine Frage!" Farry warf die Haare zurück und widmete sich wieder der Kleidung. Sie war ein typisches Mädchen, welches gefallen an Schmuck, Make-up und Kleidung fand. Joanne bewunderte sie ein wenig dafür, das Farry so normal sein konnte.

Als Farry bemerkte, das sie von Joanne beobachtete wurde, legte sie ein sanftes Lächeln auf ihr Gesicht und ging auf sie zu.

"Na, Süßer!", sprach sie Joanne an, wobei sie sich leicht nach vorn beugte. Sie trug eine Bluse mit einem weiten Ausschnitt. Joanne musste schlucken. "Du bist ziemlich hübsch, wenn ich das mal sagen darf."

"A... ah ja..." Joanne fühlte sich eingeschüchtert und wusste nicht, was sie sagen, geschweige denn tun sollte.

"Und schüchtern auch noch, das gefällt mir...!"

In diesem Moment fühlte sich Joanne extrem unwohl in ihrer Haut. Am liebsten hätte sie sich die Bluse aufgerissen oder etwas ähnlich dummes getan. Doch stattdessen warf sie Jack einen hilfesuchenden Blick zu, doch dieser grinste sie nur breit an. Mistkerl. Wir konnte er sich nur an ihrem Leid erfreuen?

"Ich... ich...", setzte Joanne an.

"Ja...?"

Sie suchte nach Worten, doch als ihr nichts besseres einfiel, setzte sie eine extrem ernste und abweisende Miene auf und erklärte, so ruhig wie möglich: "Ich bin schwul. Ich stehe nicht auf Weiber, also verzieh dich!"

Stille.

Fast so als wäre jemand gestorben.

Farry blickte Joanne aus ihren großen, braunen Augen an. Dann verzog sie das Gesicht, so handle es sich bei Joanne um eine widerliches kleines Insekt. Diese lächelte jedoch nur verschmitzt, ein wenig zufrieden über sich selbst warf sie einen Blick zu Jack, der sie verblüfft anblickte. Genauso wie der Rest.

Doch statt wegzugehen, hob Farry die Hand und verpasste Joanne die deftigste Ohrfeige ihres Lebens. So sehr, das Joannes Wange auf der Stelle rot anlief.
 

"Schwul also..." Belustigt stand Jack an der Wand und beobachtete Joanne wie sie leise vor sich hinfluchend ihre angeschwollene Wange kühlte.

"Mir ist nun mal nichts besseres eingefallen, was hätte ich denn sonst tun sollen?"

"Du hättest zum Beispiel sagen können das sie nicht dein Typ sein, oder so..."

"Dann hätte ich mir die doppelte Portion Ohrfeigen holen können. Blödes Weibsbild!"

"Willkommen in meiner Welt... der Männerwelt... So geht es irgendwann einmal jedem von uns. Wenn du dich schon wie ein Junge anziehst, wirst du wohl auch damit leben müssen."

"Hm... mag sein, aber weißt du was ich seltsam finde?"

"Das sie auf dich stand?"

"NEIN!", sie blickte ihn verärgert an bevor sie fortfuhr: "Chin weiß das ich ein Mädchen bin."

"Wie denn das? Hast du es ihm gesagt? Ich meine, er ist ja ein hübscher Kerl, aber..."

"So so, noch einer den wir demnächst für schwul halten können..."

"Ich dachte nur, das er dir vielleicht gefällt."

"Ist ja auch egal. Jedenfalls, als ich in diesem Zimmer lag und aufwachte, da war er da. Ich glaube er hat mich im Schlaf beobachtet. Und dann hat er mich Joanne genannt. Er wusste also, das ich ein Mädchen bin, ohne das ich etwas gesagt habe."

Jack schwieg eine Weile. Sein angestrengter Ausdruck im Gesicht verriet ihr, das er nachdachte. "war dein Hemd offen?", fragte er schließlich und sah ihr über den Spiegel in die Augen.

"Was denkst du denn?" Empört fuhr sie herum. Ihre Blicke berührten sich. Seine strahlenden Augen schienen dunkler als sonst. Verklärt.

"Na ja, du warst schließlich ohnmächtig."

"So ein Unsinn!" Sie ging an ihm vorbei zur Tür, gerade als sie diese öffnen wollte, legte Jack ihr die Hand auf die Schulter. Seine Wärme durchzog sie bis ins Mark. Sie waren angenehm, seine Berührungen. Schon als Kind hatte sie es geliebt wenn er mit seiner Hand ihre Schultern oder ihr Gesicht streichelte. Doch in diesem Moment erfasste sie ein leichtes Gefühl von Unbehagen.

Jack schien es zu spüren, er zog die Hand wieder zurück. Doch noch immer sah er sie an. Musterte sie von Kopf bis Fuß, ehe er eindringlich zu ihr sprach: "Nimm dich vor ihm in Acht! Bitte, Joanne. Chin mag faszinierend auf dich wirken, aber er ist nicht der Richtige!"

Sie konnte fast fühlen, wie sie von einer unglaublichen Wut erschüttert wurde. Wie konnte er es wagen! Ihre grünen Augen funkelten aus Zorn, als sie ihn anschrie: "Das geht dich einen Dreck an, Jack!" Und mit diesen Worten stürmte sie nach draußen, auf den Flur. Und noch während sie lief, schien sich der Boden unter ihren Füßen zu bewegen. Ja, er bewegte sich. Es war als würde er Wellen machen. Wellen, so wie Wasser es tat. Sanftes, weiches Wasser, welches den Körper umspülte und einen trug. Es war als würde sie versinken. Versinken. Versinken...

Ertrinke im Meer der Pein!

Die Luft wurde ihr knapp. Etwas umschloss fest ihre Seele. Zu fest! Zu fest! Sie konnte nicht mehr Atmen. Sie schnappte nach Luft. Doch statt Sauerstoff schoss Wasser in ihre Lungen.

Ertrinke!

Sie wand sich wie ein Fisch der in einem Netzt gefangen war. Ein Netzt, aus dem sie nicht frei kam, weil sich das feste, unsichtbare Gewebe um sie geschnürt hatte. Ihr alles abschnürte. Alles! Sie stieß einen lautlosen Schrei aus. Ein Schrei! Alles um sie herum färbte sich rot. Blut! Blut? Woher? Woher das Blut? Körper stürzten links und rechts von ihr ins Wasser. Schwer und unbeweglich wie Steine. Um sie herum fielen sie. Und einer landete auf ihr drauf. Ein toter Körper. Das Gesicht ihr zugewandt. Es starrte sie aus kalten Augen an. Es war eine Frau. Eine Frau, der man ein Messer in den Bauch gerammt hatte. Eine Kriegerin. Ein Engel! Mit schwarzen Flügeln.

Endlich gelang es ihr frei zu kommen. Sie ließ den Leichnam in die Tiefe fallen und strampelte nach oben. Mit letzter Kraft erreichte sie die Oberfläche. Tauchte auf. Um sie herum brannte es. Das Wasser brannte!!

Und dann...

War es vorbei. Sie stand wieder mitten im Flur. Um sich herum die kahlen, weißen Wände. Sie stand da und war ganz nass. Sie war ganz nass. Wasser tropfte aus ihrem Haar und ihrer Kleidung. Ihr weißes Hemd war rot gefärbt vom Blut, das sich mit dem Wasser vermischt hatte. Sie einen unangenehmen Kupfergeschmack in ihrem Mund.

War das gerade ein Traum oder die Realität gewesen? Es musste doch real gewesen sein. Sie war doch nass! Und sie hatte einen Leichnam in der Hand gehalten.

"Luzifer!" Sie brüllte es so laut, das es noch Meter weit zu hören sein musste. "Luzifer! Was soll das? Wieso hast du das getan?" Zornig starrte sie an die Decke, so als würde sie erwarten, das er jeden Moment hindurchfallen würde. Ihr Atem ging schwer. Die Bilder dieser Vision gingen ihr nicht mehr aus den Kopf. Dieser Leichnam. Eine tote Frau. Ein gefallener Engel.

Sie sank zu Boden, der schon ganz nass vom tropfenden Wasser war. Eine Pfütze hatte sich gebildet, und es machte Platsch als sie darin landete. Mit hängenden Schultern saß sie da und starrte in die Luft.

"Sie war doch noch so jung..."

"Wer?"

"Diese Frau natürlich." Sie blickte nach oben und sah in sein kaltes Gesicht. Er stand direkt vor ihr. Groß und schlank und wunderschön. Aber dennoch grausam. Er hatte ihr völlig unvorbereitet diese Bilder gezeigt. Nun lächelte er sie kalt an.

"Sie war nicht jung. Engel behalten ihre Jugend."

"Aber sie hat es nicht verdient zu sterben."

"Gott sagte sie solle sterben, also ist sie gestorben." Selbst als er das sagte, lächelte er noch. Kalt und grausam.

"Aber warum hat Gott gesagt sie solle sterben."

"Weil sie ihn verraten hat."

"Warum zeigst du mir solche Bilder? Warum war es real? Warum bin ich jetzt nass?" Joannes Stimme klang unnatürlich monoton. Starr blickte sie ihn aus leeren Augen an.

"Es sind Bilder meiner Erinnerung. Du erlebst das, was ich gesehen habe. Du erlebst es real, weil ich es real erlebt habe. Meine Erinnerungen sind so real, weil es die eines Engels sind, auch wenn ich ein gefallener bin. Es ist wie eine Zeitreise. Und wenn du hier wieder aufwachst, ist es, als wärst du wirklich dort gewesen. Es ist nun einmal so..."

"... weil Gott es so wollte?

"Weil Gott es so wollte."

Mit diesen Worten schnipste er mit dem Finger. Doch statt ihre Kleider zu trocknen, war nun auch sie völlig in Schwarz gekleidet. Erstaunt sah sie ihn an.

"Ich bin der Teufel", erklärte er nur belustigt, "ich kann so etwas eben."

Und mit diesen Worten verschwand er, ohne das sie ihm noch mehr Fragen stellen konnte. Einsam und verlassen stand sie im Flur, völlig in schwarz gekleidet. Ihr Haar war noch immer nass, aber die Kleider waren warm und angenehm. Sie machte sich auf den Weg zu jenem Raum, in dem die anderen warteten. Sie hatte keine Lust. Aber sie wusste nicht, was sie anderes hätte tun können. Lustlos stapfte sie den Flur entlang ohne sich noch einmal um Jack zu kümmern. Er würde den Weg schon allein finden. Er war ja kein kleines Kind mehr...

Sie waren ja nun keine kleinen Kinder mehr...
 

Nun begann sich alles für sie zu verändern. Es war, als wolle ihnen die Welt nun ein neues Gesicht von sich zeigen. Alles begann damit, das sie eine neue Wohnung bekamen. Eine schöne große Wohnung, in der genug Platz war, das sie und Jack, jeder von ihnen, ein eigenes Zimmer hatten. Es war nicht einmal das schlechteste Viertel, in dem sie hier wohnten. Die Wohnung lag im 14. Stock, sie gelangten mit einem großen Fahrstuhl dorthin. Die Schule die sie besuchten blieb die gleiche. Nach dem Unterricht gingen sie zum Hauptsitz von NeoGP. Dort wurden sie in verschiedenen Kampftechniken sowie in dem Umgang modernster Computertechniken geschult. An den Wochenenden mussten sie nur manchmal dort hin. Sonst hatten sie freu. Jack musste nicht mehr arbeiten. Sie bekamen genug Geld. Mehr als genug. Es war fast schon wunderbar, dieses Leben.

Doch Joanne fühlte sich von Tag zu Tag unglücklicher. Sie kam nicht mehr zurecht, mit sich und mit der Welt. Nachts konnte sie kaum noch schlafen, weil sie ständig diese grässlichen Träume hatte, welche Luzifer ihr schickte. Träume aus seinen Erinnerungen. Seinen Erinnerungen, doch waren dies nicht die ihren. Ihre empfand sie als grausam genug.

Völlig übermüdet schleppte sie sich an einem Freitag zu Dr. Tamano Akue. Er war Arzt, der für die Firma arbeitete. Zusammen mit Dr. Arkune Narata, einer noch recht jungen Ärztin, forschte er nach Medikamenten. Er war ein eigenartiger Kauz, der bereits eine Tochter, Jeanne, von 14 Jahren hatte, welche ebenfalls hier arbeitete. Genauso wie seine Cousine Suzuki, ein quirliges Mädchen von 13 Jahren. Außerdem arbeiteten hier noch Chins Bruder Jackie, 15 und ein Freund von Chikara, Kira, 16. Alles nicht viel Älter als sie selbst, doch bekam sie von jedem von ihnen Unterricht. Von Suzuki in Informatik, von Kira in Maschinen-Technik, von Jackie in Kickboxen und von Jeanne in der Steuerung von Maschinen.

Doch sie mochte in diesem Moment gar nicht daran denken, was an diesem Freitag noch alles vor ihr lag. Müde hockte sie in Dr. Akues Büro und wartete darauf, das er kam. Sie hatte das Gefühl eine Ewigkeit warten zu müssen. Müde starrte sie ein Bild an, als er eintrat. Sein weißer Kittel war zerknittert, sein schwarzes Haar zerzaus, er blickte erschöpft durch seine dicke, eckige Brille und außerdem hatte er einen Dreitagebart. Tatsächlich hatte Dr. Akue wenig Ähnlichkeit mit einem Arzt.

"Jo." Er lächelte verschmitzt. "Wie kann ich dir helfen mein Junge?"

"Schlaftabletten..."

Dr. Akue hob zuerst die eine Augenbraue, dann die andere. Es musste schon sehr eigenartig auf ihn wirken, wie sie auf dem Stuhl hockte, dunkle Ringe unter den Augen und mit matter Stimme nach Schlaftabletten fragte.

"Jo... was willst du damit? Du bist ein junger, kräftiger Mann und brauchst so etwas nicht. Gehe einfach zeitiger ins Bett und schaue davor kein Fernsehen. Diese Bilder wühlen einen nur noch mehr auf."

Erstens war sie kein Mann und zweiten sah sie kein Fernsehen, das hatte sie noch nie getan, schon als sie klein gewesen war nicht, Jack und sie hatten sich einfach keinen leisten können. Aber sie sagte kein Wort sondern lächelte ihn nur müde an.

"Doc... ich glaube sie verstehen nicht... ich..."

"Was soll ich denn nicht verstehen."

"Ich habe Alpträume, ich kann schon seit Wochen nicht mehr einschlafen!"

"Alpträume?" Ernst sah er ihr durch seine dicke Brille in die Augen. Er wirkte wirklich sehr müde. Fast schon so sehr wie sie selbst, es wurde Zeit, das er sich selbst einmal Ruhe gönnte. "Was meinst du damit?"

Sie hob die Schultern. "Doc, sie werden ja wohl wissen, was Alpträume sind!"

Er lächelte bitter und wandte den Blick ab. "Du kannst also nicht schlafen weil du Alpträume hast. Alpträume sind meist ein Zeichen für schlechte Erlebnisse in der Kindheit. Möchtest du darüber reden?"

Belustigt betrachtete Joanne den Arzt. Er war nicht viel älter als dreißig. Seltsam das er schon eine Tochter in dem Alter hatte. Und wo war die Mutter von dem Kind? Je mehr Joanne ihn betrachtete, um so mehr schien sie von dem Schmerz erblicken zu können, der von ihm Besitzt ergriff. Auch Dr. Akue war schlimmes widerfahren.

"Nein, Doc, ich möchte nicht darüber reden... Jedenfalls denke ich, das es nicht ihre Aufgabe ist, mich über meine Vergangenheit auszufragen." Mit diesen Worten erhob sie sich von ihrem Stuhl. Gerade als sie dabei war, den Raum zu verlassen, hielt er sie zurück.

"Warte, Jo!" Er wandte sich nicht zu ihr um, stattdessen begann er in einem Schubfach seines Schreibtisches zu kramen. Es dauerte eine Weile bis er ein kleines, braunes Fläschchen hervorholte. "Fang!" Er warf es ihr schwungvoll zu und sie fing es geschickt auf. Schweigend las sie Baldriantropfen. Verwundert sah sie ihn an.

"Das ist ein altes Naturheilmitten", erklärte er mit verschmitztem Lächeln, "es soll dich besser zur Ruhe kommen lassen. Es ist wenigsten nicht schädlich für so einen jungen Körper, im Gegensatz zu den chemischen Mitteln."

Sie bedankte sich und verließ das Zimmer, während sie sich das Fläschchen in die Hemdtasche steckte. Sie wollte sich gerade zum Gang umwenden, als erschrocken zurücktreten musste. Verblüfft starrte sie in Chikaras blasses Gesicht.

Der junge Japaner stand unmittelbar vor ihr. Er überragte sie kaum und seine dunklen Augen musterten sie mit beinahe feindseligem Blick. Sein Mund wirkte verkniffen, sein Haar war zerzaust, Schweiß lief ihm über die Stirn. Es schien als litt er große Schmerzen.

"Chi... Chikara...", entfuhr es ihr und sie wollte ihm helfen, in Dr. Akues Zimmer zu gelangen, denn es schien, als könne er kaum noch laufen. Doch statt sich zu bedanken, schlug Chikara zornig ihre Hand fort.

"Fass mich nicht, du schwule Sau!" Mit diesen Worten schleppte er sich zur Tür, öffnete sie und trat ein. Joanne konnte noch dumpf Dr. Akues verblüffte Stimme vernehmen. "Chikara!" Dann brach dieser zusammen.

Doch Joanne war zu verärgert um wieder hineinzugehen. Stattdessen wandte sie sich um und lief den Gang hinunter.

Diese Nacht war die erste seit langem, in der sie keine schlechten Träume hatte. Dr. Akues Mittel half...

Die Vergangenheit

"Was weiß ich?", antwortete Kain. "Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?"

"Weh, was hast du getan?" sagte der Herr. "Hörst du nicht, wie das Blut von der Erde ui mir schreit? Du hast den Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch und musst das fruchtbare Ackerland verlassen. Wenn du künftig den Acker bearbeitest, wird er dir den Ertrag verweigern. Als heimatloser Flüchtling musst du auf der Erde umherirren."

(Gen.4, 8-10)
 

"Ja, so ist es gut!" Chins Stimme klang hohl in dem riesigen Raum. Die Dielen unter ihren Füßen knarrten. Der Schweiß stand Joanne auf der Stirn. Nie hätte sie gedacht, das Kendo so anstrengend war. Mit feuchten Händen umklammerte sie das Holzschwert und blickte Chin dabei fest in die Augen. Es war jetzt sicher das zwanzigste Mal, das er sie zum Angriff aufforderte. Wozu? Er würde sie ja doch wieder fortschleudern.

Trotzdem! Sie biss die Zähne zusammen und holte zum Schlag aus. Schwungvoll stieß sie sich vom Boden den japanisch eingerichteten Trainingsraums ab, stürmte auf ihn los, die Holzschwerter schlugen dumpf aufeinander. Dann holte Chin aus, wieder knallten die Schwerter aufeinander, doch diesmal mir solch einer Wucht, das sie zu Boden geworfen wurde. Keuchend blieb sie diesmal liegen.

"Es hat keinen Sinn", presste sie mühselig hervor, denn sie hatte keine Kraft mehr, "ich kann das einfach nicht!"

"Du kannst es schon, aber du bist zu wild", gab Chin mit gleichgültiger Stimme zur Antwort. Er stand über ihr, das Holzschwert noch immer mit seinen schlanken, langen Fingern umklammert und blickte auf sie herab.

Instinktiv griff sie nach dem Schwert, so plötzlich, das er nicht reagieren konnte. Sie zog heftig daran und er stürzte zu Boden. Schnell und geschickt rollte sie sich herum, so das sie diesmal über ihm war. Sie hockte beinahe auf ihm. Ruhig blickte er sie an.

"Sehr gut", meinte er ohne jede Regung und seine dunklen Augen fixierten sie regelrecht. "Aber das Problem ist...", und ohne das damit gerechnet hatte hielt er ihr plötzlich ein anderes Holzschwert an die Kehle, "... du hast mich unterschätzt."

Sie spürte das glatte Holz an ihrem Hals, es war warm und nicht unangenehm. Doch sie stellte sich in diesem Moment vor, es wäre eine richtige Klinge, kalt und scharf und jeden Moment dazu bereit ihr die Haut aufzuschlitzen.

Es erleichterte ungemein als er ihr das Schwert von der Kehle nahm. Dennoch blieb sie auf ihm hocken. Sie starrte ihn regelrecht an. Sie musterte sein Gesicht, prägte sich seine Züge ein, ließ ihn auf sich wirken. Er war gutaussehend. Er war sogar sehr hübsch. Seine markanten Züge ließen ihn fast exotisch wirken. Ihr Herz begann wie wild zu pochen. Sie spürte das sie rot wurde.

Und dann war es wieder da! Dieses Bild! Blut, überall Blut! Und er hielt ihr ein Schwert an die Kehle! Ein echtes Schwert!

"Nein!" Sie fiel nach vorn. Ihr Kopf fiel auf seine Brust. Sie konnte sein Herz klopfen hören. Gleichmäßig. Ruhig. Dadom, Dadom...Würde es auch so schlagen während er sie tötete? "Nein!" Ihre Finger krallten sich in sein Hemd.

"Joanne, Joanne, was hast..."

"Nein!" Sie war ganz nah an seinem Gesicht. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen. Erschrocken sprang sie auf, die Finger in ihrem Haar vergraben, die Nägel bohrten sich durch die Kopfhaut.

Blut! Überall war es! Es war überall! Ein Meer aus Blut!

"Luzifer!" Sie schrie es an die Decke. Sie schrie es ganz laut. Er sollte sie hören. Er sollte ihre Stimme hören! Ihre Verzweiflung!

"Luzifer..." Matt ging sie zu Boden, kauerte sich wimmernd zusammen. "Luzifer... mach das es aufhört... bitte... mach das es aufhört... ich ertrage das... nicht."

"Joanne?" Chins Hände ergriffen ihre Schultern. Er legte seine Arme um sie und drückte sie fest an sich. "Joanne, es wird alles gut. Sag mir was du siehst. Erzähl mir was du siehst."

Es dauerte einen Augenblick, das machte sie sich langsam von ihm los und blickte ihm fest in die Augen. Keine Tränen waren in ihren Augen. Nur eine Panik, die ihm selbst Angst einjagte. Was ging in ihr vor? Was waren es für Bilder die Luzifer ihr schickte? Was sah sie? Was, verdammt, sah sie?

"Ich sehe dich... ich sehe dich und ganz viel Blut." Ihre grünen Augen glänzten. Ihre Stimme wurde lauter je länger sie sprach. "Ich sehe dich und du wirst mich töten."

Er wehrte sich nicht als sie ihn fortstieß. Er wusste genau was sie sah. Es waren nicht etwa Bilder aus der Zukunft, so wie sie es vermutete, sondern Bilder aus der Vergangenheit. Aus seiner Vergangenheit!

"Warum... Chin... warum ich?" Es war nicht etwa Joanne, die gerade zu ihm sprach. Diese Stimme, diese Ausstrahlung...

"Kaori!", rief er ihr zu, doch folgte er ihr nicht, als sie aus dem Raum stürmte. Wie versteinert stand er da und blickte ihr nach. Der Kampf hatte ihn nicht ermüdet, dennoch standen ihm nun Schweißperlen auf der Stirn. Kalter Schweiß auf seinem ganzen Körper. Und ein Gefühl der Zerrissenheit tief in ihm. Joanne... Kaori...

"Dies ist sein Spiel, so macht er es immer, das weißt du doch." Chin musste sich nicht umwenden um zu wissen, wer plötzlich hinter ihm stand. Er kannte diese Stimme. Sein Leben lang schon hatte sie ihn begleitet. Diese ruhige, klare Stimme.

Im Laufe der Zeit hatte Michael sich nicht verändert, obwohl Chin noch ein kleiner Junge gewesen war, als sie sich das erste man begegneten. Noch immer waren Michael Haare blond, er trug einen weißen langen Mantel. Seine schlanke Gestalt schien zu leuchten. Seine blauen Augen strahlten so hell und vertrauensvoll. Er war ein warmes, sanftes Licht, das über Chin wachte und der krasse Gegensatz zu Luzifer. Die beiden schienen wie das Ying und das Yang.

"Warum tut er das?", fragte Chin und starrte unentwegt die Tür an, durch welche Joanne den Raum verlassen hatte. Ihr Duft schien noch immer die Luft um ihn herum zu erfüllen.

"Weil er dich quälen will... warum denn sonst?" Michael betrachtete seinen Schützling ernst. "Und du fühlst dich gequält. Weil du sie liebst. Warum? Weil sie dich an Kaori erinnert."

"Wohl kaum, sie haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Kaori war schwach. Sehr viel schwächer als Joanne..."

Ihr blondes Haar, ihre Ausstrahlung... Kaori war wunderschön gewesen, auf eine solch bezaubernde Art und Weise, das sie Chin sofort in ihren Bann gezogen hatte...

Chin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich müde und schwach. Es war, als wäre all seine Kraft aus ihm gewichen. Die Bilder der Vergangenheit waren von Neuem in ihm erwacht. Erfüllten seinen Verstand. Machten sich in ihm breit. Zerfraßen ihn.

Kaoris toter Körper lag vor ihm. Reglos. Blutüberströmt. Ihre leeren, toten Augen blickte ihn vorwurfsvoll an, so als wolle sie ihn fragen "Warum hast du das getan?"

Er wusste es selbst nicht. Er wusste nicht, warum er es getan hatte. Er konnte es ihr nicht sagen. Er konnte ihr keine Antwort auf ihre stille Frage geben. Nein, er wusste nicht warum er es getan hatte, was ihn dazu getrieben hatte, er wusste nur, das er es hatte tun müssen. Aber er hatte sie doch geliebt. Weshalb hatte Gott ihm diesen furchtbaren Streich gespielt?

Es war Michael, der von ihm Besitz ergriffen hatte und somit hatte er sie getötet, denn Luzifer hatte ihren Körper als Hülle gewählt.

"Schon immer war es Michaels Aufgabe Luzifer zu töten, das weißt du doch, Chin." Michaels Stimme klang ruhig, geradezu beschwichtigend.

"Ich bin müde, ich möchte jetzt nicht darüber reden..."

"Es geht dir nicht aus dem Kopf, habe ich Recht? Du musst darüber reden, sonst gehst du daran kaputt!"

"Ich habe sie geliebt und dann habe ich sie mit meinen eigenen Händen umgebracht!" Er sah Michael geradewegs in seine blauen, strahlenden Augen. Aus einem tiefen Gefühl des Schmerzes und der Trauer heraus stellte er ihm eine Frage, die ihm seit diesem Vorfall auf der Seele lastete: "Weißt du was das für ein Gefühl ist?"

Die Reaktion war genauso, wie er sie erwartet hatte: Michael schwieg ohne auch nur eine Regung zu zeigen. Natürlich wusste er es nicht. Er war schließlich ein Engel. Er durfte sich gar nicht verlieben, das war gegen die Gebote des Himmels. Wie sollte Michael dann wissen, wie er sich fühlte?

Chin seufzte. Ohne weitere Worte verließ auch er das Zimmer. Er wollte jetzt lieber allein sein. Niemand sollte sehen wie er weinte. Wie er um das weinte was geschehen war und was er angerichtet hatte. Die Erinnerungen waren noch so klar, dabei war es bereits fünf Jahre her.
 

Es war ein warmer Abend im Sommer gewesen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Chin sich ruhig seinen Weg durch die Gassen bahnte. Noch immer musste er darüber nachdenken was Michael ihm erzählt hatte. Kaori trägt Luzifers Seele in sich, du musst sie töten!

Nein... nein, das wollte er ihm nicht glauben! Er liebte sie! Er liebte Kaori, nie im Leben würde er ihr etwas antun können. Michael wusste doch davon, warum hatte er es ihm dann erzählt? Damit er sich quälte? Oder damit er auf der Hut war? Er würde nun sehr aufpassen müssen! Vielleicht sollten sie aufhören sich zu treffen? Aber er liebte sie doch so sehr!

Er war gerade erst neunzehn und sie war seine erste große Liebe. Sie hatten sich in der Stadt getroffen und er hatte sie einfach angesprochen. Mit einem Lächeln hatte sie mit ihm gesprochen. Sie hatte sich in ihn verliebt. Sie liebte ihn ebenfalls. Oder etwa nicht?

Ohne es gemerkt zu haben, war er in einer recht abgelegenen Gasse gelandet. Sie war dunkel, und das einzigste, was er sehen konnte, war ein schmaler schlanker Schatten. Er blickte hinter sich, doch nirgends waren Menschen. Er war allein. Das war gut! Es war nie gut wenn Menschenmassen in Panik gerieten.

"Kaori?", fragte er, obwohl er sicher war, das sie es war. "Was tust du hier?" Er griff nach dem Katana unter seinem schwarzen Mantel. Nein, gegen sie wollte er nicht kämpfen. Aber gegen Luzifer. Wenn er ihn tötete, dann stand ihnen nichts mehr im Weg.

"Ich habe auf dich gewartet." Sie trat aus dem Schatten hervor, doch war es nicht ihre Stimme die zu ihm sprach, sondern Luzifers. Mit eisigen Augen blickte sie ihn an, doch auch sie gehörten in Wirklichkeit Luzifer. "Ich wusste das du herkommen würdest. Du hasst mich und willst mich töten. Aber wie willst du das anstellen?"

"Indem ich dir deine verdammte Kehle aufschlitze!" Chin war zornig. Seine Augen glänzten vor Wut, sein Gesicht war verzerrt. Er würde alles daran setzen Kaori von diesem Monster zu befreien. Alles! "Und jetzt zeig deine wahre Gestalt, Luzifer! Missbrauche nicht ihren Körper für deine Zwecke!"

"Sie hat sich mir hingegeben!" Höhnisch grinste der Satan ihn an, aus ihrem Gesicht heraus. Ihr hübsches Gesicht... "Das war Teil des Paktes. Ihr Körper gehört nun mir! Mir, ganz allein!"

In diesem Moment ergriff eine unglaubliche Wut von Chin besitz. Er konnte gar nicht mehr klar denken, alles um ihn herum begann sich zu drehen. Es war, als würden sich seine Gedanken langsam ausschalten, herunterfahren, wie bei einem Computer. Was geschah mit ihm? Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Er konnte nichts mehr sehen. Da war nur noch schwarz! Was er tat, waren nicht mehr seine Handlungen.

Und als er wieder klarer im Kopf wurde, als sein Verstand langsam wieder normal arbeitete und wieder richtig sehen konnte, sah er was er getan hatte. Blutverschmiert lag sie auf dem Boden. Um sie herum eine Blutlache. Ihr totes Gesicht war zu ihm gewandt. Vorwurfsvoll starrte sie ihn aus leeren Augen an.

Was hatte er getan?

Was hatte er getan?

Seine geliebte...

Seine schöne...

Seine Kaori!!!

"Nein...", seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. "Nein..." Er sackte auf dem Boden zusammen und starrten ihren toten Körper fassungslos an. "Nein..."

Seine Hände griffen tasteten unendlich langsam nach ihr und strichen sanft über ihre kalten Wangen. Doch sie regte sich nicht. Starrte ihn nur aus toten Augen an.

"Kaori... meine Kaori... bitte... wach auf..."

Er war wie in Trance, als er ihren Kopf in seine Arme nahm und ihren leblosen Körper sanft hin- und herwiegte, wie ein kleines Kind, das man beruhigen musste, damit es endlich schlief. Doch er wollte nicht, das Kaori schlief. Er wollte das sie aufwachte...

Doch sie würde nicht aufwachen...

Nie wieder wurde sie ihn durch ihre blauen, strahlenden Augen anblicken...

Nie wieder...
 

Schweigend und mit ernstem Blick betrachtete sich Joanne in dem Spiegel hinter dem Waschbecken auf der Männertoilette. Sie stand da, die Hände auf das Waschbecken gestützt und das Gesicht ganz nah an ihrem eigenen. Es war seltsam. Obwohl sie wusste, das sie es war, kam es ihr dennoch vor, als würde sie dort eine völlig andere Person betrachten, die ihr einfach nur etwas ähnlich war und sie auf der anderen Seite nachäffte.

Beinahe erschreckend fand sie ihr eigenes Spiegelbild. Sicher, sie war nicht hässlich, zumindest hatte das noch nie jemand von ihr behauptet, aber sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war blass, die Narbe auf der linken Wange trat dunkel hervor. Tiefe, dunkle Ringe umrahmten ihr Augen, und ihr rot gefärbtes kurzes Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Sie gab einen sehr schmächtigen Jungen ab.

Ob er mich liebt?

"Unsinn!"

Aber er hat mich heute so seltsam angesehen.

"Das muss du dir eingebildet haben."

Ich jedenfalls mag ihn.

"Ja, ich mag ihn..."

"Tust du das wirklich?"

Sie musste sich gar nicht umwenden. Aus dem Spiegel heraus erkannte sie wer sich unbemerkt an sie herangeschlichen hatte. Mit spöttischem Blick betrachtete Luzifer ihr Spiegelbild. Er selbst stand an der Wand gegenüber gelehnt, die arme vor der Brust verschränkt.

"Was verstehst du unter ihn mögen?" Es klang nicht nach einer wirklichen Frage. Eher danach, als wolle er sie auf die Probe stellen. Als wolle er wissen, was sie in einer solchen Situation antworten würden.

Sie blickte ihn nicht an als sie sprach. So ruhig wie möglich entgegnete sie: "Ich finde ihn interessant. Ob ich ihn liebe, oder nicht, das werde ich noch herausfinden. Ich jedenfalls finde nicht, dass dich das etwas angehen könnte."

"Oh, findest du das?" Sie hörte wie er an sie herantrat, doch noch immer starrte sie den Abfluss des Waschbeckens an. Sie wollte ihn nicht anblicken. Sie wollte nicht in seine Augen sehen. Es tat ihr weh, ihn zu sehen. Er war so kalt. Genau wie seine Berührungen. Sanft strich er über den Rücken, umfasste ihr Schulter und zwang sie somit, sich aufzurichten, und ihn durch den Spiegel anzublicken. Seine kalten, schlanken Finger strichen ihren Hals entlang.

Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als er den Mund an ihr Ohr legte und langsam erklärte: "Aber es geht mich mehr an als du denkst. Es ist sogar äußerst wichtig für mich. Denn es gibt da etwas, was du wissen solltest." Er strich ihren Hals entlang. "Es gefällt dir doch, wenn er dir nahe ist, oder etwa nicht?"

Sie konnte gar nicht anders, sie gab als Antwort ein zaghaftes Nicken von sich.

"Und du magst es, wenn er dich berührt."

Sie nickte wieder.

Luzifer ließ von ihr ab. Es war, als hätte, kurz bevor er sich umwandte, einen verbitterten Ausdruck in seinem Gesicht bemerkt. Doch dies war sicher nur Einbildung gewesen. Er hatte keine Gefühle. Nein, er nicht.

"So ist es jedes Mal", meinte er müde. "Ich bin es langsam leid, ich kann tun was ich will... so endet es jedes Mal."

Mit dem Rücken zu ihr gewandt stand er da, so das sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch bemerkte sie, wie er seine Hände zu Fäusten ballte. Es schien, als würde ihm etwas Schmerzen zufügen. Seelische Schmerzen. So stark, das ihr kleiner Menschenverstand sie nicht begreifen konnte, denn es waren die Erinnerungen eines Mannes, der schon seit Äonen auf diesem Planeten wandelte, wie ein unruhiger Heimatloser.

"Erzähl mir davon." In diesem Moment ahnte sie noch nicht, wie sehr sie diese Aufforderung noch bereuen würde. Sie hatte einfach nur das große Bedürfnis seine Schmerzen zu lindern. Die Schmerzen eines Sünders.

"Ich bin Luzifer", begann er, noch immer von ihr abgewandt, "Ich habe mich gegen den Himmel aufgelehnt und wurde von Michael in die Hölle gestoßen. So zumindest besagt es die Bibel. So steht es überall. Und so war es auch. Zumindest anfangs. Doch ich hielt es nicht aus, in der Hölle. Also ging ich nach oben, auf die Erde. Ich fand einen Menschen, der bereit war mir seinen Körper zu überlassen. Doch es war gegen Gottes Strafe, das ich dies tat. Also schickte er mit Michael hinterher, dessen Aufgabe darin bestand, ebenfalls einen Körper zu finden, der ihm dazu dienen würde, den meinen zu zerstören. Dies sollte so lange gehen, bis ich aufgebe, oder nicht mehr genug Kräfte besitze. Das war vor mehreren tausend Jahren, als die Menschen noch in Höhlen lebten. Und in all diesen Jahren vollzog Michael Gottes Strafe. Ich suchte mir eine Hülle, Michael suchte sich eine Hülle, tötete die meine. Ich suchte mir eine neue, er tötete sie wieder. Doch zu allem übel kam es das eine Mal dazu, das sich die Träger von Michaels und meiner Hülle ineinander verliebten. Dennoch kam Michaels Träger seiner Aufgabe nach und tötete meinen Träger. Und seitdem geschah dies jedes mal. Unsere Träger verliebten sich ineinander, doch Michael besiegte mich..."

Joanne hatte den Atem angehalten und starrte Luzifer nun fassungslos an. "Das... das ist ja furchtbar... Aber wieso das alles?"

"Ich denke, es ist eine Strafe Gottes. Er will mich leiden sehen. Und ich leide, jedes mal wenn der Körper, der meine Seele in sich trägt, getötet wird. Doch bin nicht ich es, der stirbt, sondern der Mensch. Aber ich darf nicht aufgeben. Ich darf Gott nicht den Sieg überlassen..."

Nur langsam wurde Joanne klar, das sie es nun war, die Luzifers Seele in sich trug. War sie nun auch dem Tod geweiht? Wahrscheinlich. Doch machte ihr dieser Gedanke keine Angst. Sie hatte so viele furchtbare Dinge erlebt, das der Tod ihr wie eine Erlösung vorkam. Was ihr jedoch mehr Sorgen bereitete: Wer würde sie töten?

"Was kann ich tun, Luzifer?"

Er schüttelte matt den Kopf. "Du würdest es nicht tun, selbst wenn ich es dir sagen würde."

"Nein!" Energisch schüttelte sie den Kopf, während sie an Luzifer herantrat und ihre Finger seinem Arm umfassten. "Nein, ich werde dir helfen!"

Fest blickte er ihr in den Augen. Doch sie hielt seinem kalten Blick stand. "Dann töte ihn!"

"Wen?"

"Chin!"

"Was? Aber warum das..." Es war als hätte sie der Schlag getroffen. Kalt lief es ihr den Rücken herunter. "Nein...", hauchte sie mühselig. "Das... kann nicht sein..."

"Doch!" Langsam griff Luzifer nach ihren Schultern, seine Hände streichelten sanft ihr Hals. "Doch... Chin ist Michael..."

Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Nicht er! Nicht Chin! Sicher, sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, doch sie liebte ihn. Sie hatte sich in ihn verliebt. Aber sie kannte ihn doch kaum...

"Ich... ich liebe ihn...", stammelte sie, wobei sie Luzifer flehend ansah.

"Nein, Joanne!" Seine Hände umgriffen fest ihr Schultern, so das es weh tat. Doch sie sagte nichts. Sie sah ihn nur fassungslos an. Aus großen Augen blickte sie in seine hellen, eisigen, in der ein unglaublich tiefer Schmerz lag, der sich mit jedem Augenblick zu vergrößern schien. "Du liebst ihn nicht wirklich. Das alles gehört zu Gottes Plan. Er lässt dich glauben, das du ihn liebst, damit es noch grausamer für mich wird mit anzusehen wie du von ihm getötet wirst. Denn wir sind eins! Ich fühle wie du! Du musst dagegen ankämpfen!"

"Ich liebe ihn gar nicht wirklich." Wie in Trance klangen ihre Worte, als sie sie langsam wiederholte. Sie liebte ihn nicht? Das gehörte einfach nur zu Gottes Plan? Sie sollte sich in ihn verlieben, nur damit sie von ihm getötet wurden? Von was für einem Gott sprachen sie hier?

"Bitte, Joanne", wimmerte er und legte seine Stirn an die ihre. Selbst sein Gesicht war kalt, doch diesmal war seine Berührung zärtlich und liebevoll. "Bitte, Joanne... lass dich nicht auf ihn ein. Er würde dich töten, und ich ertrage das nicht mehr. Du musst den Fluch auflösen. Du musst..."

"Schon gut..." Es war eigenartig. Er war der Teufel, Satan, der Verführer, der gefallene Engel, und er lehnte sich hier an sie und sie versuchte ihn zu töten, als wäre er ein völlig normaler Mensch. War dies vielleicht seine wirkliche Sünde gewesen? Hatte er sich wie ein Mensch verhalten in dem er versucht hatte den Himmel zu erobern? Hatte er nicht auch versagt. Etwas das menschlich war. War er vielleicht mehr Mensch als alles andere?

Während sie darüber nachdachte strich sie ihm sanft über das Haar. "Ich werde tun was du mir sagt... Luzifer... ich werde es tun... Ich werde mich von nun an so gut wie möglich von ihm fern halten. Es soll nicht länger so weitergehen wie bisher. Ich werde verhindern das es so weitergeht. Ich werde es verhindern..."

"Als ich dich erwählt habe, Joanne", drang seine Stimme dumpf an ihr Ohr, "wusste ich, das du etwas ganz besonderes bist. Du bist nicht wie die anderen. In dir liegt eine Kraft, die mir eine sehr große Hilfe ist. Ich danke dir... ich weiß das du es schaffen wirst."

Noch für einige Zeit blieben sie zu stehen, dann machte er sich vorsichtig los, sah sie noch einmal an und verschwand so plötzlich wie er gekommen und wie es seine Art war. Was blieb war seine Kälte, die den ganzen Raum erfüllte und ein dumpfes Gefühl, welches Joanne ergriff. Sie fühlte, wie etwas in ihr aufstieg. Eine unglaubliche Traurigkeit, ein unglaublicher Schmerz. Luzifers Schmerz. Doch kam es ihr diesmal so vor, als wäre es ihr eigener. Erschöpft sackte sie auf den Boden, zog die Beine an, legte den Kopf auf die Arme und begann zu weinen. Sie weinte so sehr, wie sie schon lange nicht mehr geweint hatte. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie nicht mehr so herzerweichend geweint, denn in diesem Moment war es für sie, als laste der gesamt Schmerz dieser Welt auf ihr, erfülle sie und ließe sie nun nie wieder los.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2006-01-13T21:02:51+00:00 13.01.2006 22:02
Danke, danke, zu viel der Ehre^^
*verbeug*
Schön das es dir gefällt!
Von: abgemeldet
2006-01-13T19:47:47+00:00 13.01.2006 20:47
Wieder in tolles Kapi! Verfasst in schönem Schreibstil und guter Rechtschreibung. *smirk*
Freu mich schon auf Neues.
Mata ne,
deine Schlange
Von: abgemeldet
2006-01-13T19:31:52+00:00 13.01.2006 20:31
Wieder ein spannendes Kapitel mit spannendem ende. *grin*
Obwohl Joannes Kraft dann doch ein bisschen ominös ist... Pass auf, dass die Hauptfigur nicht übertrieben wirkt!
Bis zum nächsten Kapi,
erdschlange
Von: abgemeldet
2006-01-13T19:16:27+00:00 13.01.2006 20:16
Wirklich ein gelungenes Kapitel, sehr spannend geschrieben. Die Bibelzitate sind eine gute Idee!
Schreib weiter so, bis demnächst,
erdschlange
Von: abgemeldet
2006-01-13T17:49:32+00:00 13.01.2006 18:49
Nyo, ein bisschen kurz, nich? Aber darf ein Prolog ja sein... *smirk*
Ein guter Anfang, den du da fabriziert hast. ^^
Bye,
erdschlange


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