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Lebendig begraben

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Sollte ein historischer Kontext anfallen den Ihr erklärt haben wollt, meldet euch bitte.
lg, Sternenschwester Komplett anzeigen

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Garstige Kater und trockene Semmeln

In der kleinen Küche hatte Salvatria den Tisch notdürftig für drei Personen gedeckt. Am Herd wurde gerade Wasser in einem Kessel aufgekocht und die Kaffeekanne stand auf der Anrichte bereit für den Aufguss daneben.

Mit einem demonstrativen Seufzer ließ sich Gilbert auf den nächstbesten Stuhl fallen und streckte die Beine aus. Salzburg indessen überwachte das Aufkochen des Wassers.

„Ehrlich, wenn du mir gestern gesagt hättest, dass ich dich in der Früh im Bett meines Bruders finde, so hätte ich dir ins Gesicht gesagt, dass das so wahrscheinlich ist, wie dass Ungarn Rumänien einen Heiratsantrag macht.“

Der Wasserkessel begann zu pfeifen.

Mit einem Geschirrtuch nahm die Braunhaarige den Kessel vom Gas und goss vorsichtig Wasser in die Kaffeekanne. Während der Kaffeesud sich am Grunde absetzte, beobachtete Gilbert die junge Frau vor sich.
 

Er wusste das Salvatria nicht um so viel jünger war als Roderich. Doch obwohl ihre Stadt, nach der sie benannt worden war, viel älter war als der Notenfanatiker, so hatte es lange gedauert bis die Repräsentantin des Landes gefunden worden war und selbst danach hatte sie noch eine gute Zeit unter Theodors Dach gelebt. Doch die äußerliche Ähnlichkeit mit ihrem Bruder erstaunte ihn immer wieder.

Katharina sah Roderich zwar ähnlich, aber in vielem unterschieden sie sich.

Mit der blonden Hedwig hatte der Braunhaarige äußerlich wenig gemein, wenn man von den violetten Augen absah, aber die besaßen alle Nachfolger Norikums.

Agnes und Adelheid waren keine Kinder Norikums und somit für einen Vergleich nicht geeignet.

Die kleine Franziska, welche nun erst nach dem ersten Weltkrieg die Bühne der Personifizierungen betreten hatte, war ihm noch nie persönlich untergekommen, womit er nicht sagen konnte, wie diese in Farbe aussah.

Doch Salzburg könnte durchaus als Zwillingsschwester von Roderich durchgehen, wenn man mal davon absah, dass sie keine Brille trug und ihr das Muttermal neben dem Mund fehlte.
 

Als die Tasse mit einem leichten Klirren vor ihm abgestellt wurde, schreckte er aus seinen Gedankengängen auf.

„Offenbar habe ich diesen Heiratsantrag verpasst.“, sprach Salzburg kurz angebunden, als sie ihm Kaffee einschenkte.

Ohne ein weiteres Wort setzte sich sie sich ihm gegenüber und griff sich eine Semmel aus dem braunen Papiersackerl. Ein Schweigen entstand, denn ebenso wie Salvatria ihn mit Nichtachtung strafte und sich vollends dem in zwei schneiden ihrer Semmel widmete, achte auch Gilbert wenig auf den Damenbesuch, welcher ihn so ungünstig in der Früh überrascht hatte.

Wie beiläufig betrachtete er nun die Küche, die er gestern nur im fahlen Schein der nackten Deckenleuchte im Wohnzimmer erspäht hatte.

Wie schon erwartet, war das Kabinett nicht sonderlich groß. Der Raum war vor allem länglich und die Breite ließ eben so viel Platz, dass man sich mit Küchenkasten und Tisch gerade so umdrehen konnte. Die Höhe war für eine Wohnung eines Altbaus nicht hoch, was aber vielleicht an der Tatsache lag, dass Roderich aus Gründen die Gilbert noch nicht ganz durchschaute, sich für eine kleine Dachzimmerwohnung einst entschieden hatte anstatt eine in der Belletage.

Die Einrichtung entsprach jedenfalls nicht den gewohnten Stil seines alten Rivalen. Zwar waren Kästen, Stühle und Tisch nicht in einem desolaten Zustand, aber sie wiesen eindeutig Gebrauchsspuren auf, wie auch eine ungewohnte Schlichtheit. Sie hätten eher zu einer besser situierten Arbeiterfamilie gepasst, als zum Schnösel, der Roderich im Inneren doch war.

Geistesabwesend griff Gilbert nach einen der goldfarbenen Brötchen, die ein wenig hart waren, was ihm augenblicklich auffiel, kaum hatte er eines in der Hand.

Vielleicht hatte die Schwester seines Gastgebers sie direkt aus Salzburg mitgenommen, denn richtig frisch waren sie auf jeden Fall nicht.

Wie zufällig streifte Gilberts Blick die Wanduhr, welche über dem Tisch hing und mit filigranen Zeigern die Zeit angab.

Es war schon Viertel nach Neun.

Ohne dass er es bewusst ausübte, begann es in seinem Kopf zu rattern. Wien und Salzburg lagen grob geschätzt an die dreihundert Kilometer auseinander. Egal wie sehr er die Rechnung in seinem Kopf drehte und wendete, kam er zum Schluss, dass selbst der frühste Zug aus Salzburg nach Wien, nicht der sein konnte, den Salvatria genommen hatte.

Zudem gerade die Schienen des Zugsverkehrs ein begehrtes Ziel waren für feindliche Bombengeschwader, welche nun auch Österreich heimsuchten.

Während seinen fieberhaften Überlegungen hatte die Vertreterin von Salzburg indes ihre beiden Semmelhälften mit etwas beschmiert, was im entferntesten nach Marmelade aussah und biss in eines dieser Brötchen, als Gilbert das Schweigen brach, das sich zwischen ihnen beiden etabliert hatte.

„Salvatria…“, begann er, wobei es sich so ungewohnt anfühlte sie mit Vornamen anzusprechen, war sie für ihn früher einfach Fräulein Hall gewesen oder hinter vorgehaltener Hand, das Miststück aus Salzburg.

Violette Augen fixierten ihn und signalisierten, dass er die Aufmerksamkeit der Besitzerin erhalten hatte.

Vorsichtig setzte sich Gilbert aufrecht und kreuzte die Hände ineinander.

„Was machst du hier?“

Der Blick, welchen ihm die Salzburgerin nun zuwarf, hätte ebenso von ihrem Bruder kommen können.

Eine einzelne Augenbraue hob sich, wobei Gilbert auffiel, dass es bei Salvatria die Linke war, während Roderich diese Gestik immer mit der Rechten ausführte.

Dabei verzogen sich die Mundwinkel leicht und verliehen der Mimik für einen aufmerksamen Beobachter was abschätzendes, wenn nicht misstrauisches abwertendes. Die Haut um die Schläfen spannte sich kaum merklich an und die Haltung der Schultern wurde gleich angespannter.

Plötzlich erschien es Gilbert seltsam, wie genau er schon die körperlichen Reaktionen seiner Nemesis vorhersagen konnte, wenn auch es nicht Roderich sondern seine Schwester war, die ihm gegenübersaß.

„Nun ich bekam vorgestern die Nachricht, dass die Gestapo wiedermal meinen Bruder auf ihr Quartier verschleppt hatte und dort festhielten. Ich wäre ja früher vor Ort gewesen, wenn es nicht jedes Mal eine solche Schikane ist, eine Erlaubnis zu erhalten meine Hoheitsgebiete…“

Kurz hielt die Frau inne, als wäre ihr eben was aufgefallen, doch der Moment währte nur kurz, denn augenblicklich korrigierte sie sich.

„Ich meinte natürlich den Gau Salzburg zu verlassen.“

Gilbert nickte nur abwesend. Es war ihm schon aufgefallen, wie wenig die jetzige Regierung ihnen allen, bis auf ein paar Ausnahmen vertraute und wenig Interesse bezeugte, ihnen die Freiheiten zu gewähren, welche früher ihnen ihre alte Herrscher eingeräumt hatten.

Es mochten vielleicht noch so Junggeister, wie seinen jüngeren Bruder oder Italien noch nicht aufgefallen sein, aber alten Hasen wie ihm oder Tangino, dem Vertreter von Magdeburg, um ein Beispiel zu nennen, war es innerhalb von wenigen Wochen glasklar gewesen, wie sehr sich die neue Regierung bemühte sie vom politischen Leben auszuschließen.

Egal wie sehr der Vertreter oder die Repräsentantin sich dem Regime gefügig zeigte, innerhalb von wenigen Jahren hatten es ihre neuen Herren geschafft sie vom Weltgeschehen abzudrängen.

Kämpfernaturen, wie Gilbert, sein älterer Bruder Brandenburg alias Hagen oder den Sachsen August, hatte man schnell in die Wehrmacht abgeschoben. Doch wie Gilbert es hatte schnell am eigenen Schicksal erfahren müssen, war dies nur ein weiteres Mittel zum Zweck, um sie besser unter Kontrolle zu halten.

Was mit den Repräsentanten war, welche sich nicht in eine militärische Rolle zwängen haben lassen, wie die meisten deutschen Vertreterinnen und vor allem die ehemaligen Erzbistümer, welche deren Einfluss schon seit Napoleon sehr geschmälert waren, hatte er nur am Rande mitbekommen. Zwischen den einzelnen Einsätzen zu denen er befehligt wurde, hatte er bisher wenig Zeit gefunden die Bande, welche er früher so sorgsam zu seinen Kollegen gepflegt hatte, aufrecht zu erhalten.

Einzig Ludwig sah er in regelmäßigen Abständen, wobei er sich sicher war, dass es vor allem das gewichtigere Wort seines Bruders war, welcher dafür sorgte, dass der Kontakt zu seinem ehemaligen Schützling nie gänzlich abbrach. Ludwig schien auch der Einzige zu sein, bei welchen das Regime die Zügel nicht so straff zog. Dies konnte vielleicht mit seiner Unerfahrenheit zusammen liegen, vielleicht auch daran, dass der Junge einfach zu sehr den Idealen der neuen Zeit nacheiferte.

Ganz hatte Gilbert die wahren Hintergründe noch nicht durchschaut.

Was er jedoch längere Zeit beobachten konnte, war wie sehr es seinen kleinen Bruder ausfüllte, die Macht über ihre Familie und all den Neuzugängen auszuüben. Ein Gefühl, welches ihm nur allzu gut bekannt war, doch nun auf der anderen Seite der Macht erschreckte.

Vielleicht erschreckte ihn auch einfach nur der Gedanke, dass die jetzigen neuen Machthaber darauf hofften, Ludwig würde vielleicht eines Tages ihr alleiniger Repräsentant werden, wenn sie es mal schafften alle Kulturen und Völker unter sich gleichzuschalten oder aus dem Weg zu räumen.

„Gilbert? Hörst du mir überhaupt zu?“

Die Schärfe in der erbosten Stimme, ließen ihn seine Gedankengänge abrechen und führten ihn schneller in die Gegenwart zurück, als er für möglich gehalten hatte.

Salzburg saß noch immer ihm gegenüber, aber die Semmelhälfte in ihrer filigranen Hand bestand nur noch zur Hälfte.

„Verzeih, ich war ein wenig in Gedanken.“, murmelte der Preuße entschuldigend und zerteilte nun seinerseits sein Brötchen.

„Das habe ich bemerkt.“, war die trockene Antwort zu seiner Aussage. Auffällig nur war eine leichte Unsicherheit, welche sich dahinter verbarg. Für eine Weile meinte er sogar einen sonderbaren Blick zu spüren. So als wäre Salvatria erst jetzt etwas aufgefallen, was sie nicht erwartet hätte.

„Was wolltest du mir noch sagen?“

Während er seine Frage stellte, langte Gilbert nach dem kümmerlichen Rest Butter, welcher auf Wachspapier vor ihm lag. Ein Schnauben ging der Erwiderung der Salzburgerin vor.

„Du hast gefragt, wenn du dich daran erinnerst. Aber wenn du mir nicht einmal zuhörst, warum stellst du dann überhaupt Fragen.“

Genervt ließ Gilbert das Messer sinken, mit welchen er noch ein wenig Butter auf der weichen Seite seiner Semmel verteilt hatte.

„Hall, treib es nicht zu weit. Ich bin für solches nicht in Stimmung.“

„Ach, aber es gelüstet den Herren mit meinen Bruder das Bett zu teilen.“, konterte seine Gesprächspartnerin giftig zurück und blitzte ihn unheilverkündend an.

„Erstens, Salzburg, wenn es dich stört, dann hättest du halt nicht kommen sollen. Zweitens, bin derjenige, der deinem werten Bruder den Arsch gerettet hat. Und Drittens…“

Ein Drittens fiel Gilberts noch leicht schläfrigen Verstand nicht ein, doch das musste es auch nicht, denn Salzburg fiel ihm ins Wort. Als er später über das Gespräch nachdachte, bewertete er dies als eine eher untypische Geste für diese Frau, welche die Etikette mit all ihren Höflichkeiten und Floskeln seit jeher in Ehren hielt. Die Zeit schien nicht nur ihm in bedenklichem Ausmaß an die Substanz zu gehen.

„Ach, jetzt sind wir schon bei den Ländernamen angekommen. Verdammt, Preußen, was willst du überhaupt von mir?“

Das Messer klirrte kurz auf, als es auf dem Holztisch fiel und mit der freien Hand begann Gilbert sich die Schläfen zu massieren. Das alles versprach kein guter Start in den neuen Tag zu sein. Beherrscht zwang er sich im Geiste rückwärts von eins bis zehn zu zählen, bevor er das Gespräch wieder aufnahm.

„Gut, fangen wir noch mal von vorne an. Warum bist du hier, Salvatria?“

Eine Weile starrte sie ihn mit diesem unguten Blick an, bevor sie zu einer Antwort ansetze.

„Ich sagte doch, dass ich erfahren habe, dass die Gestapo meinen Bruder festgehalten hat. Doch kaum hatte ich alle Formalitäten für einen Aufenthalt in Wien zusammen, ruft mich aus heiterem Himmel Theo an und schwafelt mir was vor dass du, ausgerechnet du, Roderich aus der Zentrale geholt hast.“

Aha, Theo also. Gilbert hatte schon gestern geahnt, dass dieser verdammte Bayern nicht still sitzen konnte, als er erfahren hatte, wer bei seinem kleinen Bruder war. Wenn er den Bastard das nächste Mal sehen würde…

„Was ist denn daran so verwerflich, Salvatria?“

Betont lässig und wohl auch ein wenig arrogant untermalte Gilbert den von ihm getätigten Einwurf mit seinem gebutterten Brötchen, um sich von den möderischen Gedanken an seinen bayrischen Anverwandten abzulenken. .

„Gilbert, warum gerade du? Ludwig hätte jemand anderen schicken können. Weiß nicht, Tangino, Feliciano, von mir aus auch Hagen. Also sage mir, warum gerade du?“

„Ich bin nicht von Ludwig geschickt worden. Ich habe aus Eigeninitiative den Schnösel aus seinem Loch befreit.“

Gilbert war von Anfang an klar gewesen, dass diese Worte wenig beitragen würden, das ehemalige Erzbistum zu beruhigen und nur wenige Augenblicke später gab ihm die Situation Recht. Salvatria hatte nun die Augen zu Schlitzen verzogen und funkelte ihn misstrauisch an.

„Aus Eigeninitiative also!“

Spott und Unglaube waren nur allzu gut aus der Stimme heraus zu hören und der Preuße war sich sehr wohl im Klaren, dass er selber ebenfalls mit Misstrauen reagiert hätte.

„Gilbert, sei nicht albern. Es gibt kaum einen von uns, den mein Bruder so sehr verachtet wie dich. Nicht nur als das, was du repräsentierst, obwohl da hast dich auch nie wirklich positiv hervorgetan, sondern als der Mann, der du bist.“

Eine kurze Sprechpause trat ein, in welchen Salzburg manierlich die Hände von den letzten Krümeln über ihren Teller abputze.

„Und ganz nebenbei, sag mir jetzt nicht, dass du plötzlich etwas wie Sympathie für Roderich empfindest. Nicht nachdem ihr die letzten Jahrzehnte, ach was Jahrhunderte, sehr erfolgreich versucht habt, euch das Leben sauer zu gestalten. Also, Gilbert, halt mich deswegen nicht für eine Närrin. Was sucht du hier in Wien?“

Gilbert spürte, wie sein Körper unwillkürlich sich innerlich anspannte, doch äußerlich zwang er sich zum üblichen selbstsicheren Ausdruck in Körperhaltung und Mimik.

„Nun, was glaubst du den?“ erwiderte er dann in einen grässlichen zuckersüßen Ton und erfreute sich daran, wie das Frauenzimmer begann kaum wahrnehmbar wütend die Backen aufzublasen.

Er hatte Salzburg schon öfters recht temperamentvoll erlebt und eben in jenen Augenblicken wurde ihm bewusst, was die Aufmerksamkeit mancher anderer Vertreter an diesem intriganten Weib insgeheim band.

Es war nicht die blasierte Reaktion Roderichs oder gar das höchst gefährliche Aufbrausen seines Tiroler Pendants, unter welchem öfters schon sein brandenburgischer Bruder zu leiden hatte, sondern eine reizvolle Mischung aus beiden.

Die Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich, die Brust hob sich, während die Schultern nach hinten gestrafft wurden und die violetten Augen zu blitzen begannen.

Aufs äußerste gespannt kreuzte sie nun die Finger ineinander und platzierte sie vor ihr hochgeschlagenes Knie, wodurch sie sich leicht vorbeugen musste.

„Willst du wirklich glauben, was ich denke, Gilbert?“

Ihre Stimme war nun erstaunlich ruhig. Zu ruhig nach Gilberts Geschmack und unangenehme Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen an Zeiten, wo Salzburg mehr war, als nur ein kleines Fürstentum in der Ländersammlung der Habsburger. Er wusste nicht warum, aber ohne dass seine Wangen eine verräterische Färbung annahmen, wurde ihm unnatürlich heiß und es schien ihm, als würde er den Abdruck der Hand in seinem Gesicht allzu deutlich spüren. Dabei lag die Ohrfeige, welche er sich einst von dieser Frau geholt hatte, wie so vieles Jahrhunderte zurück. Einst war jedoch auch eine solch gefährliche Ruhe dem schmählichen Schlag voraus gegangen. Eine Weile geschah nichts und ein Déja-Vue kam Gilbert wieder in den Sinn. Doch er wollte sich nicht abermals von der Vergangenheit einholen lassen.

„Savatria, ich habe nicht extra deinen Bruder aus der Gestapo gezerrt, um dich wegen irgendwelchen unpassenden Äußerungen hochgehen zu lassen.“

Häme blitzte ihn auf seine Worte hinauf an.

„Wer weiß, du hast uns südliche deutschen Länder noch nie sehr gemocht, Gilbert.“

„Nun ja, ich habe unseren Musikfreak schon soweit ins Herz geschlossen, dass einst ich mit Mann und Armee versucht hab über Böhmen hinweg ihm einen Besuch in seinen Herzlanden abzustatten.“, konterte der Preuße giftig zurück, doch der Spott schien seine Gesprächspartnerin nicht zu erreichen.

„Aber nicht, um mit ihm auf die Freundschaft Kaffeetrinken zu gehen.“

Unwirsch wischte Gilbert diese Aussage mit der Hand symbolisch aus dem Raum.

„Nun was ist, Salvatria? Bekomme ich heute noch eine Antwort.“

Wieder kniff die Salzburgerin kurz die Lippen zu einem Strich zusammen, doch nach einer erneuten kurzen Schweigepause rang sie sich zu einer Antwort durch.

„Ich kann es mir nur erklären, dass du dir Roderichs seelischen, zerbrochenen Zustand zu nutzen machen möchtest. Nicht als Repräsentant, da hast du eindeutig andere Sorgen, aber als privater Mann.“

Nun war es Gilbert, dem die Gesichtsmuskeln einfroren. Für wie hinterhältig hielt ihn dieses Miststück?

Salzburg hatte seinen Unmut ebenfalls bemerkt und beobachtete ihn scharf, während sie sich vorsichtig wieder zurücklehnte. Zu Recht, denn nur wenige Sekunden später Gilbert war von seinem Sessel aufgesprungen und hatte die schmalen Schultern der Frau gepackt und starrte ihr wütend in die violetten Augen, welche ihn nun schreckerstarrt anblickten.

„Hältst du mich für so widerwärtig, Salzburg, dass ich mich an diesem Kummerhaufen von deinem Bruder ergötzen könnte!“, fauchte er sie erbost an. „Glaubst du etwa mir fehlt der Anstand?“

Er wollte dem Frauenzimmer noch mehr entgegenschleudern, ungeachtet dass er vielleicht mit seinem Wutausbruch den Hausherren wecken könnte, doch er kam nicht weiter dazu.

Er nahm den schwarzen Schatten zu spät wahr, nämlich dann als es schon unmöglich war dem auszuweichen. Gilbert japste kurz auf, als der große, schwarze Kater mit ganzer Wucht in sein Kreuz landete und er dabei beinahe auf Salvatria fiel. Es fauchte mit tiefer Stimme und krallte sich gerade in sein Unterhemd, sodass der Deutsche die messerscharfen Krallen mehr als nur deutlich auf seiner bleichen Haut wahrnehmen konnte. Aufschreiend ließ er die Schulter der Salzburgerin, auf welche er sich während des Überraschungsangriff gestützt hatte, los und schüttelte sich. Doch der große Kater ließ nicht locker und versenkte seine Krallen noch tiefer in die Rückseite des Preußen.

„Salzburg, pfeif deine Bestie zurück!“, fauchte Gilbert zornig, während er verzweifelt versuchte nach dem Ungetüm zu angeln. Für eine kurze Weile warf die Angesprochene hochmütig den Kopf zurück und beobachtete den verzweifelten Kampf Gilberts gegen das schwarze Tier, bevor sie dann hörbar über den Lärmpegel hinaus die Lippen schürzte.

Augenblicklich entfernten sich die Krallen von seinem geschändeten Rücken und dem dünnen Stoff über dem. Das Gewicht verschwand und beinahe lautlos landete der Kater auf seinen vier Pfoten, bevor er mit hocherhobenem Schwanz zu seiner Herrin stolzierte, wobei er dann noch einem Tritt seitens Gilberts entging.

Mit einer Eleganz, die man dem massigen Körper nie zugetraut hätte, sprang das große Tier auf den ihm dargebotenen Schoß, auf welchen er sich nach einer Drehung nieder ließ, um den Preußen verächtlich aus gelben Augen zu mustern.

„Rupert mag es nun mal nicht, wenn man mich grob behandelt. Lass dir das eine Lehre sein, Preuß!“, meinte Salvatria unbekümmert, während sie den großen Kater hinter den Ohren kraulte. Gilbert hatte das Vieh nie gemocht.
 

Nicht nur, dass es die gleiche Abneigung gegen ihn wie sein Frauchen besaß, nein, das verdammte Miststück hatte mehr als einmal auf Konferenzen versucht Gilbird zu fressen. Einmal war der kleine Kerl schon ihm Maul dieses Ungeheuers verschwunden und nur gutes Zureden und manche Drohungen hatten Salvatria dazu bewegt ihren Kater zu überreden, den Piepmatz wieder auszuspucken.
 

Während er wütend beide niederstarrte, warf Salvatria einen kurzen Blick Richtung Verbindungstür zum Wohnbereich. Doch offenbar hatte ihre kleine Meinungsverschiedenheit den eigentlichen Hausherren nicht aus dem Reich der Träume reißen können. Mit einem liebevollen Klapps bewegte Roderichs Schwester das Tier dazu von ihrem Schoß zu springen bevor sie selber aufstand, um dann so leise wie möglich die Türe der Küche zu schließen.

Gilbert zog sich in der Zwischenzeit, ungeachtet der Tatsache, dass sich eine Frau mit ihm im Raum befand, das Unterhemd aus und begutachtete es. Feine Risse zogen sich im oberen Bereich quer über den Rücken.

Als Salvatria sich ihm gegenüber gesetzt hatte, seinen nackten Oberkörper gekonnt ignorierend, hielt er ihr anklagend das beschädigte Kleidungstück hin.

Sie warf nur einen kurzen Blick drauf, während sie sich zu ihrem haarigen Anhang hinunter beugte und als ginge sie es nicht an, zuckte sie dabei mit den Schultern.

„Du wirst doch hoffentlich noch ein weiteres mit haben. Wo bliebe sonst deine preußische Planung.“

Kaum hatte sich wieder das schwarze Ungetüm auf ihren Schoß bequemt, bedachte Salvatria Gilbert mit einem langen, forschenden Blick, welcher Gilbert geradewegs dazu aufforderte, seinen Standpunkt klar zu stellen.

„Hör mir zu, Salzburg, um es ein für alle Mal klar zu stellen. Ich habe deinen Bruder nicht aus diesem Höllenloch gezerrt, um mich an ihm zu ergötzen.“

„Philosophisch ausgedrückt, Preuß.“, erwiderte Salzburg kühl und verschränkte die Arme vor der Brust, was Rupert dazu animierte, misstrauisch den Kopf zu heben. „Und dass nach all der Freude, nein, verleugne es nicht, die es dir immer bereitet hat meinen Bruder regelrecht in den Staub zu treten.“

Das Violett in den Augen verdunkelte sich um einen ganzen Ton, als Salvatria leicht den Kopf senkte, ohne jedoch den Blickkontakt abzubrechen.

„Aber bei Feliks hat es dir nichts ausgemacht, was?“

Eisiges Schweigen beherrschte den Raum und drückte beinahe spürbar Gilbert den Brustkorb zusammen. Er erstarrte, als Bilder vor seinem geistigen Auge vorbei zogen.

Bilder, die ihn letzte Nacht gequält hatte und weswegen er Roderich damit aufgeweckt hatte, was dann zu dieser verkorksten Bettkonstellation geführt hatte. Mühsam zwang er sich in kürzester Zeit seine Gedanken zu ordnen.

„Red nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst, Weib.“, zischte er dann in scharfem Ton zurück, welcher jedoch nur wenig Wirkung zeigte.

Rupert begann warnend die Ohren zurückzulegen.

„Oh, liebster Gilbert, von Deportationen und Enteignungen verstehe ich mehr als mir lieb ist. Aber man hört ja auch noch so einiges anderes, nicht eben unblutiges.“

„Schweig!“

Schallend schlug Gilbert mit den Händen auf die Tischplatte, sodass das Geschirr leicht schepperte und leichte Wellen sich auf der Oberfläche jeder Flüssigkeit bemerkbar machten. Rupert fauchte indes erbost auf, verweilte aber dennoch für den Moment auf den Schoß seiner Herrin.

„Worüber soll ich schweigen, Gilbert? Ich habe nur angedeutet, mehr nicht und wenn du weiter so krakelst, dann weckst du selbst bei geschlossener Tür Roderich, wenn nicht sogar das ganze Haus von deinem Gebell genauestens informiert wird. In einem Haus, wo im Erdgeschoß ein Spitzel wohnt, vielleicht nicht eben ratsam.“

Jedes Wort war mit einer Gelassenheit ausgesprochen worden, die an Arroganz grenzte und Gilbert wurde sich wieder mal bewusst, wie schnell sich alles ins Gegenteil wenden konnte.

„Setz dich wieder hin, Gilbert, und trink was. In manchen Momenten beruhigt da sogar Kaffee die Nerven.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, griff Salzburg nach der Kanne Kaffee und goss Gilbert eine weitere Tasse ein, bevor sie sich selber nachschenkte. Währenddessen löste der Angesprochene seine Hände von der Tischplatte und fuhr sich müde über das Gesicht.

„Woher weißt du das, was sich an der Ostfront ereignet?“ fragte er dann erschöpft nach.

Erst nach einen äußerst kritischen Blick stellte die Salzburgerin ihre Tasse ab und strich erneut über das schwarze Fell ihres Kater.

„Nur weil die Riege da oben glaubt, wenn sie uns mit Arbeit überhäufen, könnten sie jahrhundertalte Bande durchreißen, heißt das noch lange nicht, dass es auch funktioniert. Es gibt noch mehr, als die weltlichen Wege.“

„Tangino…“, murmelte Gilbert resigniert und dachte an den schönen Vertreter des ehemaligen Fürstentum Magdeburg. Vorsichtig und kaum vernehmbar nickte Salvatria, doch ihr Blick sagte mehr aus.

Gilbert verstand.
 

Die ehemaligen geistigen Fürstentümer waren machpolitisch und wirtschaftlich immer Rivalen gewesen, es sei denn, man hatte ihnen einen Grund geliefert ihr Differenzen beiseite zu legen und sich gegen einen zusammenzurotten. Das Ergebnis einer solchen Scharade fiel dann für den betreffenden meist recht ungünstig aus. An dieser Tatsache änderte auch nichts, dass Innozenz, als Vertreter Bremen-Hamburg sich vom Vatikan abgewendet hatte, ebenso wie Tangino.

Ihre gemeinsame Vergangenheit verband sie alle und dass diese Bande selbst in diesen Zeiten offenbar stark waren, wunderte Gilbert nicht im Geringsten.
 

„Wie geht es dem alten Schönling?“, fragte Gilbert beiläufig nach, um ein wenig Abstand zu seiner aufgewühlten Seele zu nehmen und gleichzeitig das festgefahrene Thema zu wechseln.

„Kannst du dir das nicht selber denken?“

Doch offenbar kam ihm Salzburg bei diesem Manöver nicht entgegen.

„Verdammt, Salvatria, sprich nicht in Rätseln. Ich war, wie du es schon treffen bezeichnet hast, mit Arbeit zugeschüttet, da hatte ich nicht wirklich Zeit mich um die Verwandtschaft zu kümmern.“

Kaum hörbar schürzte die Salzburgerin die Lippen bevor sie antwortete.

„Nun ja, als ehemalige geistige Fürstentümer und durch unsere Verbindung zu Bonifatius sind wir nicht eben die Lieblinge der Machthaber. Aber Tangino hat es immer verstanden mit Charme seinen hübschen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und nicht wie manch andere sich einsperren zu lassen.“

Ein fragender Ausdruck breitete sich über Gilberts Gesicht aus, während er stehend den Kaffee an den Lippen setzte. Salvatria entging diese Unwissenheit nicht, denn nach kurzer Zeit hackte sie von selbst nach.

„Du weißt wirklich nicht, was passiert ist, nicht wahr?“

Gilbert schüttelte den Kopf und ärgerte sich über sich selbst in letzter Zeit zu sehr von den Informationen anderer abhängig zu sein.

„Sie haben Ende letzten Jahres Agnes festgenommen.“

Für einen kurzen Moment prustete Gilbert ein wenig Kaffee, bevor er mit erstaunt geweiteten Augen sich der Salzburgerin wieder zu wandte.

„Tirol?“, krächzte er dann, immer noch ein wenig Kaffee hustend. Salvatria nickte und verwundert nahm Gilbert zu Kenntnis, dass sie nicht versuchte ihre Aussage mit den üblichen Sticheleien gegenüber der schwarzhaarigen Vertreterin zu unterstreichen.

Im Schnelldurchlauf verarbeite der Teil von Gilberts Hirn, welches sich schon für diese Höchstleistung im Stande fühlte, die gegebene Information. Agnes Temperament war dafür bekannt, selbst in den ungünstigen Situationen mit ihr durchzugehen, doch selbst wenn er die Tirolerin eben wegen ihres bissigen Wesens lieber gemieden hatte, so hatte Gilbert ihr für ihren Mut und Unerschütterlichkeit immer Respekt gezollt.

Ein wenig stärker als beabsichtigt stellte er seine Tasse ab.

„Warum?“

Gut, er konnte ahnen, dass Agnes vielleicht eine Aussage getätigt hatte, an welcher die neuen Machtinhaber nicht eben Gefallen gefunden hatten.

„Sie war unvorsichtig ihre Enttäuschung über die nicht Erfüllungen von Hoffnung bezüglich Südtirol nur all zu offen auszutragen, wenn du verstehst was ich meine, zudem noch dazu die neuen Gesetze zu den Bauern zusätzlich ihren Missmut erregten. Ihre Reaktion auf das Ganze gipfelte sich in einem recht ungünstigen Wutausbruch ihrer Seits gegenüber Ludwig. Nun ja und der hat mit Härte reagiert. Ich dachte, deswegen wüsstest du es.“

Mit ehrlicher Bestürzung blickte Gilbert die Salzburgerin an. Ludwig hatte Gericht über einer der Ihrigen gehalten.

Warum hatte er nichts davon mitbekommen?

„Was ist mir ihr?“

Salvatria antworte nur mit einem Schulterzucken.

„Ich weiß es nicht. Keiner weiß es, nicht einmal Katharina. Nach diesem ungünstigen Wutausbruch, in dem sie nach Aussagen Adelheids mit ihrem Schuh nach Ludwig geschmissen hat, hat sie niemand mehr gesehen.“

Eine Szene, die sich Gilbert nur all zu bildlich vorstellen konnte.

„Wer kümmert sich einstweilen um Tirol?“

„Meinst das Land?“

Für einen kurzen Augenblick ließ die Salzburgerin den Blick aus dem Fenster schweifen, hinter dem noch immer ein wolkenverhangener Himmel lauerte.

„Nun ja, Adelheid wurde von Ludwig als neue Vertreterin berufen. Schließlich wurde Vorarlberg mit Tirol zusammengelegt.“

Ein Schweigen etablierte sich für ein paar Momente zwischen ihnen, bis Gilbert das Gespräch wieder aufnahm.

„Und was ist mit Roderich?“

Diesmal lag das Erstaunen in den violetten Augen, während Rupert unter Schnurren seinen großen Schädel gegen die filigrane Hand seiner Herrin drückte.

„Wie meinst du das?“

Verärgert über so wenig Kooperation, wenn Gilbert sehr wohl erkannte, dass sie sehr wohl verstanden hatte, worauf er hinaus wollte, drängte er weiter.

„Verdammt, Salvatria, halte du mich diesmal nicht für einen Narren. Jeder Blinde, welcher deinen Bruder besser kennt, kann erkennen, wie neben sich Roderich steht.“

Beklommen wandten sich die Augen der Angesprochenen von ihm ab und betrachteten das Tier auf ihrem Schoß. Erst zögerlich legte sie sich eine Antwort zu Recht.

„Er ist an der Zeit zerbrochen.“

Wieder trat eine Sprechpause ein, in der Salvatria leicht in Gedankenversunken mit den Fingerspitzen das Kinn ihres Katers kraulte. Doch diesmal hütete sich Gilbert das Schweigen zu brechen.

„Wir tragen alle unsere Schuld an Roderichs Zustand. Wir haben ihn gemeinsam zu Grunde gerichtet. Sowohl als Land, wie auch als Person.“

Salvatira blickte zu ihn mit einem düsteren Blick auf. Etwas hinter ihrem Blick gefiel dem Preußen überhaupt nicht. Leicht beunruhig nahm er seine Kaffeetasse wieder in die Hand

„Gilbert, weißt du wie man uns effektiv umbringen kann?“

Erstaunt über solch eine Frage hob der Angesprochene den Kopf. Der mitschwingende Klang ihrer Stimme beunruhigte ihn. Vielleicht lag es daran, dass sie ihm im ersten Moment an Ivan erinnerte, wenn diese irre Saufnause irgendeine, mit größter Wahrscheinlichkeit vom Inhalt her nicht gewaltfreie Aussage äußerte.

Innerlich schüttelte es Gilbert.

Nein, er wollte sich in diesem Moment nicht eben mit dem irren Fantasien eines Repräsentanten auseinander setzten, dessen Seele am Zwiespalt seiner Monarchen und ihrer Untertanen zerbrochen war.

„Wie kommst du zu solch einer Frage?“, fragte er dann nach, wobei ihm der seltsame Ausdruck in den violetten Augen nicht entging. Als würde sie an der stattfindenden Konversation nicht teilnehmen, sondern die Antwort mehr für sich selber gelten, unterband Salvatria bei den folgenden Worten jeglichen Blickkontakt.

„Wusstest du, dass Roderich, nach dem letzten Krieg daran gedacht hat sich umzubringen?“

Der Würgereflex kam unerwartet und wenig manierlich versprühte Gilbert den Kaffee über den Tisch, an welchen er noch vor kurzem gedankenverloren genuckelt hatte.

„Wie bitte?“

Wortlos reichte ihm Salvatria das Geschirrtuch. Mit fahrigen Bewegungen fuhr sich Gilbert mit dem Textil über den Mund. Als er das Tuch über die Lehne seines Stuhles legte, sprach Salzburg weiter.

„Wir müssen uns selber im Augenblick größter Not und Verzweiflung die Hand zum Todesstoße führen.“

„Selbstmord.“, flüsterte Gilbert geistesabwesend, während die Braunhaarige ihren Blick abermals aus dem Fenster schweifen ließ, den Blick immer noch leicht verklärt.

„Ich kann Roderich verstehen, ich war 1806 in der gleichen Verfassung wie er. Damals, als Roderich mir persönlich die Nachricht meines Herrn über seinen Rücktritt und meine Auflösung als selbständiges Fürstentum überbrachte, zerbrach meine Welt in tausend einzelne Teile. Ich war im wahrsten Sinne am Boden zerstört und spielte mit dem Gedanken mein Leben aus eigener Hand zu beenden.“

Gilbert wollte schon bissig und bedauern nachfragen, was sie einst davon abgehalten hatte, doch der Anstand, auf den er sich noch vor kurzem berufen hatte, hinderte ihn daran.

Vielmehr schaffte er durch den benutzten Unterton erneut höfliche Distanz zwischen ihnen.

„Und was hat dich einst davon abgehalten?“

Ein kurzes Lächeln huschte über die schmalen Lippen der Frau.

„Meine Brüder. Sie überzeugten mich von der Mauer von Hohenwerfen wieder hinunter zu steigen.“

„Und was war mit Roderich?“

Schneller als er es vorgehabt hatte, wechselte er zu dem Aspekt, welcher Gilbert ernsthaft interessierte. Der Ernst kehrte wieder auf dem Gesicht der Salzburgerin zurück.

„Ich glaub, du kannst dir auch der Tatsache zum Trotz vorstellen, wie am Boden zerstört Roderich war, als das Reich der Habsburger zerteilt worden war.“

Unter leisen Schaben zog Gilbert den Stuhl wieder zu sich.

„Als viele der Nationen sich von ihm abwandten, welche mit ihm seit Jahrhunderten verbunden gewesen waren, zerbrach sein Selbstvertrauen. Er hatte die letzten Jahrhundert verlernt auf sich selbst zu bauen und uns, seinen Schwestern, zu vertrauen. Er hielt sich einfach nicht für lebensfähig und viele teilten seine Meinung.“

Abwesend nickte Gilbert. Er war in diesen Zeiten selten im Süden gewesen, hatte zu diesen Zeiten mehr mit den Folgen des Versailler Vertrag zu kämpfen, aber die Bestrebungen der einzelnen österreichischen Länder sich seinem kleinen Bruder anzuschließen, waren auch ihm trotz all des Ärgers dieser Zeit nicht entgangen.

„Wir selber waren einst so blind gegenüber seinem geistigen Zustand, dass wir ihn dabei fast verloren hätten. Doch dann ging es wieder ein wenig bergauf. Die damalige Regierung versuchte alles, um Roderich wieder aufzubauen. Eine neue Generation wuchs heran, bis uns die Schwierigkeiten, welche nie ganz aufgehört haben, erneut mit voller Wucht einholten. Sein geistiger Zustand, welcher zu dieser Zeit stabil schien, zerbröckelte unter unseren Augen. Nun ja und mit dem Anschluss mit all seiner Streichung was Roderich ausmacht, wie auch seiner Aberkennung, was er ist… das alles gab seiner Psyche wohl endgültig den tödlichen Stoß. “

Vorsichtig suchte sie den Blick seiner roten Augen und hinter den Nebel der violetten Iris erkannte Gilbert, dass Salzburg diese Erfahrungen noch nicht gänzlich überwunden hatte.

„Gilbert, ich glaub mein Bruder stirbt eben innerlich.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
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