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Der Garten des Lebens

Krieg der Engel
von

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Die Vergangenheit

"Was weiß ich?", antwortete Kain. "Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?"

"Weh, was hast du getan?" sagte der Herr. "Hörst du nicht, wie das Blut von der Erde ui mir schreit? Du hast den Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch und musst das fruchtbare Ackerland verlassen. Wenn du künftig den Acker bearbeitest, wird er dir den Ertrag verweigern. Als heimatloser Flüchtling musst du auf der Erde umherirren."

(Gen.4, 8-10)
 

"Ja, so ist es gut!" Chins Stimme klang hohl in dem riesigen Raum. Die Dielen unter ihren Füßen knarrten. Der Schweiß stand Joanne auf der Stirn. Nie hätte sie gedacht, das Kendo so anstrengend war. Mit feuchten Händen umklammerte sie das Holzschwert und blickte Chin dabei fest in die Augen. Es war jetzt sicher das zwanzigste Mal, das er sie zum Angriff aufforderte. Wozu? Er würde sie ja doch wieder fortschleudern.

Trotzdem! Sie biss die Zähne zusammen und holte zum Schlag aus. Schwungvoll stieß sie sich vom Boden den japanisch eingerichteten Trainingsraums ab, stürmte auf ihn los, die Holzschwerter schlugen dumpf aufeinander. Dann holte Chin aus, wieder knallten die Schwerter aufeinander, doch diesmal mir solch einer Wucht, das sie zu Boden geworfen wurde. Keuchend blieb sie diesmal liegen.

"Es hat keinen Sinn", presste sie mühselig hervor, denn sie hatte keine Kraft mehr, "ich kann das einfach nicht!"

"Du kannst es schon, aber du bist zu wild", gab Chin mit gleichgültiger Stimme zur Antwort. Er stand über ihr, das Holzschwert noch immer mit seinen schlanken, langen Fingern umklammert und blickte auf sie herab.

Instinktiv griff sie nach dem Schwert, so plötzlich, das er nicht reagieren konnte. Sie zog heftig daran und er stürzte zu Boden. Schnell und geschickt rollte sie sich herum, so das sie diesmal über ihm war. Sie hockte beinahe auf ihm. Ruhig blickte er sie an.

"Sehr gut", meinte er ohne jede Regung und seine dunklen Augen fixierten sie regelrecht. "Aber das Problem ist...", und ohne das damit gerechnet hatte hielt er ihr plötzlich ein anderes Holzschwert an die Kehle, "... du hast mich unterschätzt."

Sie spürte das glatte Holz an ihrem Hals, es war warm und nicht unangenehm. Doch sie stellte sich in diesem Moment vor, es wäre eine richtige Klinge, kalt und scharf und jeden Moment dazu bereit ihr die Haut aufzuschlitzen.

Es erleichterte ungemein als er ihr das Schwert von der Kehle nahm. Dennoch blieb sie auf ihm hocken. Sie starrte ihn regelrecht an. Sie musterte sein Gesicht, prägte sich seine Züge ein, ließ ihn auf sich wirken. Er war gutaussehend. Er war sogar sehr hübsch. Seine markanten Züge ließen ihn fast exotisch wirken. Ihr Herz begann wie wild zu pochen. Sie spürte das sie rot wurde.

Und dann war es wieder da! Dieses Bild! Blut, überall Blut! Und er hielt ihr ein Schwert an die Kehle! Ein echtes Schwert!

"Nein!" Sie fiel nach vorn. Ihr Kopf fiel auf seine Brust. Sie konnte sein Herz klopfen hören. Gleichmäßig. Ruhig. Dadom, Dadom...Würde es auch so schlagen während er sie tötete? "Nein!" Ihre Finger krallten sich in sein Hemd.

"Joanne, Joanne, was hast..."

"Nein!" Sie war ganz nah an seinem Gesicht. Ihre Augen waren vor Panik weit aufgerissen. Erschrocken sprang sie auf, die Finger in ihrem Haar vergraben, die Nägel bohrten sich durch die Kopfhaut.

Blut! Überall war es! Es war überall! Ein Meer aus Blut!

"Luzifer!" Sie schrie es an die Decke. Sie schrie es ganz laut. Er sollte sie hören. Er sollte ihre Stimme hören! Ihre Verzweiflung!

"Luzifer..." Matt ging sie zu Boden, kauerte sich wimmernd zusammen. "Luzifer... mach das es aufhört... bitte... mach das es aufhört... ich ertrage das... nicht."

"Joanne?" Chins Hände ergriffen ihre Schultern. Er legte seine Arme um sie und drückte sie fest an sich. "Joanne, es wird alles gut. Sag mir was du siehst. Erzähl mir was du siehst."

Es dauerte einen Augenblick, das machte sie sich langsam von ihm los und blickte ihm fest in die Augen. Keine Tränen waren in ihren Augen. Nur eine Panik, die ihm selbst Angst einjagte. Was ging in ihr vor? Was waren es für Bilder die Luzifer ihr schickte? Was sah sie? Was, verdammt, sah sie?

"Ich sehe dich... ich sehe dich und ganz viel Blut." Ihre grünen Augen glänzten. Ihre Stimme wurde lauter je länger sie sprach. "Ich sehe dich und du wirst mich töten."

Er wehrte sich nicht als sie ihn fortstieß. Er wusste genau was sie sah. Es waren nicht etwa Bilder aus der Zukunft, so wie sie es vermutete, sondern Bilder aus der Vergangenheit. Aus seiner Vergangenheit!

"Warum... Chin... warum ich?" Es war nicht etwa Joanne, die gerade zu ihm sprach. Diese Stimme, diese Ausstrahlung...

"Kaori!", rief er ihr zu, doch folgte er ihr nicht, als sie aus dem Raum stürmte. Wie versteinert stand er da und blickte ihr nach. Der Kampf hatte ihn nicht ermüdet, dennoch standen ihm nun Schweißperlen auf der Stirn. Kalter Schweiß auf seinem ganzen Körper. Und ein Gefühl der Zerrissenheit tief in ihm. Joanne... Kaori...

"Dies ist sein Spiel, so macht er es immer, das weißt du doch." Chin musste sich nicht umwenden um zu wissen, wer plötzlich hinter ihm stand. Er kannte diese Stimme. Sein Leben lang schon hatte sie ihn begleitet. Diese ruhige, klare Stimme.

Im Laufe der Zeit hatte Michael sich nicht verändert, obwohl Chin noch ein kleiner Junge gewesen war, als sie sich das erste man begegneten. Noch immer waren Michael Haare blond, er trug einen weißen langen Mantel. Seine schlanke Gestalt schien zu leuchten. Seine blauen Augen strahlten so hell und vertrauensvoll. Er war ein warmes, sanftes Licht, das über Chin wachte und der krasse Gegensatz zu Luzifer. Die beiden schienen wie das Ying und das Yang.

"Warum tut er das?", fragte Chin und starrte unentwegt die Tür an, durch welche Joanne den Raum verlassen hatte. Ihr Duft schien noch immer die Luft um ihn herum zu erfüllen.

"Weil er dich quälen will... warum denn sonst?" Michael betrachtete seinen Schützling ernst. "Und du fühlst dich gequält. Weil du sie liebst. Warum? Weil sie dich an Kaori erinnert."

"Wohl kaum, sie haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Kaori war schwach. Sehr viel schwächer als Joanne..."

Ihr blondes Haar, ihre Ausstrahlung... Kaori war wunderschön gewesen, auf eine solch bezaubernde Art und Weise, das sie Chin sofort in ihren Bann gezogen hatte...

Chin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich unglaublich müde und schwach. Es war, als wäre all seine Kraft aus ihm gewichen. Die Bilder der Vergangenheit waren von Neuem in ihm erwacht. Erfüllten seinen Verstand. Machten sich in ihm breit. Zerfraßen ihn.

Kaoris toter Körper lag vor ihm. Reglos. Blutüberströmt. Ihre leeren, toten Augen blickte ihn vorwurfsvoll an, so als wolle sie ihn fragen "Warum hast du das getan?"

Er wusste es selbst nicht. Er wusste nicht, warum er es getan hatte. Er konnte es ihr nicht sagen. Er konnte ihr keine Antwort auf ihre stille Frage geben. Nein, er wusste nicht warum er es getan hatte, was ihn dazu getrieben hatte, er wusste nur, das er es hatte tun müssen. Aber er hatte sie doch geliebt. Weshalb hatte Gott ihm diesen furchtbaren Streich gespielt?

Es war Michael, der von ihm Besitz ergriffen hatte und somit hatte er sie getötet, denn Luzifer hatte ihren Körper als Hülle gewählt.

"Schon immer war es Michaels Aufgabe Luzifer zu töten, das weißt du doch, Chin." Michaels Stimme klang ruhig, geradezu beschwichtigend.

"Ich bin müde, ich möchte jetzt nicht darüber reden..."

"Es geht dir nicht aus dem Kopf, habe ich Recht? Du musst darüber reden, sonst gehst du daran kaputt!"

"Ich habe sie geliebt und dann habe ich sie mit meinen eigenen Händen umgebracht!" Er sah Michael geradewegs in seine blauen, strahlenden Augen. Aus einem tiefen Gefühl des Schmerzes und der Trauer heraus stellte er ihm eine Frage, die ihm seit diesem Vorfall auf der Seele lastete: "Weißt du was das für ein Gefühl ist?"

Die Reaktion war genauso, wie er sie erwartet hatte: Michael schwieg ohne auch nur eine Regung zu zeigen. Natürlich wusste er es nicht. Er war schließlich ein Engel. Er durfte sich gar nicht verlieben, das war gegen die Gebote des Himmels. Wie sollte Michael dann wissen, wie er sich fühlte?

Chin seufzte. Ohne weitere Worte verließ auch er das Zimmer. Er wollte jetzt lieber allein sein. Niemand sollte sehen wie er weinte. Wie er um das weinte was geschehen war und was er angerichtet hatte. Die Erinnerungen waren noch so klar, dabei war es bereits fünf Jahre her.
 

Es war ein warmer Abend im Sommer gewesen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Chin sich ruhig seinen Weg durch die Gassen bahnte. Noch immer musste er darüber nachdenken was Michael ihm erzählt hatte. Kaori trägt Luzifers Seele in sich, du musst sie töten!

Nein... nein, das wollte er ihm nicht glauben! Er liebte sie! Er liebte Kaori, nie im Leben würde er ihr etwas antun können. Michael wusste doch davon, warum hatte er es ihm dann erzählt? Damit er sich quälte? Oder damit er auf der Hut war? Er würde nun sehr aufpassen müssen! Vielleicht sollten sie aufhören sich zu treffen? Aber er liebte sie doch so sehr!

Er war gerade erst neunzehn und sie war seine erste große Liebe. Sie hatten sich in der Stadt getroffen und er hatte sie einfach angesprochen. Mit einem Lächeln hatte sie mit ihm gesprochen. Sie hatte sich in ihn verliebt. Sie liebte ihn ebenfalls. Oder etwa nicht?

Ohne es gemerkt zu haben, war er in einer recht abgelegenen Gasse gelandet. Sie war dunkel, und das einzigste, was er sehen konnte, war ein schmaler schlanker Schatten. Er blickte hinter sich, doch nirgends waren Menschen. Er war allein. Das war gut! Es war nie gut wenn Menschenmassen in Panik gerieten.

"Kaori?", fragte er, obwohl er sicher war, das sie es war. "Was tust du hier?" Er griff nach dem Katana unter seinem schwarzen Mantel. Nein, gegen sie wollte er nicht kämpfen. Aber gegen Luzifer. Wenn er ihn tötete, dann stand ihnen nichts mehr im Weg.

"Ich habe auf dich gewartet." Sie trat aus dem Schatten hervor, doch war es nicht ihre Stimme die zu ihm sprach, sondern Luzifers. Mit eisigen Augen blickte sie ihn an, doch auch sie gehörten in Wirklichkeit Luzifer. "Ich wusste das du herkommen würdest. Du hasst mich und willst mich töten. Aber wie willst du das anstellen?"

"Indem ich dir deine verdammte Kehle aufschlitze!" Chin war zornig. Seine Augen glänzten vor Wut, sein Gesicht war verzerrt. Er würde alles daran setzen Kaori von diesem Monster zu befreien. Alles! "Und jetzt zeig deine wahre Gestalt, Luzifer! Missbrauche nicht ihren Körper für deine Zwecke!"

"Sie hat sich mir hingegeben!" Höhnisch grinste der Satan ihn an, aus ihrem Gesicht heraus. Ihr hübsches Gesicht... "Das war Teil des Paktes. Ihr Körper gehört nun mir! Mir, ganz allein!"

In diesem Moment ergriff eine unglaubliche Wut von Chin besitz. Er konnte gar nicht mehr klar denken, alles um ihn herum begann sich zu drehen. Es war, als würden sich seine Gedanken langsam ausschalten, herunterfahren, wie bei einem Computer. Was geschah mit ihm? Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Er konnte nichts mehr sehen. Da war nur noch schwarz! Was er tat, waren nicht mehr seine Handlungen.

Und als er wieder klarer im Kopf wurde, als sein Verstand langsam wieder normal arbeitete und wieder richtig sehen konnte, sah er was er getan hatte. Blutverschmiert lag sie auf dem Boden. Um sie herum eine Blutlache. Ihr totes Gesicht war zu ihm gewandt. Vorwurfsvoll starrte sie ihn aus leeren Augen an.

Was hatte er getan?

Was hatte er getan?

Seine geliebte...

Seine schöne...

Seine Kaori!!!

"Nein...", seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. "Nein..." Er sackte auf dem Boden zusammen und starrten ihren toten Körper fassungslos an. "Nein..."

Seine Hände griffen tasteten unendlich langsam nach ihr und strichen sanft über ihre kalten Wangen. Doch sie regte sich nicht. Starrte ihn nur aus toten Augen an.

"Kaori... meine Kaori... bitte... wach auf..."

Er war wie in Trance, als er ihren Kopf in seine Arme nahm und ihren leblosen Körper sanft hin- und herwiegte, wie ein kleines Kind, das man beruhigen musste, damit es endlich schlief. Doch er wollte nicht, das Kaori schlief. Er wollte das sie aufwachte...

Doch sie würde nicht aufwachen...

Nie wieder wurde sie ihn durch ihre blauen, strahlenden Augen anblicken...

Nie wieder...
 

Schweigend und mit ernstem Blick betrachtete sich Joanne in dem Spiegel hinter dem Waschbecken auf der Männertoilette. Sie stand da, die Hände auf das Waschbecken gestützt und das Gesicht ganz nah an ihrem eigenen. Es war seltsam. Obwohl sie wusste, das sie es war, kam es ihr dennoch vor, als würde sie dort eine völlig andere Person betrachten, die ihr einfach nur etwas ähnlich war und sie auf der anderen Seite nachäffte.

Beinahe erschreckend fand sie ihr eigenes Spiegelbild. Sicher, sie war nicht hässlich, zumindest hatte das noch nie jemand von ihr behauptet, aber sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war blass, die Narbe auf der linken Wange trat dunkel hervor. Tiefe, dunkle Ringe umrahmten ihr Augen, und ihr rot gefärbtes kurzes Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Sie gab einen sehr schmächtigen Jungen ab.

Ob er mich liebt?

"Unsinn!"

Aber er hat mich heute so seltsam angesehen.

"Das muss du dir eingebildet haben."

Ich jedenfalls mag ihn.

"Ja, ich mag ihn..."

"Tust du das wirklich?"

Sie musste sich gar nicht umwenden. Aus dem Spiegel heraus erkannte sie wer sich unbemerkt an sie herangeschlichen hatte. Mit spöttischem Blick betrachtete Luzifer ihr Spiegelbild. Er selbst stand an der Wand gegenüber gelehnt, die arme vor der Brust verschränkt.

"Was verstehst du unter ihn mögen?" Es klang nicht nach einer wirklichen Frage. Eher danach, als wolle er sie auf die Probe stellen. Als wolle er wissen, was sie in einer solchen Situation antworten würden.

Sie blickte ihn nicht an als sie sprach. So ruhig wie möglich entgegnete sie: "Ich finde ihn interessant. Ob ich ihn liebe, oder nicht, das werde ich noch herausfinden. Ich jedenfalls finde nicht, dass dich das etwas angehen könnte."

"Oh, findest du das?" Sie hörte wie er an sie herantrat, doch noch immer starrte sie den Abfluss des Waschbeckens an. Sie wollte ihn nicht anblicken. Sie wollte nicht in seine Augen sehen. Es tat ihr weh, ihn zu sehen. Er war so kalt. Genau wie seine Berührungen. Sanft strich er über den Rücken, umfasste ihr Schulter und zwang sie somit, sich aufzurichten, und ihn durch den Spiegel anzublicken. Seine kalten, schlanken Finger strichen ihren Hals entlang.

Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als er den Mund an ihr Ohr legte und langsam erklärte: "Aber es geht mich mehr an als du denkst. Es ist sogar äußerst wichtig für mich. Denn es gibt da etwas, was du wissen solltest." Er strich ihren Hals entlang. "Es gefällt dir doch, wenn er dir nahe ist, oder etwa nicht?"

Sie konnte gar nicht anders, sie gab als Antwort ein zaghaftes Nicken von sich.

"Und du magst es, wenn er dich berührt."

Sie nickte wieder.

Luzifer ließ von ihr ab. Es war, als hätte, kurz bevor er sich umwandte, einen verbitterten Ausdruck in seinem Gesicht bemerkt. Doch dies war sicher nur Einbildung gewesen. Er hatte keine Gefühle. Nein, er nicht.

"So ist es jedes Mal", meinte er müde. "Ich bin es langsam leid, ich kann tun was ich will... so endet es jedes Mal."

Mit dem Rücken zu ihr gewandt stand er da, so das sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch bemerkte sie, wie er seine Hände zu Fäusten ballte. Es schien, als würde ihm etwas Schmerzen zufügen. Seelische Schmerzen. So stark, das ihr kleiner Menschenverstand sie nicht begreifen konnte, denn es waren die Erinnerungen eines Mannes, der schon seit Äonen auf diesem Planeten wandelte, wie ein unruhiger Heimatloser.

"Erzähl mir davon." In diesem Moment ahnte sie noch nicht, wie sehr sie diese Aufforderung noch bereuen würde. Sie hatte einfach nur das große Bedürfnis seine Schmerzen zu lindern. Die Schmerzen eines Sünders.

"Ich bin Luzifer", begann er, noch immer von ihr abgewandt, "Ich habe mich gegen den Himmel aufgelehnt und wurde von Michael in die Hölle gestoßen. So zumindest besagt es die Bibel. So steht es überall. Und so war es auch. Zumindest anfangs. Doch ich hielt es nicht aus, in der Hölle. Also ging ich nach oben, auf die Erde. Ich fand einen Menschen, der bereit war mir seinen Körper zu überlassen. Doch es war gegen Gottes Strafe, das ich dies tat. Also schickte er mit Michael hinterher, dessen Aufgabe darin bestand, ebenfalls einen Körper zu finden, der ihm dazu dienen würde, den meinen zu zerstören. Dies sollte so lange gehen, bis ich aufgebe, oder nicht mehr genug Kräfte besitze. Das war vor mehreren tausend Jahren, als die Menschen noch in Höhlen lebten. Und in all diesen Jahren vollzog Michael Gottes Strafe. Ich suchte mir eine Hülle, Michael suchte sich eine Hülle, tötete die meine. Ich suchte mir eine neue, er tötete sie wieder. Doch zu allem übel kam es das eine Mal dazu, das sich die Träger von Michaels und meiner Hülle ineinander verliebten. Dennoch kam Michaels Träger seiner Aufgabe nach und tötete meinen Träger. Und seitdem geschah dies jedes mal. Unsere Träger verliebten sich ineinander, doch Michael besiegte mich..."

Joanne hatte den Atem angehalten und starrte Luzifer nun fassungslos an. "Das... das ist ja furchtbar... Aber wieso das alles?"

"Ich denke, es ist eine Strafe Gottes. Er will mich leiden sehen. Und ich leide, jedes mal wenn der Körper, der meine Seele in sich trägt, getötet wird. Doch bin nicht ich es, der stirbt, sondern der Mensch. Aber ich darf nicht aufgeben. Ich darf Gott nicht den Sieg überlassen..."

Nur langsam wurde Joanne klar, das sie es nun war, die Luzifers Seele in sich trug. War sie nun auch dem Tod geweiht? Wahrscheinlich. Doch machte ihr dieser Gedanke keine Angst. Sie hatte so viele furchtbare Dinge erlebt, das der Tod ihr wie eine Erlösung vorkam. Was ihr jedoch mehr Sorgen bereitete: Wer würde sie töten?

"Was kann ich tun, Luzifer?"

Er schüttelte matt den Kopf. "Du würdest es nicht tun, selbst wenn ich es dir sagen würde."

"Nein!" Energisch schüttelte sie den Kopf, während sie an Luzifer herantrat und ihre Finger seinem Arm umfassten. "Nein, ich werde dir helfen!"

Fest blickte er ihr in den Augen. Doch sie hielt seinem kalten Blick stand. "Dann töte ihn!"

"Wen?"

"Chin!"

"Was? Aber warum das..." Es war als hätte sie der Schlag getroffen. Kalt lief es ihr den Rücken herunter. "Nein...", hauchte sie mühselig. "Das... kann nicht sein..."

"Doch!" Langsam griff Luzifer nach ihren Schultern, seine Hände streichelten sanft ihr Hals. "Doch... Chin ist Michael..."

Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Nicht er! Nicht Chin! Sicher, sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, doch sie liebte ihn. Sie hatte sich in ihn verliebt. Aber sie kannte ihn doch kaum...

"Ich... ich liebe ihn...", stammelte sie, wobei sie Luzifer flehend ansah.

"Nein, Joanne!" Seine Hände umgriffen fest ihr Schultern, so das es weh tat. Doch sie sagte nichts. Sie sah ihn nur fassungslos an. Aus großen Augen blickte sie in seine hellen, eisigen, in der ein unglaublich tiefer Schmerz lag, der sich mit jedem Augenblick zu vergrößern schien. "Du liebst ihn nicht wirklich. Das alles gehört zu Gottes Plan. Er lässt dich glauben, das du ihn liebst, damit es noch grausamer für mich wird mit anzusehen wie du von ihm getötet wirst. Denn wir sind eins! Ich fühle wie du! Du musst dagegen ankämpfen!"

"Ich liebe ihn gar nicht wirklich." Wie in Trance klangen ihre Worte, als sie sie langsam wiederholte. Sie liebte ihn nicht? Das gehörte einfach nur zu Gottes Plan? Sie sollte sich in ihn verlieben, nur damit sie von ihm getötet wurden? Von was für einem Gott sprachen sie hier?

"Bitte, Joanne", wimmerte er und legte seine Stirn an die ihre. Selbst sein Gesicht war kalt, doch diesmal war seine Berührung zärtlich und liebevoll. "Bitte, Joanne... lass dich nicht auf ihn ein. Er würde dich töten, und ich ertrage das nicht mehr. Du musst den Fluch auflösen. Du musst..."

"Schon gut..." Es war eigenartig. Er war der Teufel, Satan, der Verführer, der gefallene Engel, und er lehnte sich hier an sie und sie versuchte ihn zu töten, als wäre er ein völlig normaler Mensch. War dies vielleicht seine wirkliche Sünde gewesen? Hatte er sich wie ein Mensch verhalten in dem er versucht hatte den Himmel zu erobern? Hatte er nicht auch versagt. Etwas das menschlich war. War er vielleicht mehr Mensch als alles andere?

Während sie darüber nachdachte strich sie ihm sanft über das Haar. "Ich werde tun was du mir sagt... Luzifer... ich werde es tun... Ich werde mich von nun an so gut wie möglich von ihm fern halten. Es soll nicht länger so weitergehen wie bisher. Ich werde verhindern das es so weitergeht. Ich werde es verhindern..."

"Als ich dich erwählt habe, Joanne", drang seine Stimme dumpf an ihr Ohr, "wusste ich, das du etwas ganz besonderes bist. Du bist nicht wie die anderen. In dir liegt eine Kraft, die mir eine sehr große Hilfe ist. Ich danke dir... ich weiß das du es schaffen wirst."

Noch für einige Zeit blieben sie zu stehen, dann machte er sich vorsichtig los, sah sie noch einmal an und verschwand so plötzlich wie er gekommen und wie es seine Art war. Was blieb war seine Kälte, die den ganzen Raum erfüllte und ein dumpfes Gefühl, welches Joanne ergriff. Sie fühlte, wie etwas in ihr aufstieg. Eine unglaubliche Traurigkeit, ein unglaublicher Schmerz. Luzifers Schmerz. Doch kam es ihr diesmal so vor, als wäre es ihr eigener. Erschöpft sackte sie auf den Boden, zog die Beine an, legte den Kopf auf die Arme und begann zu weinen. Sie weinte so sehr, wie sie schon lange nicht mehr geweint hatte. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie nicht mehr so herzerweichend geweint, denn in diesem Moment war es für sie, als laste der gesamt Schmerz dieser Welt auf ihr, erfülle sie und ließe sie nun nie wieder los.



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