Zum Inhalt der Seite

Virtuelle Postsendung

Mini-Adventskalender in 6 Akten
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Zweite Chance

Kopfschmerzen. Solche Kopfschmerzen hatte er noch nie gehabt. Solche Kopfschmerzen hätte er sich noch nicht einmal vorstellen können. Und irgendetwas daran war falsch, so vollkommen falsch. Er würde noch darauf kommen. Irgendwann. Es war nur so schwer zu denken. Und wenn er es recht bedachte… Es war nicht nur sein Kopf, der ihn schmerzte. Eigentlich schmerzte alles, selbst jeder einzelne Atemzug brannte wie Feuer und auch das kam ihm falsch vor, auf einer sehr viel grundsätzlicheren Ebene.

Etwas berührte seine Stirn, kühl und sanft, brachte zumindest einen Hauch von Linderung, doch als er die Augen öffnen wollte, um zu sehen, brannte und stach das Licht in seinen Augen. Ließ sie tränen. Er heulte wie ein kleines Kind. Drangen diese grässlichen Geräusche etwa aus seiner Kehle? Dieses furchtbare, misstönende Jaulen und Wimmern? Nein. Unmöglich!

Ein Seufzen, ganz leise nur und doch unerträglich laut. Vage vertraut und irgendwie erschreckend. Es ließ ihn zittern und auch das war falsch.

„Ich schätze damit war zu rechnen“, murmelte eine leise Stimme, die das Gefühl von Entsetzen nur verstärkte. Aber es war nicht nur Entsetzen. Es war nur… Unmöglich. Vollkommen unmöglich. „Immerhin bist du ihnen wirklich ziemlich auf die Nerven gegangen und sie sind nicht gerade für Nachsicht bekannt… Und dafür allzu leicht zu vergeben. Aber… Es wird sicher bald besser.“ Die gleiche kühle, lindernde, schmerzhafte Berührung. Die Worte ergaben kaum Sinn. Nichts ergab Sinn, alles ergab nur Schmerz, unaussprechlichen, schier unmöglichen Schmerz.

„Töte mich einfach“, waren die ersten Worte, die er herausbrachte, auch wenn er nicht sicher war, ob das wirklich seine Kehle war. Obwohl er noch immer nichts sehen konnte, als blendende, tanzende Flecken, sah er doch das schiefe Halblächeln vor sich, das sich in der Antwort versteckte. „Das, mein Freund, … Könnte sich ziemlich kompliziert gestalten. Aber… Ich bin froh zu sehen, dass es dir besser geht.“

Ein gurgelnder Laut, halb Frustration und Unverständnis, halb blanker, unverhohlener Schmerz, entrang sich seiner Kehle, riss sie auf, wie schon die kaum hörbaren Worte es getan hatten. Etwas brannte kalt auf seinen Lippen, drang hinein und überflutete ihn plötzlich mit unaussprechlicher Intensität. Flüssige, reine Kälte in seinem Mund, der Geschmack von Blau, von etwas, für das er keine Worte hatte und das ihm neue Tränen in die Augen trieb. Er hustete, würgte und gierte doch vom ersten Tropfen an nach mehr und immer mehr. Die Quelle versiegte viel zu rasch.

„Was ist das?“

„Wasser“, ein Hauch von Amüsement klang in der Stimme. Nicht unfreundlich und doch ärgerte es ihn. Nicht, dass er viel dagegen tun konnte. „Aber na ja… du bist nicht mehr viel gewohnt.“

Was sollte das nun wieder heißen?

Es dauerte, gefühlt zumindest, Stunden ehe der Schmerz… Nun nicht einmal wirklich auf ein erträgliches Maß herabgesunken war, doch ehe er ihn ertragen konnte. Es war einfach zu viel. Alles war zu viel und seine Augen tränten noch immer, als er sich mit dröhnendem Kopf endlich vorsichtig umsah.

Die Person mit den kühlen Händen und der bisweilen spöttischen Stimme war noch immer da, die ganze Zeit da gewesen. Hatte ihm dann und wann mit einem feuchten Tuch die Stirn gekühlt, ihm Wasser gereicht, das definitiv nicht einfach nur Wasser sein konnte, ihn behutsam festgehalten, wenn Krämpfe den Körper schüttelten. Was war nur los mit ihm? Starb er? Es fühlte sich so an.

Jetzt sah er sie. Wenn auch zuerst nur verschwommen. Erinnerte sich. Und es ergab keinen Sinn. Hellbraunes Haar umrahmte ein Gesicht mit klaren Linien. Gelbgoldene Augen, die Pupillen vertikal geschlitzt, die ihn aufmerksam beobachteten. Mit einem amüsierten Funkeln einerseits, doch Sorge auf der anderen Seite, die sie ihn freiwillig sehen ließ. Helle, glatte Haut und leicht spitze Ohren. Weiche, rosige Lippen und lange, helle Wimpern. Er blinzelte verwirrt. Blinzelte und es schien den Schmerz in seinen Augen zumindest ein bisschen zu lindern. Hatte er vorher nicht geblinzelt?

Obgleich das eigentlich markanteste Merkmal, fielen die großen Hörner, die beidseits auf dem Schädel brachen, ihm kaum ins Auge. Er kniff die Augen zusammen, musterte sie und auch wenn er es noch immer nicht ganz durchschaute… irgendetwas hier war wirklich, wirklich falsch.

„Das… Ergibt keinen Sinn“, stellte er heiser fest und das war noch milde ausgedrückt. Keine Spur mehr von Falten und Altersflecken, die Haut dünn wie Pergament. Kein Silber mehr im Haar, aber mehr Farbe als zuvor. Aber sie war… Und vor allem war er…

Die Erkenntnis ließ ihn inne halten, regelrecht erstarren. Er war doch… Sie mochte es in seinen Augen sehen, weit aufgerissen und weit von der undurchdringlichen Maske entfernt, die ihm eigentlich zu Eigen war. Sierras Blick begegnete ihm ruhig. Er sah sein Spiegelbild in ihren Augen. Haut und Fleisch. Plötzlich hörte er das eigene Herz in den Ohren dröhnen. Das war nicht möglich. Das war vollkommen verkehrt! Wut und Entsetzen, regelrechte Verzweiflung und Frustration überspülten ihn wie eine Flut. Das war nie Teil des Handels gewesen!

Kühle Hände umfassten sein Gesicht, lenkten die Aufmerksamkeit zur Wirklichkeit zurück, zu ihr zurück. Die Berührung zu intensive, verbrannte ihn fast. Einfach alles war unerträglich intensiv. „Beruhige dich“, forderte sie sanft aber fest. „Und lass mich erklären.“ Nicht, dass er eine Wahl hatte. So gern er ihr mit Nachdruck empfohlen hätte, wohin sie sich diese Erklärung um seinetwillen schieben sollte. Er wäre gern behilflich. Doch Angst lähmte ihn, erstickte ihn. Wenn er hier war… Warum auch immer, was hieß das für sie? Hatte er am Ende doch versagt?

„Du bist tot. Sind wir beide.“

„Was?“ , meisterhafte Eloquenz, definitiv. Sie seufzte, lächelte halb. „Du bist tot. Du hast deinen Handel erfüllt und alles ist, wie es sein soll. Na ja… Fast. Aber deiner Familie geht es gut, zumindest nach meinem letzten Wissensstand. Die Nadel hat sich ziemlich weiterentwickelt.“

Es ergab immer noch keinen Sinn. „Was ist dann… Das hier?“

„Wir haben… Gewissermaßen einen Sonderauftrag. Ich bin ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher, was wir jetzt sind und natürlich hat sich niemand die Mühe gemacht, irgendwelche Regeln oder Details zu erklären, aber… Du bist, ganz offensichtlich, nicht mehr untot und ich fühle mich auch ziemlich lebendig. Welche Einschränkungen das hat, ob wir sterben können, essen müssen… Ich schätze das werden wir herausfinden. Ich kann dir zumindest sagen, dass du einverstanden warst. Auch wenn ich nicht weiß, was du dafür möglicherweise ausgehandelt hast.“

„Warum sollte ich…“, er brach ab, als die Antwort mehr oder weniger vorweg genommen wurde. Musterte sie eindringlich. Er konnte keine Lüge entdecken, aber er wusste, wie gut sie in diesem Spiel war, hatte selbst nicht unerheblich dazu beigetragen und wusste vor allem nicht mehr, wie gut er noch darin war. Wie sehr er seinen Sinnen und sich selbst noch trauen durfte. Und doch… Irgendetwas war da faul.

„Möglicherweise, auch wenn das ein wirklich sentimentaler Grund wäre und du es sicher niemals würdest zugeben wollen, weil ich deine Hilfe erbeten habe. Sie haben sich ursprünglich an mich gewandt, aber du weißt ja… ich fühle mich so schnell einsam und wie soll ich ohne meinen liebsten Erzfeind zurecht kommen?“

Das… nun das konnte vielleicht stimmen. Eher stimmen, als dass er sich freiwillig, schon wieder, zum Laufburschen der Götter erklärt hatte. Es sei denn, der Preis stimmte. Aber ihm fiel wirklich nichts ein, das dafür angemessen wäre… „Und was bekommst du dafür?“, erkundigte er sich obwohl das wahrscheinlich nicht die Frage war, die er zuerst hätte stellen sollen. Was für ein Auftrag? Und wieso wusste er nichts mehr davon. Oder von irgendetwas, was seit Xaraks Fall mit ihm geschehen war? Da war nur ein großes, schwarzes Loch.

Sie grinste. „Schokoladenkuchen. Hatte ich ewig nicht mehr. Nein ernsthaft, du weißt doch, ehrenhafter Paladin, der ich bin… Sie sagen: Spring! Und ich frage: Wie hoch? Oder: Warum. Aber das ist schließlich fast das gleiche. Oh nun schau nicht so, Häppchen. Das ist schließlich eine wirklich persönliche Frage und vielleicht ist es mir peinlich?“  Das entlockte ihm, wieder Willen ein verächtliches Schnauben, das fast schon ein Lachen war. Und bei Xaraks schrumpeligem Arsch, selbst das schmerzte wie die Hölle! „Dir ist nichts peinlich.“

Sie tat betroffen. Aber es war schlecht gespielt. Ganz besonders für sie. „Also wirklich. Das ist, was du von mir denkst? Und ich dachte unsere Beziehung ginge so viel tiefer… Immerhin war ich wortwörtlich mehr als einmal unter deiner Haut…“, lächelnd schüttelte sie den Kopf, dann kehrte die Sorge zurück, noch immer unterschwellig. „Willst du versuchen, aufzustehen?“ „Nein. Ich will hier liegen bleiben, bis ich Schimmel ansetze“, maulte er zurück, auch wenn der bloße Gedanke ihm die Luft abschnürte. Er hatte ganz vergessen wie… unglaublich dringlich sich atmen anfühlte. Furchtbar! „Wo sind wir überhaupt?“

„Also bitte. Das kannst du ja wohl nicht vergessen haben. Mach die Augen auf.“ Ihm lag eine angemessen patzige Erwiderung schon auf der Zunge, doch sie blieb ihm im Halse stecken, als er der Aufforderung nichtsdestotrotz folgte und sich erstmals weniger auf sie und mehr auf das konzentrierte, was dahinter lag. „Aber das…“, die Stimme brach ihm. Ist unmöglich.

Sierra lächelte. Wissend. Vielleicht ein wenig nostalgisch, ließ selbst den Blick über die Umgebung schweifen. „Sie haben es gut hingekriegt, hm? Fast wie damals, auch wenn es natürlich nicht dieselbe Taschendimension ist. Aber sie wird uns ebenso gute Dienste leisten. Und erst einmal haben wir ein paar Tage Zeit, uns zu Recht zu finden und auszuruhen, ehe es losgeht. Und jetzt komm.“

Vorsichtig, so vorsichtig wie es nur irgendwie möglich war und mit überraschender Kraft für eine so kleine Person, hievte sie ihn auf die Füße und es war die reinste Tortur. Das Beste, zu dem er überhaupt fähig war, war es irgendwie über sich ergehen zu lassen und der Weg ins Innere des von ihm so sorgsam und ein wenig abenteuerlich ausgebauten Hauses schien schier endlos, überflutet zugleich von Erinnerungen und Nostalgie und viel zu intensiver Wahrnehmung.

Sierra bugsierte ihn zum Bett und selbst das Gefühl der nachgebenden Matratze war beinahe zu viel. Sie setzte sich auf die Bettkante, so wie er es damals gemacht hatte, als sie dumm genug gewesen war, sich oben im Norden eine Lungenentzündung einzufangen. Verkehrte Welt, von Grund auf verkehrt.

„Gut… lass mich am Besten einfach anfangen und spar dir deinen Atem für den Augenblick, auch wenn ich weiß, wie schwer dir das fällt. Wie gesagt… Wir haben Zeit. Wir können später nochmal darüber reden, weitere Details und Fragen klären und du kannst fluchen und dich aufregen so viel du willst, aber jetzt solltest du es nicht übertreiben. Dein Körper scheint das mit dem Lebendigsein nicht sonderlich gut zu verkraften.“

Wieder lag ihm eine angemessene Erwiderung auf der Zunge, doch es fehlte an Kraft. Sierra grinste, hatte sie vielleicht in seinen Augen entdeckt. Und schüttelte leicht den Kopf. „Ich schätze du erinnerst dich nicht an die letzte Zeit… irgendetwas nach Xaraks Fall?“

Allenfalls verschwommene Fragmente, ein Gespräch, eine vertraute Stimme, aber nicht diese und ganz ähnliche Schmerzen wie diese, heiße Tränen auf seiner Haut. Seine, aber nicht nur… Erleichterung, so tiefe, endlose Erleichterung… Langsam schüttelte er den Kopf, bereute es im nächsten Augenblick. Der Tiefling nickte. „Gut… Wenig verwunderlich schätze ich. Dass die Götter viel wert darauf legen das große Geheimnis um das danach zu wahren, ist nichts neues… Es sind seither ein paar Jahrhunderte vergangen und die Welt hat sich gewandelt, vieles von dem, was ihr angestoßen habt, hat sich weiterentwickelt, manches zum Besseren, manches zum Schlechteren, aber es könnte schlimmer sein. Arien versucht sich darum zu kümmern. Gefühlt um… So ziemlich alles. Und natürlich auch um deine drei, aber das weißt du theoretisch. Oh aber, das sie einen ihrer Söhne nach dir benannt hat nicht, oder?“, sie  grinste breit. „Klein Eathor Ithildalin ist 5 und eine ziemliche Heulsuse“, neckte sie.

Er wusste nicht, was er darüber denken, dabei fühlen sollte. Vielleicht später? Dass Arien unverbesserlich war… Ein unverbesserlicher Weltverbesserer… Das hatte er schließlich schon damals gewusst. Und eigentlich… Wollte er gar nichts davon wissen. Er war nicht mehr… Er gehörte nicht hierher. Er hatte nichts mehr damit zu tun und das war für alle Beteiligten besser so. Und bei den Gedärmen eines Morgh, das war definitiv kein Grund zu heulen, das war ja grässlich!

Sie wartete. Strich ihm übers Haar und er wusste nicht, ob er wütend und die Hand fortschlagen, oder sich einrollen und anschmiegen wollte. Nicht, dass er irgendetwas davon tat.

„Die Götter, die ihr veranlasst habt, sich mehr aus der Welt der Sterblichen zurückzuziehen konnten es natürlich nicht lassen. Sie sind jetzt dazu übergegangen mit Altlasten aufzuräumen. All die Kleinigkeiten, deren Anfang bereits vor der Götterentscheidung liegt und die demnach natürlich nicht davon betroffen sind. Die Unbekannten beispielsweise und… Soweit ich weiß hast du bereits Kontakt mit den Munavri gehabt?“

„Uros…“ Doch die Erinnerung daran wurde von einer anderen sehr viel stärker überlagert. Mila… Layos, den er nie hätte kennenlernen sollen. Sein Sohn… Ein erneuter Gefühlssturm übermannte ihn, egal, wie sehr er sich wehren wollte. Wie hatte er vergessen können wie unglaublich ätzend es war lebendig zu sein? Wo war sie hin, die ewige Geduld der Untoten? Die Selbstbeherrschung? Das war doch kein körperliches Merkmal! Aber offenbar machte es trotzdem einen Unterschied. Vielleicht, weil sich seine Seele in einem anderen Zustand befand. In was für einem auch immer…

„Unsere Aufgabe besteht für den Anfang darin sie zu finden und mehr darüber herauszufinden, wie sie leben, wie viele es sind, was sie tun, was sie vorhaben… Informationsbeschaffung im Grunde. Alles Weitere ergibt sich dann. Die Götter haben Schwierigkeiten zu ihnen durchzudringen aber wir wissen zumindest, dass sie irgendwo tief in der Erde, in der tiefen Welt zu finden sein dürften. Ich habe ein paar Kontakte, die uns Möglicherweise weiterhelfen. Aber es dürfte… Interessant werden. Wir sollten vorher unsere Aufrüstung aufstocken und feststellen, welche Fähigkeiten wir aktuell zur Verfügung haben.. gerade in deinem Fall… Ist das schwer vorhersagbar. Aber… Das hat Zeit“, sie endete sanfter, die Stimme weich. Sah wahrscheinlich, dass es für den Moment zu viel war. Alles zu viel war.

Und so sehr er diese Tatsache verabscheute, dagegen aufbegehren wollte ,wie gegen das alles hier, so machtlos war er. „Du willst doch nur wieder unnötiges Zeug einkaufen, mit dem du das Lager vollstopfen kannst“, brachte er viel zu spät und ohne rechte Überzeugung hervor. Sierra lächelte dennoch, wenn vielleicht auch eher aus Mitleid. „Natürlich. Und, wie die Erfahrung gelehrt hat, ein ausreichendes Kontingent an Schals. Und vielleicht neue Unterwäsche. Ich meine… Die Mode dürfte ebenfalls fortgeschritten sein.“

Und nicht nur die… Die Implikation dahinter war beunruhigend. Abhängig davon, wie viel Zeit es genau war, die zwischen Xaraks Fall und dem jetzt lag… Würde nichts mehr annähernd sein, wie er es kannte. Andererseits… vielleicht war das gut so. Und offenbar würden sie der Oberfläche sowieso den Rücken kehren und eine Welt besuchen, die ihm jetzt so fremd war, wie damals und von deren Existenz er irgendwann, irgendwie, irgendwo gehört hatte, ohne sich weiter darum zu scheren. Wahrscheinlich war es besser so. Was immer er sich hierbei gedacht hatte… Es war eine miserable Idee gewesen und je schneller er es hinter sich brachte, umso besser. Umso besser je schneller alles wieder so war, wie es sein sollte…

Sierra saß bei ihm, die ganze Zeit, betüdelte ihn weiter in einer Art und Weise, die ihn zu jedem anderen Zeitpunkt wahnsinnig gemacht hätte. Jetzt war er fast schon dankbar. Fast. Und ahnte, wie lange er sich das noch würde anhören dürfen. Irgendwann summte sie sogar misstönend, unmusikalisch, wie sie war, aber ihm fehlte die Kraft sich zu beklagen. Und vielleicht… Wollte er auch gar nicht. Die schiefen Klänge trugen Erinnerung an… nicht unbedingt bessere, aber vielleicht auch nicht gerade schlechtere Tage mit sich. Trugen ihn, ohne, dass er es wusste, davon zu etwas, das vielleicht das seltsamste Erlebnis der letzten Jahrhunderte seiner Existenz war und das wollte etwas heißen… Schlaf.

Nicht dass es, unvermeidbar, ein ruhiger Schlummer war. Und Sierra betrachtete ihn nicht ohne Sorge, einen Hauch von Zweifel im Herzen, den sie jedoch rasch von sich schob. Der Anfang war immer am schwersten.

Und was bekommst du dafür? Sie konnte sich die Reaktion vorstellen, wenn sie es ihm gesagt hätte. Oder wahrscheinlich nicht einmal. Nicht das gesamte Ausmaß, aber zumindest die Richtung. Aber glücklicherweise… Musste sie es ihm ja nicht sagen. Nicht heute. Wahrscheinlich bis zum Ende nicht.

Der Blick, mit dem sie den ehemaligen Lich betrachtete, war nachdenklich, vielleicht ein wenig melancholisch. Selbst jetzt schien er Schmerzen zu haben, warf sich in Träumen fiebrig hin und her. Das war ihre Schuld, doch obgleich es ihr leid tat, war es schwer es zu bedauern. Immerhin… War das hier der Teil der Belohnung, der tatsächlich ihr gehörte. Ihr Abschied, eine letzte Gelegenheit, Erinnerungen zu schaffen und Zeit mit ihm zu verbringen, ehe die Bande, die sie so lange verbunden hatten, über so viele Grenzen hinweg gekappt würden.

Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass etwas übrig bliebe, wenn alles so aufging, wie sie es erhoffte. Sie hatten keine Seelenverwandtschaft oder derartige esoterische Verbindung. Alles, was gewesen war, war Ergebnis der Umstände, die sie beide geformt und geschaffen hatten. Und es würde verloren gehen. Gemeinsam mit ihm.

Auch wenn es gnädiger gewesen wäre, richtiger vielleicht, ihm das hier zu ersparen… und sie hatte gewusst, dass es unschön werden würde, auf die eine oder andere Weise. Die Götter liebten ihn wahrlich nicht… Sie hätte es nicht gekonnt. Ihn um seinetwillen aufzugeben… Das war möglich. Aber nicht ohne Abschied zu nehmen. Nicht, ohne irgendetwas für das danach, wenn sie blieb und mit den Erinnerungen weitermachen musste. Und sie war… Am ehesten wohl zu alt, um neu anzufangen, so ironisch das schien, bedachte man, wie viel weniger Jahre sie gesehen hatte im Vergleich zu ihm.

Doch in Wahrheit war Ithildalins Leben zu Ende gewesen im selben Augenblick, als seine Liebsten den Tod gefunden hatten, selbst wenn er es nicht wusste. Und das war nicht viel. Alles, was danach gekommen war, war nur noch ein Echo gewesen, Mittel zum Zweck und auch, wenn es in dieser Sache kein Zurück mehr gab, keine Lösung dafür… War das falsch. War es weniger, als er verdiente.

Eine zweite Chance, um es besser zu machen, frei von allen Verbindungen, die Seele reingewaschen von allem, was gewesen war und die Möglichkeit das Leben dieses Mal bis zum Ende zu leben. Das war, was sie ausgehandelt hatte. Für ihn. Wohlwissend, dass er es hassen würde. Noch immer ganz überzeugt selbst mit dem Schlimmsten und Schlechtesten nicht für das sühnen zu können, was er getan hatte. Aber… Wer fragte schon Ithildalin?

Und vorher… Eine letzte Gelegenheit zu tun, was die Umstände nie erlaubt hatten. Ein gemeinsames Abenteuer. Sie war hier und würde es bleiben, weiter wachen, dann und wann. Anders als er, hatte sie Glück gehabt und trotz aller Verpflichtungen und Widernisse ein Leben gelebt. Es zu großen Teilen ausgeschöpft, manchmal über das gegebene Maß hinaus. Zu alt für einen Neuanfang. Nicht fähig, aufzugeben was war. So wenig, wie er fähig gewesen wäre seinen Schmerz aus eigenen Stücken loszulassen. Eine gute Frage, was das über sie sagte… Andererseits die Frage, die man ihr Leben lang ohnehin nie hatte stellen dürfen. Und auch nicht danach.

Sie schüttelte sachte den Kopf, trieb die grüblerischen Gedanken fort. Sie hatte ihre Entscheidungen getroffen und nichts hatte sich geändert. Noch war es nicht so weit. Noch lag vieles vor ihnen und sie hatte nicht vor das Geschenk, das sie sich selbst gemacht hatte, zu vergeuden. Nicht auszumalen, was ihnen begegnen würde. Und sie freute sich darauf.

Als ihr Blick erneut zu ihm wanderte, stutzte sie. Gerade lag er ruhig und… Ein schmales Rinnsal Speichel bahnte sich seinen Weg über sein Kinn, hinterließ einen Fleck auf ihrem Kissen. Sierra begann diabolisch zu Grinsen, als sie die erste zahlloser Gelegenheiten sah frühere Rechnungen zu begleichen. Wie sie ihn damit aufziehen würde… Aber erst morgen.

Für den Augenblick, zögerte sie noch kurz und legte sich dann einfach neben ihn. Dicht genug, um die ungewohnte Wärme eines Körpers zu spüren, der nicht mehr kalt und durchlöchert war, schloss ihrerseits die Augen. Sie hatten Zeit. Alle Zeit, die sie wollten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Voidwalker
2018-12-06T02:12:33+00:00 06.12.2018 03:12
Ihr habt einfach eure Kalender-Sachen schon aufgemacht! Ich konnte mich auch nicht beherrschen und werde morgen heulen, weil spät. Aber ich musste einfach lesen. Und was war das Ergebnis? Das hier... das war Diabetes-induzierend süß. Schäm dir, ich hasse Spritzen!
Gerade für jemanden, der weiß, wie die Wahrscheinlichkeiten liegen - der zumindest grob abschätzen kann, wie das Ende vermutlich, wahrscheinlich, aussehen wird -, also für den Erzähler einer Geschichte... ist es immer interessant, die Spekulationen anderer zu hören. Alternative Szenarien entwickelt und entworfen zu sehen. Es ist spannend. Gedankliche Ansätze, Ideen und Konzepte - vielleicht sogar unbewusste oder sogar sehr wohl bewusste Wünsche und Ängste, die zum Ausdruck kommen.
Wir sind nicht dazu bestimmt, Informationen aufzunehmen und sie NICHT zu verarbeiten. Wir lernen, denken und verändern uns mit jedem Atemzug, wortwörtlich. Etwas zu hören - oder zu lesen - bringt neue Perspektiven. Ein Austausch von Konzepten. Und bedingt, was vorher als gegeben angesehen - oder geplant - worden ist. Ich bin gespannt, was das hier einbringen wird.
Das Konzept der Geschichte ist... menschlich. Was amüsant ist, wenn man bedenkt, dass eigentlich nur ein Viertel dieser zwei Personen menschlich ist. Der Fokus liegt auf Sierra - was in dem Fall auch der interessantere Part ist. Ihre Motive sind alles andere als simpel. Ja, sie handelt egoistisch. Aber nicht nur. Ja, sie tut was 'Gutes' - aber nicht nur. Sierra ist längst an einem Punkt, an dem sie weiß, dass des einen 'Gut' des anderen 'Übel' ist. Ein vielschichtiger Charakter. Zu sehen, wie sie reagiert, ist faszinierend. In vollem Bewusstsein einen 'Fehler' begehen, aber ihn nicht bereuen.
Und natürlich wirft es so viele interessante Fragen auf. Sierra und Ithildalin als Agenten der Götter, auf der Jagd nach Unbekannten und Munavri - na wenn das nicht nach einer spannenden Geschichte und wilden Abenteuern klingt!
Aber auch abseits dessen. Wieviel Verrat wird er darin sehen? Wird er das überkommen können? In welche Richtung wird diese zweite Chance laufen, die sie ihnen verschafft hat?
Wird er wirklich dauerhaft der Versuchung widerstehen können, Kontakt aufzunehmen? Zu Arien, zu Layos, 'zum Rest'? Er lebt wieder. Leben hat eine inherente Ungeduld und Neugier. Wieviel Gutes - und Schlechtes - haben sie am Ende wirklich bewirken können?
Ein witziger Gedanke zum Ende: Die zwei geben ein fantastisches Paar ab. Alles andere als einfach und unkompliziert und vielleicht auch zum Scheitern verdammt, aber so ungemein energetisch und voller Potenzial.
 
Ein schönes Stück und ein interessanter Einblick. Mir gefällt das Szenario - und der Gedanke. "Das Ende ist nicht zwangsläufig das Ende."
 
Vielen Dank! =)


Zurück