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Virtuelle Postsendung

Mini-Adventskalender in 6 Akten
von

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Vorwort

Advent, Advent,

Ein Rentier rennt,

Der Baum der brennt,

Ein Rik, der flennt.
 

Drum gibt es hier,

Nicht nur Getier,

Und auch kein Bier,

Geschichten, nicht nur vier.
 

Zur heillgen´Nacht,

Wer hätt´s gedacht,

In aller Pracht,

Wird das letzte Türchen aufgemacht.
 

Der Reim ist schlecht,

Da hast du Recht,

Drum endet das Gefecht.

 

Der rote Tod

„Ich… habe Angst Mama.“, die Worte schmeckten bitter. Er war zu alt dafür. Ein Krieger fast und ganz sicher kein Kind mehr, aber schließlich ging es nicht um Nachtmahre und Traumgestalten, Monster oder Märchenfiguren, sondern etwas, das, obgleich nicht nur einem Alptraum entsprungen, sondern schlicht ein fleischgewordener Alptraum, selbst den Erwachsenen das Flackern von Furcht in die Gesichter brannte. Selbst seinem Vater. Etwas zu fürchten, das selbst den größten Kriegern des Stammes Angst einjagte… Das war nicht feige, richtig? Und es hieß ja nicht, dass er sich dem nicht stellen würde… Einen gefährlichen Feind zu fürchten hieß nur, dass man klug war und vorsichtig. Und das man umsichtig bliebe, wenn es darum ging, ihn niederzustrecken…

Trotzdem bereute Jakhaa die Worte, noch ehe sie ausgesprochen waren. Sie ließen ihn so schwach klingen. Dabei stand sein siebter Sommer schon fast vor dem Ende! Seine Mutter aber bemühte sich um ein Lächeln. Es wurde ein erschöpftes, gehetztes Ding, in dem nur eine Spur der Wärme lag, mit der sie ihn sonst bedachte und als sie ihm über den Kopf streichelte wirkte es, als wäre sie in Gedanken schon weit fort.

„Es ist gut.“, flüsterte sie dennoch rau, um den Sohn zu beruhigen. „Geh nur mit Dahara und den anderen. Wir werden sie aufhalten und euch folgen, sobald wir können.“ Noch mehr Lügen. Dieser Tage hatte er so viele davon gehört. Er war der Lügen müde. Der Angst und der wunden Füße. Der Notwendigkeit immer wieder davon zu hetzen, wie ein verschrecktes Tier. Und mehr taten sie kaum.

„Ich will bei euch bleiben!“, verlangte er. „Ich kann kämpfen, das weißt du!“ Aber niemand konnte diesen Kampf gewinnen. Der Abglanz ihres Lächelns wurde traurig. „Ich weiß. Du wirst ein großer Krieger sein. Vielleicht der Größte von allen. Stark wie ein Wolf. Listig wie der Fuchs. Klug wie der Rabe. Und Weise wie die Eule. Das ist dein Schicksal. Und heute führt es von hier fort. Mit den anderen. Sie brauchen dich.“

Und ich brauche euch. Jakhaa biss sich auf die Lippen, ehe ihm die Worte entfleuchen konnten. Mehr schwächliche, verräterische Worte. Er schüttelte den Kopf und das seine Augen brannten lag einzig und allein an den beißenden Winden. Der Winter nahte. Grausam und kalt wie der Tod, den er brachte.

„Geh!“, wiederholte sie eindringlicher. „Ihr müsst aufbrechen. Nicht mehr lang, ehe sie hier sind. Tu deine Pflicht, wie wir es tun. Und wenn die Geister mit uns sind, sehen wir uns wieder.“ Aber nicht in dieser Welt. Das waren die Worte, die unausgesprochen zwischen ihnen lagen. Niemand entkam dem roten Tod, wenn er ihm einmal ins Antlitz geblickt hatte. Niemand.

Das Brennen nahm zu und mit ihm die Kälte, doch der Junge nickte, straffte sich und mit einem letzten Zögern, doch ohne einen letzten Blick zurück, lief er fort, ließ die Gestalten der Krieger hinter sich im Schatten zurück. So wenige nur noch. Und wie wenig Stolz war ihnen geblieben. Und dabei war Jakhaa zu jung, um sich überhaupt daran zu erinnern, was der Stolz seines Volkes einst bedeutet hatte. Wer sie gewesen waren, ehe sie zu gehetzten Tieren wurden, auf einer ewig langen, unerbittlichen Jagd, langsam ausgeblutet und niedergestreckt, in Fetzen gerissen. Wie sie diese Welt einst beherrscht hatten. Wie steil der Weg nach unten gewesen war. Aber er blieb es, in den Jahren die folgten wurde es nur schlimmer.

Der rote Tod tötete nicht allein, blutete nicht allein die Körper derer aus, die ihm anheim fielen, er blutete ihre Seele aus, ihre Kraft und ihre Hoffnung. Nahm ihnen Eltern, Brüder, Schwestern und Kinder. Nahm ihren Stolz und ließ sie vergessen, wer sie waren, ließ sie immer nur fliehen. Rieb sie auf.

Als die Worte seiner Mutter sich erfüllten war nicht mehr viel übrig und Jakhaa wusste nur eines: Es musste enden. Es würde enden und endlich, endlich lag die Macht zu entscheiden in seinen Händen. Oberhaupt zu sein, das war eine Last, dieser Tage umso mehr. Doch vor allem noch immer, ewiglich eine Ehre, die vielleicht größte Ehre, die die Geister gewähren konnten. Er hatte hart dafür gearbeitet. Mehr geblutet, als die anderen, war weiter gegangen, hatte härter gekämpft. Vielleicht sogar mehr verloren. Und der Morgen mit dem seine Wacht endete, die Nacht endete, die letzte Nacht in Hilflosigkeit, erblühte mit einem so prachtvollen Sonnenaufgang, dass es nur ein Zeichen der Geister sein konnte. Und vielleicht war es das tatsächlich, doch Jakhaa bedachte nicht, dass das Licht der aufgehenden Sonne alles, was es berührte in rote Farben hüllte.

„Dahara, ich muss mit dir sprechen.“, wandte er sich mit aller gebotenen Höflichkeit, doch vor allem aller notwendigen Entschiedenheit, an den längst greisen Schamanen. Noch etwas, das auszusterben drohte und dann vielleicht den Todesstoß für ihr Volk bedeutete. Der letzte Schüler lange tot und die ewige Flucht bot wenig Raum für einen neuen Versuch. Doch was waren sie, wenn sie selbst ihr letztes Kulturgut noch verloren? Die Verbindung zu den Geistern? Ihren Ahnen? Ihrer Vergangenheit? Dahara war mehr als nur der Schamane und dabei war das die höchste Position im Stamm, die ein Lebender genießen konnte. Über die Jahre war er mehr und mehr zum Symbol geworden.

Ein Symbol dessen, was gewesen war, was beinahe verloren war, altersschwach und schwindend und was Jakhaa um jeden Preis hüten und beschützen wollte. Das Lebensblut ihres Volkes.

„Schweigen die Geister noch immer?“, fragte er, bemüht die eigene Ungeduld zu zügeln und unter dem Blick halbblinder Augen fühlte er sich noch immer wie ein Junge. Wie ein Kind, das nicht das Geringste von der Welt wusste gegenüber einem alten Weisen, der nur milde über so viel Unfug lächeln konnte. Nicht, dass man den alten Schamanen dieser Tage noch lächeln sah. Oder irgendwen.

„Sie werden sprechen, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Aber unsere Zeit läuft ab, und du weißt es. Wir müssen etwas tun. Und wir brauchen ihre Hilfe. Wir können nicht fliehen, denn die Flucht tötet uns, du weißt es besser als ich. Mehr noch, sie nimmt uns alles, was wir waren, bis nichts mehr übrig ist. Und wir können nicht auf unsere Weise kämpfen, nicht ehrenhaft und aufrecht, weil wir keinen ehrenhaften Gegner vor uns haben, sondern eine Krankheit. Eine Krankheit, der man mit ihren eigenen Mitteln begegnen muss, mit Falschheit und List, mit Grausamkeit, wenn nötig.“

Der trübe Blick gewann etwas Mahnendes und ein wenig der ehrfurchtgebietenden Kraft, die den Alten einst ausgezeichnet hatte, schien in den ausgezehrten Körper zurückzukehren. Als wäre er plötzlich größer. Als wäre Jahaa plötzlich so viel kleiner… Doch der Häuptling verharrte aufrecht, so scharf der Tadel in der scharfen Stimme schnitt: „Erst, wenn wir unsere Wege verlassen, verlieren wir tatsächlich. Die Geister achten jene nicht, die diesen Pfaden folgen und du weißt es, solltest es besser wissen als jeder andere, Stammesführer, oder aber wir sind längst verdammt. Wir befehlen den Geistern nicht. Wir folgen.“

„Du sollst ihnen nicht befehlen. Du sollst nur bitten und wenn sie ihre Gunst erweisen werde ich gehen und diesem Grauen ein für alle Mal ein Ende setzen!“ Sein Kiefer schmerzte. Die Anspannung schmerzte. Wie konnte es nur sein, dass er nicht verstand? Er, der weiter sah als alle anderen? Er, der mehr wusste. Es war so offensichtlich!

„Dein Platz ist hier. Du hast geschworen den Stamm zu schützen, ihn zu führen.“

„Und das werde ich. Und mehr. Ich werde ihm eine Zukunft geben. Ich werde ihm die Vergangenheit zurückgeben, die uns gestohlen wurde. Ich werde ihm die Gegenwart schenken. Aber dazu muss ich gehen. Hier kann ich niemanden schützen. Hier kann ich das Leid nur verlängern. Jedem Krieger, der so verwundet ist, wie unser Volk, würdest du den Gnadenstoß gewähren, aber du verlangst, dass ich es noch weiter treibe? Weiter schinde? Du von uns allen hast gesehen, woher wir kamen. Und wo sind wir jetzt?“

„Die Antwort ist nein.“, erklärte Dahara leiser, seltsam ausdruckslos. Er schien plötzlich zu schwinden, kleiner zu werden. Kleiner noch als zuvor und alles andere mit ihm. „Ich habe gesprochen.“

Jakhaa blieb keine Wahl, als das Haupt zu senken. „Du hast gesprochen.“

Aber noch lange nicht das letzte Wort…

„Wirst du jemals Ruhe geben?“

„Niemals.“

Das Seufzen war erfüllt von unaussprechlicher Müdigkeit. Sie alle waren müde, so endlos müde. „Rache ist niemals der rechte Pfad.“

„Es geht nicht um Rache. Es geht darum mein Volk zu retten.“

„Glaubst du es zumindest selbst?“

Die weißen Augen waren längst blind und schienen doch tief auf den Grund seiner Seele zu blicken, erschütterten etwas in ihm, das Jakhaa nicht benennen konnte, doch der Häuptling hielt den Kopf erhoben. „Wir haben lange genug gewartet. Vielleicht schweigen sie, weil auch sie des Wartens müde sind. Wenn sie mein Gesuch ablehnen werden wir es wissen, doch nach allem verlange ich, dass du die Frage stellst!“

„Du verlangst es… Siehst du nicht, wohin wir schon gekommen sind?“

„Ich sehe es. So deutlich, wie man es nur sehen kann und genau deshalb müssen wir diesen Schritt gehen. Es ist der einzige Weg zurück!“

Dahara schwieg, betrachtete ihn. Schüttelte müde den Kopf, doch die Worte waren auch unausgesprochen laut genug. Es gibt kein Zurück. Nicht in dieser Welt. Er glaubte die Hand seiner Mutter zu spüren, dieses furchtbare, traurige Lächeln und die Entschlossenheit in ihm wuchs.

„Die Geister werden entscheiden.“

„So sei es.“, erwiderte der Schamane plötzlich alt und geschlagen.

Und er rief sie. Wie Donner und Blitz fuhren sie auf die Erde nieder, Sturm und Wind, alle Gewalt der Natur. Fuhren auf ihn nieder und Angst entflammte in Jakhaa. Angst, wie er sie nie gekannt, nie empfunden hatte. Trug Bilder und Erinnerungen in sich. Die Angst eines ganzen Volkes. Der Schmerz eines ganzen Volkes, der ihn erschütterte. Ihm den Atem nahm und seinem Körper die Seele entriss, bis er nicht mehr wusste, wer er war und sich nur mit aller Kraft an die letzten Fragmente seiner Selbst klammern konnte, mit aller Verzweiflung.

Hatte er zu viel gewagt? War er zu weit gegangen? Doch wenn dem so war… Er würde dem Schicksal, dass er gewählt hatte, entgegen treten erhobenen Hauptes. Den Preis zahlen, jeden Preis. Wenn die Geister ihn Lügen straften, dann straften sie die ganze Welt, hatten ihnen wahrlich den Rücken gekehrt. Er hieß die Angst willkommen, umarmte den Schmerz.

Stark wie der Wolf.

Statt zu ertrinken stieg er an die Oberfläche auf und der erste Atemzug, der seine Lungen dehnte, war der erste Atemzug eines neuen Lebens. Ein Schleier lag über seiner Haut und nahm ihr die Farbe. Lag über seinem Körper, seinem Gesicht und nahm ihm die vertrauten Züge, machte ihn zu einem Fremden. Machte ihn zu einer Waffe.

Listig wie der Fuchs…

Er war in die Knie gesunken, fühlte, wie ihm heiße Tränen über die fremden Wangen rannen, doch er weinte nicht. Salzig wie Blut. Und Blut würde die Erde tränken, ehe der Tag vorüber war. Ehe der Schrecken vorüber war. Doch es würde sie nähren, auf das die Saat einer neuen Zukunft sprießen konnte.

Weise wie die Eule.

Er erhob sich. Ein Fremder im eigenen Körper, allem fremd, das er gewesen war. Doch ihm war leicht ums Herz, selbst als er sich umwandte, die seinen au+gereiht, die wenigen, die übrig waren. In den Augen der Kinder ein Spiegelbild seiner Ängste, die seit jenen Nächten sein ewiger Begleiter gewesen waren. „Akash. Du weißt, was du zu tun hast.“, erklärte er und der Krieger neigte das Haupt. „Dahara… Zieht in die Sümpfe. Geht zu den Trollen, wenn es sein muss. Aber nur dann. Die Zeit ist beinahe gekommen.“

Klug wie der Rabe.

In eine Menschenhaut zu schlüpfen hieß so viel mehr, als er erwartet hatte. Als läge eine andere, völlig fremde Welt vor ihm. Beängstigend und neu, voll von verlockenden, verwirrenden, erschreckenden Möglichkeiten. Voller Lärm. Voller Tod. Und voller Leben.

Er lernte, während die Zeit verstrich und manche Lektion war allzu bitter. Hielt daran fest, dass jeder Schritt, so schwer er war, ihn näher zum Ziel bringen würde. Jakhaa hatte erwartet, dass es nicht leicht sein würde. Neue Wege zu beschreiten, fremde Wege. Was er nicht erwartet hatte, war all das was er am Straßenrand fand.

Sein Spiegelbild in den Augen anderer und Momente der Geselligkeit. Ein freundliches Lächeln, eine Geste. Er hatte das Monster gefunden und gestellt, nur um zu erkennen, dass es eine vielköpfige Hydra war. Und jeder Kopf zeigte ein anderes Gesicht. So viele davon, dass er manchmal ganz verloren war. Manche wie sein eigenes, falsches Gesicht.

Wenn er zwischen den Anderen saß, Freude und Leid mit ihnen teilte, dann war es manchmal schwer sich zu erinnern, wer er war. Warum er dort war. Warum seine Kraft und sein Schwert jetzt dazu dienten das Blut zu vergießen, das er schützen wollte. Warum das Sonnenlicht sich blitzend auf roten Metallstücken fing…

Da waren jene, die dem Ruf des Geldes folgten. Andere einer Familie, die sie verloren glaubten. Jene, die dem Blutrausch anheim fielen und andere, in deren Blut die Rache brannte, die Trauer, die Angst. Es gab so viele Gründe, wie es Gesichter gab, doch kein Grund war genug, um die Angst in den Augen der Kinder zu erklären. Den niedergemetzelten Leib eines Greises, einer Mutter, eines Neugeborenen. Auch wenn es manchmal leicht schien, das zu vergessen.

Die Zeit strich dahin und er folgte ihnen, wurde Teil ihrer Legion. Namen, Gesichter, Geschichten. So viele Bande, Verpflichtungen, Gefühle, doch er war ohne Furcht sie zu zerreißen. Nur dem einen, dem er in Wahrheit nahe kommen wollte, an den kam er nicht heran. Den Kopf der Schlange, menschgewordenen Hass. Er hielt sich fern. Von ihnen allen. Wechselte kaum ein unnötiges Wort, keinen Blick. Es gab Geschichten, Spekulationen. Von verlorenen Ländern und Lieben, von Verzweiflung, doch nichts schien stark genug, einen solchen Hass zu entflammen und zu nähren. Und was immer sie getan hatten. Was immer Kriege hervorgebracht hatten. Niemals etwas wie das, was er in die Welt trug.

Und er schien für nichts anderes zu leben als den Tod. Sich von nichts anderem zu nähren als Verzweiflung. Vielleicht war er gar kein Mensch. Manche glaubten es. Und nicht ein Mal war eine menschliche Regung unter der stählernen Maske zu erkennen. Das machte es leichter. Nur war es nicht leicht, an ihn heran zu kommen. Auch nicht auf dem Schlachtfeld.

Sie waren beinahe am Ende. Aufgerieben, gejagt und geschunden. Die Zeit lief davon und Verzweiflung wollte sich in Jakhaas Herz einnisten. War dies die Strafe der Geister? War es eine Lektion in Demut? Doch nein, wie konnte er das glauben? Und doch war er es, mit eigener Hand, die eigene Klinge, die das Blut des Bruders vergoss und die wohlvertrauten Augen erlöschen ließ. Halb wahnsinnig vom Schmerz ehe er begriff, dass genau das ihn ans Ziel geführt hatte.

Alles hat einen Preis. Und du kennst ihn niemals, bevor du nicht zahlst.

Da war er, direkt neben ihm, kämpfte mit zweien auf einmal, als bereitete es ihm keine Mühe, hieb wie ein Berserker auf die Gegner ein, während nasses, dunkles Blut die rote Rüstung tränkte. Nur ein kleines Stück entfernt, kaum einen Schwertstreich.

Der Augenblick war gekommen.

Jakhaas Hand zitterte fast, als er die Distanz überwand, ein weiterer Bruder fiel, durchbohrt von der Klinge des Dämons, ein weiteres Leben unwiederbringlich verloren und auch der andere war tot, auch wenn er noch kämpfte, noch auf den Beinen stand, die Waffe erhoben. Doch würde er der letzte sein, der dem roten Tod zum Opfer fiel.

Als der Ritter die letzte Deckung durchbrach, tat Jakhaa es ihm nach. Er hatte beobachtet und gelernt, hatte verfolgt, wie der Rote kämpfte, wie reagierte, wo er Lücken bot und welche davon nicht mehr waren als eine Falle. Wie schnell er war, trotz der schweren Rüstung, der wuchtigen Statur. Wie gerissen und erfahren. Auch jetzt schlug die Klinge des Häuptlings Funken auf dem Metall und fast glaubte er, er wäre gescheitert, dass alles, was hierher geführt hatte, vergeblich gewesen war.

Doch sein Gegner wandte sich um, gerade, als er mit aller Verzweiflung nach vorne stieß, mit der Verzweiflung eines ganzen Volkes und jedem Quäntchen Kraft, das aus dem Schmerz von Jahrhunderten erwuchs. Die Schneide durchstieß eine Schwachstelle an der Seite, drang ins Fleisch darunter und zerschnitt die Seite des Hünen, durchbohrte ihn bis hinauf in die Brust. Blut spritzte. Doch dieses Mal war es rot.

So wie Jakhaa erstarrte, hielt auch der Ritter inne, schien sich ihm zuzuwenden, noch stehend obgleich er doch tot war. Die Hände, die das Schwert umklammerten waren taub. Der Kopf war leer. Beinahe leer. Er sah das Bild seiner Mutter vor sich, schmeckte all die Angst auf der Zunge bitter und schwer, schmeckte den Hass eines Jahrhunderts. „Hier endet es, Schlächter.“, wisperte er. Auch für ihn, doch das war ohne Bedeutung. Er war niemand mehr. Hatte die eigene Haut abgelegt, um zum Rachegeist zu werden, doch er hatte sein Volk gerächt. Hatte es gerettet und das allein war von Bedeutung. „Hier stirbt der rote Tod!“

Doch noch nicht. Stattdessen fuhr eine Faust nach vorn, gepanzert und schwer. Packte den falschen Legionär und zog ihn heran mit einer, für einen Sterbenden mehr als überraschenden, Kraft. Hinter dem Visier des Helmes ließ sich das kalte, mörderischer Funkeln eisblauer Augen erahnen. Ließ sich ein Spiegelbild erahnen, das keinen Sinn ergab. Wie konnte er, der er aus Liebe gehandelt hatte, der alles geopfert hatte, um sein Volk zu retten, dieser von Hass getriebenen Bestie gleichen? Der Blick in jene Augen ließ die Angst zurückkehren. Jene Angst, die vor Jahrzehnten seine Stimme hatte zittern lassen. Seine Mutter verschlungen hatte.

„Es endet nie“, widersprach der rote Ritter, die Stimme kaum ein Flüstern, aber scharf und schneidend wie Nordwind. „Nicht einmal, wenn der letzte deines Volkes tot zu meinen Füßen liegt!“

Entsetzen weitete die Augen des jungen Kriegers. Das Begreifen war so schmerzhaft wie die Klinge, die in seine Seite stieß, sich tiefer und tiefer in das weiche, warme Fleisch bohrte. Er wusste nicht wie oder warum, doch der rote Ritter hatte den Schleier durchblickt und selbst dem Tode nah schien die einzige Intention das Blut des grünen Volkes zu vergießen, statt die eigene, strömende Blutung zu stillen, mit der das Leben aus seinem Leib floss. Er wankte.

Sie gingen nebeneinander nieder, beinahe Arm um Arm, als wären sie tatsächlich Waffenbrüder und nicht etwa das genaue Gegenteil, doch als der Morgen über dem Schlachtfeld dämmerte, Nebel und Verwesungsgestank heraufzogen und kaum mehr übrig war, als Krähenfraß, lag nur eine Leiche dort, die aus glasigen Augen blicklos ins Leere starrte, den Bauch halb ausgeweidet, als hätte ein wildes Tier ihn zerrissen. Fast erstaunt, wirkte der Krieger beinahe so, als könnte er das Geschehen noch immer nicht fassen.

Der rote Ritter aber war fort, weitergezogen mit dem Strom blutrot glänzender Panzer. Dem eigenen Rachdurst auf der Fährte und die Klinge bereit noch mehr schwarzes Blut zu vergießen. Solange, bis jede Spur seiner Feinde aus dieser Welt getilgt war, jede Erinnerung. Solange, bis sich nicht einmal mehr Märchen und Geschichten an das Volk der Orks erinnern würden…

Zweite Chance

Kopfschmerzen. Solche Kopfschmerzen hatte er noch nie gehabt. Solche Kopfschmerzen hätte er sich noch nicht einmal vorstellen können. Und irgendetwas daran war falsch, so vollkommen falsch. Er würde noch darauf kommen. Irgendwann. Es war nur so schwer zu denken. Und wenn er es recht bedachte… Es war nicht nur sein Kopf, der ihn schmerzte. Eigentlich schmerzte alles, selbst jeder einzelne Atemzug brannte wie Feuer und auch das kam ihm falsch vor, auf einer sehr viel grundsätzlicheren Ebene.

Etwas berührte seine Stirn, kühl und sanft, brachte zumindest einen Hauch von Linderung, doch als er die Augen öffnen wollte, um zu sehen, brannte und stach das Licht in seinen Augen. Ließ sie tränen. Er heulte wie ein kleines Kind. Drangen diese grässlichen Geräusche etwa aus seiner Kehle? Dieses furchtbare, misstönende Jaulen und Wimmern? Nein. Unmöglich!

Ein Seufzen, ganz leise nur und doch unerträglich laut. Vage vertraut und irgendwie erschreckend. Es ließ ihn zittern und auch das war falsch.

„Ich schätze damit war zu rechnen“, murmelte eine leise Stimme, die das Gefühl von Entsetzen nur verstärkte. Aber es war nicht nur Entsetzen. Es war nur… Unmöglich. Vollkommen unmöglich. „Immerhin bist du ihnen wirklich ziemlich auf die Nerven gegangen und sie sind nicht gerade für Nachsicht bekannt… Und dafür allzu leicht zu vergeben. Aber… Es wird sicher bald besser.“ Die gleiche kühle, lindernde, schmerzhafte Berührung. Die Worte ergaben kaum Sinn. Nichts ergab Sinn, alles ergab nur Schmerz, unaussprechlichen, schier unmöglichen Schmerz.

„Töte mich einfach“, waren die ersten Worte, die er herausbrachte, auch wenn er nicht sicher war, ob das wirklich seine Kehle war. Obwohl er noch immer nichts sehen konnte, als blendende, tanzende Flecken, sah er doch das schiefe Halblächeln vor sich, das sich in der Antwort versteckte. „Das, mein Freund, … Könnte sich ziemlich kompliziert gestalten. Aber… Ich bin froh zu sehen, dass es dir besser geht.“

Ein gurgelnder Laut, halb Frustration und Unverständnis, halb blanker, unverhohlener Schmerz, entrang sich seiner Kehle, riss sie auf, wie schon die kaum hörbaren Worte es getan hatten. Etwas brannte kalt auf seinen Lippen, drang hinein und überflutete ihn plötzlich mit unaussprechlicher Intensität. Flüssige, reine Kälte in seinem Mund, der Geschmack von Blau, von etwas, für das er keine Worte hatte und das ihm neue Tränen in die Augen trieb. Er hustete, würgte und gierte doch vom ersten Tropfen an nach mehr und immer mehr. Die Quelle versiegte viel zu rasch.

„Was ist das?“

„Wasser“, ein Hauch von Amüsement klang in der Stimme. Nicht unfreundlich und doch ärgerte es ihn. Nicht, dass er viel dagegen tun konnte. „Aber na ja… du bist nicht mehr viel gewohnt.“

Was sollte das nun wieder heißen?

Es dauerte, gefühlt zumindest, Stunden ehe der Schmerz… Nun nicht einmal wirklich auf ein erträgliches Maß herabgesunken war, doch ehe er ihn ertragen konnte. Es war einfach zu viel. Alles war zu viel und seine Augen tränten noch immer, als er sich mit dröhnendem Kopf endlich vorsichtig umsah.

Die Person mit den kühlen Händen und der bisweilen spöttischen Stimme war noch immer da, die ganze Zeit da gewesen. Hatte ihm dann und wann mit einem feuchten Tuch die Stirn gekühlt, ihm Wasser gereicht, das definitiv nicht einfach nur Wasser sein konnte, ihn behutsam festgehalten, wenn Krämpfe den Körper schüttelten. Was war nur los mit ihm? Starb er? Es fühlte sich so an.

Jetzt sah er sie. Wenn auch zuerst nur verschwommen. Erinnerte sich. Und es ergab keinen Sinn. Hellbraunes Haar umrahmte ein Gesicht mit klaren Linien. Gelbgoldene Augen, die Pupillen vertikal geschlitzt, die ihn aufmerksam beobachteten. Mit einem amüsierten Funkeln einerseits, doch Sorge auf der anderen Seite, die sie ihn freiwillig sehen ließ. Helle, glatte Haut und leicht spitze Ohren. Weiche, rosige Lippen und lange, helle Wimpern. Er blinzelte verwirrt. Blinzelte und es schien den Schmerz in seinen Augen zumindest ein bisschen zu lindern. Hatte er vorher nicht geblinzelt?

Obgleich das eigentlich markanteste Merkmal, fielen die großen Hörner, die beidseits auf dem Schädel brachen, ihm kaum ins Auge. Er kniff die Augen zusammen, musterte sie und auch wenn er es noch immer nicht ganz durchschaute… irgendetwas hier war wirklich, wirklich falsch.

„Das… Ergibt keinen Sinn“, stellte er heiser fest und das war noch milde ausgedrückt. Keine Spur mehr von Falten und Altersflecken, die Haut dünn wie Pergament. Kein Silber mehr im Haar, aber mehr Farbe als zuvor. Aber sie war… Und vor allem war er…

Die Erkenntnis ließ ihn inne halten, regelrecht erstarren. Er war doch… Sie mochte es in seinen Augen sehen, weit aufgerissen und weit von der undurchdringlichen Maske entfernt, die ihm eigentlich zu Eigen war. Sierras Blick begegnete ihm ruhig. Er sah sein Spiegelbild in ihren Augen. Haut und Fleisch. Plötzlich hörte er das eigene Herz in den Ohren dröhnen. Das war nicht möglich. Das war vollkommen verkehrt! Wut und Entsetzen, regelrechte Verzweiflung und Frustration überspülten ihn wie eine Flut. Das war nie Teil des Handels gewesen!

Kühle Hände umfassten sein Gesicht, lenkten die Aufmerksamkeit zur Wirklichkeit zurück, zu ihr zurück. Die Berührung zu intensive, verbrannte ihn fast. Einfach alles war unerträglich intensiv. „Beruhige dich“, forderte sie sanft aber fest. „Und lass mich erklären.“ Nicht, dass er eine Wahl hatte. So gern er ihr mit Nachdruck empfohlen hätte, wohin sie sich diese Erklärung um seinetwillen schieben sollte. Er wäre gern behilflich. Doch Angst lähmte ihn, erstickte ihn. Wenn er hier war… Warum auch immer, was hieß das für sie? Hatte er am Ende doch versagt?

„Du bist tot. Sind wir beide.“

„Was?“ , meisterhafte Eloquenz, definitiv. Sie seufzte, lächelte halb. „Du bist tot. Du hast deinen Handel erfüllt und alles ist, wie es sein soll. Na ja… Fast. Aber deiner Familie geht es gut, zumindest nach meinem letzten Wissensstand. Die Nadel hat sich ziemlich weiterentwickelt.“

Es ergab immer noch keinen Sinn. „Was ist dann… Das hier?“

„Wir haben… Gewissermaßen einen Sonderauftrag. Ich bin ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher, was wir jetzt sind und natürlich hat sich niemand die Mühe gemacht, irgendwelche Regeln oder Details zu erklären, aber… Du bist, ganz offensichtlich, nicht mehr untot und ich fühle mich auch ziemlich lebendig. Welche Einschränkungen das hat, ob wir sterben können, essen müssen… Ich schätze das werden wir herausfinden. Ich kann dir zumindest sagen, dass du einverstanden warst. Auch wenn ich nicht weiß, was du dafür möglicherweise ausgehandelt hast.“

„Warum sollte ich…“, er brach ab, als die Antwort mehr oder weniger vorweg genommen wurde. Musterte sie eindringlich. Er konnte keine Lüge entdecken, aber er wusste, wie gut sie in diesem Spiel war, hatte selbst nicht unerheblich dazu beigetragen und wusste vor allem nicht mehr, wie gut er noch darin war. Wie sehr er seinen Sinnen und sich selbst noch trauen durfte. Und doch… Irgendetwas war da faul.

„Möglicherweise, auch wenn das ein wirklich sentimentaler Grund wäre und du es sicher niemals würdest zugeben wollen, weil ich deine Hilfe erbeten habe. Sie haben sich ursprünglich an mich gewandt, aber du weißt ja… ich fühle mich so schnell einsam und wie soll ich ohne meinen liebsten Erzfeind zurecht kommen?“

Das… nun das konnte vielleicht stimmen. Eher stimmen, als dass er sich freiwillig, schon wieder, zum Laufburschen der Götter erklärt hatte. Es sei denn, der Preis stimmte. Aber ihm fiel wirklich nichts ein, das dafür angemessen wäre… „Und was bekommst du dafür?“, erkundigte er sich obwohl das wahrscheinlich nicht die Frage war, die er zuerst hätte stellen sollen. Was für ein Auftrag? Und wieso wusste er nichts mehr davon. Oder von irgendetwas, was seit Xaraks Fall mit ihm geschehen war? Da war nur ein großes, schwarzes Loch.

Sie grinste. „Schokoladenkuchen. Hatte ich ewig nicht mehr. Nein ernsthaft, du weißt doch, ehrenhafter Paladin, der ich bin… Sie sagen: Spring! Und ich frage: Wie hoch? Oder: Warum. Aber das ist schließlich fast das gleiche. Oh nun schau nicht so, Häppchen. Das ist schließlich eine wirklich persönliche Frage und vielleicht ist es mir peinlich?“  Das entlockte ihm, wieder Willen ein verächtliches Schnauben, das fast schon ein Lachen war. Und bei Xaraks schrumpeligem Arsch, selbst das schmerzte wie die Hölle! „Dir ist nichts peinlich.“

Sie tat betroffen. Aber es war schlecht gespielt. Ganz besonders für sie. „Also wirklich. Das ist, was du von mir denkst? Und ich dachte unsere Beziehung ginge so viel tiefer… Immerhin war ich wortwörtlich mehr als einmal unter deiner Haut…“, lächelnd schüttelte sie den Kopf, dann kehrte die Sorge zurück, noch immer unterschwellig. „Willst du versuchen, aufzustehen?“ „Nein. Ich will hier liegen bleiben, bis ich Schimmel ansetze“, maulte er zurück, auch wenn der bloße Gedanke ihm die Luft abschnürte. Er hatte ganz vergessen wie… unglaublich dringlich sich atmen anfühlte. Furchtbar! „Wo sind wir überhaupt?“

„Also bitte. Das kannst du ja wohl nicht vergessen haben. Mach die Augen auf.“ Ihm lag eine angemessen patzige Erwiderung schon auf der Zunge, doch sie blieb ihm im Halse stecken, als er der Aufforderung nichtsdestotrotz folgte und sich erstmals weniger auf sie und mehr auf das konzentrierte, was dahinter lag. „Aber das…“, die Stimme brach ihm. Ist unmöglich.

Sierra lächelte. Wissend. Vielleicht ein wenig nostalgisch, ließ selbst den Blick über die Umgebung schweifen. „Sie haben es gut hingekriegt, hm? Fast wie damals, auch wenn es natürlich nicht dieselbe Taschendimension ist. Aber sie wird uns ebenso gute Dienste leisten. Und erst einmal haben wir ein paar Tage Zeit, uns zu Recht zu finden und auszuruhen, ehe es losgeht. Und jetzt komm.“

Vorsichtig, so vorsichtig wie es nur irgendwie möglich war und mit überraschender Kraft für eine so kleine Person, hievte sie ihn auf die Füße und es war die reinste Tortur. Das Beste, zu dem er überhaupt fähig war, war es irgendwie über sich ergehen zu lassen und der Weg ins Innere des von ihm so sorgsam und ein wenig abenteuerlich ausgebauten Hauses schien schier endlos, überflutet zugleich von Erinnerungen und Nostalgie und viel zu intensiver Wahrnehmung.

Sierra bugsierte ihn zum Bett und selbst das Gefühl der nachgebenden Matratze war beinahe zu viel. Sie setzte sich auf die Bettkante, so wie er es damals gemacht hatte, als sie dumm genug gewesen war, sich oben im Norden eine Lungenentzündung einzufangen. Verkehrte Welt, von Grund auf verkehrt.

„Gut… lass mich am Besten einfach anfangen und spar dir deinen Atem für den Augenblick, auch wenn ich weiß, wie schwer dir das fällt. Wie gesagt… Wir haben Zeit. Wir können später nochmal darüber reden, weitere Details und Fragen klären und du kannst fluchen und dich aufregen so viel du willst, aber jetzt solltest du es nicht übertreiben. Dein Körper scheint das mit dem Lebendigsein nicht sonderlich gut zu verkraften.“

Wieder lag ihm eine angemessene Erwiderung auf der Zunge, doch es fehlte an Kraft. Sierra grinste, hatte sie vielleicht in seinen Augen entdeckt. Und schüttelte leicht den Kopf. „Ich schätze du erinnerst dich nicht an die letzte Zeit… irgendetwas nach Xaraks Fall?“

Allenfalls verschwommene Fragmente, ein Gespräch, eine vertraute Stimme, aber nicht diese und ganz ähnliche Schmerzen wie diese, heiße Tränen auf seiner Haut. Seine, aber nicht nur… Erleichterung, so tiefe, endlose Erleichterung… Langsam schüttelte er den Kopf, bereute es im nächsten Augenblick. Der Tiefling nickte. „Gut… Wenig verwunderlich schätze ich. Dass die Götter viel wert darauf legen das große Geheimnis um das danach zu wahren, ist nichts neues… Es sind seither ein paar Jahrhunderte vergangen und die Welt hat sich gewandelt, vieles von dem, was ihr angestoßen habt, hat sich weiterentwickelt, manches zum Besseren, manches zum Schlechteren, aber es könnte schlimmer sein. Arien versucht sich darum zu kümmern. Gefühlt um… So ziemlich alles. Und natürlich auch um deine drei, aber das weißt du theoretisch. Oh aber, das sie einen ihrer Söhne nach dir benannt hat nicht, oder?“, sie  grinste breit. „Klein Eathor Ithildalin ist 5 und eine ziemliche Heulsuse“, neckte sie.

Er wusste nicht, was er darüber denken, dabei fühlen sollte. Vielleicht später? Dass Arien unverbesserlich war… Ein unverbesserlicher Weltverbesserer… Das hatte er schließlich schon damals gewusst. Und eigentlich… Wollte er gar nichts davon wissen. Er war nicht mehr… Er gehörte nicht hierher. Er hatte nichts mehr damit zu tun und das war für alle Beteiligten besser so. Und bei den Gedärmen eines Morgh, das war definitiv kein Grund zu heulen, das war ja grässlich!

Sie wartete. Strich ihm übers Haar und er wusste nicht, ob er wütend und die Hand fortschlagen, oder sich einrollen und anschmiegen wollte. Nicht, dass er irgendetwas davon tat.

„Die Götter, die ihr veranlasst habt, sich mehr aus der Welt der Sterblichen zurückzuziehen konnten es natürlich nicht lassen. Sie sind jetzt dazu übergegangen mit Altlasten aufzuräumen. All die Kleinigkeiten, deren Anfang bereits vor der Götterentscheidung liegt und die demnach natürlich nicht davon betroffen sind. Die Unbekannten beispielsweise und… Soweit ich weiß hast du bereits Kontakt mit den Munavri gehabt?“

„Uros…“ Doch die Erinnerung daran wurde von einer anderen sehr viel stärker überlagert. Mila… Layos, den er nie hätte kennenlernen sollen. Sein Sohn… Ein erneuter Gefühlssturm übermannte ihn, egal, wie sehr er sich wehren wollte. Wie hatte er vergessen können wie unglaublich ätzend es war lebendig zu sein? Wo war sie hin, die ewige Geduld der Untoten? Die Selbstbeherrschung? Das war doch kein körperliches Merkmal! Aber offenbar machte es trotzdem einen Unterschied. Vielleicht, weil sich seine Seele in einem anderen Zustand befand. In was für einem auch immer…

„Unsere Aufgabe besteht für den Anfang darin sie zu finden und mehr darüber herauszufinden, wie sie leben, wie viele es sind, was sie tun, was sie vorhaben… Informationsbeschaffung im Grunde. Alles Weitere ergibt sich dann. Die Götter haben Schwierigkeiten zu ihnen durchzudringen aber wir wissen zumindest, dass sie irgendwo tief in der Erde, in der tiefen Welt zu finden sein dürften. Ich habe ein paar Kontakte, die uns Möglicherweise weiterhelfen. Aber es dürfte… Interessant werden. Wir sollten vorher unsere Aufrüstung aufstocken und feststellen, welche Fähigkeiten wir aktuell zur Verfügung haben.. gerade in deinem Fall… Ist das schwer vorhersagbar. Aber… Das hat Zeit“, sie endete sanfter, die Stimme weich. Sah wahrscheinlich, dass es für den Moment zu viel war. Alles zu viel war.

Und so sehr er diese Tatsache verabscheute, dagegen aufbegehren wollte ,wie gegen das alles hier, so machtlos war er. „Du willst doch nur wieder unnötiges Zeug einkaufen, mit dem du das Lager vollstopfen kannst“, brachte er viel zu spät und ohne rechte Überzeugung hervor. Sierra lächelte dennoch, wenn vielleicht auch eher aus Mitleid. „Natürlich. Und, wie die Erfahrung gelehrt hat, ein ausreichendes Kontingent an Schals. Und vielleicht neue Unterwäsche. Ich meine… Die Mode dürfte ebenfalls fortgeschritten sein.“

Und nicht nur die… Die Implikation dahinter war beunruhigend. Abhängig davon, wie viel Zeit es genau war, die zwischen Xaraks Fall und dem jetzt lag… Würde nichts mehr annähernd sein, wie er es kannte. Andererseits… vielleicht war das gut so. Und offenbar würden sie der Oberfläche sowieso den Rücken kehren und eine Welt besuchen, die ihm jetzt so fremd war, wie damals und von deren Existenz er irgendwann, irgendwie, irgendwo gehört hatte, ohne sich weiter darum zu scheren. Wahrscheinlich war es besser so. Was immer er sich hierbei gedacht hatte… Es war eine miserable Idee gewesen und je schneller er es hinter sich brachte, umso besser. Umso besser je schneller alles wieder so war, wie es sein sollte…

Sierra saß bei ihm, die ganze Zeit, betüdelte ihn weiter in einer Art und Weise, die ihn zu jedem anderen Zeitpunkt wahnsinnig gemacht hätte. Jetzt war er fast schon dankbar. Fast. Und ahnte, wie lange er sich das noch würde anhören dürfen. Irgendwann summte sie sogar misstönend, unmusikalisch, wie sie war, aber ihm fehlte die Kraft sich zu beklagen. Und vielleicht… Wollte er auch gar nicht. Die schiefen Klänge trugen Erinnerung an… nicht unbedingt bessere, aber vielleicht auch nicht gerade schlechtere Tage mit sich. Trugen ihn, ohne, dass er es wusste, davon zu etwas, das vielleicht das seltsamste Erlebnis der letzten Jahrhunderte seiner Existenz war und das wollte etwas heißen… Schlaf.

Nicht dass es, unvermeidbar, ein ruhiger Schlummer war. Und Sierra betrachtete ihn nicht ohne Sorge, einen Hauch von Zweifel im Herzen, den sie jedoch rasch von sich schob. Der Anfang war immer am schwersten.

Und was bekommst du dafür? Sie konnte sich die Reaktion vorstellen, wenn sie es ihm gesagt hätte. Oder wahrscheinlich nicht einmal. Nicht das gesamte Ausmaß, aber zumindest die Richtung. Aber glücklicherweise… Musste sie es ihm ja nicht sagen. Nicht heute. Wahrscheinlich bis zum Ende nicht.

Der Blick, mit dem sie den ehemaligen Lich betrachtete, war nachdenklich, vielleicht ein wenig melancholisch. Selbst jetzt schien er Schmerzen zu haben, warf sich in Träumen fiebrig hin und her. Das war ihre Schuld, doch obgleich es ihr leid tat, war es schwer es zu bedauern. Immerhin… War das hier der Teil der Belohnung, der tatsächlich ihr gehörte. Ihr Abschied, eine letzte Gelegenheit, Erinnerungen zu schaffen und Zeit mit ihm zu verbringen, ehe die Bande, die sie so lange verbunden hatten, über so viele Grenzen hinweg gekappt würden.

Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass etwas übrig bliebe, wenn alles so aufging, wie sie es erhoffte. Sie hatten keine Seelenverwandtschaft oder derartige esoterische Verbindung. Alles, was gewesen war, war Ergebnis der Umstände, die sie beide geformt und geschaffen hatten. Und es würde verloren gehen. Gemeinsam mit ihm.

Auch wenn es gnädiger gewesen wäre, richtiger vielleicht, ihm das hier zu ersparen… und sie hatte gewusst, dass es unschön werden würde, auf die eine oder andere Weise. Die Götter liebten ihn wahrlich nicht… Sie hätte es nicht gekonnt. Ihn um seinetwillen aufzugeben… Das war möglich. Aber nicht ohne Abschied zu nehmen. Nicht, ohne irgendetwas für das danach, wenn sie blieb und mit den Erinnerungen weitermachen musste. Und sie war… Am ehesten wohl zu alt, um neu anzufangen, so ironisch das schien, bedachte man, wie viel weniger Jahre sie gesehen hatte im Vergleich zu ihm.

Doch in Wahrheit war Ithildalins Leben zu Ende gewesen im selben Augenblick, als seine Liebsten den Tod gefunden hatten, selbst wenn er es nicht wusste. Und das war nicht viel. Alles, was danach gekommen war, war nur noch ein Echo gewesen, Mittel zum Zweck und auch, wenn es in dieser Sache kein Zurück mehr gab, keine Lösung dafür… War das falsch. War es weniger, als er verdiente.

Eine zweite Chance, um es besser zu machen, frei von allen Verbindungen, die Seele reingewaschen von allem, was gewesen war und die Möglichkeit das Leben dieses Mal bis zum Ende zu leben. Das war, was sie ausgehandelt hatte. Für ihn. Wohlwissend, dass er es hassen würde. Noch immer ganz überzeugt selbst mit dem Schlimmsten und Schlechtesten nicht für das sühnen zu können, was er getan hatte. Aber… Wer fragte schon Ithildalin?

Und vorher… Eine letzte Gelegenheit zu tun, was die Umstände nie erlaubt hatten. Ein gemeinsames Abenteuer. Sie war hier und würde es bleiben, weiter wachen, dann und wann. Anders als er, hatte sie Glück gehabt und trotz aller Verpflichtungen und Widernisse ein Leben gelebt. Es zu großen Teilen ausgeschöpft, manchmal über das gegebene Maß hinaus. Zu alt für einen Neuanfang. Nicht fähig, aufzugeben was war. So wenig, wie er fähig gewesen wäre seinen Schmerz aus eigenen Stücken loszulassen. Eine gute Frage, was das über sie sagte… Andererseits die Frage, die man ihr Leben lang ohnehin nie hatte stellen dürfen. Und auch nicht danach.

Sie schüttelte sachte den Kopf, trieb die grüblerischen Gedanken fort. Sie hatte ihre Entscheidungen getroffen und nichts hatte sich geändert. Noch war es nicht so weit. Noch lag vieles vor ihnen und sie hatte nicht vor das Geschenk, das sie sich selbst gemacht hatte, zu vergeuden. Nicht auszumalen, was ihnen begegnen würde. Und sie freute sich darauf.

Als ihr Blick erneut zu ihm wanderte, stutzte sie. Gerade lag er ruhig und… Ein schmales Rinnsal Speichel bahnte sich seinen Weg über sein Kinn, hinterließ einen Fleck auf ihrem Kissen. Sierra begann diabolisch zu Grinsen, als sie die erste zahlloser Gelegenheiten sah frühere Rechnungen zu begleichen. Wie sie ihn damit aufziehen würde… Aber erst morgen.

Für den Augenblick, zögerte sie noch kurz und legte sich dann einfach neben ihn. Dicht genug, um die ungewohnte Wärme eines Körpers zu spüren, der nicht mehr kalt und durchlöchert war, schloss ihrerseits die Augen. Sie hatten Zeit. Alle Zeit, die sie wollten.

Nur ein Traum

Es war dunkel, als er aufschreckte. Schlaftrunken, ein wenig benommen, aber trotzdem schon halb aus dem Bett und auf den Beinen. Und das ohne hinzufallen, auch wenn sein Fuß sich in der Decke verfing und es einigen wenig grazilen Rumgefuchtels bedurfte, um auf den Füßen zu bleiben. Nun… Zum Glück war es dunkel. Die schweren Vorhänge hielten die kalte Nachtluft draußen und ließen kaum genug Licht herein, um die Hand vor Augen zu erkennen.

Das war gut, weil es den peinlichen Beinahe-Zusammenstoß mit dem Bettvorleger kaschierte. Es war weniger hilfreich, weil es auch die Quelle des Lärms, der ihn überhaupt erst aufgeweckt hatte, vor ihm verbarg. Alistair lauschte angestrengt ins Dunkel, doch das Einzige was er hörte, war der Klang des mechanischen Herzen in seiner Brust. Dass das verdammte Ding aber auch so schrecklich laut sein musste!

Aber… Da war etwas gewesen. Er wusste es. Ganz sicher! Er hatte nicht geträumt. Ganz bestimmt nicht… Oder?

„Hey… Pelzdecke“, flüsterte der Dieb verschwörerisch, doch der große Hund, der sich am Fußende des Bettes ausgestreckt hatte, blinzelte kaum. „Du hast das auch gehört, oder?“ Cyron schnaufte, wedelte träge, zwei, drei Mal mit dem Schwanz und schien nicht im Geringsten beunruhigt. Aber das… Es sei denn…

Der Nordmann wandte sich zur Badtür um, gerade, als sie leise wieder aufgestoßen wurde. Nicht, das er die Tür wirklich sehen konnte, oder die Gestalt, die sich dort bewegte. Aber er wusste, das sie da war und er wusste jetzt auch, wer ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte. Das Verhalten des Hundes ließ eigentlich nur einen Schluss zu…

„Lil?“

„Oh… Du bist wach?“, sie klang müde. Er konnte die erschöpfte Blässe in ihrem Gesicht beinahe hören, was auf den ersten Blick zwar keinen Sinn zu ergeben schien, aber sogar ausgesprochen sinnvoll war, wenn man sich so gut kannte, wie er sie inzwischen kannte. „Habe ich dich geweckt? Tut mir Leid.“ Auf offensichtlich bloßen Füßen, kein Schuhwerk wäre so lautlos gewesen, trat die Halbelbe zum Fenster, machte sich an den Vorhängen zu schaffen und er wappnete sich gegen den Stoß kalter Luft, der unweigerlich hereinkommen würde. Sie hatte es noch nie sonderlich gemocht im Dunkeln zu schlafen.

„Wie spät ist es?“, fragte er mit einer gewissen Anspannung. Da war noch etwas, nicht nur Erschöpfung. Ein leichter Beiklang in der Stimme, ein Hauch von Schärfe in der Art und Weise, wie sie atmete. Wenn es um Ishara ging, war es schlicht nötig, auf solche kleinen Details zu achten und vielleicht war das sogar ein Teil dessen, was ihn so anzog. Sie war wie eine komplexe, sich ständig wandelnde Mechanik. Nur, dass es hier manchmal eher frustrierend als belustigend war, wenn er eigentlich nicht wirklich wusste, was er tat… War sie verletzt? Aber wieso sollte sie?

„Die Sonne müsste bald aufgehen, denke ich“, gab das Halbblut zur Antwort. Da war er, der Luftzug und alle Vorbereitung half rein gar nichts. Alistair begann umgehend zu frösteln, doch sein Blick lag auf der, jetzt deutlich besser erkennbaren, Gestalt am Fenster. Auch wenn es noch dunkel war, es zogen kaum Wolken über den Nachthimmel und der Mond war beinahe voll. Sie wandte sich zu ihm um, während der Nachtwind leicht an ihren hellen Haaren zerrte, seufzte leise.

„Hat die Besprechung so lange gedauert?“, erkundigte er sich stirnrunzelnd. Sie war fertig um schlafen zu gehen, trug ein weites, einfaches Hemd, das eher Thorin gepasst hätte, als ihr und schlichte Hosen, immer bereit für den Notfall, aber irgendetwas stimmte nicht. Das… Witterte er gerade zu. Dabei war er nicht mal ein Hund. Und das sie aus den endlosen Sitzungen mit irgendwelchen Adligen und Abgesandten erschöpft zurückkehrte, das war zwar nicht ungewöhnlich, aber das hier sah einfach nicht aus, als wäre es nur Erschöpfung.

„Was? Oh… Ach das“, sie stutzte, schien sich nur mit Mühe zu erinnern und ein verlegener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Nein, uhm… Eigentlich, war die am späten Abend vorbei. Aber… Dann kam dieser Bote, weißt du? Von der Wasserburg. Er wäre unterwegs fast überfallen worden und ich dachte, wenn wir uns gleich darum kümmern, dann müssen wir die Bande nicht erst aufspüren. Das war nur ungefähr eine Stunde von hier.“

Alistair seufzte. Natürlich. Er sah, wie sie den Kopf einzog, sich offenbar auf die unweigerlich folgende Schelte einstellte, aber eigentlich… Es war spät. Es war kalt, während das wohlig warme Bett nur wenige Schritte entfernt stand und es waren vor allem nur ein paar Stunden, bis irgendein Diener klopfen und sie wecken würde. Egal, wie viel, oder in Isharas Fall wohl eher wie wenig, Schlaf sie bis dahin bekommen hätten. Und nichts von dem was er hätte sagen können, hatte er nicht schon tausendmal gesagt. Manchmal gelang es ihr tatsächlich ihm einen Eindruck dessen zu vermitteln, wie es wohl manch anderem mit ihm erging… Aber nein. Er war nicht berechenbar!

„Bist du verletzt?“, fragte er trotzdem. Ein wenig Sorge war ja wohl selbstverständlich. Lileth schüttelte den Kopf. „Nur ein paar Schrammen. Susann hat mich schon zusammengeflickt.“ Er ersparte es ihnen beiden, darauf hinzuweisen, dass das nicht gerade nach nicht verletzt klang und nickte seufzend. „Dann komm ins Bett. Es ist kalt.“

Der überraschte Ausdruck auf ihrem Gesicht munterte ihn dann doch ein wenig auf und Alistair grinste. Nicht berechenbar! Wohlig seufzte er auf, als er wider unter die warme Decke gekrochen war. Sie gesellte sich zu ihm, bettete den Kopf an seiner Schulter, schwer vor Müdigkeit und er legte die Arme um sie. „Danke“, flüsterte das Halbblut fast erleichtert und er strich ihr durchs Haar. „Schlaf. Morgen warten schon die nächsten Idioten darauf, dass du ihnen in den Hintern trittst.“ Ein kleines Lächeln belohnte ihn, doch es dauerte kaum Minuten, bis sie eingeschlafen war.

Etwas, um das man sie wirklich beneiden konnte. Nicht, dass Ishara nicht heute noch oft mit Alpträumen zu kämpfen hatte, unruhig schlief oder schlecht. Dass sie an den meisten Tagen nicht einfach gar nicht genug Zeit hatte, um ordentlich zu schlafen. Aber Einschlafen? Das konnte sie. Auf der Stelle und so ziemlich überall. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus der Zeit in der Wildnis als körperliche Bedürfnisse sich den Möglichkeiten der Umgebung anpassen mussten. Immerhin, es hatte schon zu der einen oder anderen amüsanten Begebenheit geführt, so wie damals als sie…

Der Dieb gähnte, schmiegte die Wange an ihren Schopf. Atmete den vertrauten Geruch ihrer Seife und ihren eigenen, spürte die Wärme. Diesmal würde er wohl auch keine Schwierigkeiten haben einzuschlafen. Er schlief immer besser, wenn sie da war. Und nicht irgendwo da draußen, um sich schon wieder in irgendwelche absurden Schwierigkeiten zu bringen. Nein. Sie war hier. Bei ihm und in Sicherheit. Umgeben von festen Mauern und Soldaten. Was sollte da schließlich schon passieren?

Weiß. So viel Weiß. Er mochte die Farbe. Auch wenn es, je nachdem wen man fragte, natürlich gar keine Farbe war. Andererseits hatte ihm bisher auch niemand erklären können, was es dann war. Daeri hatte es vielleicht versucht, aber bei ihr verstand er sowieso bestenfalls die Hälfte. So oder so… Er mochte Weiß, eigentlich. Es hatte etwas beruhigendes, obwohl oder vielleicht sogar weil es die Farbe war, die er mit seiner Heimat verband. Eine weiße, unberührte Schneedecke, das war etwas Friedliches, Schönes. Es brachte die Welt zum Leuchten, selbst im Dunkeln. Als wäre es etwas Magisches. Aber dieses Mal war es ein bisschen zu viel. Alles war weiß. Wirklich alles. Da war kein Boden, kein Himmel, keine Wände. Nur eine endlose, unerträgliche, blendend weiße Leere, die ihn frieren ließ und nicht nur vor Kälte, sondern aus tiefster Seele heraus.

Es musste ein Traum sein. Aber keiner, der ihm sonderlich gefallen hätte. Andererseits, wenn er wusste, dass es ein Traum war, dann konnte er da doch wohl ein wenig Abhilfe schaffen! Sich etwas… weniger Langweiliges und Gruseliges einfallen lassen. Ein wenig Gesellschaft vielleicht. Wenn er Ishara herholte… Wie wäre es wohl in der Schwerelosigkeit zu…

Gedanken jagten davon. Schlugen Haken wie Hasen, stoben hierhin, dorthin und es brauchte eine Weile, bis er genügend Fokus aufbrachte, um irgendetwas zu tun. So viele Möglichkeiten! Wie sollte man sich da schon entscheiden? Gar nicht, ganz einfach! Am Ende entschied er sich für eine Tür. Es wurde ein wuchtiges, altertümliches Ding, ein wenig, wie das schwere Portal vor dem Weinkeller. Was immer sein Unterbewusstsein ihm damit sagen wollte. Natürlich war ein Schloss daran. Ein ganz hervorragendes sogar und es dauerte eine Weile, ehe es Alistair gelungen war, es zu entriegeln. Doch schließlich wäre er nicht der Meisterdieb, der er war, wäre es ihm nicht gelungen!

Er trat erwartungsvoll hindurch und… Es war immer noch alles weiß. Oder nein. Nicht alles, alles. Aber ziemlich viel. Da war ein weiter, hellblauer Himmel über ihm, mit ein paar weißen Wolkensprenkeln und da waren Bäume, jede Menge sogar. Sie schienen nur fast unter einer schweren Schicht aus Schnee begraben. Irgendwie war das beunruhigend vertraut.

Und es war immer noch kalt. Grässlich kalt und der Nordmann schlotterte am ganzen Körper. „Wirklich?“, murrte er zähneklappernd. „Was Besseres ist dir nicht eingefallen?“ Denn als er sich umdrehte und das ebenfalls eingeschneite Dorf erblickte, dessen Dächer gerade von den ersten Strahlen der Morgensonne berührt wurden, konnte er bei aller Mühe wirklich nicht mehr so tun, als wisse er nicht, wo er war. Dabei hatte das ganze so vielversprechend gewirkt. Aber Laruien? Das konnte gar kein guter Traum werden und Alistair seufzte fast ein bisschen schwermütig.

„Alistair?“ Der Satz, den er machte, war durchaus bemerkenswert. Bestimmt einen Meter und das aus dem Stand! Aber er war schließlich schon immer recht akrobatisch gewesen. Mit jagendem Puls wirbelte der Nordmann herum und vor ihm stand Lileth, barfuß im Schnee, ohne dass irgendwelche Spuren verraten hätten, wo sie hergekommen war. Tatsächlich sah sie genau so aus, als sie zu ihm ins Bett gekrochen war. Nur sehr viel verfrorener und verwirrter.

Alistair seufzte. „Was machst du denn hier? Und du hättest wenigstens Stiefel haben sollen. Und einen Mantel! Oder einfach… Etwas anderes als das da? Du hättest dieses Kleid nochmal anziehen können, das Schulterfreie“, unwillkürlich musste er grinsen, als er sich das vorstellte, doch leider schien sein Unterbewusstsein nicht gewillt, die Sache zu korrigieren und Ishara wiederum zog die Stirn in Falten. „Wovon redest du? Und wo sind wir hier?“

„Naja… Du bist eigentlich gar nicht hier, denke ich. Schließlich ist das mein Traum. Aber das hier ist Laruien.“ Wobei… Woher wusste er eigentlich, ob sie in seinem Traum war, oder er in ihrem? Oder sie beide in irgendjemandes Traum? Kurz verwirrte ihn der Gedanke. Aber es schien niemand sonst da zu sein und es ergab einfach keinen Sinn, dass Ishara von seiner Heimat träumen sollte. Sicher, sie waren gemeinsam dort gewesen und sie hatte die Leute ziemlich vorgeführt. Aber… Er konnte sich nicht vorstellen, dass das so viel Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Und außerdem… Das hier sah eher wie das Laruien seiner Kindheit aus, auch wenn die Hinweise darauf recht subtil waren.

Lileth indes schien ein bisschen überfordert, was natürlich verständlich war, und vor allem fror sie nicht weniger als er, was in Anbetracht ihrer Kleidung auch nicht sonderlich verwunderte. Das konnte man sich ja kaum ansehen. Alistair nahm ihre Hand.

„Na komm. Ist zwar ein ziemlich seltsamer Traum, aber wenn wir schon hier sind, dann machen wir eben das Beste draus. Aber zuerst brauchen wir Schuhe. Und Mäntel, oder irgendetwas“, erklärte er ganz selbstverständlich und sie folgte gehorsam, als er sie in Richtung der Häuser zog, eines bestimmten Hauses sogar und im Stillen rätselte, ob die Leute hier sie eigentlich wahrnehmen würden, oder nicht.

Das Schloss an der Tür war so miserabel wie er es in Erinnerung hatte und bot keinen wesentlichen Widerstand und die Wärme im Inneren des Hauses brannte zwar schmerzhaft auf der Haut, aber war so unendlich angenehm. Vertraute Gerüche stiegen ihm in die Nase und er hörte Geräusche aus Richtung der Küche. Gewiss seine Mutter, die damit beschäftigt war Frühstück zu machen. Vielleicht süßer Brei mit Honig? Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Lil wiederum schien noch immer recht angespannt. Wachsam. Beunruhigt, während sie sich umblickte, als erwartete sie, dass in jedem Augenblick irgendein Monster hinter einem Möbelstück hervorsprang wie einer dieser Springteufel. Andererseits… Möglich war es wahrscheinlich?

Er zog sie leise zur Treppe und nach oben. Übersprang ganz selbstverständlich die knarzenden Stufen und sie tat es ihm ganz selbstverständlich nach. Als er jedoch die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern aufstieß, erstarrte er. Dröhnendes Schnarchen drang ihnen entgegen und unter der Decke zeichnete sich die wuchtige Gestalt seines Vaters ab. „Äh…“, entfuhr es dem Dieb leise und nur mit Mühe konnte er den Blick nach einer Weile ab und dem Kleiderschrank zuwenden, der eigentlich sein Ziel gewesen war. „Weißt du… Warte einfach kurz“, wies er die Halbelbe unbehaglich an und schlich ins Zimmer.

Jetzt war er derjenige, der nervös und angespannt war und bei jeder Unregelmäßigkeit des Schnarchens zusammenzuckte und wie erstarrt inne hielt. War der Schrank schon immer so weit von der Tür entfernt gewesen? Und jetzt, wo er darüber nachdachte… Hatte es da nicht einmal diese Gelegenheit gegeben, zu der er eine Tracht Prügel bekam, wegen Kleidung, die er gar nicht genommen hatte? Benommen schüttelte Alistair den Kopf. Das ergab doch gar keinen Sinn! Es war nur ein Traum!

Also fasste er sich ein Herz, überwand das letzte Stück und öffnete den Schrank, kehrte kurz darauf mit einem Stapel Kleidung zu Ishara zurück und lotste sie aus dem Raum zur Besenkammer am Ende des Flurs.

Natürlich waren ihnen Beiden die Sachen viel zu groß und zu weit, sodass sie einen reichlich lächerlichen Anblick ergaben und Alistair unweigerlich auflachte. Das half die Spannung ein wenig abzubauen, doch Lileth hatte noch immer nachdenklich die Stirn in Falten gelegt. „Wir sind im Haus deiner Eltern, richtig?“, erkundigte sie sich, halb versunken in einem kratzigen Wollpullover. „Aber… Es sieht ganz anders aus, als beim letzten Mal.“

Er grinste, nickte lebhaft. „Ja… ich habe da so eine Idee, woran das liegen könnte. Finden wirs raus!“ Und ehe sie Zeit zum antworten hatte, nahm er wieder ihre Hand und zog sie aus dem einen Raum heraus und in den nächsten hinein. Da war sein Zimmer mit dem schweren Holzbett mit den Schnitzereien und er saß darauf, die Decke um die schlaksigen Schultern geschlungen und blätterte mit konzentrierter Miene in einem recht kruden Pamphlet. Lileth starrte. „Bist das du?“, erkundigte sie sich, den Blick ungläubig auf den schlaksigen Jungen mit dem zerzausten schwarzen Haaren gerichtet. Wie alt konnte er sein? Sicher nicht älter als zehn.

Ein Ruf erklang und der Junge blickte auf und mitten durch sie beide hindurch. Schob hastig das Pamphlet in den Kissenbezug und kämpfte sich, mit der Decke ringend aus dem Bett, zog hektisch  die bereitliegenden Sachen an, zum Teil verkehrt herum. Lileth gluckste leise. „Ich sehe schon. Manches ändert sich nicht“, bemerkte sie amüsiert und er spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Diesmal war sie es, die ihn mitnahm. Seinem jüngeren Abbild hinterher und nach unten, wo tatsächlich seine Mutter in der Küche stand und Schalen mit Brei füllte, während Klein-Alistair hastig den Tisch deckte.

„Du solltest heute rausgehen“, erklärte die Mutter gerade und der Junge schnitt unbehaglich eine Grimasse. „Das Fieber ist fort und die frische Luft wird dir gut tun.“ „Aber es ist kalt“, murrte der Junge. „Und so gut fühle ich mich gar nicht.“ Sie wandte sich um, fasste ihn ins Auge. Der Blick mütterlich warm, aber wachsam. Trat an ihn heran und legte ihm eine Hand an die Stirn, ehe sie lächelnd den Kopf schüttelte, ihm in liebevoller Geste das dunkle Haar zerzauste. „Es wird dir gut tun. Und jetzt setz dich, ich wecke deinen Vater, dann können wir essen. Vielleicht will er dich auch mit rausnehmen.“

„Oh bitte bloß nicht“, nuschelte der junge Alistair missmutig in seinen Brei. Sie schien es nicht gehört zu haben und verließ den Raum. Vielleicht hatte sie es auch nicht hören wollen. Er spürte, wie jemand seine Hand drückte und wandten den Blick von seinem jüngeren Ich ab und zur Seite. Ishara musterte ihn, Sorge in den tiefblauen Augen. „Sollen wir gehen?“, fragte sie leise. „Es… gibt keinen Grund, sich das anzusehen, oder?“ Gab es den? Er wusste es nicht. Trotzdem schüttelte der Dieb den Kopf. „Ist schon gut. Ich will… ich weiß nicht. Vielleicht passiert ja noch irgendetwas?“

Doch zunächst blieb alles erschreckend normal. Sein Vater fand sich ein und mit der morgendlichen Ruhe war es vorbei. Nichts, an dem der Mann nichts auszusetzen hatte, ganz besonders nicht, wenn es seinen Sohn betraf. Alistair hielt Lils Hand und zwischenzeitlich drückte er sie vermutlich fest genug, dass es weh tat, doch die Halbelbe gab keinen Laut von sich. Sie musterte den Holzfäller selbst mit kalten, blauen Augen, als überlegte sie, was wohl geschehen würde, wenn sie ihn mit einem Pfeil durchbohrte. Durchaus eine interessante Frage…

Sie folgten, als er den Jungen tatsächlich hinausscheuchte und es wurde nicht besser. Sie begegneten auf der Straße dem einen oder anderen Dorfbewohner, ernteten gleichsam mitleidige, wie zum Teil auch verächtliche Blicke und folgten dem ungleichen Gespann dann hinaus in den Wald. Holzhacken.

„Das ist so dämlich“, murmelte Ishara verstimmt. „Du bist kein Holzfäller. Aber du hättest so viel tun können.“ Irgendwie tat es gut zu sehen, wie sie sich für ihn empörte. Es half die Last und Beklommenheit, die sich über seine schmalen Schultern gelegt hatten, ein wenig zu erleichtern und er bemühte sich um ein Lächeln. „Na ja… Den Verstand hab ich ja auch nicht von ihm. Was glaubst du, würde passieren, wenn ich ihm einen Schneeball an den Kopf werfe?“

Ishara verzog das Gesicht. „Ich schätze, er würde dir die Schuld dafür geben. Einfach, weil du da bist. Aber warte…“, fügte sie hastig hinzu, als sie sah, wie sein Lächeln schwankte. „Bleib einfach hier stehen.“ Sie ließ seine Hand los und verschwand zwischen den Bäumen. Er sah es verdutzt und verfolgte die nächsten, quälenden Minuten allein, bis sein Vater den Jungen harsch beiseite schubste und auf den Baum einzuhieben begann. Die Erschütterung, die selbigen dabei durchfuhr, war allerdings sehr viel größer, als Alistair erwartet hatte und verdutzt sah er zu, wie sein Vater, ob des tönenden Rauschen in der Baumkrone gerade rechtzeitig den Kopf hob, um den Schneemassen, die auf ihn niedergingen entgegenzublicken.

Er lachte noch und rang um Atem, als Lileth grinsend zwischen den Bäumen hervortrat. Sein Vater wiederum fluchte noch und Klein-Alistair bestaunte das Ganze mit großen Augen und offen stehendem Kiefer. Immerhin war er klug genug, nicht zu lachen und keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Wie hast du das gemacht?“, japste er. „Oh na ja. Offenbar kann uns hier niemand wahrnehmen. Aber die Umgebung beeinflussen können wir. Ich musste ein bisschen suchen, aber dann hatte ich alles zusammen, was ich brauchte um eine Schlingfalle nach Uros Vorbild zu bauen und im richtigen Moment gegen den Baum zu richten.“

Spontan fiel er ihr um den Hals. Küsste sie, ehe sie dazu kam fortzufahren, falls sie das denn vorgehabt hatte und sah grinsend die verlegene Röte, die ihr in die Wangen schoss und das weiche, warme Leuchten in ihren Augen. „Danke.“ Lil lächelte liebevoll: „Jederzeit.“

Zeit verstrich. Es wurde irgendwann langweilig sich das Elend weiter anzusehen und sie entfernten sich zwar nicht allzu weit, doch spazierten ein wenig durch den winterlichen Wald. Hand in Hand. Das war eigentlich auch ganz schön, auch wenn es nur ein Traum war. Vielleicht etwas, was sie generell mal machen konnten. Es musste ja nicht Laruien sein…

Ein Kichern weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie entdeckten ein paar andere Kinder in einem Dickicht und Alistair spannte sich unwillkürlich. Er kannte sie. Natürlich tat er das. Und den Großteil seiner Kindheit hatte er damit verbracht ihnen möglichst aus dem Weg zu gehen. Mehrheitlich. Vor allem Victor, dem großgewachsenen Blondschopf, der schon jetzt in jungem Alter eine kleinere Kopie seines schrankbreiten Vaters zu sein schien und der immer besondere Freude daran gehabt hatte, Schwächere zu malträtieren.

„Hey, ist das nicht Alistair?“, merkte plötzlich ein Mädchen mit rötlichem Schopf und Sommersprossen auf. Tatsächlich. Die Stelle, an der in unermüdlichem Takt das gleichmäßige Schlagen der Axt erklang, war nicht weit entfernt und durch die Bäume konnte man den reichlich gelangweilten Jungen tatsächlich dort herumstehen und vor sich hinbibbern sehen.

„Und wenn schon“, winkte Victor verächtlich ab. Was willst du von dem Weichei, Lyssa?“ „Lyssa ist verliiiiiiebt!“, krähte ein jüngeres, ebenfalls rothaariges Mädchen vergnügt. Lyssas Schwester Marie. Die anderen Kinder kicherten. „Bin ich gar nicht!“, protestierte das Mädchen sofort und warf ihr einen bösen Blick zu, ehe sie sich schulterzuckend an Victor wandte:

„Ich weiß, dass er ein bisschen komisch ist. Aber er kann wirklich gut klettern.“ Und bedeutungsvoll, wie der Blick war, war das von ganz besonderer Relevanz. Der Blonde legte die Stirn in Falten, schien angestrengt nachzudenken, was ihm jedoch offenbar nicht sonderlich lag. Wirklich. Er sah reichlich dämlich dabei aus, wenn Alistair ihn jetzt so betrachtete. Und na ja, nicht mehr so einschüchternd. Immerhin war er jetzt größer…

Lyssa seufzte gequält. „Der Bienenstock! Er könnte wahrscheinlich hochklettern und den Honig holen!“, erklärte sie und Victors Miene verfinstere sich. „Den Hänfling brauchen wir nicht!“ „Ach… Dann willst du es nochmal versuchen und wieder auf dem Hosenboden landen? Nur zu, wir lachen dich gerne nochmal aus.“ Pinke Röte verunzierte Victors Gesicht und ließ ihn ein wenig wie ein Schwein aussehen. „Und wieso kletterst du nicht, wenn du so neunmalklug bist?“

„Ich?“, demonstrativ strich der Rotschopf ihre Röcke glatt. „Bin eine Dame. Die steigen nicht auf Bäume.“ Einer der anderen Jungen prustete, doch zog unter dem Blick, den sie ihm zuwarf, rasch den Kopf ein. „Ich kann das machen!“, tönte Marie und ihre ältere Schwester seufzte. „Nein, kannst du nicht. Du bist zu klein.“ „Bin ich nicht!“

„Sind das… Freunde von dir?“, erkundigte sich Ishara, doch der Ton wirkte zweifelnd. Er zuckte die Schultern. „Lyssa war eigentlich… ganz in Ordnung. Mehr im Kopf als die Meisten. Habe sie manchmal zum Lachen gebracht und sie hat sich manchmal für mich eingesetzt. Aber natürlich wollte sie nicht… Na ja, sie wollte trotzdem dazu gehören.“ „Was ist aus ihr geworden?“ „Wir haben sie getroffen, als wir in Laruien waren. Weißt du nicht mehr? Sie hat Victor geheiratet. Schätze, sie ist eine von denen, die draußen in der Welt glücklicher geworden wären. Hatte sogar überlegt, sie zu fragen, ob sie mitkommen will, als ich abgehauen bin, aber… Es war nicht wirklich geplant und ich habe mich nicht getraut.“

„Na ja“, Lileth lächelte schief, drückte tröstend seine Hand. „Glück für mich? Sonst hättest du dich vermutlich nicht noch weiter nach Norden verlaufen. Und ich wäre von Wendigo gefressen worden.“ Die Erinnerung ließ ihn schaudern, auch wenn er grinsen musste. „Ja, eindeutig Glück für dich. Mir hätte das so manches… Hey!“

Sie verloren die Kinder aus den Augen, während sie kabbelten. Sahen sich später, atemlos, mit rote Wangen und von oben bis unten mit Schnee bepudert, nach ihnen um. Vielleicht war der Traum doch gar nicht so schlecht. Und offenbar war es tatsächlich gelungen Klein- Alistair von seinem Vater zu befreien, denn der war jetzt allein und murmelte missmutig vor sich hin.

Lileth erspähte sie zuerst, ein gutes Stück tiefer im Wald blitzte etwas Rotes auf und wenn man genau hinsah erkannte man auch die schmächtige Gestalt, die wie ein Äffchen den Stamm einer alten Tanne hinauf huschte. Wahrscheinlich befand sich dort das Bienennest, das er zu plündern hoffte. Die Halbelbe entdeckte jedoch auch noch etwas anderes, das sie aufmerken und erstarren ließ. „Wendigo.“

Mehrere, dunkle Schatten, die die Kinder umschlichen, sie einkreisten und belauerten. Die ahnten nichts von der Bedrohung, lachten und stritten, feuerten Alistair an und veranstalteten generell einen Höllenlärm. Sie krempelte die Hosenschichten hoch und offenbarte eine Messerscheide, die an ihre Wade geschnallt war, zog einen langen Dolch heraus und war schon halb in Bewegung, während Alistair noch völlig überrumpelt in den Wald und dann zu ihr starrte.

„Warte. Du trägst das immer noch? Im Bett?“, entfuhr es ihm dann zunächst. Sie wurde rot, zuckte jedoch mit den Schultern. „Man weiß nie. Und jetzt zeigt sich, wie nützlich das ist?“ „Aber es ist nur ein Traum! Was soll schon passieren?“ Das ließ sie inne halten. Scheinbar hatte sie es vergessen und es fühlte sich ja auch tatsächlich alles sehr wirklich an, doch am Ende schüttelte Lileth trotzdem den Kopf. „Egal. Ich will trotzdem nicht, dass du von einem Wendigo gefressen wirst. Komm!“

Na ja… vermutlich war das auch eine Art Liebeserklärung? Und irgendwie war es ja auch ganz witzig. Und pures Chaos. Er kletterte am Ende selbst nach oben, um den Bienenstock herunterzuwerfen und die Kinder zur Flucht zu animieren. Sie warfen Schneebälle, Äste, Steine, brachten sogar einen halb entwurzelten Baum zu Fall, der zwei der Biester unter sich begrub und Isharas Dolch leistete ihnen gute Dienste. Schade, dass er dieses Mal keinen Schnaps dabei hatte. Das wäre eine epische Vorstellung geworden!

Ishara zog gerade den blutigen Dolch aus dem Hals eines Wendigo und blickte den kleiner werdenden, fliehenden Gestalten nach, deren schrilles Gekreisch ihnen noch in den Ohren hallte. Auch sein eigenes. Das war ein bisschen peinlich gewesen. Zugegeben. Aber Victor hatte noch sehr viel mehr wie ein Mädchen gekreischt! Plötzlich blieb alles stehen. Keine Geräusche mehr, keine Regung in den Zweigen. Selbst das spritzende Blut war in der Luft erstarrt.

„Äh… Lil?“, erklang aus dem Nichts eine Stimme, die Alistair im ersten Moment nur vage vertraut vorkam. Der Halbelbe, die ebenfalls erstarrt war und mit neuer Wachsamkeit gewartet hatte, was da nun wieder kam, entgleisten die Gesichtszüge. „Hans…?!“

„Oh da bist du! Ja. Ähm… Entschuldige, das ist gerade etwas... Oh gute Güte, ist das Blut?“

Ein Zittern lag in der Stimme und eine Gestalt manifestierte sich zwischen den Bäumen, hochgewachsen und schlaksig, ziemlich bleich im Gesicht und den Blick fest auf die Klinge geheftet.

Was bei allen Göttern hatte Hans in seinem Traum verloren? Das schien Ishara sich ebenso zu fragen: „Was machst du hier?“ „Oh ich ähm… Bin Euretwegen hier. Weißt du, wegen Duncan.“ Er fuhr hastig fort, als sich keinerlei Verständnis auf den verwirrten Gesichtern zeigte. „Die Sache ist die. Er äh… Versucht etwas Neues, wegen der ganzen Sache, dass ihr seine Pläne hier durchkreuzt habt und all das. Jetzt fängt er offenbar an, in der Vergangenheit der Leute, die dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, rumzupfuschen. Also… na ja bei dir und Thorin ist das natürlich ziemlich hoffnungslos. Viel zu viel Einmischung von… Äh warte, vergiss das. Jedenfalls... Du bist kein direktes Ziel. Aber er zum Beispiel. Und ein paar andere auch. Und ich hab versucht dich hinterher zu schicken, damit du das Schlimmste verhindern kannst. Und… ihn offenbar auch. Auch wenn das nicht geplant war. Aber gut. Und na ja… Ihr… Äh… ihr habts offenbar verhindert? Gute Güte ist das widerlich. Musstest du… so tief schneiden?“

„Warte… Das heißt… Das hier ist gar kein Traum?“ „Äh… Nein. Nein. Das war Duncans Versuch Alistair aus dem Weg zu räumen.“ Jetzt wirkte auch die Halbelbe blass, während der Dieb selbst eher verwirrt war, als alles andere. Letztlich zuckte er mit den Schultern. „Na ja… Glück gehabt?“, er grinste ihr zu. „Danke, dass du mich nicht hast fressen lassen.“

Lileth nickte benommen, doch schien halbwegs zu sich zu kommen, wie aus einer Trance. Sie sah zu ihm, trat zu ihm. Umarmte ihn und in der Geste, in den Schatten in ihren Augen, lag alles, was sie nicht auszusprechen wusste. Er hielt sie fest, strich ihr etwas überfordert durchs Haar. Das war neu. Normalerweise war er derjenige der sich Sorgen machte. Und sie diejenige, die fast starb. Falls man das so nennen wollte? „Hey… Schon gut. Es ist doch alles gut. Ist es doch, oder?“, wandte er sich an Hans, der unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Vielleicht fror er? Konnten Götter frieren?

„Oh äh… Na ja. Nicht ganz. Irgendwo hier muss ein Duncan-Splitter sein, der die Wendigo geschickt hat. Und vielleicht versucht er noch irgendetwas anderes und die Anderen sind da auch noch.“ „Ein Splitter?“, erkundigte sich die Halbelbe an Alistairs Schulter und Hans seufzte.

„Das ist… ziemlich kompliziert. Duncan ist… Na ja, zersplittert. Es gibt jetzt jede Menge Versionen von ihm. Das einzig Gute daran ist, dass jeder einzelne schwächer ist, als das Original. Aber sie haben sich sonst wo verteilt und stiften Unruhe.“

„Und wir sollen sie jagen.“, das war eher eine Feststellung als eine Frage und Hans wirkte verlegen. „Na ja… Ja. Ehrlich gesagt, ich… Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll?“ Die Halbelbe seufzte. Beunruhigt, vielleicht ein wenig verängstigt, überfordert. Alistair zuckte erneut mit den Schultern: „Ein Gutes hat es“, erklärte er lächelnd und beide wirkten verdutzt. „Das heißt, dass es für uns eine ganze Weile keine Ratssitzungen mehr gibt und wir übermorgen nicht zu Lady Destinas Ball gehen müssen.“

Es war ein kleines, verlorenes Lächeln, das ihre Lippen verzog. Aber es war ein Lächeln. Und wenn er sie in so einer Situation zum Lächeln bringen konnte? Na dann schafften sie alles andere auch!

Lehrstunden

„Ich bin nicht zu spät!“, fast schlitternd kam Mila zum Stehen. Deutlich außer Atem, die Wangen vom Lauf gerötet, aber gerade noch pünktlich. Arien, die bereits am Kopf des langen Tisches saß, hob stumm eine Braue, doch in den braungoldenen Augen lag ein amüsiertes Funkeln. Layos und Yennefer betrachteten sie schon mit deutlich tadelnderem Blick, doch immerhin kamen sie nicht dazu etwas zu sagen. Ihre große Schwester, die immer alles besser wusste, und ihr immer ernster, tadelloser kleiner Bruder. Spielverderber und Langweiler, alle beide! Und, was noch viel schlimmer war: Frühaufsteher!

Wie sollte man, bei so einer Familie, bei Verstand bleiben? Andererseits… Bedachte man, wo sie waren und was sie hier taten… Schwieg man sich, was geistige Gesundheit betraf, vielleicht lieber aus. „Setzt dich. Dann können wir anfangen“, drängte sich die ruhige, noch immer unterschwellig amüsierte, Stimme ihrer Mentorin in Milas Gedankenchaos und die Halbelbe spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Natürlich. Sie stand ja immer noch neben dem Tisch! Hastig griff sie nach einem der Stühle und hätte ihn fast umgeworfen, dann gelang es ihr jedoch ohne weitere Katastrophen Platz zu nehmen und sogar dem Drang zu widerstehen, ihrer Schwester die Zunge herauszustrecken, die sie aus dem Augenwinkel den Kopf schütteln sah.

„Gut. Erinnert ihr euch, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben?“, erkundigte sich Arien, das unterschwellige Gekabbel unter den Geschwistern weiterhin ignorierend. Und noch ehe Mila auch nur eine Chance gehabt hatte, ihre morgenträgen Gedanken dazu zu bewegen, sich überhaupt an den gestrigen Tag zu erinnern, hatte Layos schon geantwortet: „Moral, Perspektive und Motivation. Über den Antrieb und die Bewertung eigenen und fremden Handels und die daraus resultierenden Konsequenzen.“ Elender kleiner Streber… Wie machte er das nur? Sie wusste ganz genau, dass er bis tief in die Nacht wach gewesen war und gelesen hatte! Andererseits war das genau die Art langatmiger, langweiliger rhetorischer Themen, die Layos liebte. Er konnte stundenlang über irgendwelche Eventualitäten diskutieren. Über Was-Wäre-Wenns, Optionen, Pläne und Strategien. Als liefe es am Ende nicht sowieso immer darauf hinaus, dass alles völlig anders kam, als geplant und man eben sehen musste, wo man blieb…

Arien nickte. „Und damit werden wir heute auch fort fahren. Allerdings, weil ich denke, das ich die Bedeutung und Komplexität dieses Themas an einem praktischen Beispiel besser verdeutlichen kann, mit einer Demonstration.“ Das wiederum ließ Mila, die sich schon darauf vorbereitet hatte noch ein wenig vor sich hinzudösen, aufhorchen. „Was für eine Demonstration?“

„Wir werden heute und auch in den nächsten Tagen verschiedene Beispiele verfolgen. Einige der großen Helden und Übeltäter unserer Geschichte näher betrachten und sehen, was uns das über die Beschaffenheit von Moral und das moralische Netzwerk dieser Welt aussagt. Und warum es neben allem, was ich euch beibringen kann und will, einige sehr wesentliche Eigenschaften gibt, die ihr für eure Aufgabe selbst aufbringen müsst. Und eine davon ist Mitgefühl.“

Layos runzelte die Stirn, setzte wahrscheinlich auch an eine seiner berüchtigten, unnötig komplizierten Detailfragen zu stellen und alles zu verzögern, doch Mila kam ihm rasch zuvor: „Das heißt wir reisen durch die Zeit?“ Und sie sah, dass selbst Yennefers Augen erwartungsvoll leuchteten.

Arien lächelte. „Ja. Wir werden verschiedene Abschnitte verschiedener Leben besuchen und verfolgen welche Auswirkungen sie haben. Ihr werdet nicht in der Lage sein auf  die Zeitlinie Einfluss zu nehmen oder auch nur wahrgenommen zu werden, aber ihr sollt beobachten und eigene Schlüsse ziehen. Ich werde euch auch nicht verraten, um wen es geht. Ihr werdet es früher oder später schon feststellen und es ist eine gute Übung zur zeitlichen und räumlichen Orientierung.“

Mila sprang auf und diesmal fiel der Stuhl polternd zu Boden. Aber wen kümmerte das schon? Vasila war zu dieser Zeit wahrscheinlich in der Küche und sie hatten die Bibliothek für sich. Zu dritt versammelten sich die Geschwister rund um den Halbdrachen und einen Augenblick später verschwammen die Farben und Formen der Welt, bis sich ein neues Bild zusammenfügte.

Alles wirkte sehr viel rustikaler, altertümlicher geradezu. Nicht einmal schlicht, aber der Prunk, der hier versammelt war, das durchaus geräumige Zimmer mit dem großen, schweren Himmelbett geradezu überlud, konnte mit dem handwerklichen Niveau dessen, was man in der Nadel fand, nicht mithalten. Natürlich nicht.

Und es sah auch generell nicht nach Arvum aus. Auch wenn ihre Aufmerksamkeit rasch von Dekor und Mobiliar abgelenkt wurde. Es waren mehrere Personen im Raum. Eine junge, rothaarige Frau lag auf dem Bett und schrie sich die Seele aus dem Leib. Eine ältere Frau, den Kleidern nach vielleicht eine Zofe oder dergleichen, denn es schien ein Burgzimmer zu sein, zerrte an ihr herum und gab reichlich harsche Anweisungen. Mehrere, teils ziemlich blasse, Diener und ein schmächtiges Mädchen standen bereit, hielten Tücher, silberne Schalen mit Wasser und allerlei Zeug, das Mila zunächst so wenig zuordnen konnte, wie die Gesamtsituation.

Nach und nach allerdings begriff sie, dass sie die Geburt eines Kindes verfolgten und so wie ihre Geschwister dreinschauten, war sie nicht die einzige, die es nicht nur unheimlich und abschreckend, sondern schlicht und ergreifend widerlich fand. Nur Arien wirkte zwar ruhig, aber fast versonnen, während sie aus dem Hintergrund beobachtete, in Gedanken vielleicht bei den Zwillingen, die in diesem Moment vermutlich ihren Vater in den Wahnsinn trieben. Oder irgendwen anders.

Gefühlte Stunden später war es der Zofe endlich gelungen das Kind aus dem Leib seiner Mutter zu zerren und genau so hatte es auch ausgesehen. Das Mädchen, das ihr wie gewiesen die Schüssel reichte, schrie auf, als es den Säugling sah. Klirrend ging das Silber zu Boden und verspritzte Wasser, als sie mit entsetzt aufgerissenen Augen die Hände vor dem Mund zusammenschlug. Es brachte ihr eine schallende Ohrfeige ein, die sie der Schüssel fast hinterher schickte, aber auch einige der anderen wirkten beim Anblick des Säuglings reichlich entsetzt.

Es verwirrte Mila und zögernd, hin- und hergerissen zwischen Ekel und Neugier, trat sie näher, um einen besseren Blick auf das rote, kreischende Bündel zu erhaschen. Hübsch war es wirklich nicht. Es sah ziemlich deformiert und zerknautscht aus, aber das taten die meisten Kinder am Anfang ihres Lebens. Zumindest die Wenigen, die sie bislang gesehen hatte. Ein Flaum rötlicher Haare bedeckte den im Verhältnis zum Körper großen Kopf und hinter heulend zusammengekniffenen Lidern schimmerten helle Augen. Sie verstand jetzt das leise Gemurmel über schlechte Omen. Aber den Grund dafür verstand sie nicht.

Sie hörten die Mutter nach dem Kind verlangen, so wie der Säugling vermutlich nach ihrer Milch kreischte, doch beides wurde ignoriert. Das blutige Ding gewaschen und in trockene Tücher gewickelt, während die Frau auf dem Bett zu schwach war, um sich zu erheben und nicht weniger durchdringend jammerte und schrie.

Da die Zofe das Kind schließlich aus dem Zimmer trug, sank die Mutter weinend in sich zusammen. „Es tut mir so Leid“, wisperte sie, kaum hörbar und auch wenn die verbleibenden Diener, die jetzt den Raum zu richten begannen, unbehaglich wirkten, schenkte ihr niemand einen zweiten Blick. „Es tut mir so Leid, mein Liebling.“

Auf Ariens Wink hin folgten sie der Frau, die den Säugling forttrug durch ein Netz kalter, steinerner Gänge. Verunsichert und aufgewühlt und mit dem sicheren Gefühl, dass irgendetwas hier ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Mila drückte im Vorbeigehen Layos Hand. Er sah so verunsichert aus. Blass und ein bisschen grünlich und die Jahre, die zwischen ihnen lagen, traten sehr viel deutlicher hervor als sonst. Er erwiderte die Geste.

Sie betraten andere, noch deutlich prunkvoller eingerichtete Räume. Vollgestopft mit Wandteppichen, Vasen und anderen Ausstellungsstücken, die offensichtlich nicht mehr waren, als Insignien des Reichtums derer, die hier lebten. Wuchtige, reichlich verzierte Möbel, die die Räume noch düsterer wirken ließen, als sie es so schon waren, den schmalen Fenstern zum Trotz, die rechts und links von schwerer Brokatvorhängen umrahmt, einen erschreckend normalen, blauen Himmel präsentierten. Es war, als blicke man in eine völlig andere Welt.

In einem der Räume, einem Arbeitszimmer offenbar, das von einem schweren Schreibtisch beherrscht wurde, saß ein Mann. Eine Feder in der Hand, die eher dazu zu taugen schien, jemanden zu prügeln, als zu schreiben, den Blick eisblauer Augen auf irgendwelche Dokumente geheftet, die vor ihm lagen. Er blickte nicht auf, als die Frau mit dem Säugling eintrat. Ließ sie warten, eine Ewigkeit lang, während das Quengeln des Kindes leiser und kraftloser wurde.

„Ein Sohn?“, fragte er schließlich, die Stimme war tief und so kalt wie sein Blick. Er hatte die Niederschrift beendet. Das Papier beiseite gelegt und die Feder abgestellt. Alles wohlgeordnet. Der gesamte Raum wirkte derart durchorganisiert, wie sie es nur von Rik kannte, wenn der mal wieder einem schweren Anfall von Ordnungszwang unterlag.

Die Zofe verneigte sich tief. „Jawohl Majestät. Aber… Er trägt ein böses Omen“, erwiderte sie, zum Ende hin deutlich leiser und dunkle Brauen zogen sich etwas tiefer, gaben dem Gesicht einen reichlich grimmigen Ausdruck. Dabei war es eigentlich kein besonders auffälliges Gesicht. In anderen Kleidern hätte das einer der Holzfäller draußen im Immergrünwald sein können. Und wenn man die Krone wegließ, von der man, so wie sie aussah, wahrscheinlich Nackenschmerzen bekam. Vielleicht wirkte der Kerl ja deshalb so unglaublich schlecht gelaunt.

„Unsinn. Du weißt, was du zu tun hast!“

„Jawohl Majestät.“

Und sie zog sich zurück, ohne, dass er auch nur einen Blick auf den Sohn geworfen hatte, der ihm geboren worden war. Milas Blick wanderte zu Arien, doch die machte keine Anstalten zu folgen und sie blieben vorerst, um zu sehen, wie er mit einer kleinen Glocke einen Diener rief, die Hinrichtung der jungen Mutter anordnete und allerlei Arrangements für die strenge Erziehung eines Kindes traf, das kaum seit einer Stunde auf der Welt war.

Sie sahen ihn aufwachsen. In einer Umgebung, die kälter und härter kaum hätte sein können. Umgeben von Menschen, die ihn ebenso verachteten, wie fürchteten und bemüht auf zu kurzen Beinen einem Vater zu folgen, der nicht mehr Zuneigung für ihn übrig hatte, als für einen der Einrichtungsgegenstände.

Offenbar gab es in dieser Gegend ein Problem mit rotem Haar, auch wenn es sicher nicht das einzige war. Es war bizarr zu sehen, wie einem Kind, dass sich nach den ersten Schellen nicht mehr zu rühren wagte, nicht mehr zu weinen wagte, eine dicke Schicht Puder ins Gesicht geschmiert und eine wallende, falsche Mähne aufgesetzt wurde. Wie es gelehrt wurde kein Kind mehr zu sein, nicht einmal ein Mensch. Wie es gelehrt wurde, das Angst und Einsamkeit unumgänglich waren und das es allem, was geschah und der Macht anderer hilflos ausgeliefert war, dem Vater vor allem.

Wie es die Hinrichtung seiner Mutter sah, lange bevor es begreifen konnte, was es sah und später in vielen weiteren lernte, was denen blühte, die nicht genug waren. Und das es selbst kaum eine Chance hatte jemals genug zu sein.

Da war so viel Angst und Verzweiflung, dass es schwer zu ertragen, schwer mit anzusehen war. Angst, die bald in Wut umschlug. In zerbrochene, umhergeworfene Dinge. Nicht, dass es Spielsachen gegeben hätte. Irgendwann in Grausamkeit gegen jene, die noch kleiner, noch schwächer waren, noch elender als der Junge selbst.

Aber es war, trotz aller Entsetzlichkeit, sehr viel schwerer nur den Jungen zu sehen, der grausam kleine Tiere quälte, wenn der gleiche Junge später den schlaffen Körper schluchzend um Verzeihung bat und sich des Nachts, mühsam den Kummer erstickend, zitternd unter einer Decke verkroch, die keinen Schutz bot. Wenn er mit leeren Augen Folter und Tod ebenso verfolgte, wie Lehrstunden über Benimm, Staatskunde und Diplomatie.

Wenn sie sahen, wie er lernte alles, was er war und vielleicht hätte sein können, zu verachten, zu hassen und abzuschütteln, abzutrennen, bis er so verstümmelt war, das kaum mehr blieb als das Gefäß, das sein Vater zu formen und zu füllen versuchte. Sie sahen ihn aufbegehren, kämpfen, um Hilfe flehen und scheitern, bis der Widerstand brach. Sahen ihn innerlich sterben, während er die Folter, die er erfuhr an andere weitertrug. Während er die rasende Angst zu bezähmen versuchte, indem er sich über andere erhob, andere in Schwierigkeiten brachte, um sich nicht länger so zu fühlen, als wäre er weniger als der Staub unter ihren Sohlen.

Wenn sie sahen, dass es nicht half. Und das er den eigenen Schmerz trotzdem nach außen tragen und weitergeben musste, selbst wenn er ihn dennoch nicht ertrug.

Sie sahen ihn im Alter von 12 Jahren einen geheimen Gang entdecken und wenig später zum ersten Mal einen Menschen treffen, der ihn selbst als genau das zu behandeln schien. Menschlich. Wertvoll. Der ihm zum ersten Mal in seinem jungen Leben eine Entscheidung treffen ließ. Und so, wie er zuvor vergeblich bemüht gewesen war dem Vater zu gefallen, zu gefallen, wem auch immer, der ihn erhören wollte, ließ er sich nun, ob er es wusste oder nicht, wissen wollte oder nicht, von anderen Mächten formen. Blind vom verzehrenden Hunger nach Anerkennung. Nach nicht mehr als Liebe und der Zusicherung, wert zu sein, für sich selbst. Doch auch wenn er zum ersten Mal Worte des Lobes hörte, Ansporn erfuhr, zumindest den Anschein aufrichtigen Interesses... Das was erwirklich suchte bekam er nicht. War sein vater ein grobschlächtiger Dorfschmied gewesen, der blindwütig auf das zu formende Metallstück eingeschlagen hatte, so vermochten Celsors spinnengliedrige Hände ein sehr viel subtileres, feineres Werk. Doch das änderte nichts am Ergebnis. nichts daran, dass es niemals um einen Menschen ging, sondern nur um eine Waffe. Ein Werkzeug.

Und was immer der Junge, von der eigenen Dunkelheit geblendet, in den Jahren in die Welt hinaustrug, wie er mit jedem Schnitt in fremden Fleisch das eigene schnitt, schien es unmöglich, dass er nicht verleugnen könnte, was er tat.

Sich hinter dem verstecken, was er verdiente, und alle anderen umso mehr. Hinter der Angst und allem, was sie nur irgendwie fern halten mochte. Und wenn es Wut war, oder Grausamkeit. Was hätte er auch tun können, unfähig sich zu befreien?

Wenn er Versprechen brach, dann nur, um denen zuvor zu kommen, die es sonst taten. Denn in der Welt, in der er lebte, gab es kein Vertrauen. Sie waren alle so und nichts anderes konnte er begreifen.

Als er seinen Vater tötete… Tötete er in Wahrheit sich selbst. Das machte die Grausamkeiten nicht kleiner, das Entsetzen nicht geringer, aber es machte schwer zu entscheiden, was man denken, wen man verantwortlich machen sollte. Manchmal, wer überhaupt zu bedauern war und wer nicht.

Es warf die Frage auf, welche Möglichkeiten es überhaupt gegeben hatte und wie viel eine winzige Abweichung, eine einzige Chance vielleicht hätte bewirken können.

Jahre zogen vorbei. Dinge, die zum Teil unaussprechlich waren, doch alles wurde überlagert vom Bild dieses Kindes, das im Grunde nie erwachsen geworden war. Die Rebellion zog auf und sie sahen, wie er nach und nach an Boden verlor. Verzweifelt kämpfte, getrieben von Angst. Ein kleines, kratzendes, beißendes elendes Tier. Wie er scheiterte und unterlag, vertrieben wurde, mehr als einmal, immer wieder. Und wenn auch aus anderen Gründen, blickte die Welt mit derselben Mischung aus Ekel und Angst auf ihn herab, die alles war, was sie je für ihn übrig gehabt hatte.

Verlassen von dem einen, an den zu glauben er gelernt hatte, blieb weniger, als er je gewesen war  und das wenige sahen sie am Ende auch noch zerbrechen. Sahen ihn sterben in Elend und Armut. Allein, wie er es immer gewesen war. Gebrochen, verzweifelt und am Ende ohne jemals herauszufinden, was Nähe oder Wärme bedeutete. Nicht einmal, wie sich eine Umarmung anfühlte. Und sie schwiegen. Sprachlos und betroffen. Die Gestalt wirkte kaum größer als damals, als sie aus dem Leib ihrer Mutter gezerrt worden war und es schien auch fast als hätte sich seither rein gar nichts getan.

„Und jetzt verratet mir, was denkt ihr? Ihr habt Ausschnitte aus einem Leben gesehen, das nur den wenigsten in diesem Umfang bekannt ist. Doch von König Phillipe dem 3., Lumiéls Marionettenkönig und seinen Untaten, hat die ganze Welt gehört. Denkt ihr, er ist böse? Und denkt ihr, dass er das, was er bekam auch verdiente?“, erkundigte sich Arien ruhige und fasste die Geschwister mit eindringlichem Blick ins Auge. Die Drei verharrten sprachlos, selbst Layos, und Arien nickte langsam. „Und genau deshalb dürft ihr niemals versäumen zu hinterfragen. Es ist schmerzhaft und sicher nicht der leichte Weg. Aber… Wenn ihr aufhört andere, ob Feind oder nicht, als menschliche Wesen zu betrachten, dann verliert ihr selbst ein Stück eurer Menschlichkeit.“

Sie trat an die Geschwister heran, die eng beieinander standen, Trost in der Nähe der anderen suchten. Trost, den der Marionettenkönig niemals kennen gelernt hatte. Aufgewühlte Gefühle flackerten hinter geweiteten Augen und Arien legte die Arme um sie.

„Es ist gut“, bemerkte sie leise, sanft. Es war eine schwere Lektion. Eine schmerzhafte. Selbst für sie noch heute. Es gab kein Schwarz und Weiß in dieser Welt. Kein Richtig und Falsch. Es gab nur Ereignisse, die einander bedingten, Einfluss nahmen. Gab nur jene, die litten und jene, denen es besser ging und der daraus entstehende, unvermeidliche Konflikt. Reines Böses, das war selten, vielleicht existierte es nicht einmal.

Und was in den Augen des einen, wie eine Heldentat anmutete, gereichte dem anderen zum Untergang und nahm ihm vielleicht alles, woran sein Herz hing.

Sie brachte sie heim, doch obgleich der Unterricht für diesen Tag mehr als beendet war und andere Pflichten warteten, blieb sie. Es war eine Frage der Zeit, bis Fragen kommen würden. Über Phillipe wohl und mehr noch über ihren Vater. Welches besseres Beispiel gab es schließlich dafür, wie sehr die Grenze zwischen Monster, Held und Opfer verschwimmen konnte? Und auch wenn die drei es vielleicht noch nicht wussten, aber was sie zittern ließ, war nicht allein Mitgefühl mit dem Marionettenkönig, sondern genau das.

Und mit dem Leben, das sie für sich gewählt hatten, würden sie oft vor Erkenntnissen wie dieser stehen. Nur niemals, solange Arien nur irgendetwas anderes bewirken konnte, allein.

Bist du stolz auf sie? Fragte sie innerlich jemanden, der nicht antworten konnte und es wohl auch nicht getan hätte. Nicht ehrlich allemal, sondern allenfalls mit einem dummen Scherz. Sie hoffte es trotzdem. Du solltest stolz auf sie sein.

„Nein“, erklärte Mila schließlich mit belegter Stimme, ließ auch ihre Geschwister aufmerken und hob den Blick, um Arien anzusehen, das Kinn trotzig vorgereckt. „Das hat er nicht verdient. Niemand hat das. Auch wenn er nicht weniger ein Monster ist. Wenn es andere sind, die ihn dazu gemacht haben. Er… musste aufgehalten werden und vielleicht… hätte er das auch selbst gewollt. Wenn er… Es gewusst hätte.“

Tapferes Mädchen. Arien lächelte, legte alle Wärme hinein, die sie empfand und nickte ihr zu. Nicht, dass Ithildalin nicht selbst einiges dazu zu sagen gehabt und ihr damit vermutlich vehement widersprochen hätte... Sie konnte es beinahe hören, das leicht verächtliche Lächeln vor sich sehen. Wie sie ihn vermisste. Immer noch. Aber zumindest kannst du mir nicht mehr widersprechen. Und doch schien allein das unweigerliche Schweigen genau das zu tun. Sie zwang ihre Gedanken zur Gegenwart zurück.

„Das denke ich auch. Und genau das, muss euch bewusst sein. Was ihr tut, wird selten einfach oder offensichtlich sein. Das sollte es meistens auch nicht, aber das heißt nicht, dass es nicht trotzdem richtig ist. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlen wird. Darin liegt die wirkliche Schwierigkeiten und das ist, was euch niemand beibringen kann, außer euch selbst.“ Ihr Blick wanderte über die Gesichter, verharrte kurz bei jedem und das Gefühl von Wärme wuchs. Wenn du mich fragst, hast du allen Grund, stolz zu sein. Ich jedenfalls... Bin es.

Ganz normaler Wahnsinn

„Mama aufwachen! Wir haben Frühstück gemacht!“, helle, aufgeregte, viel zu laute Stimmen, die sie aus einem benommenen Dämmerzustand schreckten. Ein heißer Schmerz in ihrem Nacken, im Rücken und den Schultern. Dumpferer im Bereich der Ellenbogen. Wo war sie?

„Ich habe die Pfannkuchen gewendet und keiner ist kaputt gegangen!“ „Du hast ja auch Telekinese benutzt, das kann doch jeder!“ „Dafür hast du die Eier anbrennen lassen!“ „Habe ich gar nicht, das war Papa!“ „War er gar nicht!“ „War er wohl!“

Ein Ächzen drang über ihre Lippen und jeder Muskel protestierte, als sie den Kopf hob, sich benommen aufrichtete, in Richtung der Geräuschquelle. Wo war sie? Der Geruch von Holz, Papier und Tinte stieg ihr in die Nase und Arien seufzte. Offenbar hatte er seine Drohung tatsächlich wahr gemacht. Das erklärte auch die seltsame Position und, nachdem sie sich mit den Händen übers Gesicht gefahren war und den Schlaf mühsam aus den Augen geblinzelt hatte, entdeckte sie ihn auch im Türrahmen.

Er lächelte, aber sie konnte den Ausdruck dahinter mühelos lesen und er wartete nur auf das erste, allzu laute Ächzen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sobald ihre Blicke sich begegneten, die beiden kabbelnden Kinder zu ignorieren und heranzutreten. „Guten Morgen“, begrüßte er sie, beugte sich zu ihr herab, gab ihr einen Kuss und legte eine Hand an den Übergang zwischen Schulter und Nacken, massierte die verhärtete Muskulatur einen kurzen Augenblick, nur, um sie gequält aufstöhnen zu hören.

„Du bist grausam“, protestierte Arien an Artemis Lippen, auch wenn der Ärger alles andere als ernsthaft war. Zumindest ihm gegenüber. Was den Schreibtisch mit seiner offensichtlichen Unbequemlichkeit betraf und das klägliche Scheitern ihrer Selbstheilungskräfte gegenüber den Folgen einer eben dort verbrachten Nacht, das war eine andere Angelegenheit.

„Ich habe dich gewarnt“, erwiderte er wortlos und sie seufzte ergeben. Widersprechen konnte und wollte sie nicht. „Wozu habe ich dich, wenn du mich nicht rettest?“, erwiderte sie trotzdem, eher neckend, lehnte sich zurück gegen ihn und hätte die Augen einfach wieder schließen und die zunehmende Geräuschkulisse ausblenden können. Lange konnte sie nicht geschlafen haben. Vermutlich der wahre Grund dafür, dass er sie, nicht, wie so oft, irgendwann ins Bett gebracht hatte. Es war einfach schon zu spät. Oder zu früh. Irgendetwas davon.

„Arien, niemand kann dich vor dir selbst retten. Das wissen wir beide. Nicht, dass ich wirklich glaube, dass Rückenschmerzen dich davon abhalten werden, beim nächsten Mal wieder über deinen Briefen einzuschlafen, aber angeblich sind Demonstrationen ein wirksames Mittel zur Erziehung.“

„Du solltest aufhören diese Bücher zu lesen“, murmelte sie, diesmal hörbar, weil alles andere verlangt hätte, die Augen zu öffnen. „Es ist sowieso hoffnungslos.“ Sie konnte das Schmunzeln in seiner Stimme hören. „Du weißt doch, ich gebe dich niemals auf“, erklärte er und brachte sie unweigerlich zum Lächeln. „Und jetzt komm. Das Frühstück wird sonst kalt oder fällt den tierischen Teilnehmern dieses Haushaltes zum Opfer. Eathor hat Thalion zwar mit Apfelresten gefüttert, als er dachte, ich sehe nicht hin und Amdiriel Zenna und Luine mit Speck, aber wir wissen beide, dass das nur einen Aufschub bedeutet. Und wenn wir uns beeilen habe ich vielleicht noch Zeit das, was du deinem Rücken angetan hast, in Ordnung zu bringen.“

Fast beiläufig strich seine Hand kurz über ihren Bauch, spürte liebevoll die kleine, kaum angedeutete Wölbung und als Arien die Augen öffnete, lächelte sie warm. Dafür brauchte es keine Worte. Die Zwillinge merkten auf, als sie sich erhob, stürmten heran und sprudelten vor Wörtern nur so über, aufgeregt und so schnell, dass sie Mühe hatte zu folgen, aber es war auch gar nicht nötig irgendetwas zu sagen, sie schloss sie einfach in die Arme. Zwei kleine Wunder. Immer noch und jeden Tag. Und auch wenn es Schwachsinn war, dass alles Unangenehme und aller Schmerz sofort vergessen waren, sobald man das eigene Kind in den Armen hielt, es gab keine Möglichkeit die Tortur, die ihre Geburt gewesen war jemals zu vergessen, bereute sie doch nichts. Nicht eine Sekunde.

Amdiriel sah zu ihr auf und begann zu kichern. Sie wandte den Blick rasch ab, doch ihr Bruder war aufmerksam geworden und begann mit einem Blick nach oben ebenfalls zu grinsen. „Was ist los?“, erkundigte sie sich mit einer Andeutung von Misstrauen und beide brachen in sehr viel lauteres Gekicher aus, während ihr Blick anklagend zu Artemis wanderte.

„Du hast ein Buch im Gesicht, Mama!“, erklärte Amdiriel und sie seufzte. „Warum hast du nichts gesagt?“, beklagte sie sich bei ihrem Angetrauten, doch der zuckte nur grinsend die Schultern.

„Es wäre dir schon irgendwann aufgefallen. Und schließlich, bin doch wohl ich derjenige, der sich beklagen sollte, wenn du dich nachts so nahe an eine frisch beschriebene Seite schmiegst, statt an mich.“

Arien seufzte. Sie erhob sich und gab den beiden Kindern einen sanften Schubs. „Schon gut. Lauft schon mal und kippt eurem Vater Senf in den Tee, ich bin gleich da“, erklärte sie und bemühte sich im Bad die letzten Reste von Schlaftrunkenheit abzuschütteln. Tatsächlich war ein Teil des letzten Briefes fein säuberlich auf ihrer linken Gesichtshälfte abgedruckt worden, sie konnte sogar entziffern welcher es war, was immerhin dafür sprach, dass nichts verschmiert worden war. Sie wusch sich Tinte und Schlaf aus dem Gesicht, zog sich rasch an und fand sich dann am gedeckten und reichlich umschwärmten Frühstückstisch ein. Zunächst zufrieden zuzuhören und zuzuschauen, nicht viel anders als Artemis und mit dem selben warmen Blick, wenn es nicht gerade darum ging, Luine aus der Butterdose zu scheuchen.

„Mama? Kommt Onkel Faelon heute Abend auch? Mit dem Baby?“ „Ciridan ist doch gar kein Baby mehr!“ „Er ist jünger als wir, natürlich ist er ein Baby! Du bist auch ein Baby! „Bin ich gar nicht!“ „Ich bin zehn Minuten älter!“ „Ich denke schon, dass er und Lethalee da sein werden, wenn sie es einrichten können. Und natürlich der Kleine“, antwortete sie trocken auf die initiale Frage. Nicht, dass irgendwer noch zugehört hätte…

Eigentlich eine seltsame Vorstellung. Beim letzten Mal war der Junge noch zu klein gewesen, fiebrig und mit seiner Mutter zu Hause geblieben, aber diesmal? Falls Elesil Alera mitbrachte und Nathalia Isabelle… Eine Flut von Kindern in der Nadel. Nichts, was sich wohl irgendwer damals hätte vorstellen können. Ob Emily, Mila und Lucillia bereuen würden, sich als Babysitter angeboten zu haben? Wahrscheinlich. Aber dafür hätten, mit ausreichend Zeit, erfahrungsgemäß auch die Zwillinge allein ausgereicht. Ohnehin war sie gespannt, teils besorgt und angespannt, teils vorfreudig, zu sehen, wer da sein würde, wer fehlen, was sie Neues zu berichten haben würden. Aber… Bis dahin gab es noch eine Menge zu tun. 

„Wir dürfen Papa mit dem Essen helfen oder? Du hast heute doch sowieso keine Zeit für Unterricht!“, erkundigte sich ihre Tochter hoffnungsvoll und Arien hob lächelnd eine Braue. „Natürlich dürft ihr das. Heute Abend. Und nein habe ich nicht. Aber Efkiria schon.“ Amdiriel verzog das Gesicht: „Können wir nicht lieber zu Onkel Eresthenes in die Werkstatt?“, bettelte sie und ihr Bruder verzog zwar zunächst das Gesicht, stimmte dann jedoch mit einem Geistesblitz ein: „Oder raus ins Lager? Layos hat mir versprochen, dass er mit zeigt, wie man mit einem Holzschwert kämpft, dann werde ich auch ein großer Held!“

Sie spürte, wie sie lächelte. „Dürft ihr. Nach den Stunden mit Efkiria“, erwiderte sie und zweifache Unmutsbekundungen schallten ihr entgegen. Doch Artemis wusste rasch abzulenken, auch wenn der Einwurf zur Natur des Nachtisches natürlich unweigerlich den nächsten Kleinkrieg am Tisch provozierte. Nicht, dass es nur einen von ihnen störte…

Arien seufzte. „Ich sollte anfangen. Sonst werde ich niemals fertig und leider habe ich immer noch nicht herausgefunden, wie man zusätzliche Zeit generiert“, erklärte sie trocken und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Er legte seine Hand kurz auf ihre. „Übertreib es nicht“, mahnte er und sie seufzte erneut. „Es sind nur Briefe.“ Heute. „Keine Monster.“ „Es ist Politik und Bürokratie, das sind die schlimmsten Monster und es sind die Probleme einer ganzen Welt, die morgen immer noch voller Probleme sein wird, ganz egal, wie viele davon du löst.“ „Ich weiß.“

Wer hätte sich das denken können? Dass, nachdem die Untoten gefallen waren, die Kämpfe dieser Welt eher mit Feder und Papier ausgetragen wurden, als mit Schwertern? Nun... Rik wäre vermutlich nicht überrascht gewesen. Wahrscheinlich niemand, außer ihr. Und Arien wusste nicht einmal, ob sie selbst es wirklich war. Manchmal war es ermüdend. Stapel von Briefen mit Hilfsgesuchen, Fragen um Rat, Einladungen zu irgendwelchen Sitzungen, Schlichtungen, Verhandlungen. Und das meiste davon eigentlich simpel. Sie mochte es, Probleme zu lösen. Grundsätzlich, aber sie hätte auch nicht bestritten, dass ihr die am liebsten waren, die sie mit Eresthenes in der Werkstatt angehen konnte, oder für die sie allenfalls den Sachverstand anderer kluger Köpfe in der Nadel oder den Rat eines Drachen brauchte. Es gab dergleichen. Häufig sogar, aber eben so oft kamen Anfragen, die sich nicht wesentlich von ausufernden Diskussionen darüber zu unterscheiden schienen, warum es abends im Bett nichts Süßes mehr gab. Nur dass, anders als ihren Kindern gegenüber, irgendwelchen Politikern das Gefühl überschwänglicher Liebe fehlte, die  es leichter machte, die schwierigen Momente zu ertragen.

Es kostete sie einige Stunden so weit Ordnung zu schaffen, dass zumindest jene Angelegenheiten, die tatsächlich wichtig und dringlich waren, geordnet wurden. In ein paar Tagen würden die Verhandlungen mit den Meervölkern anstehen... Vielleicht konnte sie Rasska später fragen, ob Ort und Termin inzwischen entschieden worden waren und zwar endgültig, oder nicht. Aber vorerst gab es anderes zu tun und das hatte nichts mit dem Vorbereiten des Essens, des Feuerwerks oder der Gästezimmer zu tun. Sie ging nach unten, reichte Brutus den Stapel mit den Rückbriefen, die er wortlos entgegennahm und nach und nach in das ausgebaute Postsystem einpflegen würde. Era fand sich kommentarlos auf ihrer Schulter ein und sie lächelte dem Torwächter zu. "Eolas und Natalia wollten gegen Mittag hier sein", ließ sie ihn wissen. "Ich denke ihr solltet die Gelegenheit nutzen, euch über die neuen Sicherheitsstandards auszutauschen. Wenn ich es einrichten kann, will ich sie demnächst mit den Kindern in Varnasse besuchen." Er nickte, verzog keine Miene, ernst, wie eh und je, aber sie wusste es auch so. Manche Dinge änderten sich nicht. Anderes schien sich ständig zu ändern.

Sie stellte einen der Spiegel ein und zögerte nur kurz, ehe sie hindurch trat. Sonnenlicht legte sich auf ihre Haut und die frische Brise eines anderen Kontinentes schlug ihr entgegen. Aber sie war vertraut. Seltsam, wie viele Orte dieser Welt ihr inzwischen heimisch schienen. Auch hier hatte sich viel verändert. So viel. Sie wusste noch, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal hergekommen war, damals, Konfrontiert mit den Spuren der Verheerung, die Xarak gezeichnet und Ereshkigal auf ihren Wunsch hin beseitigt hatte. Das Grab lag still da, überwuchert von Ranken und Grün, wie die Rüstung, die er mit ins Grab genommen hatte. Sie spürte einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust, immer noch, als sie sich auf dem grünen Gras nieder ließ und eine Weile schweigend verharrte. Nach einigen Minuten holte sie einmal mehr Papier, Tinte und Feder hervor, doch dieses war ein anderes, schwereres Papier. handgeschöpft aus besonderen Materialien und den leisen Gesang der exotischen Vögel Cerrydwins im Ohr begann sie nach einem Moment zu schreiben:

 

Lieber Ithildalin,

 

Es ist schon wieder ein ganzes Jahr vergangen. Xaraks Niedergang jährt sich und immer noch habe ich manchmal das Gefühl, dass alles, was seither passiert ist, eher Traum ist, als Wirklichkeit. Aber ich glaube, das erzähle ich dir jedes Jahr, nicht wahr? Ich schätze du würdest die Augen verdrehen, wenn du könntest und vielleicht tust du es ja, aber es ist so viel passiert. SO viel hat sich verändert und in manchem ist es immer noch schwer zu sagen, ob wir mit dem, was wir taten, der Welt wirklich einen Gefallen getan haben. Aber... Darum ging es ja nie, nicht wahr?

Du fehlst mir immernoch, unweigerlich. Ihr alle tut das. Und ich denke, du fehlst auch Yennefer, Mila, Layos und Jasmin. Wie könntest du nicht? Aber sie haben sich inzwischen gänzlich eingelebt. Vielleicht werde ich sie herbringen, irgendwann, aber ich vermute, sie werden fragen, wenn sie soweit sind dich zu besuchen. Und keine Sorge. ich werde bei ihnen sein.

 

Mit einem Seufzen setzte sie die Feder ab. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden. War es immer, auch wenn es eigentlich bedeutungslos war. Ihr Blick schweifte über die Landschaft und unweigerlich, so wie jedes Jahr fragte sie sich im Stillen, ob er wohl mit ihrer Entscheidung einverstanden war. Aber es hätte sich falsch angefühlt, ihn in Arvum zur Ruhe zu betten. Nicht, dass er nicht einen Platz dort verdient gehabt hätte, wo andere Helden des Nadelkrieges ruhten, doch diese Sache war für ihn nie eine Heldentat gewesen, sondern Buße, Notwendigkeit und Versuch etwas in Ordnung zu bringen. Dies hier aber... war sein Zuhause. Der Ort, den er verloren hatte damals, als er zum ersten Mal gestorben war, mit dem Tod seiner Familie. Den er so verzweifelt zurückgewünscht hatte, wohl wissend, dass er ihn niemals wirklich zurückbekommen konnte. Sie hoffte wirklich, dass es half, falls es denn irgendeinen Unterschied machte. Dass es ihm Ruhe brachte, verdienten Frieden. Das Land das er, auch wenn es lange zurück lag, mit eigenen Händen geformt und kultiviert hatte.

 

Artemis und ich erwarten dieses Jahr ein drittes Kind. Aber keine Sorge. Eresthenes hat die Sicherheitsvorkehrungen deutlich angepasst und treibt mich damit beinahe in den Wahnsinn. Damit dieses Mal nur ja nichts schief geht und niemand in Gefahr gerät, zu verbluten. Nicht, dass ich mich beschweren würde. Rik ist fast in Ohnmacht gefallen, als ich es ihm erzählt habe. Wahrscheinlich erinnert er sich noch zu gut an das letzte Mal und Vater behandelt mich wie ein rohes Ei. Zumindest ist Artemis dahingehend vernünftig. Noch, wenigstens.

Apropos Rik. Er scheint sich wirklich in der Arbeit an dieser Ruine verbissen zu haben. Es hat wahrscheinlich sein Gutes, dass Lala und Thilia sich so gut verstehen, sonst würde irgendwer inmitten all dieses Staubes vermutlich den Verstand verlieren. Ich bin nur nicht sicher, auf wen ich setzen sollte. Mal sehen, ob ich ihn nachher wieder persönlich abholen muss, oder ob er von allein daran denkt. Vielleicht schicke ich auch Emily. Sie ist schon vor ein paar Tagen gemeinsam mit Joana angekommen.

Die Welt dreht sich weiter und scheint immer wieder dieselben Probleme aufzuwerfen. Aber wir haben ein gutes System zur feldwirtschaftlichen Bewässerung entwickelt, um den Sommerdürren zuvor zu kommen und die Prothetik entwickelt sich auch immer weiter. Natürlich nicht zuletzt durch unsere verbliebenen Freunde aus der Zukunft.

Wusstest du, dass die Grashalmsonate inzwischen sogar in Westwacht aufgeführt wurde? Ich habe selbst die erste Geige gespielt und Rik natürlich als Ehrengast eingeladen. Du hättest sein Gesicht sehen sollen! Ich habe die Geige benutzt, die du mir gemacht hast, also vielleicht... hast du ja davon gehört, irgendwie, irgendwo.

 

Langsam wurde es leichter. Die Seiten füllten sich in sauberer, sorgfältiger Schrift. Füllten sich mit Kleinigkeiten und Bagatellen, Alltäglichkeiten. Mit all dem, woran er nicht mehr teilnehmen konnte und auch, wenn ihre Augen dann und wann brannten, das Atmen schwer wurde, musste sie doch ebenso oft lächeln, weil sie ganz genau wusste, was er zu diesem oder jenem zu sagen gehabt hätte. Auch wenn vermutlich niemand hätte wahrheitsgemäß behaupten können, dass Ithildalin ein guter Mensch gewesen wäre, Halbelb, was auch immer, so wenig, wie er tatsächlich schlecht gewesen war. Eines war er gewesen, mit allen Mitteln, die er hatte. Ein guter Freund. 

 

Ich denke das war alles. Falls mir noch etwas einfällt, kann ich ja herkommen und dir schreiben, so wie  früher, aber falls nicht, dann tue ich es spätestens nächstes Jahr. Aber jetzt wartet Arthur. Und später die anderen. Eresthenes hat angedeutet, dass er sich dieses Mal mit dem Feuerwerk etwas ganz besonderes ausgedacht hat und Amdiriel ist beinahe geplatzt, weil sie helfen durfte, aber nichts verraten wollte. Ich bin gespannt. Vielleicht hast du ja Gelegenheit vorbei zu schauen und es dir anzusehen. Im Herzen wirst du auf jeden Fall bei uns sein und ich weiß, dass du schon wieder die Augen verdrehst, aber so viel Sentimentalität musst du ertragen, ganz einfach.

Ich denke an dich.

 

In Liebe

Arien

 

Sie verharrte noch einen Augenblick. Ließ die Tinte trocknen und faltete das Papier dann sorgfältig, versiegelte und erhob sich, um das kleine verborgene Fach zu öffnen, in dem sich die anderen Briefe verbargen und diesen hinzuzufügen. Nicht mehr lange und der Platz würde knapp werden. Sie wusste noch nicht, was sie dann tun wollte. Vielleicht würde sie die Briefe verbrennen und die Asche zwischen den Blumen auf das Grab streuen. Es war noch Zeit sich Gedanken darüber zu machen. Arien war still, als sie in die Nadel zurückkehrte. Sie ließ den Spiegel erlöschen, doch hielt nicht lange inne. Gerade lange genug, um das vorherrschende Treiben zu vergegenwärtigen, ihre Sinne auszustrecken und sich vorzustellen, wer wohl gerade womit beschäftigt war und wie genau es den Zwillingen gelungen war, Efkiria oder doch eher Artemis zu überreden den Unterricht oben in Emilys Kletterpark abzuhalten. Nicht, dass es grundsätzlich etwas auszusetzen gab... Ihr Weg führte nur kurz nach oben und als sie die Nadel diesmal durch den Hauptausgang verließ, war Zenna an ihrer Seite. Um die Schnauze inzwischen ein wenig grau, doch vielleicht eher aus Trauer, denn aus Alter. Dahingehend galten für die Hunderassen elbischen Ursprungs keine wirklich nachvollziehbaren Gesetze.

Im Inneren der Gruft war es kühl, beinahe kalt, aber nicht auf unangenehme Weise. Das dämmrige Licht ließ die silbrigen Adern im Stein schimmern, zeichnete tiefe Schatten in die Wandreliefs und Bilder. Sie ließ sich auf einem der Steinsockel nieder und Zenna lag zu ihren Füßen. Arien spürte Tränen, die ihr in die Augen schossen. Dieser Schmerz war frischer, brannte stärker und es dauerte eine ganze Weile ehe sie in der Lage war, ihren Brief zu beginnen.

 

Lieber Arthur

 

Ein paar Stunden noch, dann werden wir uns wieder versammeln. Alle, die übrig sind und es einrichten können, zurückgekehrt aus den verschiedensten Winkeln der Welt. Es fühlt sich immer noch seltsam an, fühlt sich falsch an, dass du nicht mehr dabei sein wirst. Und kein Kuchen wird je wieder so schmecken wie deine. Du fehlst mir so sehr. Noch immer beinahe jeden Tag und manchmal vergesse ich fast, dass ich nicht mehr einfach zu dir laufen und Rat suchen kann. Gerade, wenn die Zwillinge uns wieder in den Wahnsinn treiben. Du hattest immer ein gutes Händchen für sie. Ich weiß, sie vermissen dich auch. Wir alle tun das.

Zenna ist bei mir und ich bin sicher, sie möchte dir ihre Grüße ausrichten. Und sich wahrscheinlich beschweren, dass sie nicht genug zu essen bekommt. Rasputin möchte sich vermutlich auch beschweren, aber das wiederum ist ja nichts Neues. Letztens hat er mich tatsächlich mal wieder abgeworfen! Aber keine Sorge, es ist nichts passiert und ich habe ihm ordentlich die Meinung gegeigt. Auch wenn ich auf der anderen Seite nicht bestreiten kann, dass ich einfach nicht genug Zeit für ihn habe. Vielleicht schaffe ich es mir, nach dem Kongress der Meervölker, einen Tag frei zu nehmen und mit ihm und den Hunden einen Ausflug nach Siddermark zu machen. Siegmunds alten Hof besuchen... Ich vermute es wird beinahe sein, als wärst du bei uns. Aber so sollte es ja auch sein.

Ich bin froh. Froh und dankbar, dass die Beiden an meiner Seite sind und du es so lange warst. Dass diese Zeit begrenzt sein musste, war schließlich klar und ich bin mir dessen bewusst, dass wir viel bekommen haben. Trotzdem wünschte ich so sehr, ich könnte dann und wann mit dir sprechen, könnte hören, was du von allem hältst was geschieht. Ob du einverstanden bist. Der Orden entwickelt sich weiter und ich habe den Eindruck unter Sedwens Führung vermissen die Rekruten dich beinahe so sehr, wie ich dich. Und das der Eingang zur Gruft dieser Tage ein Blumenmeer ist, hat zwar nicht nur, aber auch mit dir zu tun. Du bist nicht vergessen. Und du wirst es niemals sein.

 

Sie musste inne halten. Musste den Kopf abwenden, damit die Tränen nicht auf das Papier tropften, nicht die Tinte verschmierten. Wie sollte er es dann lesen? Zum Ende hin hatten ihm die Augen ziemliche Schwierigkeiten bereitet. Also bemühte sie sich, um große, leserliche Schrift und keine Tränen auf dem Papier. Arien unterdrückte ein Schluchzen, legte den angefangenen Brief beiseite und ging neben Zenna in die Knie, schlang die Arme um den Hund und spürte, wie sie die Tränen von ihren Wangen leckte und ganz zweifelsfrei verstand. "Ich weiß... du vermisst ihn auch", flüsterte sie. "Aber ich bin sicher, er wäre stolz auf dich."

Es dauerte. Dauerte eine ganze Weile, ehe sie den Brief beenden und verstauen, die Gruft nach einem kleinen Rundgang verlassen konnte. Es gab hier noch andere Tote, so viele. Und einige waren ihr nahe, verdienten zumindest einige, persönliche Worte. Doch keiner ganz so sehr wie die, die direkt Seite an Seite mit ihr gekämpft hatten.

Artemis wartete in der Eingangshalle. Natürlich tat er das. Und sie musste kein Wort sagen, als sie eintrat. Nur einfach zulassen, dass er sie in die Arme nahm, und den Kopf an seine Schulter legen. Gerade mit dieser Trauer war sie nicht allein, bei weitem nicht und heute Abend, wenn sie beisammen saßen, würden sie Erinnerungen teilen, sie alle, so, wie sie ihre mit den Toten geteilt hatte. Manche würden weh tun, aber nicht auf die schlechte Art und Weise, wie eine Nacht am Schreibtisch. Auf die Art und Weise, die gleichsam ein lachendes und ein weinendes Auge hervorbrachte.

"Müsstest du dich nicht um die Vorbereitungen kümmern?", fragte sie leise, die Stimme heiser, vielleicht, weil sie in den letzten Stunden kaum ein Wort gesprochen hatte. "Nein", erwiderte er einfach und es war alles, was es zu sagen gab. Sie war froh. Froh und dankbar auch dafür, dass er hier war und sie hielt. Ihren Schmerz teilte. Dass Brutus wenige Schritte entfernt auf seinem Bett saß, ganz wie immer. Dass Eresthenes oben in der Werkstatt vermutlich die letzten großen Explosionen plante und Vetus die Zwillinge und den Leviathan durchs Schwimmbad scheuchte. Über die, die sich schon draußen im Lager mit den Vorbereitungen beschäftigten und jene, die in den nächsten Stunden anreisen würden. Selbst jene, die dieses Mal nicht dabei sein konnten. Sogar die, die es nie wieder würden, aber die dennoch an ihrer Seite gewesen waren. Die sie hatte kennenlernen dürfen. Mit denen sie Erinnerungen geschaffen hatte.

Trotz allem, was es gekostet hatte und kostete. Trotzdem, wie schwer es gewesen war und manchmal immer noch war. Sie war froh und dankbar für das, was sie hatte erleben dürfen, mit ihnen allen teilen dürfen. Und was sie heute wieder mit ihnen teilen durfte, als sich der Niedergang Xaraks jährte und der Tag der Neugeburt jener Welt, in der sie lebten. 

Sie löste sich langsam. Mit feuchten Augen, aber lächelnd, als der Klang des Gongs durch die Eingangshalle hallte. "Es geht los."

Artemis erwiderte ihr Lächeln und schüttelte leicht den Kopf, ließ eine Hand kurz an ihrer Wange ruhen. "Es war nie zu Ende."

Eselei

"Ich glaube, ich kann ohne sie nicht mehr leben."

"Warte... was?", sicher, sich verhört zu haben, schreckte Sierra aus dem angenehmen Dämmer auf, in dem sie sich gerade noch befunden hatte. Sie wandte den Kopf in Richtung des warmen Leibes, der neben ihr in den zerwühlten Decken lag, doch obgleich seine Hand noch immer Gedankenverloren ihre Flanke entlang strich und der Geruch nach Sex deutlich die Raumluft schwängerte, und glücklicherweise nur die, wiederholte er in ruhigem Ernst:

"Ich glaube, ich kann ohne sie nicht mehr leben."

"Wovon redest du?", erkundigte sich der Tiefling irritiert. Weniger davon, dass er, unmittelbar, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, wenn man es denn so nennen wollte, an eine andere dachte, damit hatte sie kein grundsätzliches Problem, als von dem, was und wie er es gesagt hatte. Eine derartige Aussage? Von ihm? Und zwar ohne, dass er nach einem Augenblick zu grinsen begann, weil ihr ganz sicher das Gesicht entgleist war? Das bereitete ihr dann doch ein wenig Sorge.

"Oder vielmehr... Von wem?"

"Von Amalia."

"Und... Wer bei Ceteus blankem Hintern ist Amalia?", sie richtete sich auf. Ein wenig zumindest. Stützte sich auf ihre Ellenbogen, um besser zu ihm schauen zu können. Die hellblauen Augen blickten in weite Ferne. Wirkten benebelt. Als hätte er zu viel getrunken, oder eher, wie sie bei jemand anderem gewirkt hätten, wenn er betrunken war. Nicht bei Thorin. Der fiel irgendwann einfach um und bis dahin war ihm so gut wie gar nichts anzumerken. Das war ihr aus hinreichender Erfahrung bekannt.

Mit morbider Faszination lauschte Sierra in den nächsten Minuten reichlich blumigen Umschreibungen all dessen, was Amalia so unwiderstehlich, einzigartig, anbetungswürdig machte. Nicht, dass das die Antwort auf die gestellte Frage auch nur ein bisschen näher brachte, aber… Wer hätte gedacht, dass er solche Wörter überhaupt kannte?

Ganz abgesehen davon, dass es klang, als würde er sie aus den schlechtesten Liebesgedichten zusammenklauben, die er kannte und nicht etwa von jemandem sprechen, den er kannte. Und wie auch? Sie waren vor einigen Stunden erst angekommen, hatten sich einquartiert, mit Speis und Trank versorgen lassen und dann entschieden zunächst ein wenig auszuruhen, ehe sie sich nach neuen Aufträgen umhörten. Und zumindest seinen eigenen Worten nach war er noch nie hier gewesen.

„Und… Was hast du jetzt vor?“, erkundigte sie sich schließlich, halb befremdet, halb amüsiert und noch immer reichlich verwirrt. Thorin versank in nachdenkliches Brüten, als wäre das eine Frage von deren Beantwortung das Schicksal der Welt abhing. Nur das er sich normalerweise nicht für das Schicksal der Welt interessierte.

„Ich werde ihr Blumen schicken“, erklärte er dann entschieden und sie hatte Mühe nicht an dem unterdrückten Lachen zu ersticken, dass ihr beinahe entkam. Er wirkte nicht, als wäre er dazu aufgelegt, sich auslachen zu lassen. Nicht, wenn sie herausfinden wollte, was mit einem Mal los war. Ob er sich den Kopf gestoßen hatte? Sie waren ein wenig rabiat vorgegangen, wie der eine oder andere blaue Fleck ihr hilfreich in Erinnerung rief, aber… Das konnte schwerlich die Erklärung hierfür sein.

Wer war, außer ihnen, im Schankraum gewesen? Welche Frauen vor allem? Das Gasthaus war gut gefüllt für den kleinen Ort, aber der lag auch recht günstig an der Kreuzung zweier größerer Straßen. Das hieß viele Reisende, Händler, Soldaten. Da war die Wirtin gewesen, eine Schankmaid. Aber keine von beiden passten zum Bild der goldlockigen Schönheit, das er gezeichnet hatte. Die Bardin auch nicht. Grundsätzlich waren helle Haare in dieser Gegend selten und ihr waren keine aufgefallen. Und es war reichlich irritierend und störte beim Nachdenken nebenbei zu hören, wie er zunehmend aufgewühlt verschiedene Blumenarten durchging, um zu entscheiden, wie das Bouquet beschaffen sein sollte. Das Bouquet! Als könnte er erwarten nach der Dürre der letzten Wochen auch nur einen einzigen grünen Stengel aufzutreiben. Oder als gab es gut die Hälfte der Pflanzen in dieser Gluthölle überhaupt.

Aber wer wusste schon, was geschehen würde, wenn sie ihn darauf aufmerksam machte? Am Ende fing er noch an zu weinen oder tat ähnlich verstörendes. Kein Risiko, das sie bereit war einzugehen. Aber Sierra beschloss zumindest dieser neu entflammten Leidenschaft auf den Grund zu gehen. Und dafür… Machte es vermutlich Sinn erst einmal mitzuspielen und ihm so gut zur Hand zu gehen, wie es eben ging. Was auch hieß, dass sie das angenehm bequeme Bett sehr viel schneller wieder verließen, als ihr lieb gewesen wäre. Es war ein harter Marsch hierher gewesen.

Zumindest konnte sie sich mit dem Gedanken trösten, dass, wie immer diese Sache ausging, sie ihn damit noch in Jahrzehnten würde aufziehen können. Wann er wohl mit Liebesgedichten anfing?

„Du könntest es mit einem Kaktus versuchen“, schlug sie hilfreich vor, nachdem sie lange genug den wirklich überschaubaren Markt durchstreift hatten, dass ihre marschgeprüften Füße schmerzten. „Der spiegelt gleich noch deine Persönlichkeit wieder und sie wird viel leichter zuordnen können, woher er kommt.“ Thorin würdigte das nicht einmal einer Antwort, was eigentlich schade war. Sierra seufzte. „Oder du vergisst das mit den Blumen. Sieh mal, da hinten gibt es Instrumente. Wie wäre es stattdessen mit einem Ständchen um ihr Herz zu erweichen? Das heißt… Sobald wir herausgefunden haben, wie du an sie heran kommen sollst.“

Denn wer Amalia war… Das zumindest hatte Sierra in den letzten Stunden herausfinden können. Ebenso, dass es erstaunlich viele Männer zu geben schien, Fremde wie Einheimische, die sich nach ihr verzehrten. Nur hatte sie dadurch auch herausgefunden, dass Thorin ihr ganz gewiss nicht im Gasthaus oder vorher auf der Straße begegnet war. Die Tochter des Bürgermeisters verließ dessen Haus, das Prachtvollste im Dorf, so gut wie nie.

Es hätte ein faszinierendes Rätsel sein können. Nicht so viel anders als die, denen sie andernorts für eine entsprechende Belohnung bereits auf den Grund gegangen waren, aber das fand sich ein wenig durch den Umstand geschmälert, wie unglaublich anstrengend es war, sich einen liebeskranken Thorin ansehen und anhören zu müssen, der zwischen Euphorie und Verzweiflung stetig hin- und her zu schwanken schien und der keine zwei Sätze mehr von sich geben konnte, ohne auf irgendwelche Vorzüge seiner Herzensdame hinzuweisen.

Sie hatte sich mehrfach auf die Zunge beißen müssen, um nicht irgendetwas zu sagen, was ihn vielleicht dazu veranlasst hätte die Axt nach ihr zu werfen, wie nach dem armen Kerl, der gewagt hatte, sich als Rivale um Amalias Gunst aufzustellen. Zum Glück war es ein schlechter Wurf gewesen.

Und wie sie den Vorschlag bereute, es mit Musik zu versuchen. Sie war immer überzeugt gewesen, dass sie musisch hoffnungslos untalentiert war. Aber Thorin war dahingehend allemal ernsthafte Konkurrenz. Vielleicht war er ihr sogar überlegen.

Grund genug des Nachts erneut auf dem gemeinsamen Zimmer zu flüchten, in das sie ihn nur mit Mühe zurück gebracht hatte. Schließlich musste er üben, ehe er unter dem Fenster seiner Angebeteten sein Ständchen bringen konnte.

Es war schon mehr als seltsam. Und am seltsamsten war fast, dass niemand es sonderlich seltsam zu finden schien. Es gab keine Belohnung, die auf dieses Rätsel ausgesetzt war, obwohl das Rätsel mehr als offensichtlich war und so sehr Sierra sich auch bemühte, es schien beinahe unmöglich irgendetwas Hilfreiches herauszufinden.

Am Ende war sie es, die vor der Morgendämmerung vor dem Bürgermeisterhaus stand. Wie praktisch es jetzt gewesen wäre, 7 an ihrer Seite zu wissen. Denn auf den ersten Blick erschloss sich keine Möglichkeit ins Innere zu gelangen, was möglicherweise mit dem Pulk von Verehrern zu tun hatte, die sich draußen versammelten. Thorin war, den Göttern sei Dank, nicht darunter, noch nicht…

Und dann, gerade als sie aufgeben und sich vorerst abwenden wollte. Gerade, als sich die Sonne über dem Horizont erhob und die Welt, vor allem den kleinen Ort, in rotgoldene Glut eintauchte, trat eine zierliche Gestalt auf den Balkon und goldenes Haar schimmerte in der Sonnenglut wie Feuer. Sie war hübsch. Nichts, was Sierra bestritten hätte, aber eigentlich nicht gerade Thorins Geschmack. Zart und bleich, zierlich mit zwar vorhandenen, aber doch eher dezenten Kurven, die von einem aufwendigen Kleid in Szene gesetzt wurden. Vor dem Haus brach schier die Hölle los, doch als sie sprach war es plötzlich so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Und als sie verkündete, dass sie, geehrt vom Andrang ihrer Verehrer, Aufgaben stellen wollte, um den einen, den Richtigen zu erkennen… Da schwante dem Tiefling böses.

Sierra machte sich keine Illusionen, rechtzeitig vor der Nachricht zurück beim Gasthaus zu sein. Oder darüber, wie Thorin in seinem Zustand reagieren würde, aber dass er sie, gerade auf dem Weg nach drinnen regelrecht umrannte, das kam unerwartet. Und noch viel unerwarteter war, dass sie ihn beinahe nicht erkannt hätte. Und der Grund dafür.

Perplex landete die Braunhaarige auf dem Boden und starrte mit schmerzender Kehrseite ungläubig zu ihm hoch. „Was ist denn mit dir passiert?“, entfuhr es ihr ungläubig. Eine wallende Mähne schwarzen Haares entspross dem zuvor kahlen Haupt. 

Immerhin bemerkte er sie, reichte ihr sogar eine Hand, um ihr auf die Beine zu helfen. Nur das Grinsen auf seinem Gesicht. Das war ziemlich beunruhigend. Was hatte er da überhaupt an?

„War beim Alchemisten“, erklärte er, und zog nachdenklich die Stirn in Falten. „Was meinst du, ob ichs färben soll? Welche Farbe mag sie wohl?“

„Du… Willst dir die Haare färben…“, Sierra konnte nur den Kopf schütteln. Konnte das überhaupt wirklich sein? Vielleicht war sie ja diejenige, die sich den Kopf gestoßen hatte? Aber viel Zeit zum Überlegen blieb ihr nicht.

„Wir müssen uns beeilen!“, verkündete der Hüne schon kurz darauf und schreckte sie aus wirren, vielleicht leicht hysterischen Gedankengängen. „Äh… was?“

„Wir müssen den verborgenen Schatz von Alyn finden!“

„Oh… Das.“

Ja… Das war ziemlich genau, was sie befürchtet hatte. Aber was blieb ihr schon? Schicksalsergeben und wissend, dass jeder Einwand, jedes Wort, vergeblich war, folgte sie ihm aus dem Dorf und fand die vage Hoffnung, dass Abstand helfen würde, enttäuscht.

Es hätte dabei durchaus ein brauchbares Abenteuer sein können. Sie jagten einer urbanen Legende nach, suchten die halbverfallene Ruine eines ehemaligen Magierturms auf, immer eine vielversprechende Angelegenheit, und lieferten sich mehr als ein Kopf an Kopf Rennen mit anderen Abenteurern… Aber die Umstände!

Nicht, dass Sierra sich üblicherweise um das Geld scherte, solange sie es nicht dringend brauchten. Nicht, dass es viel brauchte, um irgendetwas zu tun, die meisten Gründe waren simpel, lagen nahe. Aber das hier? Sie empfand doch deutlichen Widerwillen, anders als Thorin, sich für die holde Amalia von einer Chimäre durchkauen zu lassen, die das Erdgeschoss des Turms zu ihrem neuen Wohnsitz erkoren hatte. Ganz zu schweigen von den Oozes, die offenbar auf den verrottenden Resten eines Alchemielabors entstanden waren und denen mit wirklich keinem Mittel beizukommen war. Wahrscheinlich würden sie noch in tausend Jahren in der verdammten Destillationsapparatur sitzen. Aber immerhin das!

Dann waren da Fallen, natürlich waren da Fallen und ein Golem, auch wenn der, zugegeben aus Metall und völlig verrostet, ein ziemlich erbarmungswürdiger Anblick gewesen war. Wie ihm bei der Verfolgung ein Bein abgefallen war… Das würde irgendwann eine gute Geschichte ergeben. Irgendwann… Mit ausreichend Abstand. Sehr viel Abstand.

Dann hatten sie Stunden damit verbracht, sich durch alte, halbzerfressene Bücher und Aufzeichnungen zu wühlen, weil da einfach kein Schatz zu finden war und sich einmal mehr darin bestätigt gefunden, dass Magier zu einer Schwäche des Verstandes neigten. Zumindest, wenn sie Türme irgendwo im Niemandsland bauten. Den Geruch nach Schimmel und Moder würde sie wohl niemals mehr loswerden.

Und das Schlimmste war, dass sie sich nicht einmal mit Thorin über das alles hatte auslassen können, verbissen und ernst, ja besessen, wie er war. Da gab es keine Freude oder Faszination mehr, keine Neugier. Nur die flehentliche Hoffnung bald irgendetwas zu finden und heimzukehren. Immerhin hatte sie Zeit genug gehabt nachzudenken und ihr war etwas eingefallen, was sie zurück im Dorf überprüfen konnte und wollte... Nur mussten sie dafür zuerst diesen dämlichen Schatz finden, was immer es war. Der wertvollste Besitz des Magiers…

Wie gut, dass es Tagebücher gab. Was wäre die Welt nur ohne diese offensichtliche Möglichkeit wohl behüteten Geheimnissen auf die Spur zu kommen? Im Nachhinein betrachtet war gar nichts anderes möglich, als das Lenikki seine Finger im Spiel gehabt hatte. Zu viel Irrsinn für jede andere Möglichkeit. Aber Sierra hatte bis zuletzt auf einen Irrtum gehofft, eine Täuschung, darauf, dass es nur ein Code war, doch nein. Was sie am Ende aus dem magischen, konservierenden Gefäß befreiten… War ein Esel. Und ehemaliger Familliar des toten Magiers.

Was hieß, dass sie nicht nur selbst lebend und unangeknabbert an Oozes und Chimären vorbei mussten, sondern einen sturen, dämlichen Esel zurück ins Dorf lotsen. Lebendig. Und ohne ihn von irgendwem anders stehlen zu lassen. Es hätte lustig sein können Thorins Mühen diesbezüglich mitanzusehen, aber Sierra fehlte dafür schlicht der Nerv. Alles, was sie noch wollte, war es hinter sich zu bringen. Und als sie endlich, endlich in der Ferne erste Häuser entdeckten, überließ sie es Thorin mitsamt seinem Esel zielgerichtet das Haus des Bürgermeisters anzusteuern und wussten die Götter was zu tun.

Sie selbst machte sich auf den Weg zu jenem Alchemisten, der erwähnt worden war und auch wenn es einiger Überzeugungskunst bedurfte… Und wenn es nach allem, umso frustrierender war, dass die Antwort direkt vor ihrer Nase gelegen hatte, nach einigen Stunden wusste sie, was sie wissen musste.

Liebestrank in der Quelle, die das Dorf mit Wasser versorgte. Aus der, untere anderem, das Wasser stammte, mit dem das Bier im Gasthaus gebraut wurde. Und dabei war nicht einmal Amalia selbst die Schuldige, sondern ebenso Leidtragend. Weil ihr Vater alt wurde und sich nach Enkeln verzehrte. Um jeden Preis offenbar und inzwischen ganz egal von wem.

Aber wenigstens konnte er ihr auch sagen, wie das Ganze aufgelöst werden konnte und Sierra wusste nach ein paar Stunden, was zu tun war. Und sie zögerte keinen Augenblick.

Als größte Schwierigkeit erwies es sich am Ende, Thorin wieder zu finden. Todunglücklich und betrunken im Stall bei seinem Esel, für den er ausgelacht und abgewiesen worden war, wie auch immer das nun wieder zu Stande kam. Wenn sie ehrlich war, es scherte sie nicht. Und es kostete reichlich Mühe ihn zu überzeugen, dass nicht alles verloren war. Nur ein Missverständnis vorlag und Amalia zu ihm kommen würde, schon in der nächsten Nacht. Er müsse ihr nur folgen.

Immerhin kam sie tatsächlich. Hatte den Wein offenbar gekostet und die Nachricht gefunden. Und auch wenn, natürlich nicht alles nach Plan verlief, war es Sierra inzwischen einerlei, solange es nur ein Ende fand und sie diesen verdammten Ort bald verlassen konnten.

Tatsächlich, als sich Amalias schmachtender Blick nicht etwa auf Thorin, sondern auf die Illusionistin legte, erklärte es zumindest den grundsätzlichen Heiratsunwillen, der soweit geführt hatte. Aber vielleicht fand sich jemand, der sich zum Vater des durch den Trank unweigerlich entstehenden Kindes erklären und sich nicht weiter darum kümmern würde. Dann bekam am Ende jeder, was er wollte. Und Sierra zögerte nicht vorzutreten und Schulterzuckend Thorins Hand mit der einen, Amalias mit der anderen zu ergreifen.

Das hier war nun wirklich ein Opfer, das sie auch unter anderen Umständen bereitwillig gebracht hätte und vielleicht sogar eine kleine Entschädigung für das ganze Elend. Nicht, dass es da wirklich eine geben konnte… Selbst in hundert Jahren war es nicht möglich Thorin so sehr zu necken, dass es das alles wert war… Und erst einmal würde noch mehr Arbeit folgen, wenn sie ihn davon abhalten wollte, zumindest Bürgermeister und Alchemist zu erschlagen. Was auch hieß, dass sie entscheiden musste, ob sie ihn davon abhalten wollte.

Aber die Nacht war ja noch jung und vielversprechend… Und ihr blieb genug Zeit, sich genau zu überlegen, was sie Thorin als erstes sagen würde, sobald er wieder er selbst war…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit wäre es auch geschafft :) ich wünsche dir frohe Weihnachten und hoffe sehr, dass der Kalender dir Freude bereitet hat, auch wenn ich mich, gerade mit der letzten Geschichte ein bisschen schwer getan habe^^° Danke auch für die lieben, langen Kommentare. Trotzdem würde mich interessieren, welcher dir abschließend betrachtet am besten gefallen hat?

LG
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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Voidwalker
2018-12-24T09:33:08+00:00 24.12.2018 10:33
Buhhh! Also wirklich, da gebe ich mir so viel Mühe, AM HANDY ordentlich zu schreiben und der löscht mir einfach alle Absätze raus. BUHHHHH! Da das bei ENS von dir, die du am Handy geschrieben hast, auch so ist, hätte ich das wohl kommen sehen müssen. Trotzdem. BUUUHHH!!!
Von:  Voidwalker
2018-12-24T09:30:12+00:00 24.12.2018 10:30
Favorit. Tjaaa~, Qual der Wahl. Sie haben alle ihre Vorzüge. Die Perspektive aus eins, die Prämisse aus zwei, die Charakterisierungen aus drei und vier, die Sentimentalität in fünf und jetzt der Humor in sechs. Ist schwer, da zu sagen, wer die Nase vorne hat - einfach weil sie so unterschiedlich sind. Man vergleicht Birnen nicht mit Äpfeln. xD Aber ich denke, wenn ich wählen müsste... Ich mag Charakterstücke. Drei und vier stechen daher hervor. Aber ich liebe auch Abenteuer. Und happy end. Hrm. ... die fünf. Charakterisierung, Charakterentwicklung, gutes Pacing, gute emotionale Bandbreite, ohne überdramatisch zu werden, einige 'feel good'-Momente, gute Rechtschreibung, gutes Ende... ja. Ich denke, wenn ich wählen müsste - die fünf.
Von:  Voidwalker
2018-12-24T09:17:02+00:00 24.12.2018 10:17
Kommentare am Handy schreiben ist doof. xD Ein liebeskranker Thorin IST eine gruselige Vorstellung. Und in dem Zusammenhang passt ja das Wort wie die Faust auf's Auge. Ein musizierender Thorin... irgendwie rechne ich den beiden Verantwortlichen ja keine allzu hohen Chancen aus. xD Andererseits, ein Dreier, an dem Sierra beteiligt ist, IST vermutlich sehr, sehr erschöpfend. xD Gnadenfrist, quasi. Huh. Da frag' ich mich, wie Thorin und Ithildalin wohl klar gekommen wären. Vermutlich nicht genug, sich Sierra zu 'teilen' - dann wiederum hätte sie in dem nicht-wirklich-freundlichen Konkurrenzstreit vielleicht sogar den Reiz gefunden. Wie beide sich zu übertrumpfen versuchen und sie davon 'profitiert' - so lange zumindest, wie sie kann, bis sie's eben nicht mehr kann. xD Irgendwann muss und sollte man aufhören, weil sonst alles wund wird. xD Kennt sie vermutlich auch schon. xD Der Gedanke, dass Thorin da draußen Nachwuchs hat, ist irgendwie naheliegend bei seiner Umtriebigkeit. Trotzdem zugleich seltsam. ^^ Sierra wird ja Schritte ergriffen haben, ob nun vorab oder im Nachgang - aber ich wäre schon neugierig, was da so in ihrem Kopf vor sich ging. Ob und wie sie's sich vorstellte. Ich schätze, das ist so eine "Darüber reden wir nicht" - "Oh und ob!"-Geschichte zwischen den beiden. xD Ausnahmsweise war dann Sierra wohl mal die Herzensbrecherin, als das Duo weiterzog. xD Hrm. Warum war die Letzte so problematisch? Das war ein gelungener Abschluss zu einem tollen Kalender! Vielen lieben Dank! =) Oh und... der Esel war toll. xD PS.: 'Favorit' wird gleich gekürt.
Von:  Voidwalker
2018-12-23T10:36:06+00:00 23.12.2018 11:36
Aww.  Weißt du, das Kapitel ist fies. Wir sind gerade mal bei 3/4, aber sowas... ja, wie du gesagt hast - ein lachendes, ein weinendes Auge. Sentimentalität, vorab schon. Es ist bittersüß. So schön, darüber nachzudenken. Was sein könnte. Wie es werden würde. Wie sich Pfade entwickeln, die Welt verändert. Andererseits - es ist 'das Ende'. Jahrelang haben wir gespielt. Wie kann sowas jemals wirklich 'enden'. Wie macht man weiter? Knüpft man an?
Mir gefällt, was für ein Bild du gezeichnet hast. Arien ist merklich gewachsen. Erwachsen geworden. Leute sind von ihr gegangen, und sie trauert - was in Ordnung ist. Doch ebenso erhebt sich eine neue Nadel-Generation. Nicht nur ihre Kinder. Die Kinder aller.
Ist eine wirklich schöne 'slice of life'-Episode. Löst alle paar Absätze ein leises 'd'aaww' aus. =) Vielen lieben Dank!
 
PS.: Obwohl der OS in der Zukunft liegt, werden die Namen ihrer Kinder sowas von Canon werden...! Sie sind schön. :) Haben sie Bedeutung(en)?
 
PPS.: Es war interessant, darüber zu rätseln, WANN der OS war. Arthur war offenkundig noch nicht vor allzu langer Zeit verstorben. Zu Ithildalin kommt sie aber schon seit ein paar Jahren. Sie hat Kinder, die laufen, rumrennen und in die Werkstatt gelassen werden. (Charakter- und Nervenwachstum bei Eresthenes, aber heftig! xD) Weiß nicht, ob du's festgelegt hattest - ich würd' mal schätzen, so acht bis zehn Jahre danach?
 
PPPS.: Ich sollte wirklich mit den Zusätzen aufhören. x_x Uhm, ja. Ich hoffe, dass sich einiges davon tatsächlich so ergeben wird. :) Wäre schön. Es wirkt... friedlich. Natürlich ist die Welt nicht plötzlich perfekt, frei von Krieg, Leid und Not. Wird sie nie sein. Aber Arien hat ihren Frieden gemacht. Das haben sie alle. Ist einfach ein schönes, wünschenswertes Szenario. Sie hätten's verdient, nach allem, was sie an dem Punkt durchgemacht haben werden. :)
Antwort von:  Sam_Linnifer
23.12.2018 11:46
Es freut mich, wenns gefällt :) Falls du Amdiriel und Eathor meinst keine Ahnung die hast du ausgesucht damals in deinem OS xD aber ich fand sie gut und bin daher dabei geblieben :). Was die Zeit betrifft müssen es denke ich eher 10-15 Jahre sein. Layos wird irgendwann nach Ende der Sache überhaupt erst geboren von den Zwillingen zu schweigen und die dürften auch schon im Grundschulalter sein. Arthur hat eben noch ne Weile durchgehalten gab ja genug zu tun xD
Aber ja einiges wäre ihnen zu wünschen.
Von:  Voidwalker
2018-12-16T00:39:34+00:00 16.12.2018 01:39
My brain is squishy, please bear with me. See what I did there...? xD
 
Als Lumiél startete, war Phillipe einfach 'nur' der große (kleine) böse König. Aber das ist fast zehn Jahre her. Viele Spieler kamen und gingen, trugen Ideen mit sich. Das RPG veränderte sich. Ich veränderte mich. Und die mentale Landschaft, in der er existierte, füllte sich von einem nahezu-Vakuum zu einer bunten, schillernden, oftmals unfairen aber auch stets gerade so hoffnungsvollen Welt.
Als Teil dieses Wandels bekam er mehr und mehr Hintergrundgeschichte. Plötzlich war er nicht mehr 'nur' der böse König. Er hatte einen mächtigen Verbündeten. Und später wurde immer schwammiger, wer eigentlich von beiden das Kommando hatte. Bis es - nun zur anderen Seite verschoben - wieder deutlich klarer wurde.
Es gab diese... 'Phase', schätze ich?, in der ich keine Mühen und Kosten scheute, zu demonstrieren und überaus klar und deutlich aufzuzeigen, was für ein Scheusal er ist. Zu was für Grausamkeiten er fähig ist. Willens ist. Dass er Freude daraus zieht, zu erniedrigen, zu quälen und zu foltern. Wie kreativ er dabei werden kann. Aber natürlich wuchs damit nur die Frage: Wie wird jemand... nun, SO?
Was muss passieren, um solch ein... Geschöpf zu formen.
Weitere Details später, ein paar tiefgreifendere Überlegungen, und plötzlich... ist es schwer, Phillipe aus tiefsten Herzen zu verachten. Ihn zu hassen. Zahllose Taten voller Bosheit und Niedertracht, keine Frage. Aber er ist nicht mehr einfach nur der böse König. Schlüsselwort hierbei ist 'einfach'. Es GIBT kein 'einfach' mehr.
Und mit allen Details schließlich an ihrem Platz... ist Phillipe, all die tragischen Geschichten von Charakteren und NPCs eingerechnet, vermutlich dennoch die tragischste Figur im RPG. Weil da niemand ist. Niemand. Nur jene, die ihn noch weiter treiben, benutzen, verformen. Keine Chance auf Erholung, auf Rast, auf Frieden. Keine Heilung. Einfach... keine Chance. Das Kapitel spekuliert in eine überaus wahrscheinliche Richtung - das es für ihn keine Rettung geben wird. Vielleicht auch einfach nicht geben KANN. Wie will man solch ein Leben noch 'retten'? IST da überhaupt noch etwas, das man retten könnte? Und am Ende steht und stirbt er allein, verzweifelt, verängstigt. Wie er sein ganzes Leben lang war.
Das zu wissen, das zu verstehen, es zu berücksichtigen - macht es so viel schwerer, ihn zu hassen. Es fällt nicht leicht, jemanden zu hassen, den man - egal wie sehr - bemitleidet. Er ist das Produkt seiner Zeit, das Produkt von Umständen. Von Entscheidungen anderer Leute. Er hat sich diesen Weg nie ausgesucht - nicht einmal, als er GLAUBTE, eine tatsächliche, gewichtige, ERSTE eigene Entscheidung zu treffen. Selbst dann war er Opfer der Umstände - und des Lebens, in das er zuvor jahrelang hineingepresst worden war.
Trotz allem, was er an Abscheulichkeiten angerichtet hat, ist er am Ende doch nur ein kleines, verängstigtes Kind. Zu unzähligen Gelegenheiten auf Weisen verletzt, die es nicht versteht.
Lektionen wie diese bieten große Weisheit für die, die sie verstehen - und im richtigen Licht verstehen. Zu begreifen, dass 'Wahrheit' oftmals nur eine Frage der Perspektive ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade Arien, arme, kleine, paladinige Arien, an dieser Lektion selbst lange zu knabbern hatte, bevor sie sie zu lehren fähig wurde. Ithildalin lebte ihr das vor, ein Stück weit zumindest, sicherlich. Aber die Fähigkeit, die sie hier demonstrierte... muss nochmal 'ne ganze Nummer heftiger zu erleben gewesen sein.
 
(Un-)Schönes Kapitel. Vielen Dank. :)
Von:  Voidwalker
2018-12-09T11:46:15+00:00 09.12.2018 12:46
D'aw. Du hast Alistairs Wesen suuuper eingefangen.
Das Setting ist toll. Und irgendwie sogar erstaunlich nachvollziehbar, dass Hans sich in seiner Verzweiflung Duncan gegenüber nicht zuerst an die 'lebenden Legenden' von sonstwo wendet, sondern an Leute, deren Fähigkeit er selbst bezeugen kann. Der Gedanke, das Lil zumindest zwischenzeitlich ebenfalls als Duncanjäger unterwegs war, ist amüsant. Und naja - wenn die Katze siegessicher die Maus belauert, bis plötzlich der Hund um die Ecke kommt. xD Ich glaube nicht, dass Duncan da viel Chance hat(te). Das ist es ja - wenn Lil sich was in den Kopf setzt, dann haben nur wenige überhaupt Chancen.
Beim Drüber-Nachdenken fiel mir dann gerade die Tür nochmal ein. Ergibt witzige Gedanken. Alistair und Lil reisen durch die Zeit, er hält's für einen Traum und 'erschafft' eine Tür. Ich musste kurz lachen bei dem Gedanken, dass da potenziell Hans den 'interaktiven Loading Screen' erfunden hat. xD Weiße Ebene mit Tür, subtiles "bitte warten, Vergangenheit wird geladen". xDD
Oh und die Stelle, an der Al der Kiefer aufklappt, weil Lil - IM BETT - 'ne verdammte, halbe Machete dabei hat? Herrlich! xD
Ist eine sehr schöne Geschichte gewesen. Vielen lieben Dank! :)
Von:  MarySueLosthername
2018-12-07T21:04:55+00:00 07.12.2018 22:04
Mich hat das Kapitel total mitgerissen und konnte absolut nicht aufhören zu lesen, bis das letzte Wort aufgesogen war. Danke dafür.
Von:  Voidwalker
2018-12-06T02:12:33+00:00 06.12.2018 03:12
Ihr habt einfach eure Kalender-Sachen schon aufgemacht! Ich konnte mich auch nicht beherrschen und werde morgen heulen, weil spät. Aber ich musste einfach lesen. Und was war das Ergebnis? Das hier... das war Diabetes-induzierend süß. Schäm dir, ich hasse Spritzen!
Gerade für jemanden, der weiß, wie die Wahrscheinlichkeiten liegen - der zumindest grob abschätzen kann, wie das Ende vermutlich, wahrscheinlich, aussehen wird -, also für den Erzähler einer Geschichte... ist es immer interessant, die Spekulationen anderer zu hören. Alternative Szenarien entwickelt und entworfen zu sehen. Es ist spannend. Gedankliche Ansätze, Ideen und Konzepte - vielleicht sogar unbewusste oder sogar sehr wohl bewusste Wünsche und Ängste, die zum Ausdruck kommen.
Wir sind nicht dazu bestimmt, Informationen aufzunehmen und sie NICHT zu verarbeiten. Wir lernen, denken und verändern uns mit jedem Atemzug, wortwörtlich. Etwas zu hören - oder zu lesen - bringt neue Perspektiven. Ein Austausch von Konzepten. Und bedingt, was vorher als gegeben angesehen - oder geplant - worden ist. Ich bin gespannt, was das hier einbringen wird.
Das Konzept der Geschichte ist... menschlich. Was amüsant ist, wenn man bedenkt, dass eigentlich nur ein Viertel dieser zwei Personen menschlich ist. Der Fokus liegt auf Sierra - was in dem Fall auch der interessantere Part ist. Ihre Motive sind alles andere als simpel. Ja, sie handelt egoistisch. Aber nicht nur. Ja, sie tut was 'Gutes' - aber nicht nur. Sierra ist längst an einem Punkt, an dem sie weiß, dass des einen 'Gut' des anderen 'Übel' ist. Ein vielschichtiger Charakter. Zu sehen, wie sie reagiert, ist faszinierend. In vollem Bewusstsein einen 'Fehler' begehen, aber ihn nicht bereuen.
Und natürlich wirft es so viele interessante Fragen auf. Sierra und Ithildalin als Agenten der Götter, auf der Jagd nach Unbekannten und Munavri - na wenn das nicht nach einer spannenden Geschichte und wilden Abenteuern klingt!
Aber auch abseits dessen. Wieviel Verrat wird er darin sehen? Wird er das überkommen können? In welche Richtung wird diese zweite Chance laufen, die sie ihnen verschafft hat?
Wird er wirklich dauerhaft der Versuchung widerstehen können, Kontakt aufzunehmen? Zu Arien, zu Layos, 'zum Rest'? Er lebt wieder. Leben hat eine inherente Ungeduld und Neugier. Wieviel Gutes - und Schlechtes - haben sie am Ende wirklich bewirken können?
Ein witziger Gedanke zum Ende: Die zwei geben ein fantastisches Paar ab. Alles andere als einfach und unkompliziert und vielleicht auch zum Scheitern verdammt, aber so ungemein energetisch und voller Potenzial.
 
Ein schönes Stück und ein interessanter Einblick. Mir gefällt das Szenario - und der Gedanke. "Das Ende ist nicht zwangsläufig das Ende."
 
Vielen Dank! =)
Von:  Voidwalker
2018-12-02T12:20:37+00:00 02.12.2018 13:20
Ich weiß das zu schätzen. Sehr. Es ist... eine mächtige Geschichte. Schwer, imposant. Thorins Rolle in der Welt - gerade dieser Aspekt - ist etwas, das man gut und leicht erzählen kann. "Ja und dann zog er herum und tötete Orks." Aber was diese Aussage wirklich BEDEUTET, das ist schwerer greifbar. Selbst Begriffe wie "Völkermord" um sich zu werfen, hilft da nur bedingt. Das Kapitel gibt durch die Perspektivverschiebung zu den Orks, zu den Opfern, einen guten Einblick.
Die Müdigkeit der Flucht. Die Verzweiflung, zusehen zu müssen, wie die eigene Kultur einem wie Sandkörner zwischen den Fingern entgleitet. Und letztlich eine Verzweiflungstat. Man hört eben auf den Schamanen, wenn der spricht. Am Ende stimmt das Sprichwort: Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.
Ich mag es, dass die Geschichte aus Thorin etwas beinahe Mythisches macht. Eine Bestie ebenbürtig und gleichwertig zum Leviathan oder anderen Schreckgestalten aus Märchen, die tatsächlich die Welt bewohnen und denen man nie begegnen will. Nur das der Leviathan wenigstens 'nur' eine Bestie ist. Er zerstört vielleicht dein Schiff - aber er kommt nicht, um den Hafen und deine Heimatstadt zu zerstören. Er kommt nicht, um deine Familie zu jagen. Der Rote Tod schon.
Je länger man drüber nachdenkt, umso gewichtiger wird die Frage: Wie erholt man sich von so etwas?
Dreihundert Jahre durch aller Herren Länder ziehen. Gesetze missachten, Landschaft abseits vom strategischen Aspekt ignorieren, einfach nur... neue Rekruten sammeln. Und töten. Tag für Tag, für dreihundert Jahre. Von Hass verzehrt zu sein, so lange - wie kommt man davon zurück? Was für Spuren hinterlässt so etwas? Wie kann ein Mann, der zu solch einem Monster wurde, je wieder ein Mann werden. Ist ein faszinierender Aspekt, finde ich.
Und bitter ist die Ignoranz der Welt, die das hat geschehen lassen. Ganz gleich, ob sie sich als Kulturen noch der Vergangenheit erinnern - ob sie noch wissen, wer ihnen Starthilfe gab, auf welche Weise. Im Völkerbund dieser Welt hat ein Mann begonnen, ein Volk auszuradieren. Systematisch, unermüdlich, ohne Gnade. Die Welt hat es gesehen... und es einfach geschehen lassen. DAS ist das wahre Armutszeugnis. Und selbst nach ihrer Rückkehr steht zu bezweifeln, dass die Drachen dem Roten Ritter je vergeben könnten für das, was er getan hat, sollten sie es je herausfinden.
 
Ich mag die Geschichte. Sie regt zum Nachdenken an.
Vielen Dank!


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