Zum Inhalt der Seite

Can´t cange it

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der neue Mitschüler

An diesem morgen ging einfach alles schief. Erst hatte ich den Wecker nicht gehört und musste ohne Frühstück aus dem Haus, dann fing es noch an zu regnen – muss ich erwähnen das ich keinen Regenschirm dabei hatte - und mein Fahrrad hatte einen Platten, so das ich es die letzten Meter zur Schule schieben musste.

Ich, Yuri Shibuya, 16 Jahre alt, hatte heute einen meiner schlimmsten Tage.

Es war eine Minute vor Schulbeginn, als ich schnell aus meinen Schuhen schlüpfte und in die Klasse stürmte. In Rekordzeit erreichte ich meinen Tisch, registrierend, das Murata mich schief angrinste, als würde er denken, Gott, was für ein Kind du doch noch bist und – um einen Tisch direkt hinter Murata und schräg hinter meinem am Fenster, hatten sich alle Mädchen versammelt und redeten aufgeregt durcheinander. Was war da denn los?

Im gleichen Augenblick als ich mich setzte kam die Lehrerin rein und scheuchte sofort meine Klassenkameradinnen auf ihre Plätze. Jetzt konnte auch ich sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein blonder Junge, ja blond, sogar goldblond mit grünen Augen saß dort und wirkte extrem gelangweilt.

Nach der allgemeinen Begrüßung wurde der Neue vor die Klasse gerufen und als Wolfram von Bielefeld vorgestellt. Die Mädels konnten sich nicht beherrschen und kicherten, sogar von den Jungs hörte ich den einen oder andern Seufzer. Vermutlich vor Neid. Der blonde Ausländer sprach zu meiner Überraschung zwar ohne jeden Dialekt und fließend unseres Sprache, schien jedoch sehr eingenommen von sich selbst, falls er überhaupt Fragen beantwortete und sie nicht mit einem Augenrollen einfach ignorierte.

Plötzlich traf sein Blick den meinen. Natürlich, ich schaute ihn auch an wie alle andern eben, er war schließlich ein Ausländer und neu in der Klasse, das hatte man ja nicht alle Tage. Aber aus irgendwelchen Gründen drehte er dann nicht nur seine Augen sondern gleich noch seinen ganzen Kopf zu mir. Weitere Fragen an ihn ignorierend fragte er stattdessen selber mit einem Kopfnicken zu mir, und geröteten Wangen: „Wer ist das?“ Aufgrund des rüden Tonfalls wurde ich nun selbst rot, und ich wandte mich dem unterdrückten Kichern zu, nur um zu sehen, das Murata sich den Bauch halten musste, als auch eine Hand auf den Mund presste, um nicht laut loszulachen. Verärgernd und peinlich berührt wandte ich mich dem Blonden zu , aber bevor ich fragen konnte warum er das wissen wolle, und was es ihn überhaupt anginge antwortete meine Lehrerin schon, „das ist dein neuer Mitschüler Yuri Shibuya.“ Na gut, damit war die Sache wohl erledigt dachte ich, aber da machte der Blonde auch schon wieder den Mund auf und sagte, „gut, dann wird es ja doch noch ganz interessant“ und nickte wie um seine eigenen Worte zu bestätigen. Das war der Knoten, der bei Murata platzte, so dass er sich nicht mehr beherrschen konnte und laut heraus lachte.

Ich verstand nicht ganz, was eigentlich los war, fühlte mich aber seltsam peinlich berührt.

Der Blonde ging zufrieden zu seinem Platz zurück, obwohl ihn die Lehrerin noch gar nicht entlassen hatte, bekam aber keine Rüge. Anscheinend war er trotz seiner Aussprache im Ausland aufgewachsen und genoss fürs erste Sonderrechte. Ich schaute währenddessen Murata mit möglichst bösem Blick an, der sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, und wandte mich dann dem Unterricht zu, als ich spürte, jemand guckt mich an. Um herauszufinden woher der Blick in meinem Nacken kommt, drehte ich mich um, nur um genau in die grünen Augen des blonden Schönlings zu sehen, jeez was für ein Problem hatte dieser Typ mit mir. Murata, dem das natürlich mal wieder nicht entgangen war, hatte schon wieder alle Mühe sein kichern zu unterdrücken. Ich beschloss, ihn später zur Rede zu stellen. Ich wollte wissen, was mein sogenannter bester Freund so komisch fand.

Entführung

In den nächsten Stunden stellte sich heraus, das der Neuling jede Frage die an ihn gestellt wurde richtig beantworten konnte, egal in welchem Fach. Allerdings tat er das in einem äußerst unhöflichen Tonfall, als wäre er genervt wie ein Hochschulprofessor in der 1. Klasse Grundschule und beteiligte sich nicht von selbst am Unterricht.

Endlich war es Zeit zum Mittagessen. Man erinnere sich, ich hatte schon kein Frühstück. Ich beeilte mich, um in den Speiseraum - na gut, in die Mensa - zu kommen und setzte mich mit Murata wie immer an einen Tisch. Murata und ich hatten uns Burger, Pommes und Coke genommen. Gerade als ich in meinen Burger beißen wollte, setzte sich Wolfram von Bielefeld mit seinem Tablett ungefragt zu uns an den Tisch.

"Hi", sagte er lapidar, dieser Mensch hatte soziale Probleme.

Murata begrüßte ihn aber freundlich, und stellte sich selber vor. „Yuri kennst du ja schon“, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

„oh ..ja“, meinte der Angesprochene und schaute mich mit einem seltsamen Glanz in den Augen an.

Nicht an soviel Aufmerksamkeit gewöhnt, verschluckte ich mich irgendwie und griff hustend nach meiner Cola, nur um sie gleich wieder auszuspucken, als der Blonde fortfuhr. „Warum sitzt ihr beide so nah beisammen?“

„Findest du?" fragte Murata, „wir sind aber nur Freunde, nichts weiter."

„Was soll das?“ wollte ich von Murata wissen, während ich mein Tablett mit einer Serviette sauber wischte.

„Was soll das denn heißen, stimmt es etwa nicht?“ mischte sich der Blonde ein. Seine Stimme klang gefährlich leise. Um mein Leben fürchtend beeilte ich mich zu sagen „Doch, oh doch, es stimmt, es ist so wie Murata sagte."

Wolfram entspannte sich wieder, und begann zu essen, mir dagegen war aus irgendwelchen Gründen der Appetit vergangen. Ich musste mich mit jedem Bissen quälen, während Murata freundlich mit Wolfram weitersprach. Ich hörte zwar nur mit halbem Ohr zu, bekam aber mit, das Wolfram alleine wohnte in einer wirklich bekannten und vornehmen Gegend, so dass ich mich fragte, warum er nicht auch noch Privatlehrer hatte.

„Warum hast du keinen Privatlehrer?“ fragte Murata, der offensichtlich den gleichen Gedanken hatte wie ich.

„Nun", begann Wolfram und fing an unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, „also um ehrlich zu sein, meine Mutter hat niemanden gefunden, der mir noch Privatunterricht geben möchte." Ich nickte verstehend, aber Wolfram fuhr fort „meine letzten Lehrer nun, ihnen ist etwas zugestoßen.“

Okay das war´s, ich spuckte den Bissen wieder aus, bevor ich mich nochmal verschluckte, stand auf und sagte, das ich mit essen fertig sei und zurück in die Klasse ginge. Wolfram und Murata sahen mir beide überrascht hinterher. Aber mir war das herzlich egal. Ich hatte plötzlich dieses seltsame Gefühl als hätte sich mein Leben heute irgendwie verändert.

Die letzten beiden Schulstunden beachtete ich weder Murata noch Wolfram oder sonst wen, ich wartete nur ungeduldig auf den Klingelton, rief Murata ein bis morgen zu, und machte mich auf zu meinem Rad um nach Hause zu fahren. Ja, zu hause da war sicher noch alles normal. Bei meinem Rad angekommen musste ich jedoch feststellen, das der Reifen immer noch platt war , er hatte sich also nicht wie durch ein Wunder von selbst wieder repariert, wie auch. Ich ergab mich meinem Schicksal und holte das Werkzeug aus der Satteltasche. Noch während ich den Reifen abschraubte hörte ich Schritte. Ich musste mich gar nicht umdrehen um zu wissen, das es Murata und jawohl und Wolfram waren. „Komm Shibuya ich helfe dir“, bot Murata an, „nicht nötig“ mischte sich der Blonde sofort wieder aufdringlich ein. Er winkte ein Taxi heran das auch sofort anhielt und sagte dem Fahrer, „heben sie das Rad in den Kofferraum."

Bevor ich Einspruch erheben konnte war mein Rad auch schon im Kofferraum des Taxis verschwunden und Lord von Bielefeld im Innern des Wagens. Ungeduldig sah er zu mir rüber, so als wäre es das normalste der Welt, das ich ihm zu folgen hätte. Murata´s Mundwinkel begannen wieder verdächtig zu zucken, dann aber klopfte er mir recht mitleidig auf die Schulter und meinte, „na dann bis morgen Shibuya." Ich setzte mich ins Taxi und bevor ich die Tür zuschlug drehte Murata sich nochmal um , rief „Viel Spaß“, und radelte davon. Meine Laune war jetzt vollends im Keller und ich wollte dem Taxifahrer zurufen, wo er mich raus lassen sollte, als sich ein Arm leicht um meine Schulter legte, und Wolfram sagte „ich weiß wo dein Haus wohnt."

"Huh, woher denn?"

„Murata hat es mir gesagt", erklärte er mir.

Aber das eigentlich Unheimliche war Wolframs Veränderung. Seine Stimme klang irgendwie freundlich-verspielt, seine Augen, nein sein ganzes Gesicht schien freudig zu strahlen.

Ich sah betreten nach vorne und wünschte, Wolfram würde den Arm wieder wegnehmen und weiter wegrutschen. Mein ganzer Körper verkrampfte sich und ich versuchte mich von dieser unangenehmen Situation abzulenken, indem ich in meinem Kopf sämtliche Englischvokabeln alphabetisch durchging die ich kannte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich zu dem Begriff „sensual" und registrierte das irgendetwas Falsches vor sich ging. Wolfram saß nun quasi Knie an Knie bei mir während seine Hand meinen Oberarm streichelte. Obwohl ich wusste, das ich ohnehin schon ganz dicht an die Tür gepresst saß, schaute ich mich dennoch hilfesuchend um, und – tja, die Gegend kannte ich auch nicht. Ich fing an zu stottern „W W W Wo...“, als Wolfram sagte „hier wohne ich“ und das Taxi wie auf Kommando zum stehen kam.

Allein zu Haus

Normalerweise wäre ich jetzt aus dem Taxi gesprungen, hätte den Kofferraum aufgebrochen, mein Fahrrad raus geholt und wäre, zum Einradfahrer mutiert, davon geradelt, so schnell wie nur möglich. Stattdessen blieb ich einfach nur sprachlos sitzen. Ich wusste zwar, dass hier die Reichen wohnten, aber mit so was hatte ich nicht gerechnet. Der Garten war riesig und gepflegt, alle möglichen Sorten von Blumen blühten hier, Blumen, die ich noch nie gesehen hatte, die Hecken waren zu Kunstwerken zurechtgestutzt worden, vom Fantastischen wie einem Einhorn bis hin zum Abstrakten, was auch immer es sein sollte, war alles vorhanden, und der Rasen war von einem satten und gesunden Grün. Das Haus selbst sah aus wie das Nebengebäude eines Schlosses und unwillkürlich ertappte ich mich dabei, wie ich nach eben jenem Ausschau hielt. „Und?“ wurde ich gefragt. Ach ja, Wolfram, ich drehte mich zu ihm, wollte fragen, hier wohnst du echt alleine, aber zu meiner Überraschung schien er noch näher zu sitzen, was ich eigentlich nicht für möglich gehalten hatte. Aber nun saßen wir praktisch Nase an Nase, seine Augen waren so verdammt nahe und hielten meinen Blick fest. Unfähig mich zu bewegen spürte ich, wie mein Herz gegen meine Brust hämmerte. „Gefällt dir, was du siehst?“

Verdammt. Ich öffnete schnell die Tür, um noch schneller auszusteigen, was gar nicht so einfach war mit dem Arm um meiner Schulter und bemühte mich um einen möglichst lässigen Tonfall als ich sagte:“ Tja, ne coole Bude hast du da." Was dachte sich Wolfram nur. Merkte er nicht, dass es missverstanden werden könnte, wäre ich sitzen geblieben ihn anstarrend aus der Entfernung, äh Nähe und hätte Ja geantwortet. Naja, ich war ja nicht so weltfremd wie alle dachten. Ich wusste schon, dass Eskimos die Nasen aneinander rieben um Hallo zu sagen, und die Russen küssten sich sogar zur Begrüßung. Das hatte ich im Fernsehen gesehen. Da ich hinter mir hörte, wie mein Rad aus dem Kofferraum geholt wurde, lief ich schon mal auf den Eingang zu. Ich musste Wolfram unbedingt beibringen, das wir das in Japan anders handhabten. Am besten gleich heute. Als Ausländer hatte er sich doch ein wenig anzupassen und eine Verbeugung oder ein einfacher Händedruck waren sicher nicht zu viel verlangt. Ja, mein Unbehagen war vollkommen verschwunden, stattdessen fühlte ich mich aufgrund meiner selbstlosen Hilfsbereitschaft richtig gut. Na ja, vielleicht nicht ganz so selbstlos, korrigierte ich mich. Murata und ich würden ihm schon zeigen, wie man sich zu benehmen hatte. Warum hatte er nicht von Anfang an gesagt, was er wirklich von mir wollte? Gedacht, gesagt. Er schaute mich verblüfft an. Dann wurde er wieder rot und säuselte: „Yuri, das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht.“ „Wieso denn nicht, ich helfe gern." „Was meinst du mit helfen? Als ob ich das nötig hätte. Und – wir haben doch beide etwas davon." Er hakte sich bei mir unter. Ich konnte es nicht ändern, der Junge verwirrte mich mit jedem Satz, mit jeder Handlung. Mein Fahrrad lehnte schon am Zaun und Wolfram wedelte den Taxifahrer davon ohne zu bezahlen. „Hey, willst du dem Mann nicht sein Geld geben." „Kriegt er doch jeden Monat." „Wie, jeden Monat." „Aber Yuri, natürlich ist mein Chauffeur Konrad fest angestellt mit allen Sozialabgaben und so weiter. Für was hälst du mich?“ Das wusste ich im Moment selbst auch nicht zu sagen. Stattdessen fragte ich, „wieso fährt dein Chauffeur ein Taxi?“ „Ach, er verdient sich nebenbei noch was dazu, vergiss das doch jetzt. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen." „Zum Beispiel?“

Plötzlich wollte ich die Antwort gar nicht mehr hören und stieg die Marmortreppe mit krummen Rücken hoch. „Kannst du nicht alleine laufen?“ War er vielleicht krank, dass er sich so schleppen ließ? Ohne zu antworten, ließ er mich los, kramte umständlich den Schlüssel aus seiner Schuluniform und schloss auf. Drinnen warf er seine Tasche achtlos in die Ecke und behielt, wie erwartet, die Schuhe an als er mich in das irrwitzig teuer aussehende Wohnzimmer führte. Dort stand auch schon ein Telefon. „He, Wolfram“, setzte ich an, als ich den Hörer abhob, „wäre es nicht viel einfacher gewesen, wenn Konrad mich nach Hause gefahren hätte, nachdem er dich abgesetzt hat?“ Ich hoffte, jemand war bei mir zuhause. Wolfram kam plötzlich mit schnellen Schritten auf mich zu. Seine Augen blitzten mich wütend an. „Was hast du eigentlich ständig mit Konrad?“, fragte er ungehalten. „Wie? Ich hab nichts mit Konrad, ich meinte doch nur..." Ich stockte. Der Typ machte mir langsam Angst, und ich war hier ganz allein mit ihm.

Romantik, Erdbeersaft und Harry Potter

Der Typ machte mir langsam Angst. Und ich war ganz allein mit ihm. Wolfram durchschaute mich. Er drehte sich um und ging zu der orangefarbenen Ledercouch. „Komm Yuri“, rief er, „setz dich bitte!“ Meinen Ohren nicht trauend folgte ich ihm. Hatte er „bitte“ gesagt? „Aber meine Eltern und mein Bruder werden sich Sorgen machen, wenn sie nichts von mir hören“, protestierte ich schwach. „Nun, sie sind nicht zu Hause. Yuri, hast du einen Schlüssel?“ „Wieso willst du das wissen?“ Allmählich reichte es mir mit diesem blonden Engel, der innerlich ein Teufel war. Augenblick mal, was dachte ich da überhaupt? „Na ja, ich dachte, wenn sie öfters nicht zu Hause sind, wenn du von der Schule kommst, und du mit dem Schlüssel reingehst...“ Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich nahmen sie an, das ich schon längst zuhause war. Anscheinend wurde ich langsam paranoid. „Du hast recht. Sie werden denken, ich sitze zu Hause auf der Couch und ziehe mir einen Film rein.“ „Fein, dann machen wir genau das, um wie viel Uhr kommt bei dir einer?“ „Heute leider erst spät. Meine Mutter trifft sich mit ihren Freundinnen, mein Bruder schläft im Studentenheim und mein Vater arbeitet Mittwochs immer bis um acht Uhr.“ „Aber das ist ja phantastisch. Lass uns einen Film ansehen. Konrad bringt dich um halb sieben nach Hause.“ Ja, das klang gut, sehr gut sogar. Nicht unbedingt phantastisch, aber ich wollte gerne... Stopp... es war okay bei meinem Freund....Nein....“Hast du einen Lieblingsfilm?“ „Nichts Bestimmtes. A..A..Aber kein romantisches Zeug. Eine Actionfilm vielleicht, oder lieber ein Kriegsfilm. Vielleicht wäre ein Horrorstreifen das Beste“, stotterte ich vor mich hin. Was war bloß los? Wolfram grinste. „Mal sehen, was ich da habe." „Okay." Ich setzte mich auf die weiche Couch. Sie war nicht nur orange, sie roch auch nach Orangen. War das ein Duftspray? „Hey, Wolfram." „Ja?“ „Du wohnst nicht ehrlich hier ganz alleine, oder?“ „Doch, aber ich hoffe, nicht mehr lange“, zwinkerte er mir zu. Schon wieder. Meine Ohren wurden heiß und mein Herz fing an zu pochen, als hätte ich einen 100-Meter-Lauf bei praller Hitze hinter mir. Er kicherte:“Spaß beiseite“, und während mir ein Felsbrocken, nein sogar ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel fuhr er fort „ich habe ein paar Angestellte, aber die wohnen nicht hier. Wenn ich nach Hause komme, möchte ich die nicht sehen." Oho. Die Leute taten mir ungesehen leid, aber sie verdienten wahrscheinlich gut. Ich war wieder ruhig. Wolfram hatte es selbst gesagt, das war seine Art Spaß zu machen. Wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte, konnte man bestimmt sogar gut mit ihm auskommen. Entspannt lehnte ich mich zurück und genoss sogar, ein bisschen verwöhnt zu werden. Wolfram stellte ein rosafarbenes Getränk in einem Glas mit Goldrand vor mir auf den Tisch. Es roch nach Erdbeere. Sicher ein Erdbeersaft aus seinem Heimatland. „Woher kommst du eigentlich?“ „Glaubst du, du kannst das in einem Zug austrinken?“ fragte er, anstatt mir eine Antwort zu geben. Ja, das war mir auch schon bekannt. Manche Fragen ignorierte er. Das wusste ich aus der Schule. Vielleicht dachte er, das es mich nichts anginge oder...“Geht mich das nichts an?“ „Wie?“ „Du gehst in meine Klasse, wir waren im selben Taxi, und ich sitze in deinem Haus, glaubst du es ginge mich nichts an?“ Was faselte ich da überhaupt? Ich rieb meine Stirn und dankte Gott, dass Murata nicht da war. „Wenn du es schaffst, das Glas in einem Zug zu trinken, sage ich dir, wo ich herkomme." Wie kindisch. Warum sollte ich nicht ein Glas Erdbeersaft in einem Zug austrinken können, auf einmal merkte ich, welchen Durst ich hatte, und wo du herkommst interessiert mich überhaupt nicht. Meine Mutter hatte mich mit sehr viel Liebe großgezogen und mir Manieren beigebracht. Wolfram fehlten die. Wahrscheinlich war seine Mutter irgendeine berühmte Schauspielerin, immer auf Achse, oder ein Fotomodell, wenn man schon so einen gutaussehenden Sohn hatte, wie sah dann erst die Mutter...nicht schon wieder. Ich nahm kurzerhand das Glas und trank es in einem Zug leer, was war schon dabei?! Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund, und schluckte immer wieder trocken, das war ja...PURER Alkohol. „Ich komme von weit her." „WAS?“ keuchte ich. „Wir hatten doch einen Deal." Gott, der hatte Nerven. Na warte. Dir zeig ich´s. „Was ...was hast du dir DABEI denn gedacht, bist du verrückt geworden, was ist überhaupt los mit dir, Ausländer hin oder her – ganz egal wie niedlich du aussiehst, ich will...“ sofort nach Hause, wollte ich eigentlich sagen, brachte aber keinen Ton mehr raus, realisierend, das ich grade zu einem Jungen gesagt hatte, er sähe niedlich aus. Ich bekam kaum mit, wie er eine Kassette in den Recorder schob, ihn einschaltete und sich dann viel zu dicht neben mich setzte. Ich rutschte weiter weg und Wolfram sagte beim nachrutschen „Keine Angst, Yuri. Mir gehts auch so.“ „Was geht?“ „Ich will auch“, sagte er viel zu leise und beugte sich zu mir. „Du hörst nur, was du hören willst, oder?“ stellte ich fest. Die Titelmusik von „Harry Potter“ lenkte mich ab. „Du hast Harry Potter ausgesucht?“ „Alles was du willst, Yuri. Romantik, Action, Horror...“ Hatte ich nicht gesagt, kein Liebeszeug? Und Horror – eher weniger.

War es der Alkohol oder doch eher Wolfram?

Wieder dicht neben mir klebend und einen Arm um meiner Schulter sahen wir uns zusammen den Film an. Es kam gerade die Stelle mit dem Troll, als ich merkte, mein Oberarm wurde wieder gestreichelt. Wolframs Hand fuhr über meinen Bizeps. „Du machst Sport?“ sagte er so leise das ich es kaum hörte, obwohl er mir praktisch direkt ins Ohr flüsterte. „Ja, ich bin im Baseballteam“, verkündete ich stolz. Wenn das sogar einem Jungen auffiel, dann merkten die Mädchen sicher erst recht, wie durchtrainiert ich war. „Außerdem nehme ich nie den Bus, sondern immer das Fahrrad“, prahlte ich, „aber das weißt du ja." Wolfram kicherte. Ich fühlte mich von dem Alkohol irgendwie – betrunken. Als Harry Potter auf seinem Besen flog um den alten Schlüssel zu fangen, fühlte ich etwas noch seltsameres, was vor sich ging. Ich sah nach unten. Diesmal streichelte Wolfram meinen Oberschenkel. Ich sah ihn an, er sah mich an. Unfähig mich zu bewegen oder was zu sagen kam es mir vor als sei ich nur ein Zuschauer der Szene, von zwei Jungs die auf einer orangefarben Couch dicht nebeneinander saßen. Sein Blick hielt mich fest, als er sich zu mir lehnte, seine Lippen kamen meinen immer näher und ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Irgendwo in meinem Kopf schrie eine Stimme vergeblich „lauf weg, stoß ihn von dir und lauf weg." Kurz vor meinem Mund drehte er den Kopf zur Seite, biss mir ins Ohrläppchen, küsste meinen Hals, öffnete seinen Mund und ich spürte, wie seine Zunge über die dünne Haut meines Halses fuhr. Seine Lippen legten sich auf ihn und fingen an zu saugen, während er mir einen Schauer nach dem andern den Rücken runter jagte, durch den ganzen Körper. Er tat was er wollte, und ich konnte mich nicht bewegen, nicht mal ein Stöhnen unterdrücken. Ich war nicht sicher, aber ich glaube, es war schon die Stelle, wo Potter vor dem Spiegel stand, als Wolfram endlich aufhörte, und mich stattdessen küsste, so dass ich hintenüber und von der Couch kippte. Endlich konnte ich mich wieder bewegen und stand auf, nur was zum Teufel sollte ich sagen. Mir war schwindlig ohne das ich hätte sagen können, war der Erdbeersaft schuld oder doch eher Wolfram. Das war – einfach – heiß. Wolfram stand jetzt auch auf, legte seine Hände auf meine Schultern, und drückte mich wieder auf die Couch. War es Glück, Schicksal oder schlechtes Timing, als er sich über mich lehnte, schellte die Türklingel. Ich war immer noch benebelt. Erst als ich sah, wie aus dem Bilderbuchengel wieder ein wütender Snob wurde, der erzürnt zur Tür stapfte, kam ich wieder zu mir. Sah wieder klar. Ich hörte Wolfram wie er die Tür öffnete und fauchte: „Was willst DU hier?“ „Es ist gleich acht Uhr“, sagte eine bekannte Stimme. Der Taxifahrer. Wolfram fing an zu fluchen. Nein, ich war immer noch nicht klar im Kopf, ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte, obwohl die Antwort doch auf der Hand lag. Also lag es doch am Alkohol. Ich hätte nie gedacht, das man von einem Glas Likör derart trunken äh betrunken sein würde. Ich nahm meine Tasche, ging zur Garderobe, zog die Schuhe an, bemerkte, das mein Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft war, knöpfte es zu, hörte die ganze Zeit wie durch einen Schleier Wolframs Stimme ohne ihn zu verstehen und sagte zu Konrad „Bin fertig." Zu Wolfram sagte ich „tschau“, aber ich konnte mich selbst nicht hören, und vor allem keinen der beiden ansehen. Ich war davon überzeugt, das Konrad mir ansah, was ich getan hatte, bzw. Wolfram tun ließ. Erst als ich im Taxi saß, in sicherer Entfernung, wagte ich einen Blick zu Wolfram, der noch in der Tür stand. Der winkte mir fröhlich zu, als wäre alles ganz normal.

Der Knutschfleck

Ich lag ausgestreckt auf dem Bett in meinem Zimmer. Sogar die Schuluniform trug ich noch. In meinen Gedanken lies ich die letzte halbe Stunde nochmal Revue passieren. Auf der Fahrt hatte Konrad immer wieder ein wenig smalltalk mit mir zu halten versucht. Dabei war er weder aufdringlich gewesen, sondern im Gegenteil sehr freundlich und natürlich. Leider war mir aber überhaupt nicht danach, und Konrad schwieg schließlich, bis er vor unserem Haus anhielt. „So, da wären wir“, er nickte mir lächelnd zu. Er hatte dieses Lächeln, wo man automatisch selbst lächeln musste, auch wenn man nicht wollte. „Vielen Dank." Ich stieg aus, verbeugte mich nochmal und ging zur Hintertür, während ich hörte, wie er wieder davon fuhr.
 

Eigentlich wollte ich mich unbemerkt in mein Zimmer schleichen, aber auch an der Hinterfront war alles dunkel. Noch keiner da, was für ein Glück. Die Hintertür war nie abgeschlossen, meine Mutter hatte keine Angst vor Einbrechern und auch mein Vater meinte, dass falls ein Dieb kommen sollte, das eigentlich überhaupt nicht so schlecht wäre. Er würde sicherlich Mitleid haben und, bevor er wieder ging, ein wenig Geld für uns auf dem Tisch zurücklassen. Natürlich war das maßlos übertrieben, aber im Vergleich zu Wolfram´s Wohnung...
 

Ich ging hinein, und ohne das Licht anzumachen gleich hoch in mein Zimmer. Hier lag ich jetzt also, und verstand nicht, was da vorhin überhaupt passiert war. Ich mochte Mädchen, ich wusste ganz genau, das ich absolut straight war, also wieso – komm mach dir nichts vor – wieso hatte mir das gefallen? Noch dazu hatte ich Wolfram heute das erste Mal gesehen und – „Oh Gott“, schrie ich auf und saß plötzlich kerzengerade auf meinem Bett, als mir einfiel, das ich ihn morgen in der Schule wiedersehen würde.
 

„Klick." Die Vordertür wurde gerade aufgeschlossen. Das musste mein Vater sein. „Aber Schatz, du weißt doch, dass ich mit meinen Kunden auch zum essen gehen muss. Das fördert die soziale Beziehung." „Mit deinen Kunden? Seit wann ist deine Sekretärin dein Kunde?“ wütete meine Mutter. Also waren sie beide da. „Nun, während ihr euch streitet, werde ich mal nach Yu-chan sehen." Das war Shori. Musste das sein? „Tu das, Sho-chan, und sag ihm, es gibt noch was zu essen“, die Stimme meiner Mutter klang wieder freundlich.
 

Ich hörte, wie mein älterer Bruder die Treppe hochkam und überlegte panisch, was ich tun sollte. Am besten mich schlafend stellen – nein, das ging nicht, ich hatte ja diese dämliche Schuluniform noch an – aber Moment mal, das war´s. Schnell stieg ich aus dem Bett, um mich umzuziehen. In diesem Moment ging auch schon die Tür zu meinem Zimmer auf, und Shori kam ohne anzuklopfen herein. „Geh sofort raus“, rief ich, „du siehst doch, das ich mich gerade umziehe." Shori schien überrascht. „Bin eben erst nach Hause gekommen, ich war noch bei einem Freund nach der Schule zum lernen und jetzt geh raus." Shori seufzte wie so oft in letzter Zeit „Warum nur habe ich keine süße Schwester, die ich verwöhnen und beschützen könnte. - Ich bringe dir ein Sandwich hoch.“
 

Eigentlich war er zu meiner Erleichterung schon so gut wie aus der Tür, als er herumwirbelte, und mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen ansah. „W..W...Was ist denn?“ stotterte ich nervös. Stand vielleicht „gay“ auf meiner Stirn? „D..D..Da“, stotterte Shori ebenso und wies mit zittertem Finger auf mich. Was war los? Wegen meines schlechten Gewissens machte mich Shori´s seltsames Verhalten extrem nervös. Nicht, das er sich nicht immer merkwürdig verhielt, aber...“Was hast du denn?“ Meine Stimme war eine Spur zu schrill. „D...D...Da." Schon wieder. Er kam so schnell auf mich zu, das ich unweigerlich zurückwich, und bückte sich immer noch mit entsetztem Gesicht zu mir runter. „Y..Y..Yu-chan, was hast du da an deinem Hals?“ Wie? „Erklär mir das!“
 

Sein Blick war jetzt gefesselt von irgendwas an meinem Hals. Leichte Panik überkam mich. Was stimmte denn nicht mit meinem Hals? „Wovon redest du überhaupt? Shori, du machst mir Angst." Er packte mich am Arm und schleifte mich ins Bad. Vor dem Spiegel stehend konnte ich jetzt selbst die Bescherung sehen. Es war doch keine so gute Idee gewesen mich umzuziehen, denn auf meinem Hals prangte, für alle sichtbar, ein riesiger, ja fast schon multidimensionaler, immerhin handtellergroßer blauer Fleck. Erschrocken sprang ich zurück, und wäre fast gefallen, hätte Shori mich nicht aufgefangen. „So was habe ich noch nie gesehen“, flüsterte ich fassungslos. „Ich auch nicht“, klang Shori jetzt eher verärgert. „Erklär mir das. Sofort!“
 

Erklär ihm das, wenn ich nur mal wüsste, wie. „Wolfram hat echt ganze Arbeit geleistet“, dachte ich verbittert und musste dabei sogar schief grinsen. „YU-CHAN“, brüllte Shori plötzlich wieder los. „Hast du etwa getrunken?“ Auch das noch. Bei dem Knutschfleck hätte ich vielleicht noch seine brüderliche Unterstützung und Verschwiegenheit gehabt, auch wenn ich ihm nie gesagt hätte, das der von einem Jungen stammte, aber das er den Alkohol gerochen hatte machte die Sache komplizierter. Wenn mir nicht eine gute Begründung einfiel, war ich geliefert.

Die Geschichte

Im gleichen Augenblick hatte ich eine Idee. Wäre ich eine Comic- oder Animefigur gewesen, würde jetzt wahrscheinlich über meinem Kopf eine leuchtende Glühlampe schweben. „Oh Bruder“, schluchzte ich und hielt mir die Hände vor´s Gesicht. „Yu-chan, was ist denn nur passiert?“
 

Seine Stimme klang jetzt besorgt. Ich hatte zwar geplant nur so zu tun, aber als Shori mich in die Arme nahm, heulte ich tatsächlich. Shori war das nicht gewohnt von mir. Schon gar nicht, das ich ihn Bruder nannte und noch weniger, das ich mich von ihm umarmen ließ. Er war sicher halb verrückt vor Sorge, fragte aber nicht. Stattdessen hielt er mich fester, und mit seiner rechten Hand streichelte er meinen Rücken. Ich war wirklich dankbar für diese Geste. Heute war viel passiert, und es hatte mich anscheinend mehr verwirrt, als ich es mir eingestehen wollte. Als ich mich beruhigt hatte, schob ich ihn wieder von mir weg. „Bruder, könntest du mir was zu essen holen und dann in mein Zimmer kommen." Er nickte. „Wir haben Thunfischbrötchen und Sushi." „Nein, keinen Fisch. Am liebsten gekochte Eier und heißen Tee." Innerlich schüttelte ich mich bei der Vorstellung von Eiern mit Tee, aber ich brauchte Zeit um mir meine Geschichte noch glaubhafter zurecht zulegen. „Kommst du klar?“ „Ja."
 

Er nickte wieder und ging nach unten.

Eine Viertelstunde hatte ich bestimmt. Wahrscheinlich länger. Wie ich meinen fürsorglichen Bruder kannte, würde er noch Blumen, Servietten und einen Teller mit Glückskeksen auf das Tablett packen. Ich zog mich ganz aus und stellte mich unter die Dusche. Einfach herrlich. Okay, eine ältere Frau hatte mich angesprochen und mich gebeten, ihre schweren Tüten nach Hause zu tragen, es sei nicht weit. Und da ich ohnehin auf den Bus warten musste, weil mein Fahrrad kaputt war, das stimmte sogar, verdammt, mein Fahrrad. Das stand noch irgendwo bei Wolfram in seinem schicken Parkgarten herum.
 

Den Gedanken zur Seite schiebend überlegte ich weiter. Als ich bei der Frau dann angekommen war, wollte sie mir zum Dank einen ganz speziellen Saft anbieten. Ich hätte angenommen, da ich großen Durst hatte. Das stimmte irgendwie auch. Ein wenig. Vor lauter Durst trank ich es in einem Zug leer, als mir schwindlig wurde, und ich in Ohnmacht fiel. Shori würde von sich aus vermuten, das irgendwelches Zeug unter den Saft gemischt war. Moment, er hatte den Alkohol gerochen – ach egal, passt schon.
 

Als ich wieder zu mir kam, lag ich halbnackt in ihrem Bett und sie hing wie ein Vampir an meinem Hals. In meiner Not hätte ich nach Hilfe geschrien, und zu meinem Glück, waren meine Schreie von einem draußen parkenden Taxifahrer gehört worden, der dann geklingelt hatte, und mich auf meine Bitte hin nach Hause gefahren hatte. Das stimmte auch irgendwie. Ich drehte den Hahn zu, zog mir meinen Bademantel über und ging wieder in mein Zimmer.
 

Zugegeben, die Geschichte klang sehr abenteuerlich, aber heutzutage passierten ja die unglaublichsten Sachen. Davon las man doch ständig in der Zeitung. Entweder Shori nahm sie mir ab, oder ich hatte ein echtes Problem. Und ich war mir gar nicht so sicher, ob die Wahrheit nicht noch unglaubwürdiger klingen würde.
 

Ich saß an meinem Schreibtisch, im Profil meinem Bruder zugewandt, der vornübergebeugt auf meinem Bett saß und mit betrübter Mine meiner Geschichte lauschte, die ich ihm stockend und mit leidendem Gesichtsausdruck erzählte. Es war nicht so, als wäre an mir ein großartiger Schauspieler verloren gegangen, sondern eher an Shori ein miserabler Koch. Wie konnten normale Eier dermaßen fürchterlich schmecken, wie hatte er das nur hinbekommen?
 

Als ich mit meiner Erzählung fertig war, stand er auf und kam voller Mitleid auf mich zu. Ich dachte noch, bitte nicht, besann mich aber zum Glück noch rechtzeitig auf meine Rolle, und ließ mich nicht nur in den Arm nehmen, sondern schmiegte mich auch noch hilfesuchend an ihn. Einen Augenblick dachte ich daran, oh Bruder zu rufen, beschloss aber dann doch es nicht zu übertreiben. Das hatte er auch nicht verdient, trotz allem liebte ich ihn ja. Shori blieb noch bis etwa 22 Uhr bei mir und wünschte mir dann eine „Gute Nacht."
 

Ich selbst wollte auch nur noch ins Bett und schlafen. Und vergessen, dass ich gelogen hatte, als hätte ich in meinem ganzen Leben nichts anderes getan. Vergessen, dass ich mit einem anderen Jungen ziemlich, na ja, intim geworden war. Tatsächlich war die ganze Sache mit Wolfram zuvor sehr...Hör auf. Ich legte mich ins Bett und konzentrierte mich gedanklich wieder auf die Englischvokabeln, bis ich einschlief.

Das rosa Halstuch

Stur auf meinen Tisch schauend ignorierte ich das Gelächter meiner Mitschüler. Der Kragen meiner Uniform hatte nicht ausgereicht, um den Knutschfleck vollends zu verstecken, also brachte mir Shori aus dem Kleiderschrank unserer Mutter ein pinkfarbenes Tuch und band es mir kurzerhand um den Hals. Den Knoten zog er besonders fest zu, damit es nicht aus Versehen verrutschte. Nicht mal ich hatte ihn auf bekommen, als ich das Tuch gegen ein Schwarzes austauschen wollte, welches ich mir vor Schulbeginn noch schnell gekauft hatte.
 

„Das alles ist nur Wolframs Schuld“, dachte ich und stellte mich ans Fenster. Huh? Wieso stand Shoris Mofa noch da? Er hatte mich doch schon vor 20 Minuten abgesetzt. Als ich mich, immer noch verwundert, umdrehte kam gerade Murata durch die Tür. Er sah mich an, legte sich krümmend die Hand auf seinen Bauch, ging in die Knie und brach in schallendes Gelächter aus. Ein dumpfes Geräusch war zu hören, als seine Tasche zu Boden fiel. Hatte ich etwas anderes erwartet? Dank ihm beherrschten sich die andern auch nicht mehr und lachten lauter. Murata, das verzeih ich dir nie. Ich setzte mich wieder unglücklich an meinen Tisch. Wie konnte er mir das antun? Er wusste doch, wie sensibel ich in solchen Dingen war.
 

Murata, der sich wieder ein gekriegt hatte, warf seine Tasche auf den Stuhl und hieß mich dann in den Flur zu kommen. Mitgehen oder nicht? Ich erhob mich und folgte ihm. Hätte ich es mal lieber nicht getan. Denn kaum draußen angekommen, stieß mir Murata fröhlich seinen Ellbogen in die Seite und fragte: „Das war das erste Mal für dich, oder Shibuya?“ „Wie?“ „Komm schon. Ich will alles wissen. Wie war es, wie fühlte es sich an?“ Wovon redet er, was genau meint er? Ich fühlte mich unangenehm bedrängt, als Murata dichter heranrückte und leise sagte: „Ich hab auch schon mal daran gedacht, es mit einem Typ zu probieren."
 

Plötzlich hatte ich wieder ganz deutlich die gestrige Szene mit Wolfram vor Augen, erinnerte mich in Sekundenschnelle an jedes Detail und wurde rot. „Also?“ bohrte mein Freund nach. „Was also? Was denkst du dir.. du glaubst doch nicht etwa ernsthaft...da lief überhaupt nichts“, log ich. Murata sah aus, als wisse er nicht genau, ob er wütend auf mich sein sollte oder nicht. „Ich hab dir auch alles von Yuki erzählt, als du mich gefragt hast."
 

Das stimmte. Glücklicher Murata. Er hatte letztes Jahr eine ältere Freundin. Nur ich wusste von Yuki. Sie war 2 Klassen über uns und wollte nicht mit einem Jüngeren gesehen werden. Murata hatte recht. Er hatte mir auch, als seinem besten Freund, vertraut und alles erzählt, also sollte ich jetzt auch – hey, moment mal – Wolfram war definitiv NICHT mein Freund, nicht diese Art von Freund. Gerade, als ich das Murata erklären wollte, sagte der: „Übrigens Shibuya, ich hab vor der Schule deinen Bruder getroffen." Meine Knie wurden zu Pudding. Aber Shori hatte sicher nichts erzählt, oder doch? „Er wollte wissen, wie die Frau ausgesehen hat, der du gestern die Tüten nach Hause getragen hast."
 

Also deshalb stand Shoris Mofa vor der Schule. Er war noch da und hielt Ausschau nach einem Phantom, nur weil ich gelogen hatte. Ich rutschte an der Wand zu Boden. Murata ging sofort in die Knie um auf Augenhöhe mit mir zu sein. Er sah mich immer noch erwartungsvoll an. „Wir haben uns nur geküsst. Sonst ist nichts passiert, ehrlich." „Wow, aber sag mal, warum dann das alberne Tuch?“ „Weil – also, da hat er mich auch geküsst.“ „Also echt jetzt, Shibuya, glaubst du vielleicht, ich wär nicht cool genug, dass du´s mir erzählen könntest?“
 

„Ein Knutschfleck, ich habe einen Knutschfleck, aber das ist wirklich alles, sonst war nichts, wir haben uns einen Film angeschaut und dann hat mich sein Chauffeur..“ „Sein Chauffeur?“, rief Murata entgeistert. „Ja." „Okay, was hat sein Chauffeur mit dir gemacht?“ So langsam wollte ich einfach nur noch weg. Wir zogen ohnehin schon die ganze Aufmerksamkeit auf uns. „Er hat mich nach Hause gefahren. So, das war´s.“ „Nach Hause gefahren, Gott, wie langweilig“, brummte Murata enttäuscht. Was sollte das eigentlich? Was wollte Murata denn von mir hören? So was wie, ich hab meine Vorliebe für Männer entdeckt, und greif mir jetzt einen nach dem andern, etwas in dieser Richtung vielleicht? „Tut mir ja wirklich leid." „Musst nicht gleich ironisch werden."
 

Schnelle und laute Schritte näherten sich. Oh nein, diesen Gang kannte ich doch. „Ah, da kommt dein Freund ja endlich, wird auch langsam Zeit." „Er ist nicht mein Freund." „Was hast du da unten so eng bei Yuri zu suchen?“ wurde Murata sofort ohne jede Begrüßung angeschnauzt. „Yuri ist mein Freund, nicht deiner." Freundlich lächelnd stand Murata auf. „Guten Morgen, Wolfram. Das weiß ich, Yuri hat mir schon alles erzählt." „Tatsächlich?“ Wolfram klang überrascht. „Gut, dann weißt du ja Bescheid. Also komm mir nicht in die Quere." „Auf keinen Fall, ich finde ihr passt sehr gut zusammen." Offenbar war Murata bei Wolfram in der Sympathieliste raketenartig aufgestiegen. Mit gänzlich anderer Stimme meinte er fröhlich: „Ja, nicht wahr?“
 

Irgendwie fühlte ich mich auf einmal überflüssig und stand auf um in den Saal zurückzugehen. „Yuri“, wurde ich aufgehalten, „was für einen geschmacklosen Fetzen trägst du da?“ Ich drehte mich um und sah in Wolframs grüne Augen. Wusste er das wirklich nicht? Ehrlich jetzt? „Oh." Die Erkenntnis schien ihm doch noch zu kommen, denn seine Wangen wurden wieder zartrosa. Die Schulglocke läutete, übertönte zum Glück Muratas Gekicher, und ich schwankte zu meinem Stuhl.

Handarbeit

Ganz gechillt saß ich an meinem Pult und strickte ein rosafarbenes Kätzchen. Die Gechilltheit in Person sozusagen. Es sollte besonders niedlich werden, denn ich wollte mindestens ein C, am besten ein B auf die Arbeit. Meine anderen Stricktiere waren in den Augen meines Lehrers allesamt in Ungnade gefallen. Ich wusste aber, je niedlicher das Tier, und es mussten immer Tiere sein, desto besser die Note.
 

Wie ich dazu komme?
 

Am Anfang des Schuljahres hatten wir im Stundenplan stehen, jeden Donnerstag, die ersten beiden Stunden für die Jungen Werkunterricht, Mädchen Handarbeit. Meinen Lehrer in Werkunterricht habe ich nur einmal gesehen, seither war er krank. Ich hatte ihn also quasi ein dreiviertel Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er brauchte Ruhe. Ein weitverbreitetes Symptom unter Erwachsenen. Sie brauchen ständig Ruhe. Nach der Arbeit brauchen sie erst mal Ruhe von der Arbeit, am Wochenende brauchen sie Ruhe von der Woche, am Sonntagabend brauchen sie Ruhe vor dem Montag, sie brauchen Ruhe von den Freunden, der Verwandtschaft, von der Ehefrau – oder auch Ehemann – von ihren Kindern, Ruhe von den Nachbarn und überhaupt. Auch die Schulleitung brauchte Ruhe, machte es sich daher sehr einfach und beschloss, anstatt einen neuen Lehrer einzustellen, das wir alle gemeinsam Handarbeit hatten.
 

Die letzten Monate, Wochen und vor allem Donnerstage habe ich also regelmäßig die ersten beiden Stunden verflucht. Unser Handarbeitslehrer war ein ewig mürrisch drein blickender, finsterer Geselle, den ich noch nie lachen gesehen hatte. Stattdessen flößte er mir gewaltigen Respekt ein. Aber nicht nur mir. Sein Name war Gwendal von Voltaire und dachte ich anfangs noch, er mache so ein Gesicht, weil er mit seinem Schicksal haderte ein Handarbeitslehrer zu sein, wurde ich bald eines besseren belehrt. Stricken war mentales Training und sehr wichtig, erklärte er uns mal. Sonst sagte er eigentlich nie etwas. Und außer Stricken hatte er uns auch nichts beigebracht. Manche von uns hegten gar den Verdacht, er könne nichts anderes.
 

Er brachte immer einen Korb voller Wolle mit, und ich griff demonstrativ nach der rosa Wolle. Als Zeichen, das mich das Lachen meiner Kameraden vorher nicht im Mindesten interessierte.
 

Whatever, heute kam mir dieser Unterricht ganz gelegen. Jeder strickte absolut stumm vor sich hin, und zum ersten mal verstand ich das mit dem mentalen Training. Ich hatte einige Probleme im Kopf, die es zu lösen galt. Zum einen war da Wolfram, dessen Freund ich irgendwie geworden war. Ich erinnerte mich an gestern, als er sich als wahres Genie im Unterricht bewiesen hatte, und schaute zu ihm. Sein blondes Haar glänzte golden in der Sonne, sein Engelsgesicht dagegen war vor Unmut verzerrt, als er ungeduldig den Part, den er schon gestrickt hatte, wieder aufzog.
 

Wahrscheinlich ein paar Maschen fallengelassen, dachte ich , so als Profi, der ich geworden war. Das hatte ich mir schon gedacht. Ich hätte gerne eine Wette abgeschlossen, ob er aufgrund seiner Ungeduld aufgeben , oder aufgrund seiner Hartnäckigkeit weitermachen würde. Auf Letzteres hätte ich meine gesamte Kohle gesetzt. Wolfram hatte meinen Blick bemerkt und lächelte mir zu. Ich lächelte zurück.
 

Also, das war mein erstes Problem. Das zweite war mein Bruder, der vermutlich immer noch vor der Schule Wache hielt. Das dritte war Murata, der absolut überzeugt davon war, ich hätte mein Glück mit einem Kerl gefunden und das ganz nebenbei schrecklich komisch fand, kurz, ich stand allein mit all meinen Problemen da und das Vierte, ich musste schnellstmöglich mein Fahrrad zurückbekommen, bevor auch noch meine Eltern Fragen stellten.
 

Vor zwei Tagen war meine Welt noch vollkommen in Ordnung gewesen. Sie war genauso wie es sich für einen männlichen Teenager gehörte. Nie hätte ich gedacht, das ich kurze Zeit später, also jetzt, mir über schon genannte Probleme den Kopf zerbrechen würde. Seit gestern morgen war einfach alles anders. Sogar ich selbst. Aber ich konnte weder die Zeit zurückdrehen, noch gewisse Dinge ungeschehen machen. Ich konnte es nicht ändern.
 

Ich konnte nur versuchen, Schadensbegrenzung zu treiben, Lösungen mussten her. Die Welt wollte wieder gerade gerückt werden, ich wollte wieder selbst bestimmen, wo mein Weg lang ging. Nur wie. Zuerst mal Shori. Sollte ich ihm vielleicht doch reinen Wein einschenken? Was wäre, wenn ich Konrad fragen würde, ob er mich nach Hause fährt? Immerhin war er sehr nett gewesen, allerdings konnte man das von mir nicht behaupten. Welchen Grund sollte er also haben? Auf der andern Seite, ein Versuch konnte ja nicht schaden. Ich musste unbedingt Shori davon abhalten, weiterhin Wache zu schieben. Offenbar hatte mein gestriges Verhalten bewirkt, das sein Bruderkomplex wieder total durchgebrochen war, und wenn ich ihn nicht aus dem Weg räumte, würde er auch unweigerlich Wolfram begegnen, und der würde ihn vielleicht mit Bruder oder Schwager anreden. Ich glaubte, ihn mittlerweile so gut zu kennen, das ich ihm das absolut zutrauen würde.
 

Um an mein Fahrrad zu kommen, musste ich zwangsweise wieder mit Wolfram fahren. Eine gute Gelegenheit es mit Konrad wenigstens zu versuchen. Es wäre ja auch nur für ein oder zwei Wochen, bis Shori sich wieder normal verhielt. Und wenn ich dann schon mit Wolfram fuhr, konnte ich ihm sein Hirngespinst sicherlich ausreden. Ich würde ihm ganz ruhig und sachlich erklären, dass es sich um ein Missverständnis hielt. Er würde es sicher verstehen, und er hatte bei Gott alle Chancen der Welt, sich jemand anderen auszusuchen, jemand der besser aussah als ich, vorzugsweise ein Mädchen. Damit erledigte sich Problem Nummer drei praktisch von alleine. Wenn Murata es von Wolfram hörte, würde er mir schon glauben.
 

Geschafft, zufrieden hob ich mein kleines Kätzchen hoch, ich hatte ein richtig gutes Gefühl. Alles würde sich in Wohlgefallen auflösen.

Die Puppe

Stolz hielt ich mein Werk in die Höhe, das war das Beste was ich je in Handarbeit geleistet hatte. Ich warf einen Blick zu Wolfram. Der hatte es auch noch irgendwie hinbekommen, auch wenn sein Etwas, ich meine sein Tier eher wie ein Kopfkissen mit Augen aussah. Wolfram, der meinen Blick natürlich bemerkt hatte, holte einen Zettel hervor und fing an, etwas zu kritzeln. Muratas Arbeit sah auch ziemlich gut aus. Er hatte einen kleinen Hasen gestrickt und ihm aus dem Korb mit den Accessoires eine Brille angenäht. Bist du das, Murata?, wollte ich scherzhaft von ihm wissen. Ich wusste nicht, ob er mich gehört hatte, denn er schien ziemlich in diesen albernen Hasen vertieft zu sein und gab keine Antwort.
 

Voltaire sammelte unsere Arbeiten ein. Als er an meinen Tisch kam, fing sein rechtes Auge unkontrolliert zu zucken an, seine Pranken streckten sich zitternd Richtung meiner Katze aus. Um nicht in Gefahr zu geraten, wer wusste schon, was mit diesem Mann los war, beeilte ich mich und drückte sie ihm schnell in die Hand. Als wäre das Teil irgendeine wertvolle Kostbarkeit, nahm er sie vorsichtig entgegen. Komischer Typ. Ohne sich um die Stricksachen der andern zu kümmern, klemmte er sich seine Tasche unter den einen Arm, und verließ, meine Katze immer noch in der andern Hand den Saal. Unser Schulsprecher, ein Mann der Tat, sammelte die restlichen Sachen ein, verstaute sie in dem Korb mit den anderen Tieren, in dem anfangs noch die Wolle gelegen hatte, und stellte ihn in die Ecke. Wahrscheinlich wollte er ihn in der Pause zum Lehrerzimmer bringen, falls von Voltaire nicht doch noch zurückkam.
 

Hatte ich was falsch gemacht, gegen irgendeine Regel der strickenden Bevölkerung Japans verstoßen? „Autsch“, rief ich mehr vor Schreck, denn Schmerz, Wolfram hatte mir ein zerknülltes Stück Papier an den Kopf geworfen. Mit dem Handy in der Hand ging er auf den Gang. Murata folgte ihm. Ich entknüllte den Zettel und las in verschnörkelter Handschrift „in der Pause habe ich eine Überraschung für dich“ unterschrieben mit drei Küssen. Ich schüttelte mich leicht, dachte aber hoffnungsvoll, vielleicht hat er mein Fahrrad reparieren lassen und es stand schon geputzt und aufgemotzt vor der Schule? Hoffentlich stand Shori nicht noch draußen herum.
 

Wolfram kam wieder rein und er sah mich sehr zufrieden an. Wo war Murata? Die fünf Minuten waren schon vorbei und der nächste Lehrer kam herein. Kontrollierte die Anwesenheit fragte „Wo ist Murata Ken?“ Ich wollte ihm schon eine Ausrede auftischen, als Wolfram antwortete. „Er hatte einen Anfall und rannte zur Toilette." Besorgt erhob ich mich und fragte, ob ich nach ihm sehen dürfe, als Murata auch schon mit hochrotem Gesicht hereinkam. Aber als er mich sah, lief er wieder hinaus. „Gut, Shibuya, bring ihn bitte ins Krankenzimmer." „Das mach ich schon“, mischte sich Wolfram wie immer ein und ging auch schon ohne auf die Erlaubnis zu warten. Was hatten die beiden bloß?
 

In der Pause saß ich wieder mit Murata an einem Tisch. Ich sprach ihn nicht auf Wolfram an, aus Furcht, er könne wieder dort weitermachen wo er heute morgen aufgehört hatte. Wir aßen und unterhielten uns, ganz normal, wie früher auch, über das seltsame Verhalten von Gwendal von Voltaire. „Hoffentlich bekomme ich keinen Ärger“, mutmaßte ich. „Bestimmt nicht, der war doch hin und weg von deiner blöden Katze." So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Vielleicht hatte Murata Recht und ich bekam sogar ein A? Nach dem Essen brachten wir unsere Tabletts zurück.
 

Am Ausgang der Mensa stand Wolfram und passte mich ab. Murata rannte davon. Wolfram hingegen drückte mir strahlend eine Art Puppe in die Hand. „Was soll das?“ verlangte ich zu wissen. „Deine Überraschung, das bist du, Yuri." Seine Augen glänzten, in Erwartung auf meine Reaktion. Wahrscheinlich hatte er wegen meiner Anstrengungen vorhin falsche Rückschlüsse gezogen was mein Verhältnis zur Handarbeit betraf.
 

Also hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Ich bedankte mich höflich und betrachtete die Puppe genauer. Das sollte ich sein? „Gefällt sie dir nicht?“ fragte Wolfram enttäuscht. „Doch." Woher kam dieses Ding und warum lief Murata davon. So schlimm sah sie nicht aus. Eine Stoffpuppe mit schwarzen Filzhaaren, schwarzen Knopfaugen und einem schwarzen Anzug. Kurz, sie sah aus, wie jeder andere männliche Schüler hier auch. „Übrigens, Wolfram“, wollte ich die Gelegenheit beim Schopf greifen. „Kann ich nach der Schule wieder mit zu dir fahren?“ Wolfram fing an zu strahlen, das ich schon Furcht um mein Augenlicht hatte. „Natürlich“, sagte er mit sexy klingender Stimme. „Das musst du nicht erst fragen." „Na schön, ich habe gestern mein Fahrrad bei dir vergessen, das weißt du doch, oder?“ „Wie kannst du jetzt nur an dein schrottreifes Fahrrad denken?“ „Wieso nicht? An was soll ich sonst denken, es ist kaputt und ich brauche es, um zur Schule zu fahren“, langsam ärgerte ich mich. Wolfram verdrehte die Augen und sagte: “Meine Güte, dann kaufe ich dir eben ein neues." Und dann mehr zu sich selbst „Vielleicht wäre ein Tandem nett?“
 

Das fehlte noch. „Nein“, beeilte ich mich zu sagen. „Nein, das ist wirklich nicht nötig. Ich repariere es einfach und...weißt du, es hat einen ideellen Wert für mich." Das war zwar gelogen, aber ich hoffte, Wolfram würde sich damit zufrieden geben. Stattdessen zuckte ich erschrocken zusammen, als ich laut schreiend beschuldigt wurde, „Von wem hast du es bekommen? Wer ist der Kerl? Kenne ich den?“ Mit erhobenen Händen ging ich rückwärts, „nein, es ist von meinen Eltern. Nicht, was du denkst. Äh, komm lass uns wieder in den Unterricht gehen."

Kunstliebhaber

Der Weg zum Klassenzimmer wurde zu einem kompletten Spießrutenlauf für mich. Auf der anderen Seite konnte ich es verstehen. Würde ich ein Pärchen sehen, von dem einer so gut aussah, das es fast schon eine Unverschämtheit war, und der andere hätte ein rosa Halstuch umgebunden, sowie eine Puppe in der Hand, würde ich mich bestimmt auch zwei – oder dreimal umdrehen. Wolfram dagegen schien das nicht zu kümmern. „Merkst du nicht, wie uns alle anstarren?“ fragte ich ihn leise. Er schien erstaunt. Sah sich um, verzog sein hübsches Gesicht und meinte: „Du hast recht. So was aufdringliches.“ Aufdringlich? Und das von dem!
 

Praktisch Seite an Seite betraten wir das Klassenzimmer, gingen Seite an Seite zu unserm jeweiligen Pult und setzten uns. Murata lehnte sich zu mir rüber und fragte „Und Shibuya, wie gefällt dir dein Geschenk?“ „Was tuschelt ihr da?“ kam es prompt von Wolfram. Langsam reichte mir das. „Was geht dich das überhaupt an?“ fragte ich ein bisschen grober zurück als ich eigentlich wollte. „Sehr viel. Schließlich bist du mein Freund." „Aber das heißt nicht, das ich nicht mit andern reden darf." Wolfram schwieg, aber ich konnte schon sehen, das er wütend war. Murata kicherte natürlich, war klar. Er kritzelte jetzt irgendetwas auf einen Zettel und reichte ihn mir rüber.
 

„Shibuya dir ist schon klar, das du eben vor der ganzen Klasse zugegeben hast, das du und Wolfram zusammen gehen, oder?“ Was hatte ich? Ich brauchte einen Moment um überhaupt zu verstehen, was Murata mit zusammen gehen meinte. Dachte, natürlich gehen wir zusammen, jeder hat gesehen das wir zusammen gehen, zusammen reinkamen. Als mir die Bedeutung klar wurde, ich schwöre,mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich sah mich um. Eigentlich sah jeder her, aber wandte den Blick sofort und verlegen in eine andere Richtung, sobald er mit mir Blickkontakt hatte. Oh danke Wolfram. Jetzt denken alle, ich bin schwul. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich selbst, wie ich ein Mädchen um ein date bat, welches zu lachen anfing mit den Worten, „du bist ja echt witzig, Shibuya." Ernsthaft. Ich würde nie eine Freundin finden. Nicht mal später. Wenn ich eine Freundin hätte, würde die bestimmt eine aus der Schule kennen, und die würde meiner Freundin sagen, aber weisst du denn nicht...Murata warf einen zweiten Zettel auf meine Bank.
 

Was war los mit ihm, hatte er sich etwa einschüchtern lassen. Und vor allem, was war jetzt schon wieder? Ich las „ich fragte dich wie dir dein Geschenk gefällt“ Verständnislos sah ich zu ihm rüber. Der Lehrer kam endlich herein, und wir mussten zur Begrüßung aufstehen. „Was soll das, Murata, du willst ernsthaft wissen, wie mir eine Puppe gefällt?“ „Klar, hast du sie nicht ausgezogen?“ Wir setzten uns. Warum um aller Welt sollte ich einer Stoffpuppe die Kleider ausziehen, es war nur so, nach allem was schon vorgefallen war, hatte ich ein extrem ungutes Gefühl.
 

Beim zweiten Mal sah Wolframs Haus noch genauso prächtig aus. Vielleicht sollte ich ihn mal zu mir einladen, überlegte ich. Ich wurde wieder auf der Couch platziert und griff nach dieser verdammten Puppe. Wolfram war wohl davon ausgegangen, dass ich heute mitkommen würde, oder er hatte seiner Haushälterin oder wem auch immer Bescheid gesagt, das ich komme. Jedenfalls standen auf dem Tisch verschiedene Getränke, sowie Essen. Sogar der Erdbeersaft der eigentlich Alkohol war stand zur Auswahl. Mann, der hatte vielleicht Nerven. Ich hielt ihm einen Vortrag, wie schädlich und schlecht und außerdem auch verboten, Alkohol in unserm Alter war. Er stöhnte, rollte mit den Augen, aber mir war das egal. Ich hielt es für meine heilige Pflicht ihm die Gefahren des Trinkens näher zu bringen. Ja, ich machte mir richtig Sorgen um ihm.
 

Wolfram legte seinen Kopf schief und lächelte mich an. „W..W..Wie gesagt, und du wächst auch nicht mehr“, begann ich zu stottern. Nach einer kleinen Pause meinte er plötzlich: „Ich trinke nicht." „Ist mir egal, sag mir lieber was Murata meinte mit ich solle die Puppe ausziehen?“ „Ach, das, er sagte du würdest dich freuen, wenn man auch das Geschlecht der Puppe erkennen könnte. Besonders gut erkennen könnte, weil du Komplexe hast wegen deinem." „Wegen was?“ Murata du elender Perversling. „Na, weil deiner so klein ist." „Das stimmt nicht“, brüllte ich mit rotem Kopf los. „Nicht?“ „Nein." Wolfram nahm einen Finger in den Mund und sah nachdenklich auf meine Hose. Dann sah er mich an um irgendetwas zu fragen oder sagen aber ich kam ihm zuvor. „Wag es ja nicht.“ Da ich inzwischen aufgesprungen war, setzte ich mich jetzt wieder. Ich war doch hier um Wolfram klarzumachen, das wir keine Beziehung führten, oder nicht? Es wurde Zeit. Ich räusperte mich. „Wolfram." „Mm?“ „Ich, also du, ich wollte dir sagen, also wegen dem Fahrrad, da mach dir mal keine Mühe. Ist nicht das erste mal das so was passiert."
 

Wolfram griff nach meiner Hand. Zieh sie weg, jetzt sofort. „Das macht mir keine Mühe." Er stand auf und zog mich gleich mit hoch. „Aber, ich will auch deinem äh Personal keine Mühe machen." Mach dich los. „Tust du nicht, ich kann selbst ein Fahrrad reparieren." Jetzt war ich überrascht. Wolfram kicherte. Wie blöd von mir. Natürlich konnte er das. „Das und andere Dinge“ hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Das musste das Teufelchen sein, das man bei Comicfiguren immer sieht, dachte ich. Gleich würde mein Engelchen auftauchen, dem Teufelchen den Marsch blasen, und – ach er sah schon aus wie ein Engel. Richtig überirdisch schön. Wie ein Kunstwerk. „Was denkst du?“ Ausgerechnet das fragt er? „Ich dachte nur, das du wie ein Kunstwerk aussiehst, aber weisst du, ich interessiere mich überhaupt nicht für Kun....“ „Komm“, meinte er nur knapp und zog mich hinter sich her.

Das erste Mal

In diesem Kapitel geht’s endlich (etwas) zur Sache, also wer es nicht mag, einfach überspringen^^
 

_____________________________________________________________________________
 


 

„Wo – geht’s denn hin?“ fragte ich Wolfram, der mich hinter sich herzog. Natürlich konnte ich mir denken, wohin es ging, aber ich war so aufgeregt, nervös, ängstlich und alles mögliche gleichzeitig, das ich einfach etwas sagen wollte. „In mein Zimmer“, sagte er und drehte sich kurz nach mir um. „Ah – cool." Mein Blut kochte, meine Haut brannte, in meinem Bauch tobten Stürme und mein Gehirn hatte einfach Sendepause.
 

Wolframs Zimmer lag im ersten Stock. Das Licht brannte. Aus reiner Gewohnheit wahrscheinlich wollte ich mich gerade umsehen, als er das Licht runter drehte. Zu dunkel um einzelne Dinge in den Regalen zu erkennen, hell genug um ihn zu sehen, als er direkt vor mir stand. Wolfram legte seine Hand an meine Wange, sein Gesicht kam näher, und seine Augen schlossen sich erst, als sein Gesicht direkt vor meinem war, und er mich sanft küsste mit seinen weichen Lippen. Ich stand wie versteinert. Irgendwas muss ich auch machen, oder? „Entspann dich“, hauchte er direkt vor mir.
 

Ich hatte immer noch Angst. Angst vor dem Fremden, Angst was falsch zu machen, Angst weil es mir gefiel. Ob diese Angst wegging, wenn mein Begehren stärker war, als sie? Immer wenn ich Angst hatte, überlegte ich, was das Schlimmste wäre, das passieren könnte, aber hier fiel mir nichts ein. Hier gab es nichts Schlimmes. Ich beschloss, Wolfram einfach zu vertrauen und lies mich fallen.
 

Er legte seine Arme um meine Taille und drückte mich an sich, um mich gleich darauf auf meine Stirn, meine Wange und meine Lippen zu küssen. Sein Kuss war überhaupt nicht aufdringlich, eher das Gegenteil. Und diesmal konnte ich ihn auch erwidern. Er schob mich rückwärts auf sein Bett. Ich spürte, wie seine Küsse leidenschaftlicher wurden, wie er mit einer Hand meine Jacke öffnete und sie auszog. Wolfram warf sie zu Boden. Während er sich an meinem Hemd zu schaffen machte, fuhr ich mit meiner Hand seinen nackten Rücken entlang. Hatte überhaupt nicht mitbekommen, das er sich sein Hemd schon ausgezogen hatte. Auch nicht, wann. Was machst du da eigentlich, hörte ich die ewig nervige Stimme in meinem Kopf, aber diesmal konnte ich nicht anders, ich musste einfach nur kichern.
 

„Was ist?“ hauchte Wolfram in mein Ohr, so dass ich eine Gänsehaut bekam. „Nichts, ich dachte nur, ich kenne dich erst drei Tage und trotzdem, ich glaube, es war schon vom ersten Moment so." Ein - ich liebe dich - brachte ich noch nicht über die Lippen, aber Wolfram kicherte jetzt auch, biss mir ins Ohr und sagte nur „Ja.“ Ich half ihm dabei, mir das Hemd auszuziehen, welches ebenso wie die Jacke auf dem Boden landete. Zuerst küsste und streichelte er noch meine Brust, meinen Bauch, kitzelte mit seiner Zunge meinen Bauchnabel, strich mit seinen Händen an den Seiten entlang, bis er mir durch sanften Druck zu verstehen gab, das ich mich umdrehen sollte.
 

Auf dem Bauch liegend fühlte ich, wie er mir in den Nacken biss, ihn dann küsste, seine Küsse wanderten meine ganze Wirbelsäule hinunter, während seine Hände und Finger über meine Schulterblätter und meine Rückenmuskulatur fuhren, wie bei einer Massage und meine Gedanken flogen aus dem Fenster auf und davon. Ich genoss seine Zärtlichkeiten mit Körper und Seele. Wolfram kicherte wieder leise, er bemerkte das, natürlich, er schob sich immer noch mich küssend wieder hoch, legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich und machte sich an meinem Halstuch zu schaffen.
 

Oje. „Nimm einfach eine Schere." „Niemals." „Warum nicht?“ „Dann müsste ich ja weg von dir gehen, ausgerechnet jetzt?!“ „Na ja, dann – vergiss es doch. Ich habe den Knoten auch nicht...“ auf bekommen wollte ich sagen, als ich merkte, dass ich das enge Ding endlich los war. Wie hatte er das denn hin bekommen? „Wie hast du´s aufgekriegt?“ „War ganz einfach“, er küsste wieder mein Ohrläppchen, dann die Stelle mit dem Knutschfleck. Das tat ein bisschen weh, aber irgendwie war es auch schön.
 

„Yuri." „Ja?“ „Komm jetzt." Er packte mich mit der Hand an der Schulter und drehte mich wieder um. Auf meinen Oberschenkeln sitzend öffnete er mir die Hose, beugte sich über mich, und schob seine Hand in meine Unterhose. Ich bäumte mich stöhnend auf, Wolfram schlang seinen andern Arm um meine Schulter und küsste mich immer wieder, während seine andere Hand mein empfindlichstes Teil massierte. „Wolfram“, beschwerte ich mich, „soll ich etwa alleine kommen?“ „Nein, zusammen." Er zog sich selbst aus, als er merkte, das mein Körper keinerlei Widerstand mehr leistete, ihm Gegenteil, er fieberte auf den Höhepunkt geradezu zu. (Mein Körper). Und verwöhnte mich mit seiner Männlichkeit an einer Stelle, von der ich nie gedacht hätte, das sie eine so erogene Zone sein könnte.

Erziehung

Ich schlang meine Arme um Wolframs Hals und kuschelte mich an ihn. „Ow Yuri, wenn ich gewusst hätte, dass du es so nötig hast, hätte ich schon gestern..“ „Ich hab´s nicht nötig." Wolfram kicherte leise vor sich hin. „Das brauchst du gar nicht zu leugnen, ich hab es doch gemerkt." Er hatte es gemerkt? Ich fragte mich Wie? Laut wollte ich nicht fragen, viel zu peinlich. Lieber genoss ich seine Wärme.
 

Unerwartet erhoben sich mahnende Zeigefinger in meinem Kopf, die mir vermutlich was vom Pferd erzählen wollten. Ich verbannte sie dahin, wo sie hin gehörten, nämlich wieder aus meinem Kopf. Nach draußen. Vermutlich wollten sie sagen, das ist nur eine Phase, das geht wieder vorbei, oder alle Jungs in deinem Alter sind neugierig, das ist normal und vielleicht noch, das war nur ein Ausrutscher, vergiss es einfach und geh nach Hause. Aber all das stimmte nicht, das war nicht ich, das war die Erziehung der Gesellschaft.
 

Ich machte mich los, legte mich auf den Rücken, und seufzte zufrieden „Hmmmmm." Wolfram sah mich lächelnd an und legte den Kopf auf meine Brust. „Heißt das, ich habe dir so gut getan?“ Ich musste lachen. „Eingebildet bist du überhaupt nicht, aber – ja." Ja, das hatte er, aber ich fühlte mich auch wegen etwas anderem so gut wie schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich endlich mal wieder frei. Das letzte Mal, als ich mich so gefühlt hatte war, als ich die Erziehung meiner Eltern ein Stück weit loswurde.
 

Als ich klein war, schleppten mich meine Eltern ständig zu den Arbeitskollegen meines Vaters mit. Er wollte als Banker an Ansehen gewinnen, oder so. Sie bläuten mir ein, dass ich niemals etwas annehmen dürfte, wenn mir einer der freundlichen Kollegen meines Vaters Süßigkeiten, oder anderes Essen anbot, mit der Begründung, „es sieht hässlich aus, wenn man kaut." Ich sollte ruhig auf der Couch in einem der niedlichen Kleider sitzen, die meine Mutter mir immer anzog, nichts sagen, und nichts essen. Und genau das tat ich auch.
 

Das wurde mir dermaßen eingeredet, dass ich selbst Jahre danach nicht in der Lage war, vor fremden Menschen zu Essen. Erst als wir einen Ausflug mit der Schulklasse gegen Ende der Sommerferien machten, änderte sich das. Ich war gerade 12 Jahre geworden, im Juli, und wir fuhren in ein Kaff, besichtigten langweilige Fabriken und schauten uns Fechter an, die trainierten.
 

Sicher, am Tisch war es kein Problem, aber als wir im Zug auf der Heimfahrt saßen, kam diese Sache wieder durch. Ich hatte wahnsinnig Hunger, so sehr, dass ich dachte, ich würde umkippen. Natürlich wollte ich warten, bis ich zuhause bin und fragte, wie lange es noch dauert. Zwei Stunden. Wie bitte was, zwei Stunden, kein Wunder bei diesem Bummelzug. Ich würde es nie und nimmer zwei Stunden aushalten.
 

Vielleicht beobachtete mich ja niemand? Es kostete mich eine unbeschreibliche Überwindung, in meinen Rucksack zu fassen, und ein Brötchen mit enorm schlechtem Gewissen rauszuholen. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, das meine Mitschüler, die bei mir im Abteil saßen, alle am Essen waren. Das war doch nicht zu fassen. Wieso hatte ich das nicht gemerkt? Es war mir beim besten Willen überhaupt nicht aufgefallen.
 

Ich fasste mir ein Herz, und biss in mein Brötchen. Und – nichts passierte. Keiner empörte sich, keiner rief, wie eklig, nichts. Ich sah beim Essen zwar aus dem Fenster, aber ich merkte auch deutlich, wie die Fesseln meiner frühen Erziehung von mir abfielen. Um genau zu sein, ich hatte bis dato noch nicht einmal gemerkt, dass ich so – unsichtbar – gefangen, um nicht schon zu sagen behindert war, durch die seltsame Vorstellung meiner Eltern.
 

Von da an hatte ich nie wieder ein Problem damit, etwas anzunehmen und vor anderen zu essen. Es war schwer, das Schwierigste was es gab, über den eigenen Schatten zu springen, auch wenn es noch so belanglos klingen mag in diesem Fall, aber ich fühlte mich so befreit, als hätte ich einen Felsbrocken abwerfen können, den ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen hatte.
 

Das gleiche Gefühl hatte ich jetzt auch. Von überall her wurde man beeinflusst und erzogen. Nicht nur von der Familie, auch von der Gesellschaft. Von Fernsehen und Zeitschriften, von Schule und Nachbarn. Vom Staat und sogar von seinen Freunden. Und wenn man das nicht einmal bemerkte, wie viel blieb am Ende eigentlich von einem selbst noch übrig?!
 

„Yuri“, rief Wolfram, fast schon panisch. Oh Gott bin ich erschrocken. „Was ist?“, rief ich fast genauso panisch zurück. „Was hast du, was ist los?“ „Äh, was ist, was meinst du?“ Hatte ich etwa Haare an den Händen bekommen – ah, nein, das war wegen was anderem. „Hast du Schmerzen?“, fragte Wolfram, kam mit seinem Gesicht noch näher an meines und studierte mich genau. „Nein, hab ich nicht, ich habe nur nachgedacht und Wolfram – ich bin so verdammt froh, das ich dich getroffen habe." „Das kannst du auch“, rief er selbstsicher, sein Blick war immer noch irgendwie misstrauisch. Ich nahm ihn wieder in die Arme um ihn zu beruhigen. „Das weiß ich doch, keine Sorge, ich würde es dir sagen, wenn was nicht stimmt, versprochen."
 

Wolfram entspannte sich unter meiner Umarmung, und ich glaubte sogar ein leises Aufatmen zu hören. Er drückte mich an sich, ich dachte, „der kann ja schon wieder“, und flüsterte mir ins Ohr, „Yuri, ich liebe dich." Musste ich jetzt nicht sagen, ich dich auch? Das konnte ich immer noch nicht. Stattdessen drückte ich ihn zur Antwort fester an mich, und drehte mich samt Wolfram auf den Rücken.
 

Irgendwann musste es ja sein. Ich schickte eine SMS nach Hause, ich sei bei meinem Freund und würde bald kommen, und ging mit Wolfram in sein geräumiges Bad unter die Dusche. Kuschelig hellblauer Teppich, oder so etwas auf dem Boden, dunkelblaue Kacheln mit Muster an der Wand, und vor allem, nicht so wie bei uns, keine Toilette im Bad. Die war in einem anderen Raum. Die eine Wand war mit Spiegelkacheln verkleidet. Wir alberten herum, wuschen uns, schrubbten uns gegenseitig den Rücken. Wolfram nutzte jede Gelegenheit, um mich spielerisch anzufassen und zu berühren, selbst wenn er nur nach dem Waschlappen griff, streifte sein Arm den meinen. Das war schon sehr – erregend.
 

Vielleicht war das auch seine Absicht, denn plötzlich packte er mich bei den Schultern, platzierte mich direkt und frontal gegen die Spiegelfront und sagte: „Willst du dabei zusehen?“ „Oh Gott, nicht jetzt, ein andermal, Wolfram." „Hab ich dich etwa zu sehr gefordert?“ „Nein, oder ja, nein, hast du nicht, trotzdem, nicht jetzt." Wenn das so weiterging, käme ich überhaupt nicht mehr nach Hause.

Während wir uns anzogen, redete er weiter auf mich ein. Ich zeig dir das Haus, lass uns noch einen Film zusammen ansehen, lass uns ausgehen, ruf an und sag du übernachtest hier und so fort. Fühlte er sich einsam, hier so ganz alleine, oder lag es an mir. Als ich das schwarze Tuch nahm, das Pinke hatte ich voller Genugtuung weggeworfen, riss es mir Wolfram wieder aus der Hand. Was sollte das nun wieder. „Wolfram, ich habe keine Lust auf Spielchen, gib es zurück, du weißt doch, dass sonst jeder den Knutschfleck sieht?!“ „Ich denke, jeder sollte ihn sehen. Und jeder sollte wissen, das er von mir ist." Reviermarkierung? Vielleicht hatte er recht. Ich war schon mal auf die Reaktionen gespannt.

Familienrat

Als ich nach Hause kam, machte mir meine Mutter noch was zu essen. Ich merkte erst da, wie hungrig ich eigentlich war. Zuerst freute sich meine Mutter auch, aber dann wurde sie doch eher besorgt. "Yu-chan, du weißt du kannst mit Mama über alles reden." Ich setzte meine – ich habe keine Ahnung was du meinst - Unschuldsmiene auf, und sagte: „Klar, weiß ich das." „Yu-chan, du hast dir noch nie dreimal einen Nachschlag genommen, natürlich freut es mich, wenn es dir schmeckt, aber – hast du Probleme?“ „Nein, nur Hunger, Mum, alles okay." Sie sah nicht wirklich beruhigt aus.
 

So richtig vollgefressen und zufrieden ging ich nach oben in mein Zimmer. Und auf meinem Bett saß – Shori. Das auch noch. „Raus“, rief ich und zeigte auf die Tür. „Das ist mein Zimmer, Shori." Der respektierte meine Privatsphäre auch nicht mehr, und das regte mich grade eben ziemlich auf. „Ich möchte mit dir reden. Schließlich bin ich dein großer Bruder." Mir fiel ein, das er den halben Tag vor der Schule gestanden hatte, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber reden wollte ich nicht. „Ich aber nicht mit dir." Einen Schritt wich ich zurück. Shori hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie meine Mutter eben, das war echt unheimlich.
 

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, holte demonstrativ Mathebücher und Übungen raus, und legte sie lautstark auf den Tisch. „Woher hast du dieses schwarze Tuch?“ Ich hab mich wohl verhört, er soll gehen. Ja, im Taxi habe ich mir mein schwarzes Tuch umgebunden, Konrad hat mich so komisch im Rückspiegel angesehen und beobachtet. „Gekauft." „Warum hast du nichts gesagt, ich hätte dir doch....“ „Shhoooooriii, du sollst gehen. Siehst du nicht, ich muss lernen?“ „Du hast doch morgen gar kein Mathe." „Soll ich auf den letzten Drücker lernen? Hey, woher weißt du, ob ich morgen Mathe hab oder nicht?“ „Du lernst doch sonst nicht vorher." „Shoooriiii."
 

„Ja, ja“, er stand auf und ging zur Tür. Jeez, warum sind Brüder nur so nervig. Schlimmer als Mütter, definitiv. Apropos, die hörte ich unten gerade telefonieren. Wahrscheinlich wurde es bei meinem Vater wieder später. „Yu-chan, in der letzten Zeit bist du anders." „Du bist ja immer noch da?!“ In der Tat, Shori stand an der Tür, mit der Hand auf der Klinke, machte aber keine Anstalten sie runter zudrücken. Jetzt ließ er sie sogar noch los und drehte sich wieder zu mir um.
 

„Ja, ich bin noch da, und ich bleibe da bis du mir gesagt hast, was passiert ist." Ich war überrascht, nicht über seine Worte, sondern über seine Hartnäckigkeit. Er sah richtig entschlossen aus. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schwieg ihn an. Shori sah mir in die Augen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Ich holte meinen iPod aus der Tasche, steckte mir die Hörer in die Ohren, und drehte auf. Shori lehnte sich gegen die Tür und gähnte ausgiebig.
 

Keine Ahnung, warum Shori es auch nicht hörte, aber er hörte es nicht und flog recht schwungvoll zu Boden, als er die aufgerissene Tür in den Rücken bekam. Meine Mutter stand dort und sah mich freudestrahlend an. Das hatte wahrscheinlich nichts Gutes zu bedeuten, und ich beeilte mich um die Hörer raus zu nehmen. „Oh Yu-chan, das ist so schön, ich freue mich ja so für dich." Was meinte sie? „Was meinst du?“ fragte Shori, der sich gerade aufrappelte. Statt zu antworten, lief sie eilig auf mich zu, um mich fast zu ersticken. Im Hintergrund hörte ich Shori meckern „...habe das Recht...wissen....los ist...“ „Keine Luft“, krächzte ich.
 

Die komplette Familie saß im Wohnzimmer um den Tisch. Meine Mutter strahlte und freute sich immer noch. Mein Vater rieb sein Kinn und Shori sah mich mit großen Augen an. Ich selbst fühlte mich, wie vor einem Tribunal und sah auf meine Füße. Verdammt, Wolfram. Meine Mutter hatte alle, auch mich, darüber aufgeklärt, das Wolfram angerufen hatte. Er hatte verkündet, das wir zusammen gehen, und als mein Zukünftiger wolle er sich gerne der Familie vorstellen. Ich zermarterte mir wirklich meinen angeschlagenen Verstand, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, das er Absichten dieser Art in meiner Gegenwart geäußert hatte.
 

„Erzähl, Yu-chan." Ich sah auf, meine Mutter rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. „Tja also..“ Ich hatte wirklich keine Ahnung was ich erzählen oder überhaupt sagen sollte. „Na, das ist mal eine Überraschung“, ergriff nun zum Glück mein Vater das Wort und ersparte mir weiteres nach grübeln. „Ich möchte den jungen Mann auch gerne kennenlernen, Yu-chan." „Genau, genau“, stimmte Mutter zu, „du hättest was sagen müssen." „Hätte ich das? Ich meine, ich wusste es ja auch nicht so genau." Bis heute wollte ich sagen, aber das ließ ich dann doch lieber bleiben. „Wie ist er denn so?“ fragte Mutter. Eingebildet, versnobt, selbstsüchtig und „Er ist sehr nett und er sieht gut aus, er ist Ausländer und seine Manieren sind manchmal anders, aber er wohnt hier ganz alleine, seine Eltern sind sehr reich und immer unterwegs“, was redete ich da, ich wusste doch gar nichts davon, „und in der Schule weiß er einfach alles, egal ob Mathe oder Bio“, außer stricken fügte ich in Gedanken hinzu.
 

„Hach, mein kleiner Yu-chan ist verliebt“, seufzte meine Mutter zur Decke. „Ich kann es kaum erwarten ihn kennen zu lernen." „Ja“, stimmte Vater zu meiner Überraschung zu, „ich möchte auch den Menschen kennenlernen, der unserm Yu-chan das Herz gestohlen hat." Diese Familiensitzungen waren immer so dermaßen peinlich, vor allem wenn es um mich ging, aber das heute war die Krönung. Das topte alles. Nur Shori sagte kein Wort. Wahrscheinlich wusste er jetzt, das ich ihn angelogen hatte und ich traute mich nicht, ihn anzusehen.

Die Entschuldigung

Das Gesicht in meinem Kissen vergraben, lag ich auf dem Bett, als ich hörte, wie Shori die Treppenstufen rauf kam. Ich hätte jetzt eher erwartet, das er zu mir ins Zimmer kommt, stattdessen ging er tonlos an meiner Tür vorbei und kurz darauf hörte ich, wie er seine Zimmertür öffnete und wieder zuschlug. Nicht nur, dass ich ihn angelogen hatte, er dachte sicher auch, das ich schon am Tag vorher bei Wolfram war, mit ihm zusammen war, weil ich es so wollte, und ihm nicht genug vertraute, um ihm von Wolfram zu erzählen. So wie ich meinen Bruder kannte, fühlte er sich in seiner Ehre verletzt, und eine Entschuldigung war sowieso schon längst überfällig.
 

Aber ich blieb liegen, und dachte an das, was zuvor bei – ja bei meinem Freund passiert war. Rief mir sein Gesicht ins Gedächtnis und träumte vor mich hin. Meine Mutter hatte recht. Ich war verliebt. Und es fühlte sich nicht falsch, sondern gut an. Weil ich selbst in meinem Zimmer kein Licht angemacht hatte, sah ich durch den Türspalt, dass unten das Licht gelöscht wurde, also war es schon 22 Uhr. Wegen morgen machte ich mir keine Sorgen. Ich war mir sicher, meine Familie würde Wolfram mögen, auf seine seltsame Manieren und direkte Art hatte ich sie ja schon hingewiesen. Und Wolfram würde hier auch keine Eifersuchtsszene abziehen, auf wen auch.
 

Es wurde jetzt echt Zeit, Shori zu besuchen. Also stand ich auf, und ging zu seiner Tür. Ich hoffte einfach darauf, wenn ich ihm die Wahrheit erzählte, und mich entschuldigte, würde er es verstehen, und mir verzeihen. Sicher war ich nicht, er war selten wirklich böse oder enttäuscht von mir, aber wenn er es war, wurde ich mindestens eine Woche lang mit Ignoranz bestraft. Mir war jeder Streit lieber, als das und darum hatte ich schon ein mulmiges Gefühl im Magen, als ich anklopfte. Keine Antwort. Ich klopfte lauter.
 

„Komm rein." Das tat ich und sah ihn vor einem Computerspiel für Mädchen sitzen. Das war einer seiner Ticks. Es war jedes mal ein Schock für mich, ihn dabei zu sehen, auch ein Grund warum ich eigentlich nie in sein Zimmer ging, und so war es auch jetzt. Sprachlos sah ich ihm zu, und erkannte, das es bei diesem Spiel darum ging, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Es war ein Rollenspiel, und die Aufgabe in diesem Level war es, einen Friseur, ein Schminkstudio oder wie man das nannte, aufzusuchen, sowie Kleiderkauf, dazu gehörend natürlich auch Schnickschnack, wie Tasche, Gürtel, Hut und sonstigen Kram, den Mädchen gerne mochten.
 

Nachdem ich mich erholt hatte fragte ich ihn:“Kann ich mit dir reden?“ „Musst du nicht für deine Mathearbeit lernen." „Als ob ich dafür den Kopf hätte, Shori ich muss mit dir reden." Er gab keine Antwort, also setzte ich mich auf die Couch. Shori war der Ältere von uns und hatte das Privileg, eine Couch in seinem Zimmer zu haben, worum ich ihn ehrlich beneidete. Ich erzählte alles vom ersten Tag an, bis zu diesem Moment, so gut ich eben konnte und entschuldigte mich dann. Auf seine Reaktion wartend, blieb ich sitzen, wenn er keine Antwort gab, bedeutete das Aufmerksamkeitentzugsstrafe.
 

Shinou sei Dank, drehte er sich aber in seinem Bürostuhl zu mir um, und lächelte sogar ein bisschen. „Wenn du glücklich bist...“ Das war ich, ja. Also nickte ich. Er seufzte und setzte sich zu mir. Seinen Arm um mich legend, wollte er dann wissen:“Hättest du mir von deinem Freund erzählt, wenn er nicht angerufen hätte?“ Klar, die große Brudervertrauensfrage, ich hab´s ja gewusst. „Ich weiß nicht genau“, sagte ich ganz ehrlich, „ich glaube, nicht sofort. Ich meine, ich hab es ja selbst heute erst kapiert." Hoffentlich machte er mir keine Vorwürfe, das ich nicht zuerst mit Wolfram ins Kino gegangen war um Händchen zu halten oder dergleichen.
 

„Könnte sein, das du Probleme bekommst, in der Schule, auf der Straße, in deinem Verein. Ich möchte, dass du mir versprichst, es mir zu sagen, wenn etwas sein sollte." „Versprochen." Er nahm mich kurz in den Arm und ich ging wieder in mein Zimmer und ins Bett. Seine Reaktion brachte mir eine große Erleichterung, das hatte mir viel mehr zu schaffen gemacht, als ich gedacht hatte. Jetzt freute ich mich nur noch mehr darauf, Wolfram morgen in der Schule wiederzusehen, und ihn meiner Familie vorzustellen.

Am Morgen

Wolframs Sicht
 

Mein Dienstmädchen Doria klopfte an die Schlafzimmertür und weckte mich. „Aufstehen, junger Herr. Es wird Zeit für die Schule." Es klang ein bisschen frech, oder nicht? Wie auch immer, ich war heute nicht in der Stimmung, ihr klarzumachen, welchen Rang sie hatte und welchen Rang ich hatte. „Sag Konrad Bescheid, er soll mir das Frühstück ans Bett bringen“, rief ich zurück, rieb mir den Schlaf aus den Augen und streckte mich. „Jawohl, junger Herr." Ich sah neben mich. Dort hätte eigentlich Yuri schlafen sollen. Ich konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum er lieber nach Hause zu seinen Eltern wollte, anstatt bei mir zu bleiben. Darum, und auch weil ich mich meinen zukünftigen Schwiegereltern vorstellen wollte, hatte ich die Sache gleich gestern noch selbst in die Hand genommen und bei ihm angerufen.
 

Es klopfte und Konrad kam mit meinem Frühstück herein. „Guten Morgen Wolfram, na – gut geschlafen?“ „Natürlich." Konrad und ich waren verwandt, darum durfte er das. Für mein anderes Personal, drei Dienstmädchen und mein männliches Mädchen für alles geziemte es sich selbstverständlich nicht, derart vertraulich mit mir zu reden. Ich sah wieder auf den leeren Platz in meinem Doppelbett neben mir, den ich Yuri zugedacht hatte, und konnte einen Seufzer nicht verhindern, als ich daran denken musste, was wir alles noch hätten tun können heute morgen. Konrad stellte lächelnd das Tablett vor mir ab. „Yuri ist wirklich nett." „Selbstverständlich ist er das." Tz, dieser Konrad. Er blieb neben mir stehen, während ich mein Frühstück zu mir nahm. „Ist Yuris neuer Reifen noch nicht angekommen?“ „Er soll noch heute Vormittag geliefert werden." Ich nickte.
 

Als ich den Reifen von Yuris Fahrrad abmontiert und mir den Schlauch angesehen hatte, hatte ich darauf verzichtet ihn erst noch in das Wasserbecken zu tauchen, um das Loch zu finden. Ein Blick auf die beiden schon vorhandenen Flicken reichte vollkommen aus, um mich erkennen zu lassen, dass dieses Teil Schrott war. Ich warf Schlauch und Mantel weg, und bestellte einen neuen Reifen. „Glaubst du, Yuri würde ein Wasserbett gefallen?“ fragte ich Konrad, während ich mir Butter auf mein Brötchen strich. Konrad antwortete nachdenklich: „Ein Wasserbett wäre vielleicht ganz nett. Nicht nur für Spielereien, ich habe gehört, man schläft auch gut darin." „Jetzt werd mal nicht unverschämt, Konrad“, wies ich ihn zurecht. „Sag einem der Mädchen oder nein, das überlasse ich dir." „Ich soll ein neues Bett, um genauer zu sein, ein Wasserbett bestellen“, wiederholte er. Mein Brötchen, das ich schon halb aufgegessen hatte, legte ich zurück und wandte mich meinem Kaffee zu. „Schon satt?“ „Du meine Güte, Konrad, du bist aber geschwätzig heute morgen. Woran liegt das?“ „Ich freue mich einfach für dich." Dann beeilte er sich um noch hinzuzufügen, „natürlich freue ich mich auch für Yuri." Ich nickte. Da hatte er wirklich recht.
 

„Geh mit mir noch mal meinen heutigen Tagesplan durch, Konrad“, forderte ich ihn auf. „Zuerst fahre ich dich in die Schule, hole dich und Yuri wieder ab, fahre zuerst dich nach Hause und dann ihn." „Nein, nein“, ich protestierte. Konrad sah mich überrascht an. „Zuerst fährst du Yuri nach Hause, dann mich." „Warum das?“ „Ich vertraue dir nicht." „Ach so, also fahre ich zuerst Yuri nach Hause, dann dich. Um vier Uhr bringe ich dich dann zu ihm, und fahre euch gegen sechs Uhr wieder hierher." „Moment mal, wann kommt denn der Juwelier?“ „Um drei." „Aber dann habe ich kaum Zeit, etwas auszusuchen“, rief ich. Ich war empört. „Aber Wolfram, du weißt doch, was du willst“, beschwichtigte mich Konrad. „Das ist wahr“, beruhigte ich mich. „Siehst du, es besteht kein Grund zur Sorge." „Ich sorge mich nicht“, stellte ich klar, „ich mag es nur nicht, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich möchte." Mit beiden Händen streckte ich Konrad das Tablett entgegen, damit er es mir abnehmen konnte, schlug die Decke zurück und stand auf.
 

Yuris Sicht
 

Vollkommen außer Atem stützte ich die Hände auf meine Knie und japste nach Luft, während die Bustüren hinter mir zuschlugen. Puh, das war knapp gewesen. „Shibuya“, hörte ich eine Stimme nach mir rufen. Ich sah hin, und erkannte Murata, der mich zu sich winkte. Takahiro und Mizuki saßen auch noch dort. Meine Tasche, die ich zwischen die Füße geklemmt hatte nehmend, arbeitete ich mich in deren Richtung voran. Es gab nette Busfahrer die einen grüßten und warteten, bis man Platz genommen hatte, vorsichtig und langsam in den Kurven fuhren, sanft an den Haltestellen abbremsten, und es gab auch weniger nette, die einen nicht mal ansahen und sofort losfuhren, mit einem Affenzahn durch die Kurven bogen, plötzlich abbremsten und genauso plötzlich wieder anfuhren. Dieser hier gehörte zur zweiten Kategorie, und ich hatte alle Mühe, nicht gegen einen anderen Fahrgast zu stoßen oder gar hinzufallen. Rechts, links, fast nach vorne fallend, dann wieder fast rennend, kam ich endlich bei den dreien an.
 

Murata hatte mir einen Platz frei gehalten und klopfte neben sich, ich sollte mich dahin setzen und das tat ich auch voller Erleichterung. „Und wie war es?“ fragte er mich sogleich. Das glaubte ich jetzt einfach nicht, merkte Murata denn nicht, dass wir nicht alleine waren? „Ich hab mich wohl verhört“, fuhr ich ihn an. „Du fragst mich jetzt nicht ernsthaft nach Wolfram, oder?“ „Oho, nein, ich meinte eigentlich, wie euer Familienrat lief. Aber da du selbst darauf zu sprechen kommst....du kannst anscheinend nur noch an ihn denken, wie?“ Ich wurde rot. Wie hatte ich das nur vergessen können. Murata hatte mich gestern per SMS gefragt, ob wir heute zusammen lernen wollten, und ich hatte zurückgeschrieben, das ich nicht könne, nach der Sitzung mit Familie. „Äh, Quatsch, das.. also, das kommt nur daher, weil du mich ständig danach fragst." „Stimmt doch gar nicht. Ich bin nicht so uncool, als das ich nicht wüsste, wie es zwischen zwei Typen abläuft. Als dein bester Freund wollte ich nur wissen, wie es dir damit geht und wie es für dich war. Und grade eben mal, da habe ich doch überhaupt nichts gesagt."

Takehiro und Mizuki rückten mit interessiertem Gesichtsausdruck nach vorne und sahen aus, als säßen sie in der ersten Reihe einer Comedyshow. Die anderen Schüler im Bus nahmen synchron eine Hand an ihr Ohr und eine „Red -lauter-ich-kann-nichts-hören“ - Stellung ein. „Das ist mir zu blöd“, sagte ich und Murata war beleidigt.

Das Gleitgel

Zum Glück war Murata genausowenig nachtragend wie ich. Und in der ersten Pause standen wir auch schon wieder zusammen am Fenster. Murata schimpfte über unseren Biologielehrer, der unangekündigt einen Test geschrieben hatte, ich dachte daran, dass Wolfram heute zu uns nach Hause kam, irgendwie hatte mein Freund schon recht gehabt. Im Vergleich zu seiner Wohnung oder besser seinem Haus oder noch besser seiner kleinen Villa, sah unseres eher arm aus. Obwohl wir das nicht waren. Wir waren zwar nicht reich, aber arm eben auch nicht. Bisher hatte ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob einem Besuch unser Haus vielleicht nicht gefallen könnte. „Shibuya“, drang es aus weiter Ferne an meine Ohren. „JAWOHL“, beeilte ich mich zu sagen. „Hörst du mir überhaupt zu?“ Nein, wie denn auch. Wolfram kam heute, und meine Familie würde ihn zum erstenmal sehen. Was interessierte mich da der Bioheini? „Ja, natürlich höre ich zu, wieso?“
 

Murata schloss die Augen und senkte den Kopf. „Immer das Selbe." „Was meinst du?“ „Sobald einer verknallt ist, kann man einfach nichts mehr mit ihm anfangen. Seufz. Ich hatte gehofft, du wärst ne Ausnahme, Shibuya." „Ähm, tut mir leid, Murata, es ist nur so, dass Wolfram heute zu mir nach Hause kommt." „Und?“ „Na ja, er will meine Familie kennenlernen und sich auch selber vorstellen, glaube ich." „Deine Leute wissen Bescheid?“ Murata war überrascht. „Ja." Er klopfte mir dermaßen hart auf den Rücken, dass ich meinen Kaugummi unfreiwillig ausspuckte. „Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, echt jetzt, ich bin stolz auf dich." „Stolz“, brummte ich verärgert, während ich auf dem Boden nach meinem Kaugummi suchte. Es war keine so gute Sache, wenn der nächste Lehrer zufällig reintrat. „Hast du ihn eingeladen?“ „Nein, er hat sich selber eingeladen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber, das spielt keine Rolle, verstehst du?“ „Dann seid ihr jetzt fest zusammen." „Ja“, sagte ich erleichtert, weil ich den gelben Kaugummi unter der Heizung gefunden hatte.

Murata und ich sahen wahrscheinlich gleichzeitig zu Wolfram, der über einem Buch brütete. „Was macht er da?“ „Wahrscheinlich die Antworten vom Biotest überprüfen“, vermutete Murata. „Lass checken." Wir gingen zu Wolframs Tisch. Er hatte einen gewaltigen Wälzer vor sich liegen, in dem beschrieben war, wie man sich in Japan bei einer Einladung zu benehmen hatte. Darin waren auch Zeichnungen undsoweiter. Die Tatsache ausser Acht lassend, dass er sich selbst eingeladen und ich seinentwegen gestern viel peinlichen Streß gehabt hatte, war ich dermaßen gerührt, das mir fast die Tränen kamen. Murata stieß mir den Ellbogen in die Seite. Ja, er hatte ja recht.
 

„Was machst du da, Wolfram?“ fragte ich. „Ich möchte selbstverständlich einen guten Eindruck bei meinen zukünftigen Schwiegereltern hinterlassen“, antwortete er ohne aufzusehen. „Wobei – bei wem?“ Endlich sah er auf. Seine grünen Augen schimmerten ein wenig verträumt. „Bei deinen Eltern, Yuri, hast du vergessen, das ich heute bei ihnen eingeladen bin?“ „Nein, natürlich nicht." Ich sah zu Murata. Eigentlich dachte ich, er wäre drauf und dran mit einem seiner Lachanfälle aus der Tür zu stürmen, aber dieses Lächeln war freundlich und galt Wolfram. „Pass mir ja gut auf meinen besten Freund auf“, sagte er zu ihm. Ich atmete schon auf als er hinzufügte „und nimm ihn nächstes Mal nicht so hart ran." Wer würde da nicht rot werden, ganz ehrlich? „Ich passe schon gut auf ihn auf“, versicherte Wolfram. Ich wartete auf die Antwort auf den zweiten Teil, aber da kam nichts. Das bemerkte auch Murata. „Na dann, bin ich beruhigt“, sagte er, nahm mich am Ellbogen und ging mit mir zur Jungentoilette.
 

Murata war sehr vorausschauend, so auch in diesem Fall. Er zog eine Dose aus der Hosentasche und drückte sie mir in die Hand. „Was ist das?“ fragte ich, während ich sie öffnete. Es war Creme oder so was. „Ein Wundermittel, das wird auch Wolfram gefallen." Ich verstand nicht was er meinte. „Wovon redest du, das ist Creme. Ich habe nicht gesehn, das Wolfram sich eincremt und ich mach das auch nicht." Ich bekam eine Kopfnuss. „Dummkopf. Das ist Gleitgel." „Oh. Ohhhh“, jetzt verstand ich. Nebenbei bemerkte ich jetzt, das die lärmenden Geräusche auf der Toilette, die immer leiser geworden waren, jetzt ganz verstummten. „Ihr habt keines benutzt, oder?“ Woher zum Teufel wusste er das, und warum hatte Wolfram so etwas nicht zu Hause? „Woher?“ „Sonst würdest du nicht so breitbeinig wie ein Cowboy ohne Pferd durch die Gegend laufen." Aua, Murata, das hättest du auch anders sagen können. Meine Gefühle genauso wie die Stille im Raum ignorierend fuhr er mit einer gewissenen Begeisterung fort: „Aber das ist nicht irgendein Gleitgel, Shibuya." „Nein?“
 

„Nein“, verkündete er stolz, „da ist auch ein Mittel drin zur Betäubung." Vor meinem geistigen Auge sah ich einen OP-Saal, ich lag auf der Bahre, Wolfram beugte sich über mich und sagte, gleich vorbei, während ein Arzt in grünem Kittel eine Spritze in der Hand hielt. Nur eine kleine Narkose, gleich vorbei, keine Angst, redete der mir zu. Murata schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht. „Ähm, danke." „Du hast keine Ahnung, oder?“ „Nein." „Lies mal was da steht." Ich las, unglücklicherweise laut, vor, „Die eine Stunde glücklich mach creme." Die andern Schüler verliessen jetzt fluchtartig den Raum, so dass wir allein waren. Immerhin das. „Das sagt mir nichts." „Überleg doch mal, Shibuya, dir tut nichts weh, wenn er dich poppt, und er kann länger. Durch das bisschen Betäubung wo drinne is, in der Creme." „Eine Stunde, wie?“

Die Kondome

Murata strahlte mich an. „Toll, was?“ „Woher hast du das, Murata?“ fragte ich misstrauisch. „Von dem Laden da du weisst schon, wo die ganzen Lederklamotten im Schaufenster liegen." „Du bist da reingegangen und hast nach so einer Creme gefragt?“ rief ich entgeistert. Ich musste zugeben, ich war schwer beeindruckt. Das hatte ich Murata gar nicht zugetraut. „Nein“, sagte der, „Ich hab gesagt, mein Freund ist schwul geworden, haben sie irgendwelche sachen da, damits ihm mehr Spass macht." Meine Bewunderung von eben flog auf und davon. „Da gibt’s jede Menge Sachen, da musst du auch mal hingehen." „Von mir aus“, sagte ich und steckte die Creme in die Tasche. „Oh, bevor ich es vergesse, weisst du wer da arbeitet?“ Woher sollte ich das wissen? „Nein, wer denn?“ „Die Brünette, die letztes Jahr den Abschluss gemacht hast, du weisst schon, die in die du so verknallst warst, wie hiess sie noch?“ „Temari“ „Ja, genau die. Ich soll dir einen schönen Gruß bestellen." „Murata, wenn man Freunde wie dich hat...“ - braucht man keine Feinde mehr - „Kann man sich wirklich glücklich schätzen." „Ach komm, auf mich kannst du dich eben verlassen."
 

Die Tür wurde aufgerissen und Wolfram stürmte herein. Zum Glück hielten Murata und ich einen angemessenen Abstand zueinander, ich war erleichtert, das er mich nicht in den Arm genommen hatte, oder so. „Wo bleibt ihr eigentlich so lange? Der Lehrer ist schon da." „Ich hab euch gestern noch ein kleines Geschenk besorgt“, sagte Murata geheimnisvoll. Ich warf ihm einen bösen Blick zu, damit er schweigen sollte. „Ein Geschenk?“ fragte Wolfram interessiert. „Was für eins?“ „Wir sollten gehen“, sagte ich und wandte mich um zur Tür. „Yuri." Ich kannte Wolfram mittlerweile so gut, um zu wissen, dass ich nicht so einfach davon kam. Also holte ich die Creme aus der Tasche und hielt sie ihm hin. „Eine Stunde?“ „Ja, jetzt gib es her und lass uns zurückgehen. „Ich glaube, das ist bei mir besser aufgehoben“, sagte er und verstaute es in seiner Tasche. Auf dem Weg zum Klassenzimmer bemerkte ich, wie Wolfram zu Murata gewandt den Daumen hob, und dieser sich selbst auf die Schulter klopfte.
 

Unglücklicherweise hatten wir – das wäre kein Unglück gewesen – eine Freistunde überraschenderweise, und der ausgefallene Lehrer wurde von unserem Sportlehrer – und das war das Unglück – vertreten. Nach den zwei Stunden Sport tat mir alles, aber auch wirklich alles weh. Ich war so langsam, das ich sogar den Bus verpasste. „Yuri, was soll das?“ „Wolfram?“ „Du fährst mit uns, das ist doch wohl klar." Ich hatte eine ganz bestimmte Befürchtung, aber Konrad sagte, „Wir fahren dich nach Hause." Ach so, na dann, war ja alles in Ordnung.
 

Ich ging ins Haus und blieb wie erstarrt stehen. Meine Mutter hatte kunstvoll die Haare hochgesteckt, und trug eine Art Partykleid. Mein Vater hatte auch seinen Galaanzug an und versteckte sich unglücklich hinter der Zeitung. Der Tisch war ausgezogen, als würden wir mindestens zehn Leute erwarten, und darauf standen mehrere Salate, verschiedene Getränke, Shori brachte gerade die Cartons einer Lieferfirma nach draussen. Ich liess mich in den nächstbesten Sessel fallen. „Yu-chan, setz dich nicht da hin, du zerknitterst die Kleider. Ich weiss noch nicht welches ich anziehen werde. Setz dich auf den Stuhl. „Nein, mir tut alles weh, Mama." Die Gesichter meiner Eltern färbten sich rot. Shori der gerade hereingekommen war, sagte streng: „Ich muss mit dir reden, Yu-chan." „Nein, so ist das nicht, wir hatten Sport." Meine Mutter lachte. „Du hast doch heute gar keinen Sport." „Oh, er meint sicher eine andere Art von Sport“, zwinkerte mein Vater meiner Mutter zu. Sie stiess einen Jauchzer aus und ich wollte gerade erklären, das wir eine Vertretung bekommen hatten, als Shori mich einfach beim Arm packte und mich gegen meinen Protest in sein Zimmer schleppte.
 

Verärgert wollte ich mich auf sein Bett fallen lassen, als er mich auffing und sanft hinsetzte. Mir fehlten grade die Worte, während Shori sich bückte um unter seinem Bett eine kleine Schachtel hervorzuholen. Er drückte sie mir in die Hand, und setzte sich neben mich. Das waren Kondome. Ähnlich wie bei Murata war seine erste Frage:“Habt ihr Kondome benutzt?“ Ich gab auf und schüttelte den Kopf. Er nickte, „Das habe ich mir gedacht." Etwa eine Stunde musste ich mir einen Vortrag über Safer-Sex anhören. Nicht, das ich das nicht schon x-mal in der Schule in Biologie gehört hatte, wir hatten sogar eine Arbeit darüber geschrieben, aber ich hatte keine Lust zum streiten, und hielt es für das Klügste, es schnellstmöglichst hinter mich zu bringen. Kaum war er fertig, klingelte es an der Tür. Innerlich fluchte ich, warum,wer auch immer da kam, hatte er nicht früher kommen können und mich so vor der Aufklärung bewahrt? Shori sah auf die Uhr. Es war halb vier. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Wolfram war. Auf der Treppe hörte ich Muratas Stimme. Bis ich so schnell ich konnte unten angekommen war, war er auch schon eingeladen. „Ah Shibuya, ich habe dir dein Deutschbuch vorbeigebracht, es war noch in der Schule." Ich sah ihn verärgert an. Natürlich war es noch in der Schule gewesen, schließlich hatte die Lehrerin gesagt, wir sollten es einfach in der Schule lassen. „Hast du dein eigenes Deutschbuch auch mit nach Hause genommen?“ fragte ich ihn. „Nein,wozu?“ Das war klar.

Besuch

Glücklicherweise war ich vom Mithelfen ja erlöst und wollte mich auf den Stuhl setzen, meine Mutter hatte ja anscheinend vor, sich nochmal umzuziehen, vielleicht. Ich sah mich vorsichtig nach Shori um, damit der mich nicht wieder auffing und hinsetzte. Nein, nicht zu sehen. Ich setzte mich, stützte meinen Kopf zwischen die Hände und fing ernsthaft an, darüber nachzugrübeln, wieso ich für alle automatisch der Uke war in dieser Beziehung. Stimmte da vielleicht was nicht? War das etwa der Grund das ich bei Mädchen nicht ankam? Ich klopfte unwillkürlich meine Brust ab. Nein, ein Busen war mir nicht gewachsen, so ein Quatsch, du fängst an verrückt zu werden, schalt ich mich selbst. „Shibuya“, rief Murata. „Kannst du mir mal helfen?“ „Klar, wobei denn...oh nein, kommt nicht in Frage, seid ihr verrückt, wo habt ihr das überhaupt her?“
 

Shori und Murata wollten gerade eine Art Lichterkette an der Decke befestigen. Das ging echt zu weit. Ich riß sie einfach runter und sagte nochmal lauter:“Kommt nicht infrage, ich mach mich nicht zum Affen, wegen euch." „Aber Yu-chan, das sieht doch so romantisch aus, wenn es abend wird – oh, möchtest du sie lieber in deinem Zimmer haben?“ fragte Mama. „Nein, und überhaupt, wolltest du dich nicht umziehn?“ Ach du Schreck, mein Zimmer. Ich rannte hoch, und räumte schnell ein bisschen auf, aber die Zeit war viel zu knapp und ich betete, dass Wolfram nicht mein Zimmer sehen wollte. In Gedanken antwortete ich schon auf seine Vorwürfe, nicht jeder hat Angestellte so wie du. Nicht zu fassen, vor einer Woche hatte ich noch ein ganz normales Leben und jetzt – das.

„Aufgeregt?“ fragte Murata, ich machte einen Satz fast bis an die Decke. Ich war so in Gedanken gewesen, daß ich gar nicht gemerkt hatte, wie er reingekommen war. „Du meine Güte“, sagte er vorwurfsvoll. „Aber wenn du soweit beim Sport heute gesprungen wärst, wäre deine Note die Beste von allen gewesen." „Murata, tu das nie wieder“, sagte ich und lies mich aufs Bett fallen.
 

„Ich hab geklopft“, verteidigte er sich. „Worüber denkst du nach? Du glaubst doch nicht etwa, deine Familie wäre nicht gut genug für ihn, oder sowas?“ Mit strengem Gesichtsausdruck schob er seine Brille zurecht. „Nein, das ist es nicht“, antwortete ich ziemlich lahm. „Ich dachte nur, wie sehr ein einziger Mensch plötzlich dein ganzes Leben verändern und beeinflussen kann. Weisst du, wenn du mir vor ein paar Tagen gesagt hättest, das ich mein Zimmer für einen Kerl aufräume, ich hätte dich bestenfalls ausgelacht." „Aufgeräumt?“ fragte Murata und sah sich um. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, bis er sich bückte, um unter meinem Bett nachzusehen, die Schultern zuckte und anfing die Schublade von meinem Schreibtisch zu öffnen. „Murata, was machst du da?“ „Ich suche nach der Stelle, die du aufgeräumt hast“, antwortete er. Mann der hatte Nerven, das war zuviel. Ich sprang auf aber er war schon aus der Tür und rannte die Treppe hinunter, ich hinterher, und...Wolfram wurde grade von meinen Eltern begrüsst.
 

Er sah erstaunt zu uns, während meine Mutter am Jubeln war. „Was für ein hübscher Junge, du bist, ach wenn ich doch nur jünger wäre." „Liebling“, protestierte mein Vater. Meine Mutter deutete hinter ihrem Rücken mit dem Finger irgendwohin, und als ich in die Richtung sah, ja da lagen noch die Kleider auf dem Sessel. Ich stieß Murata mit dem Ellbogen an, der setzte sich auch sogleich in Bewegung, ach Murata, du bist eben doch mein bester Freund, dachte ich und gesellte mich zu Wolfram und meinen Eltern. Wolfram benahm sich ganz Gentlemenlike, und meine Eltern waren begeistert. Was auch sonst, nur Shori sah so aus, als wolle er erstmal abwarten, keine Ahnung auf was. „Yu-chan, zeige deinem Freund doch dein Zimmer, während ich das Essen auftische“, sagte meine Mutter. „Warum denn, wir können doch auch hierbleiben“, beeilte ich mich zu sagen aber sie schob mich schon zur Treppe, mit den Worten „Wolfram möchte sicher dein Zimmer sehen, nicht wahr?“ „Ja gerne“, sagte der auch sogleich. „Ist es überhaupt schon vier Uhr“, fragte ich ihn, während wir zusammen hochgingen." „Ja, Punkt Vier Uhr."
 

„Na dann, herein mit dir“, sagte ich ganz selbstbewusst, jedenfalls bemühte ich mich so zu klingen, und öffnete die Tür. Wolfram ging rein, und sagte dann „Ah, Yuri, was für schöne Kleider du hast. Warum ziehst du sie nicht an, wenn wir alleine sind? Ehrlich, mich stört das nicht, ich finde, na ja, es sogar ziemlich erregend." Wovon redet er da? Dachte ich und folgte ihm in mein Zimmer. Als ich Mutters Kleider auf meinem Bett liegen sah, stieß ich unwillkürlich einen undefinierbaren Schrei aus. Verdammt, Murata. Während ich versuchte, mir etwas einfallen zu lassen hörte ich ein gefährliches Grummen. Es dauerte einen Moment bis ich merkte, das es von Wolfram kam. Langsam drehte er sich zu mir um, und seine Augen funkelten mich an. „Yuri." „Ähm, ja?“ „Wieso hast du Kondome auf dem Nachttisch?“ „Was hab ich?“ Verflucht auch, wie kamen die dahin? „Ähm, die gehören meinem Bruder, sie gehören Shori, ja genau." „In deinem Zimmer?“ „Was?“

„Du willst mir erzählen, dein Bruder hat seine Kondome in deinem Zimmer? Das willst du mir wirklich erzählen?“ seine Stimme wurde immer lauter. Ich hob schnell die Hände. „Nein, er hat sie mir gegeben für uns beide“, beeilte ich mich zu sagen.
 

Wolfram schien mir nicht so richtig zu glauben. Aber dann meinte er: „Wozu?“ „Wozu? Was meinst du wegen Krankheiten und so, wahrscheinlich?“ Er packte mich beim Kragen. „Also bin ich nicht der Einzige?“ „Doch, aber ich, ich meine du...für mich war es das erste Mal...na ja...ich habe in dem Moment auch nicht...“ „Für mich war es auch das erste Mal“, sagte er und sah mich genau an, so als wollte er herausfinden, ob ich lüge oder nicht. „Echt?“ jetzt war ich überrascht. Beleidigt liess er mich los. „Natürlich, wofür hälst du mich?“ „Das könnte ich dich ja auch fragen." Ich bekam Kopfschmerzen. Das fing ja schon mal gut an.

Die Verlobung

Genervt rieb ich mir mit den Fingern die Schläfen. Ich hatte es plötzlich satt, das sich jeder in mein Leben einmischte, das ich mich vor Wolfram ständig rechtfertigen musste, das mir irgendwelche Sachen aufgedrängt wurden...“Yuri“, rief Wolfram mit einem solchen Entsetzen in der Stimme, das mir fast das Herz stillstehen blieb. „Was ist denn nun schon wieder?“ rief ich zurück. „Geht es dir nicht gut?“ Wie konnte ein einziger Mensch nur derart launisch sein. „Hast du Fieber?“ „Äh, nein, nur Kopfschmerzen, ein wenig“, aber Wolfram legte schon seine Hand auf meine Stirn und sorgte für ungeahnte, plötzliche Hitze in mir.
 

Peinlich berührt nahm ich sein Handgelenk und zog seine Hand wieder weg. „Du bist ganz heiss“, Wolfram wandte sich schon um, anscheinend um Hilfe zu rufen, und ich unterbrach ihn schnell: „Mir ist nur heiß, weil du mich angefaßt hast, nichts weiter, ein bisschen Streß." Geschmeichelt legte er seinen Kopf zur Seite und lächelte. „Bringen wir´s hinter uns, damit wir endlich alleine sein können." „Was meinst du? Hier ist wirklich nicht der richtige Ort für … für sowas." „Deswegen kommst du heute auch mit zu mir." Oh Gott. Ich stöhnte. „Nicht heute, Wolfram, bitte, mir tut alles weh."
 

„Oh“, sagte er schuldbewusst. „Aber ich habe eine Überraschung für dich." „Ist mein Fahrrad endlich repariert?“fragte ich zurück. „Wolf-chan, Yu-chan, kommt ihr runter? Natürlich nur, wenn ihr nichts besseres zu tun habt“, kicherte meine Mutter. „Ja, wir kommen Mutter." Das war nicht etwa ich, das war Wolfram. Irritiert sah ich ihn an. Aber er wandte sich schon um und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Nach dem Essen, eigentlich hatte ich ja ursprünglich an Kaffee und Kuchen gedacht, aber ausser den verschiedenen Salaten und Getränken, gab es auch Fondue mit verschiedenen Sossen und Fleischsorten, sowie Fisch und Reisgerichte. Wann hatte sie das alles gemacht? Ähm, hatte Shori nicht irgendwelche Kartons weggeräumt? Keine Ahnung, was solls. Also nach dem Essen erhob sich Wolfram, und räusperte sich um jedermanns Aufmerksamkeit zu bekommen.
 

„Vater, Mutter, ich möchte euch hiermit ganz offiziell um die Hand Yuris bitten." Ich seufzte und wollte diesem Ausländer gerade erklären, das es in Japan noch immer verboten ist, als Mann einen Mann zu heiraten, als meine Mutter freudig in die Hände klatschte und nicht reden konnte, da ihr Tränen über die Wangen liefen. Mein Vater hob Wolfram sein Weinglas entgegen und nickte. Dann verkündete Wolfram, das wir beide heute beim ihm übernachten würden. „Ah Shibuya, also bist du schon unter der Haube“, stellte Murata amüsiert fest. Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Schließlich hatte er doch die Kleider meiner Mutter einfach auf mein Bett geworfen.
 

Ich überlegte, welche Einwände ich hervorbringen sollte, aber mir fielen keine ein. Am liebsten wollte ich nur meine Ruhe haben, und – zusammen mit Wolfram im Arm – nur noch schlafen.
 

Wolfram hatte sich mit einer vollendeten Verbeugung verabschiedet und wir waren jetzt im Wohnzimmer seiner kleinen Villa. Ich hatte ihm gesagt, ich hätte Lust eine Oper zu hören, natürlich hatte er so etwas da. Bei einer Oper konnte ich einfach am besten schlafen, egal wieviel Streß ich hatte. Nach etwa zwei Stunden wachte ich schon viel erholter auf. Als ich die Augen öffnete sah ich direkt in Wolframs Gesicht, anscheinend hatte er mich beobachtet. Oder vielleicht erst jetzt so genau hingesehen, ja gut möglich, wenn mich jemand anstarrte, wurde ich wach. „Hm?“ „Tut mir leid, Yuri, ist meine Schuld. In Zukunft werde ich weniger dominant sein." „Schon gut, ich war nur gestresst und müde, wie ich schon sagte." Er hielt mir ein rotes Samtkästchen unter die Augen. Ein Teil, in dem man normalerweise Schmuck findet, und öffnete es. Zwei silberfarbene Ringe mit – waren das etwa Diamanten – das mussten welche sein, so wie ich Wolfram kannte, war das kein Glas – blitzten mir entgegen.
 

„Gefallen sie dir?“ fragte er mit sinnlicher Stimme. Mein Verstand sagte, du bist viel zu jung um dich zu verloben, mein Mund sagte „Ja." Wolfram gab mir einen in die Hand. „Ziemlich schwer“, bemerkte ich. „Das ist Platin." Also kein Silber, das wunderte mich nun auch nicht mehr, nur womit wollte er diese Verlobungsringe toppen? „Lies die Gravur“, forderte er mich auf. Das heutige Datum war eingraviert, und ein Spruch, „for my first and neverending love." „Mh, kein Name, das ist praktisch“, ich lachte. Da ich kein Englisch konnte, wusste ich auch nicht so genau, ob das eingravierte korrekt war. Siehst du den kleinen Brillanten neben dem e ?“ „Ja." „Drück drauf." Das war leichter gesagt als getan, dieses kleine Ding mit meinem dicken Finger zu drücken kostete mich einen fast zehnminütigen Kampf. Ein kleines unglaublich schmales Stück des Platins klappte hoch, darunter drei Buchstaben und mein Name. „ILU Yuri." Sogar ich war geplättet, von soviel Stil und Kunst.
 

Wolfram nahm mir den Ring aus der Hand und steckte ihn mir an den Finger. Dann gab er mir den anderen Ring aus der Schachtel, ich sah ihn mir zuerst an, diesmal konnte ich den kleinen Brillanten schneller drücken. Bei ihm stand das Gleiche nur ausser Yuri stand eben Wolf. „Überzeugt?“ fragte er. Ich nickte und steckte ihm den Ring an den Finger. Woher er meine Grösse so genau gewusst hatte, und wie er das in der kurzen Zeit hinbekommen hatte, fragte ich nicht. „Ich glaube, du bist immer für eine Überraschung gut, oder?“ Er lachte leise an meinem Ohr. Entweder ich hatte nicht bemerkt, dass wir uns schon so nahe waren, oder es war normal geworden. Plötzlich war ich wieder munter. Wir balgten und rauften uns wie ganz normale Jungs herum. Ausser Puste, stellte ich fest, das ich einfach nur glücklich war. Also, so dachte ich, warum sollten die Leute, die mich mögen, sich nicht einmischen, wenn es sie genauso glücklich machte? Es störte mich nicht mehr. Von mir aus konnte da noch kommen was immer auch kommen sollte oder wollte.
 

Wolfram und ich duschten uns, er gab mir eines seiner Nachthemden, ungewohnt aber nicht peinlich, und Arm in Arm schliefen wir ein.
 

Ende, ich hoffe, ich konnte euch ein wenig unterhalten^^



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (15)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T10:01:08+00:00 16.07.2012 12:01
Q.Q
awwwwwwwwwwwwww....das is sooo süß. Q_Q
Richtig gut geschrieben und voll niedlich ^^
super schönes ende =)
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T09:34:37+00:00 16.07.2012 11:34
Das mit den Busfahrern stimmt...Kenn ich selbst nur allzu gut. xD
aber so viele neugierige bus-schul-kameraden...also wirklich. ;)
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T09:24:55+00:00 16.07.2012 11:24
Wie immer schönes chapter^^
Aber wie detailliert hat yuri shori wohl alles erzählt?
hrhrh
xD
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T09:18:21+00:00 16.07.2012 11:18
Irgendwie tut mir Shori leid. =(
Td ein cooles kapitel =)
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T09:12:17+00:00 16.07.2012 11:12
>W<
!!!! OH GOTT!!!!
DAS IS SOOOOO süß!
*o*
die beiden sind einfach die Niedlichkeit schlechthin! >u<
echt gut geschrieben =)
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T08:53:30+00:00 16.07.2012 10:53
...xDDDDD
Murata du Perversling...also wirklich.
*hüstl*
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T08:46:04+00:00 16.07.2012 10:46
ich hab so das ungute gefühl, das wolfram Murata verprügelt hat, damit er ihm die Yuri-puppe strickt. xD
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T08:36:48+00:00 16.07.2012 10:36
...wenn Gwendal Stricklehrer is und Konrad chauffeur...was sind dann Günter und Celli??? o.O
das Kapitel is übrigens besonders schön geschrieben^^ finde ich =)
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T08:26:36+00:00 16.07.2012 10:26
Murata du neugieriger typ du....sowas fragt man doch nicht. *blush*
^/////^
Von:  Haruma-kun
2012-07-16T08:19:56+00:00 16.07.2012 10:19
hahhahah!
Wolfram wurde einfach mit einer alten frau ausgetausch. xD


Zurück