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The Crystal Palace

von

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Regen

Der Regen prasselte gleichmäßig gegen die Fensterscheiben und bildete zusammen mit dem Rauschen der Blätter in den Bäumen eine gleichmäßige Geräuschkulisse, die erst durchbrochen wurde, als ein erstickter Schrei durch das Zimmer hallte.

Cassandra schreckte aus dem Schlaf auf und der gehetzte Blick ihrer taubenblauen Augen schnellte unsicher in der Dunkelheit des Zimmers umher, bis sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigte. „Es war ein Traum, nur ein dummer Traum… Beruhige dich, Angsthase!“ Sie gab sich selbst einen leichten Schlag auf den Hinterkopf, atmete tief durch und kuschelte sich wieder in ihr großes Kopfkissen. Doch der Schlaf wollte nicht mehr kommen, sie war hellwach und durchlebte vor ihrem inneren Auge den Traum, der sie regelmäßig tief in der Nacht quälte.

Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie.

Es war immer dasselbe und anfangs hatte Cassandra es auf ein Buch schieben wollen, das sie in ihrer Kindheit ab und an gelesen hatte, aber nach und nach musste sie sich eingestehen, dass dieser Traum sie nicht losließ; er verfolgte sie unbarmherzig Monat für Monat, Jahr für Jahr, immer in den Neumondnächten.

Das Mädchen schlug schließlich ihre Bettdecke zur Seite, streifte ihren hellblauen Morgenmantel über, schlüpfte in die flauschigen Hausschuhe und verließ ihr kleines Zimmer, in das nicht mehr als ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Regal und ein Schreibtisch passte. Es war die Standardeinrichtung der Zimmer im Sankt Josephines, dem Waisenhaus der Stadt, wobei Cassandra noch das Glück eines Einzelzimmers hatte, die meisten Kinder und Jugendlichen waren in Doppelzimmern untergebracht. Zu einem dieser Doppelzimmer führte sie nun auch ihr Weg über den dunklen Flur mit den polierten Holzdielen. Vor einem Zimmer am Ende des Gangs blieb sie stehen, klopfte leise an und drückte dann die Klinke hinunter, um in den Raum zu spähen.

Die rotblonde Lyra, deren Haare einen fast schon rosa Schimmer aufwiesen, lag in ihrem Bett und schlief seelenruhig, das Bett an der gegenüberliegenden Wand war leer. Cassandra kannte keine Einzelheiten, aber Lyras Zimmernachbarin war vor einigen Wochen an einer schweren Krankheit erkrankt und befand sich seit dem im Krankenhaus.

„Lyra?“ Zögerlich trat sie ein, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und ließ sich dann auf der Bettkante des leeren Betts nieder. „Lyra?“

„Hm…?“ Nur langsam kam Leben in das andere Mädchen, das blinzelnd die Augen öffnete und sich aufsetzte, sobald sie ihre Freundin in ihrem Zimmer erblickte. „Cassie? Was ist los?“

„Ich kann nicht schlafen. Entschuldige bitte, dass ich dich aufgeweckt habe.“

„Schon gut“, erwiderte Lyra gähnend und schlang sich die Bettdecke um die Schultern. „Du hattest wieder diesen Traum, nicht wahr?“ Als Cassandra nickte, seufzte die andere mitfühlend. „Oh Cassie, das tut mir leid.“

„Störe ich?“

„Nein, das weißt du doch.“ Mittlerweile war Lyra wach und schaltete das Licht auf ihrem Nachttisch an, damit sie mehr sehen konnte. Im ersten Moment blendete sie das Licht, aber schon kurz darauf hatten sich ihre Augen daran gewöhnt. „Eine ziemlich regnerische Nacht.“

„Man kann keinen einzigen Stern am Himmel sehen“, sagte Cassie, rückte auf der Matratze bis zur Wand und zog die Knie an. „Weißt du, worüber ich mir Gedanken mache, Lyra? Ich denke, dass mein Traum eine Bedeutung haben muss, sonst würde er nicht in jeder Neumondnacht wiederkehren und mir den Schlaf rauben. Wenn ich in diesen Nächten aufwache, habe ich immer das Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte, dass ich nicht hier her gehöre.“

„Du meinst Heimweh?“

„So in der Art, ja.“ Traurig senkte sie den Blick und spielte mit ihren langen, silberweißen Haaren. Es war eine so ungewöhnliche Haarfarbe, dass Cassie dafür oft Spott von den anderen Kindern erhielt, aber Lyra sagte ihr stets, dass sie sich nicht als Außenseiterin, sondern als etwas Besonderes sehen sollte. „Ich weiß nur nicht, wo ich hingehöre.“

„Das weiß wohl keiner von uns, bis wir den Ort gefunden haben“, meinte Lyra, wobei sie den Kopf leicht schief legte. Sie selbst war schon seit dem Kleinkindalter im Waisenhaus. Ihre Eltern waren damals bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen und ihre einzige Verwandte, die Tante ihres Vaters, weigerte sich bis heute für sie zu sorgen. Für Lyra war das Waisenhaus immer ihr Zuhause gewesen, die anderen Kinder ihre Freunde und Familie. Cassandra hingegen war mit acht Jahren zu ihnen gekommen und Lyra erinnerte sich daran, dass Cassie ein vollkommen verschüchtertes Mädchen gewesen war, das eines Nachts von einem Unbekannten vor den Toren des Sankt Josephines abgeliefert worden war. Cassie erinnerte sich weder an ihre Familie noch an ihre Herkunft.

Ein Scharren direkt vor der Tür ließ beide Mädchen zusammenzucken, aber Lyras Gesicht erhellte sich ziemlich schnell, als sie aufstand und die Tür öffnete, woraufhin ein Felilou schnurrend ins Zimmer kam und elegant auf Lyras Bett sprang. Das lila Katzenpokémon streckte sich auf der Bettdecke aus und ließ sich von dem Mädchen mit Streicheleinheiten verwöhnen.

„Felilou hat dich ja richtig gern.“ Cassie kicherte leise und beobachtete, wie Lyra dem Pokémon einen Kuss ins Fell drückte. „Du hast wirklich ein Händchen für Pokémon.“

„Nur bei Felilou“, entgegnete Lyra sofort.

„Mit den Hundustern vom Wachmann kommt doch niemand klar, also mach dich nicht selbst runter. Felilou mag dich total und es lässt sonst nur die alte Josephine und deren Tochter Ines an sich heran.“

„Weil sie ihre Besitzer sind, Cassie.“

„Und du bist es nicht, ergo hast du ein Händchen für Felilou“, argumentierte die Weißhaarige, der man aufgrund ihrer Haarfarbe den Nachnamen White in die Papiere eingetragen hatte. „Ich wünschte, ich könnte mir einfach ein Pokémon fangen und von hier verschwinden – an irgendeinen Ort, wo es besser ist als hier.“

„Du weißt, dass das nicht geht“, schaltete Lyra sich sofort ein und nahm Felilou auf ihren Schoß. Den Kindern im Waisenhaus war es verboten eigene Pokémon zu besitzen, weil es dadurch schnell zu Kämpfen, Rivalitäten und Tumulten kam. „Wir müssen nur warten, bis wir volljährig sind, dann können wir uns einen Ausbildungsplatz suchen und gehen.“

„Ich beneide die Trainer dort draußen, die schon mit zehn ihre Lizenz bekommen und Abenteuer erleben.“ Cassie schmollte. Zwar war sie ein kleiner Angsthase, aber trotzdem sehnte sie sich danach der Eintönigkeit im Waisenhaus zu entfliehen.

Lyra beobachtete ihre Freundin, schob das Katzenpokémon sanft zur Seite und stand auf. „Lass uns draußen spazieren gehen.“

„Jetzt?“ Erschrocken riss Cassie die Augen auf. „Es ist mitten in der Nacht und es regnet!“

„Wir lassen uns nicht erwischen und nehmen den Regenschirm mit. Na los, komm, du kannst dir eine Jacke und Schuhe von mir leihen.“

„Das ist gefährlich, Lyra…“

„Ach, papperlapapp“, winkte diese lediglich ab und holte schon die Sachen aus ihrem Schrank. „Das bringt dich auf andere Gedanken.“

Nur etwa fünf Minuten später schlichen die beiden Mädchen mit einer Taschenlampe und einem dunkelgrauen Regenschirm bewaffnet durch die Flure, bis sie über eine Steintreppe in die Küche gelangten, von der der Dienstboteneingang abzweigte. Natürlich war die Tür abgeschlossen, aber jeder, der schon eine Weile hier war, wusste, dass der Schlüssel in dem größten Kochtopf aufbewahrt wurde.

Kaum gingen sie einen Schritt nach draußen, schlug ihnen feiner Regen ins Gesicht. Lyra spannte schnell den Regenschirm auf, hakte sich grinsend bei Cassie unter und lief dann mit ihr über den Innenhof des Waisenhauses in den Garten, wo sie ungestört die Taschenlampe anmachen konnten. Vom Gebäude aus sah man nur einen kleinen Teil des Gartens ein, sodass der Lichtschein nicht bemerkt werden würde, selbst wenn noch andere um diese Uhrzeit auf den Beinen waren.

„Frische Luft ist das beste Rezept gegen Sorgen aller Art“, flötete Lyra gut gelaunt und wich den knöcheltiefen Pfützen im Rasen aus. „Jetzt schau nicht so, Cassie. Uns wird schon nichts passieren.“

Just in diesem Moment zuckte ein Blitz über den wolkenverhangenen Nachthimmel und ließ Cassie leise aufschreien. „Muss das wirklich sein? Wir holen uns noch eine Erkältung und dann müssen wir Josephine erklären, wieso wir nachts durch den Regen wandern.“

Lyra rollte mit den Augen und zog ihre Freundin weiter über den Rasen, bis sie auf einen mit Steinplatten ausgelegten Weg stießen, der den Hof mit einem Pavillon mitten im Garten verband. „Stellen wir uns dort ein Weilchen unter.“

„Ja, bitte.“ Man konnte der Weißhaarigen deutlich ansehen, dass sie von der ganzen Nachtwanderungsaktion wenig begeistert war, aber sie wollte Lyra auch nicht den Spaß verderben. Sobald sie wieder ein Dach über dem Kopf hatten, ließ sie sich auf einer der Bänke des Pavillons nieder. „Der Himmel ist wirklich unruhig.“

„Stimmt.“ Auch Lyra ließ sich auf einer Bank nieder und stellte die Taschenlampe aus, als weitere Blitze über den Himmel zuckten und die Umgebung sekundenlang erhellten.

Plötzlich schlug ganz in ihrer Nähe ein Blitz ein und blendete die beiden Mädchen, die erschrocken aufsprangen und in ihrer kurzen Panik hektisch gegeneinander gelaufen waren.

„Aua!“ Lyra rieb sich die Schulter, gegen die Cassie geprallt war.

Cassie wiederum richtete mit großen Augen ihren Blick auf die Baumgruppe in ihrer Nähe, in die der Blitz eingeschlagen war. „Hast du das gesehen?“

„Wie sollte ich das übersehen haben“, knurrte Lyra und blinzelte gegen die weißen Flecken vor ihren Augen an.

„Nein, ich meine den Mann bei den Bäumen…“ Ängstlich klammerte Cassie sich an ihre Freundin. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich direkt nach dem Blitz einen Mann dort stehen sah.“ Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern und ihr schlug das Herz bis zum Hals. „Oh bitte, bitte, lass uns zurück gehen. Ich habe Angst, Lyra.“

Die Rothaarige kniff die Augen leicht zusammen und schaute angestrengt zu den Bäumen, konnte allerdings nichts erkennen. „Da ist niemand.“

„Gehen wir, bitte.“

Lyra schaltete die Taschenlampe an, nahm den Regenschirm und spazierte direkt auf die Baumgruppe zu, was ihr nur noch mehr Gejammer seitens Cassandra einbrachte, die weder alleine im Pavillon zurückbleiben noch zu den Bäumen wollte. „Wir gehen ja gleich“, beruhigte Lyra das andere Mädchen und ließ den Lichtstrahl über die Baumstämme und die Umgebung wandern. „Siehst du, hier ist niemand. Das war Einbildung. Wer sollte außerdem nachts durch den Garten des Sankt Josephines schleichen, es gibt hier nichts zu holen.“ Der Lichtkegel wanderte weiter, bis er eine Stelle erreichte, an der alte Tannennadeln auf dem Boden Spuren von Glut an sich hatten, die in winzigen Rauchfäden vom Regen gelöscht wurden. „Das ist interessant.“

„Nein, ist es nicht“, zischte Cassandra und sprang unruhig von einem Bein auf das andere. „Lass uns einfach gehen. Lyra, ernsthaft, ich habe Angst und will sofort zurück!“

„Nur noch ein Moment.“

„Lyra!“

„Sieh mal, was ist das?“ Lyra bewegte sich auf die Glutreste zu, trat sie mit der Schuhsohle aus und deutete mit der Taschenlampe auf eine Delle im Boden, in der zwischen rauchenden Tannennadeln und alten Blättern etwas Helles hervorschimmerte. „Halt mal die Taschenlampe.“ Beherzt drückte sie Cassandra das schwarze Gerät in die Hand, schob die pflanzlichen Reste mit dem Fuß zur Seite und sog dann scharf die Luft ein, als sie sah, was sie da gerade eben freigelegt hatte. „Ein Pokémon-Ei.“

Nun überwog auch bei Cassie die Neugier. Sie näherte sich vorsichtig der Stelle und schaute auf das Ei, das einsam und alleine an dem Fleckchen Erde lag, in dem der Blitz eingeschlagen haben musste. Neben den Bäumen, was schon seltsam genug war. „Was macht das Ei hier?“ Soweit sie wusste, nisteten auf dem Gelände nur einige Vogelpokémon hoch oben in den Bäumen und die Brutsaison stand erst noch bevor. „Das Muster auf dem Ei sieht hübsch aus. Blaue Flecken auf der hellen Eischale.“

„Denkst du, wir können es hier liegen lassen?“

„Wir können es nicht mitnehmen.“ Cassandra pausierte und musterte ihre Freundin. „Lyra, das gibt höllischen Ärger.“

„Wir können es wohl kaum hier draußen lassen, es kümmert sich doch bestimmt niemand darum.“

Das überzeugte Cassie, auch wenn sie sich ausmalte, was sie dafür alles für Strafen bekommen konnten. „Also schön.“ Vorsichtig hob sie das Ei hoch und drückte es gegen ihren Körper. „Ganz schön schwer.“

Langsam ließen sie die Baumgruppe und den Pavillon hinter sich, sprachen auf dem ganzen Rückweg zum Gebäude kein Wort und hingen beide ihren Gedanken nach. An der Küchentür trockneten die Mädchen zuerst das Ei und dann die Taschenlampe und den Schirm mit einem Küchenhandtuch ab, das sie dann in den Behälter der Schmutzwäsche im Nachbarraum legten. Sie einigten sich darauf, dass Cassandra das Ei in ihrem Zimmer verstecken würde, weil Lyra jederzeit eine neue Mitbewohnerin zugeteilt bekommen könnte.

Ein letztes Mal warf Cassie einen Blick hinaus in den Hof zum Garten und für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus, weil sie sich sicher war, dort draußen in der Dunkelheit wieder diese schemenhafte Gestalt ausmachen zu können. Kaum blinzelte sie, war die Gestalt verschwunden. „Einbildung“, murmelte sie, drückte die Tür zu und schloss ab. Doch das Gefühl, das sie an ihr Erscheinen hier im Waisenhaus erinnerte, blieb. Auch damals war es eine regnerische Gewitternacht gewesen.

Partner

Zwei Wochen nach dem Fund des mysteriösen Pokémon-Eis hatte sich das Leben von Cassandra und Lyra wieder normalisiert. In der Wäscherei des Waisenhauses hatten sie einen alten Lappen entwendet, den sie nun für die Pflege des blaugefleckten Eis benutzten. Nachts legte Cassandra das Ei neben sich in ihr Bett, um es unter der Decke zu wärmen, tagsüber war es in ihren dicken Winterschal eingewickelt im Schrank.

Beim Frühstück saßen sich die Freundinnen an einem Holztisch gegenüber und unterhielten sich gedämpft über die allgemein laute Stimmung am Morgen hinweg.

„Es hat sich noch immer nichts getan?“, fragte Lyra, die sich gerade Erdbeermarmelade auf ihr Brötchen schmierte und nach der Kanne mit Kakao langte, die sie Cassandra reichte.

Cassie schüttelte den Kopf, nahm die Kanne entgegen und schüttete sich von dem braunen Milchgetränk ein. „Nein, nichts. Langsam frage ich mich, ob es im Ei überhaupt Leben gibt, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.“

„Hm…“ Mittlerweile war es so, dass Cassie sich mit vollem Einsatz um das Ei kümmerte und sogar zeitweilig eifersüchtig auf Lyra reagierte, wenn diese sie abends im Zimmer besuchen kam und sich auch ein wenig um das Ei sorgte. Lyra reagierte daraufhin mit der Zeit immer empfindlicher, weil sie Cassies Verhalten albern fand, immerhin hatten sie das Ei gemeinsam gerettet und wenn Lyra ihre Freundin in jener Nacht nicht zu dem Spaziergang gedrängt hätte, würden sie jetzt gar nichts von dessen Existenz wissen. „Aber du sagst mir doch Bescheid, wenn sich etwas tut, nicht wahr?“

„Sicher“, antwortete Cassie und nahm einen großen Schluck Kakao, wobei ihre Stimme etwas hölzern geklungen hatte. Ihr war selbst bewusst, dass das Ei im Moment einen Keil zwischen Lyra und sie drückte, aber da sie sich schon immer ein eigenes Pokémon gewünscht hatte und Lyra um ihr gutes Verhältnis mit Felilou beneidete, gönnte sie ihrer Freundin kindischerweise den Umgang mit dem Ei nicht.

Josephine, die alte Leiterin des Waisenhauses, schritt majestätisch durch die Reihen zwischen den Tischen und hatte ein wachsames Auge auf ihre jungen Schützlinge. Am Tisch der beiden Mädchen blieb die grauhaarige Frau, die schon auf die siebzig zu ging, stehen. „Guten Morgen, ihr seht mir heute aber sehr geschäftig aus.“

Sie wechselten einen kurzen Blick, dann antwortete Lyra mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen. „Guten Morgen, Josephine. Cassandra und ich haben uns gerade eben nur darüber unterhalten, dass wir gerne mal wieder einen Ausflug machen würden.“

„Einen Ausflug?“ Die alte Dame legte die ohnehin schon faltige Stirn in Falten. „Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee, ich werde mit Ines bereden, was sich da machen lässt.“ Im Sankt Josephines, das nur eine vergleichsweise kleine Einrichtung war, lebten vierzig Kinder und Jugendliche aus der Region um Ebenholz City. Das Gebäude hatte Josephine in jüngeren Jahren gekauft, renoviert und für ihre Stiftung zur Verfügung gestellt, aber dennoch fehlte ständig Geld und Ausflüge waren nur wenige Male im Jahr Teil des Programms – zumindest, wenn man die täglichen Besuche in der Schule nicht mitzählte.

Lächelnd schaute Lyra der Leiterin hinterher, dann atmete sie tief durch und biss von ihrem Brötchen ab. „Das war knapp. Wir müssen vorsichtig sein, damit das Ei nicht entdeckt wird.“

„Das weiß ich auch“, gab Cassie kurz angebunden zurück. Ihre Kakaotasse hatte sie bereits geleert und auch auf ihrem Teller lagen nur noch einige Krümel, weshalb sie aufstand und fort ging.

Lyra blieb mit einem vor den Kopf gestoßenen Gesichtsausdruck zurück. Kopfschüttelnd aß sie auf und folgte ihrer Freundin dann in ihr Zimmer. Da es Wochenende war, mussten sie nach dem Frühstück nicht zur Schule und konnten den Großteil des Tages mit Freizeit verbringen. Nur am Nachmittag waren beide zum Gartendienst eingeteilt. Vorsichtig klopfte sie an, trat ein und sah, wie Cassie das Ei gerade auf ihrem Bett aus dem Schal auswickelte. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schloss Lyra hinter sich die Tür und musterte ihre hellhaarige Freundin. „Du musst nicht alle fünf Minuten nach dem Ei sehen. Lass uns doch zusammen runter in den Gemeinschaftsraum und ein Spiel spielen.“

„Nein, danke.“

„Cassie, ernsthaft, du hängst ständig hier bei dem Ei. Ich erkenne dich gar nicht wieder.“

Die andere richtete ihre taubenblauen Augen auf Lyra und schnaubte, wobei sie das Ei besitzergreifend an sich drückte. „Ich sorge mich eben um das Pokémon in diesem Ei, okay? Es kann ja nicht jeder einen Pokémonfreund haben.“

„Wie meinst du das?“

„Na ich meine natürlich dich und Felilou. Du sagst zu mir, ich solle nicht ständig bei dem Ei sein, aber du selbst hast fast jeden Abend Besuch von Felilou.“

„Das ist jetzt absolut unfair von dir!“ Aufgebracht stampfte Lyra auf Cassandra zu, die beschützend die Arme um das Ei legte und Lyra böse anfunkelte. Doch der Streit, der sich anbahnte, wurde in dem Moment unterbrochen, als das Ei knackende Geräusche von sich gab. „Du machst es kaputt!“, rief Lyra und ließ sich neben ihrer Freundin auf das Bett fallen.

Erschrocken ließ Cassie das Ei los, doch die Geräusche hielten weiter an und ein feiner Riss begann sich von einer Stelle über den Rest der Schale auszubreiten. „I-ich habe nichts getan!“

„Nein, es schlüpft. Das Pokémon schlüpft“, sagte Lyra mit großen Augen.

Schweigend blickten die beiden Mädchen vollkommen gebannt auf das wackelnde Ei, bis ein Stück der Schale aufplatzte und eine blaue Faust zu sehen war.

„Welches Pokémon ist das?“, wisperte Cassie atemlos.

„Das werden wir gleich sehen.“ Lyra brach ein weiteres Stück der Schale ab, auch wenn sie dafür einen bitterbösen Blick ihrer Freundin erhielt. Die restliche Schale brach daraufhin mit einem Knacken komplett auseinander und entblößte ein Golbit, das neugierig zu den beiden Mädchen schaute und dann auf Cassandra zu kroch, die es sofort auf ihren Schoß hievte. „Ein Golbit?“ Verblüfft schaute sie das junge Pokémon, das schon in wenigen Wochen einen Meter groß und über neunzig Kilogramm schwer sein würde. Junge Pokémon wuchsen immer relativ schnell zu ihrer endgültigen Größe heran, nachdem sie einmal das Ei verlassen hatten.

„Es ist so niedlich.“ Grinsend reichte Cassie dem Kleinen einen Finger, doch sie sog die Luft scharf ein, als das Pokémon ihr beinahe die Hand zerquetschte. „Kraft hat es jedenfalls. Ich weiß allerdings nichts über Golbit, das sind Geistpokémon, nicht wahr?“

Der Streit von vorhin schien vergessen und Lyra nickte. Sie trieb sich relativ oft in der Bibliothek herum und schmökerte auch ausgiebig in älteren Büchern, weshalb sie sich ein breites Wissen über Pokémon angeeignet hatte. „Golbit sind seltene Pokémon. Ich habe gelesen, dass sie Überbleibsel einer uralten Zivilisation sind, die so weit entwickelt war, dass sie mit ihren wissenschaftlichen Künsten Leben erschaffen konnten. Golbit soll eines dieser erschaffenen Lebewesen sein. Sein Körper wird von einer Energie angetrieben, von der niemand weiß, wo genau sie im Inneren seines Körpers entspringt.“ Dabei deutete sie auf Golbits leuchtende Augen und die Spirale auf seiner Brust. „Es ist vom Typ Boden und Geist, also eine einmalige Kombination.“

„Wow, das ist so faszinierend.“ Cassandra errötete ein wenig. „Ich habe mich nie für die alten Bücher interessiert, vielleicht hätte ich das tun sollen. Weißt du noch mehr über Golbit?“

„Ja. Seine Weiterentwicklung ist Golgantes. Es heißt, dass die Schöpfer dieser Pokémon ihnen aufgetragen haben über Menschen und Pokémon zu wachen. Solange es das Siegel auf seiner Brust trägt, kann es seine Kräfte kontrollieren und sogar durch die Luft schweben.“

„Dann ist Golbit im Grunde genommen ein kleiner Wächter über Menschen und Pokémon?“ Cassies Augen leuchteten und sie legte das Pokémon auf ihre Bettdecke, wo es sich erschöpft hinlegte. Wenige Sekunden später schlief es wie ein Stein. „Meinst du, ich kann Golbit behalten?“

„Du weißt, dass uns der Besitz von Pokémon verboten ist.“ Betrübt schaute Lyra zu ihrer Freundin und dem türkisblauen Pokémon. Sie würde ihr gerne helfen, aber Regeln waren nun einmal Regeln und wurden im Sankt Josephines durchgesetzt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie selbst schon darüber nachgedacht, wie es wohl wäre als Trainerin durch die Johto-Region zu reisen, aber bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag war sie an das Waisenhaus gebunden. Mit sechzehn konnte sie eine Ausbildung antreten und mit achtzehn war sie volljährig. Nur sehr selten wurde es in anderen Waisenhäusern erlaubt, dass junge Trainer auf Reisen gehen durften und dann besaßen sie das Pokémon meistens auch noch aus ihrer Zeit vor dem Waisenhaus.

Als es auf einmal an ihrem Zimmer klopfte, zuckten beide Mädchen erschrocken zusammen. Hektisch warf Cassie die Decke über das Pokémon, während Lyra die Tür einen Spalt öffnete und ausgerechnet Josephine und Ines gegenüber stand. „Eh… ja?“

Ines, Josephines Tochter, zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe. „Wir waren auf der Suche nach Cassandra und dir.“

„Oh… wirklich?“

Josephine schob sich an ihrer Tochter und Lyra vorbei ins Zimmer, wo ihr sofort der Berg von Kissen und Decke auf Cassandras Bett auffiel. „Ich habe euch Mädchen doch beigebracht, dass Ordnung im eigenen Zimmer wichtig ist. Wie sieht das denn aus?“

„Ich werde es nachher richten“, meinte Cassie sofort und warf immer wieder unsichere Seitenblicke zu Lyra, die sich neben sie gesetzt hatte. „Was gibt es denn?“

Nun war es wieder Ines, die sprach. „Lyra, es ist eine freudige Nachricht, dass deine Zimmernachbarin aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Allerdings benötigt sie nun dringend ein Einzelzimmer, um sich noch weiter erholen zu können. Da Cassandra und du euch so gut versteht, dachten wir, dass Cassandra in dein Zimmer umzieht und ihr Zimmer an deine alte Mitbewohnerin geht.“

„Oh, das klingt toll.“ Lyra täuschte ihren Enthusiasmus vor. Natürlich freute sie sich darüber, aber im Moment war es einfach nur sehr wichtig, dass die beiden Frauen das Zimmer verließen, bevor Golbit aufwachte und sich bemerkbar machen konnte. „Wir tragen Cassies Sachen nachher sofort rüber.“

„Wir sollten keine Zeit verlieren, Aurelie ist bereits auf dem Weg hier her.“ Beherzt deutete Josephine auf einen Karton, den sie mitgebracht hatte. „Wir helfen euch beim Packen und tragen schon ein wenig Bettwäsche rüber.“

„Nein!“, kam es bei den Mädchen aus einem Mund, was Josephine misstrauisch werden ließ.

Genau in diesem Augenblick begann es hinter Cassie und Lyra zu wackeln, Golbit bewegte sich und grub sich einen Weg unter dem Kissen hervor. „Golb!“

Ines machte einen überraschten Laut, doch ihre Mutter blieb ganz ruhig. „Ich hatte schon die ganze Zeit so ein merkwürdiges Gefühl. Nun, ihr schuldet mir eine Erklärung.“ Sie verschränkten beide die Arme vor der Brust.

Cassandra war sofort den Tränen nah, nahm Golbit hoch und drückte es an sich. „Bitte, nehmen Sie mir Golbit nicht weg. Wir haben das Ei vor zwei Wochen draußen im Garten gefunden und es ist vorhin erst geschlüpft. Bitte, ich werde mich auch immer um es kümmern und für es sorgen. Lassen Sie mich Golbit behalten. Bitte, Josephine!“

Ruhig blickte die alte Frau zu der Weißhaarigen. In ihren Augen blitzte Wissen und Weisheit des Alters auf. „Zwei Wochen versteckt ihr es schon?“ Ganz langsam legte sich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. „Solange schaffen es die wenigstens Kinder, auch wenn es nur ein Ei ist. Ihr seid weiß Gott nicht die ersten, die hier heimlich ein Pokémon halten, aber bisher habe ich es immer recht schnell bemerkt. Nun, ihr kennt die Regeln: Im Sankt Josephines sind keine Pokémon erlaubt.“

Cassie schluchzte auf. „Bitte! Ich wünsche mir schon immer ein Pokémon und dass ich Golbits Ei gefunden habe, ist wie ein Zeichen. Was sollte so ein seltenes Wächter-Pokémon sonst hier tun?“

„Also eigentlich haben wir das Ei gefunden…“, murrte Lyra von der Seite, stand auf und lehnte sich ans Fenster. Sie war beleidigt, weil Cassandra sie einfach überging und Golbit als ihr eigenes Pokémon ansah, doch gegen so einen Starrsinn kam auch Lyra als Freundin nicht mehr an. Mit einem Kloß im Hals hörte sie zu, wie Josephine erneut die Regeln zitierte und dann auf einmal meinte, dass Cassandra schon immer etwas Besonderes gewesen sei. „Was?“ Überrascht schaute Lyra die Leiterin an.

Diese lächelte mild und nickte; sie faltete die Hände vor ihrem Körper. „Für mich stand schon in jener Nacht, in der du bei uns aufgetaucht bist, fest, dass du ein ganz besonderes Kind bist. Deine silberweißen Haare sind so außergewöhnlich und dein verschwundenes Gedächtnis ebenfalls. Mein Gefühl hat mir schon immer gesagt, dass eines Tages der Zeitpunkt kommen würde, an dem ich dich ziehen lassen muss, meine Liebe.“

„Mich ziehen lassen?“, wiederholte Cassie ungläubig, entspannte sich jedoch ein wenig.

Josephine nickte erneut und fuhr fort. „Ja, dich ziehen lassen. Ein Mädchen wie du muss ein Schicksal haben, das anders ist als das von uns anderen. Du solltest nach Teak City gehen, vielleicht wird man dir dort mehr helfen können als ich. Vielleicht ist Golbits Auftauchen wirklich ein Zeichen, vielleicht auch nicht. Aber ich weiß, dass es durchaus noch Rätsel und Wunder in dieser Welt gibt. Geh nach Teak City.“

„Sie lassen mich mit Golbit fort? So wie einen Pokémontrainer?“ Überglücklich sprang Cassie auf, wobei Golbit sich an ihr festklammerte. „Haben Sie vielen Dank! Danke!“

Lächelnd schickte Josephine ihre Tochter nach draußen, dann wandte sie sich wieder an Cassandra. „Enttäusche mich nicht. Du kannst in einer Stunde in mein Büro kommen und dann klären wir die Dinge.“

„Danke!“, rief sie der Leiterin hinterher und sprang vor Freude in die Luft. „Hast du das gehört, Lyra? Ich werde eine Pokémontrainerin!“

In Lyra brodelte die Wut. Das war doch alles einfach nur unfair. Erst tat Cassandra so, als würde Golbit ihr alleine gehören, dann bekam sie eine bevorzugte Behandlung und durfte Trainerin werden. „Bilde dir darauf bloß nichts ein“, warf sie ihrer Freundin deshalb an den Kopf und eilte mit großen Schritten zur Tür. „Du bist nichts Besseres.“

„Du bist doch nur neidisch, dass ich etwas Besonderes bin und jetzt einen Pokémonpartner habe“, fauchte Cassie.

„Mag sein, dass du anders bist als wir, aber wenigstens hintergehe ich nicht meine beste Freundin.“ Mit diesen Worten knallte Lyra die Tür hinter sich zu und ging weg.

Reise

Lyra lag auf ihrem Bett und wich immer wieder den fragenden Blicken von Felilou aus. Noch vor wenigen Stunden hatte sie sich darüber gefreut, dass Cassandra und sie sich fortan ein Zimmer teilen würden, doch jetzt fand sie diese Vorstellung unerträglich. Cassie stolzierte mit Golbit durch das Sankt Josephines und innerhalb kürzester Zeit war sie in der Hierarchie des Waisenhauses ganz nach oben aufgestiegen. „Ich hasse es, dass sie sich so benimmt“, murrte Lyra und drückte das Gesicht ins Kissen.

„Feli“, schnurrte das Katzenpokémon und stupste ihre Schulter mit der Pfote an. „Felilou…“

Mit einem schwachen Lächeln drehte Lyra sich auf den Rücken, setzte sich auf und kraulte die lila Katze hinter den Ohren. Nur zu gerne würde sie auch auf Reisen gehen, aber dieses Glück blieb einzig und alleine Cassandra vorbehalten.

Die Tür öffnete sich und lachend trat Cassie ein, die von einem Pulk von jüngeren Mädchen umringt war. „Golbit braucht nun Schlaf, ihr könnt mich aber heute Abend wieder besuchen kommen.“ Sie winkte den Jüngeren hinterher, ließ die Tür zufallen und setzte sich mit Golbit auf ihr Bett, das ehemals Aurelie gehört hatte. „Ich komme kaum zur Ruhe, alle wollen die Trainerin sehen, die bald mit ihrem seltenen Pokémon nach Teak City aufbrechen wird.“

„Bilde dir nichts darauf ein.“

„Oh bitte, wir wissen doch beide, dass du neidisch bist, Lyra. Du wärst selbst gerne eine Trainerin und jetzt gönnst du mir das nicht. Das ist nicht nett von dir.“

Lyra verengte die Augen. Sie spürte, dass Felilou auf ihrem Schoß leicht das Fell sträubte, denn ihre Hand lag noch immer auf dem Rücken des Pokémon. Ihre Emotionen schienen sich auch auf Felilou zu übertragen; Pokémon spürten so etwas.

Auch Cassandra entging Felilous Verhalten nicht und sie presste die Lippen aufeinander. Die Tatsache, dass Felilou Lyras Befinden spüren konnte, sprach dafür, dass die beiden schon eine recht enge Bindung hatten. In diesem Moment wurde Cassie bewusst, dass sie Golbit zwar als ihr Pokémon vorführte, aber keine Bindung zu ihm hatte. „Es gibt gleich Mittagessen, ich werde mit ein paar der jüngeren Mädchen an einem Tisch sitzen“, sagte sie daher spitz, stand auf und zog Golbit in den Pokéball zurück, den Josephine ihr gegeben hatte. Dann verließ sie das Zimmer.

Lyra schaute ihrer Freundin hinterher und ihre saphirblauen Augen waren zu Schlitzen verzogen, doch sowohl sie als auch Felilou entspannten sich, als sie das Zimmer wieder für sich alleine hatten. „Deine Besitzerin will mich noch sprechen. Komm, wir gehen.“ Vorsichtig setzte sie das Pokémon auf den Boden, dann machte sie sich auf den Weg zu Josephines Büro.

Das Büro lag in einem Seitenflügel des Gebäudes, war gemütlich eingerichtet und verbreitete durch die hohen Bücherregale dennoch eine strenge Atmosphäre. Jeder wusste, dass die Leiterin gütig und freundlich war, ihre Regeln jedoch mit aller Macht durchsetzte. Nachdem sie angeklopft hatte, trat Lyra dicht gefolgt von Felilou ein.

Felilou miaute beim Anblick seiner alten Besitzerin und strich ihr um die Beine, ehe es sich in einem Katzenkorb zusammenrollte.

„Wie ich sehe, scheint Felilou sehr an dir zu hängen, Lyra.“

„Es mag mich, ja. Wir verstehen uns sehr gut.“

Josephine schaute über den dicken Rand ihrer Brille hinweg und musterte das junge Mädchen. „Schön. Weißt du, ich denke, dass Cassandra diese Reise nicht alleine schaffen wird. Sie traut sich sehr viel zu, zu viel, wenn du mich fragst.“

„Kann schon sein.“

„Ich habe mich gefragt, ob du sie nicht begleiten möchtest.“

„Ich?“ Überrascht zog Lyra die Augenbrauen nach oben, damit hatte sie jetzt nun wirklich nicht gerechnet. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht so recht… Cassie hat doch Golbit.“

„Mir ist klar, dass es zu Spannungen zwischen euch gekommen ist, aber Freundschaft ist ein kostbares Gut und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie ihr beide sie aus Eitelkeit und verletztem Stolz zerstört.“

Bei den tadelnden Worten nahmen Lyras Wangen eine rote Farbe ein und sie senkte beschämt den Blick.

„Deshalb wird es euch beiden gut tun, wenn ihr zusammen auf diese Reise geht“, fuhr die alte Dame fort und winkte Felilou zu sich heran. „Allerdings möchte ich dich nicht ungeschützt gehen lassen, Lyra. Felilou ist eine treue Seele und lässt nicht viele an sich heran, aber dich hat es sehr ins Herz geschlossen. Wenn du nicht mehr hier bist, wird es einsam sein, weil Ines nur selten hier ist und ich mich um andere Dinge kümmern muss. Felilou wird dich begleiten.“

„Felilou“, schnurrte das Pokémon, trabte zu Lyra herüber und sprang auf ihren Schoß, wo es sich mit einem erwartungsvollen Blick hinsetzte. „Lou?“

Lyra war vollkommen überrumpelt. Wie benommen nickte sie und liebkoste das Pokémon. „Ich darf es wirklich behalten, Josephine?“

„Sicher, es wird bei dir in guten Händen sein.“ Sie reichte Lyra den Pokéball des Pokémon und erklärte ihr dann, wie sie von Ebenholz City nach Teak City gelangen würden. Durch den Berg und den Eispfad gelangten sie in westlicher Richtung auf die Route 44 und von dort nach Mahagonia City. Weiter im Westen lag die Route 42 mit dem Kesselberg, den man jedoch mit Hilfe von Surfer umgehen konnte. Da die Mädchen kein Pokémon besaßen, das sie über das Wasser tragen könnte, bot Josephine an einen Bekannten zu informieren, der sie mit einem Boot übersetzen würde. Hinter der Route lag bereits Teak City und wenn sie nicht trödelten, konnten sie diese Strecke in zwei Tagen schaffen.

Die plötzliche Jungtrainerin zögerte, nahm dann aber den Pokéball an. Genau wie Cassandra würde sie in Johto wohl ein wenig Aufmerksamkeit erregen, wenn sie mit einem Pokémon reiste, das gar nicht aus der Region stammte. Sowohl Golbit als auch Felilou tauchten tendenziell eher in der weit entfernten Region Einall auf, aber da Josephine und Ines für Spendensammlungen oft reisten, kamen sie an Pokémon wie Felilou. „Danke. Ich bin immer noch ziemlich geplättet, aber danke.“

„Keine Ursache – und nun husch, husch. Cassandra und du sollten bald die Sachen packen, die ihr mitnehmen wollt. Je eher daran, je eher davon, nicht wahr? Man wird auch nicht jünger.“

Lyra unterdrückte ein Grinsen, bedankte sich noch einmal und verließ dann gemeinsam mit Felilou – ihrem eigenen Pokémon – das Büro der Waisenhausleiterin.
 

Cassie machte ein ziemlich ungläubiges Gesicht, als sie beim Mittagessen erfuhr, dass Lyra nun ebenfalls eine Pokémontrainerin war. Immer wieder warf sie undefinierbare Blicke zu ihrer besten Freundin, die nun ebenso von Fans umringt war wie Cassandra selbst. Nach dem Essen nahm sie Lyra auf ihrem gemeinsamen Zimmer bei Seite und stemmte die Hände in die Hüfte. „Was hast du gesagt, damit du Felilou bekommst?“

„Was soll ich gesagt haben? Nichts natürlich, Josephine hat es mir geschenkt, damit ich dich und Golbit auf der Reise nach Teak City begleiten kann.“

Cassandra schnaubte und setzte sich auf ihr Bett. „Weißt du was, Lyra? Ich war wirklich zum ersten Mal in meinem Leben absolut glücklich, weil ich von allen beachtet und angehimmelt wurde. Immer war ich die merkwürdige Cassandra, die von den meisten Kindern gemieden wurde, mit Golbit hat sich das geändert. Aber jetzt kommst du mit Felilou dahergelaufen und nimmst mir das wieder weg.“

„Das ist doch gar nicht wahr!“ Entrüstet nahm Lyra ihrer Freundin gegenüber Platz. „Cassie, ich bin deine beste Freundin, vergiss das nicht. Ich habe immer zu dir gehalten, die anderen können dir doch egal sein. Es kommt nur darauf an, was man selbst für ein Mensch ist.“

„Meinst du?“

„Natürlich!“ Anscheinend konnte Lyra nicht recht glauben, dass ihre Freundin so stark an sich selbst zweifelte. „Du darfst dich dieser Oberflächlichkeit nicht hingeben. Ich mag dich, weil du du bist.“

„Oh Lyra, ich war so gemein zu dir!“ Schniefend stand Cassie auf, ging zu Lyra und umarmte sie. „Kannst du mir verzeihen?“

„Ja“, erwiderte diese sanft und tätschelte der Jüngeren den Rücken. „Planen wir gemeinsam, was wir für unsere Reise einpacken.“

„Einverstanden.“

Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, ihre Sachen zu sortieren. Sowohl Lyra als auch Cassandra nahmen einen Rucksack mit, der genug Platz für die wichtigsten Sachen bot. Feste, bequeme Schuhe waren sehr wichtig, ebenso eine wind- und wasserdichte Jacke sowie genug Kleidung zum Wechseln. Da sie nicht wussten, wohin ihre Reise sie nach Teak City führen würde, packten sie zudem Badesachen, einen Pullover und eine Strickjacke ein. Lyra bekam von Ines die Erlaubnis, eine alte Pokémonenzyklopädie mitzunehmen, die einen Pokédex ersetzte – für solche technischen Gerätschaften fehlte dem Waisenhaus das Geld, außerdem bekamen die Mädchen den Pokédex nur von Professor Lind, dessen Wohnort nicht auf ihrer Reiseroute lag.

Am Abend war endlich alles in den Rucksäcken verstaut und die Vorfreude hatte die beiden gepackt. Von ihrem Ersparten wollten sie sich am nächsten Tag Pokémonfutter, Pokébälle und einen Supertrank kaufen, dann konnte ihre Reise los gehen. Sie dachten schon gar nicht mehr an die Schule und die Ausbildungsplatzsuche, weil die Reise mit ihren Pokémon viel verlockender war. Alle Kinder mussten natürlich Schulen besuchen, manche wählten dabei so genannte Trainerschulen – Schulen, die neben der Allgemeinbildung auch pokémonbezogene Fächer im Fächerkanon hatten – und die Kinder des Sankt Josephines gingen auf eine Schule, die ihnen bereits berufsqualifizierende Sachen beibrachte. Lyra besuchte den sprachlichen und Cassandra den hauswirtschaftlichen Zweig.

„Ich kann es noch immer nicht richtig glauben“, meine Lyra beim Anblick der gepackten Rucksäcke. Felilou rieb die ganze Zeit den Kopf an Lyras Rucksack und markierte den Gegenstand dadurch – genau wie Lyra – als sein Eigentum. „Morgen gehen wir zum Eispfad und dann geht es los.“

„Hoffentlich läuft auch alles gut…“ Cassandra, die sich noch am Mittag total großspurig zu ihrem Trainerdasein geäußert hatte, wirkte nun wieder so ängstlich und vorsichtig wie immer. Es wurde ihr allmählich bewusst, dass sie wirklich das vertraute Waisenhaus und Ebenholz City verlassen würden, um zu ihrem unbestimmten Ziel aufzubrechen. „Ich mache mir Sorgen, weil Golbit doch noch keinen Tag alt ist.“

Lyra drückte ihrer besten Freundin aufmunternd die Hand. „Es wird schon alles gut laufen. Außerdem kämpfen wir ja nicht in den Arenen, sondern versuchen in Teak City herauszufinden, warum Golbit hier ist.“ Und was es mit Cassies Vergangenheit auf sich hatte, das wollten sie auch herausfinden, sprachen aber nicht offen darüber. Cassandra war das Thema unangenehm und sie wollte sich keine falschen Hoffnungen machen, Lyra respektierte das. „Irgendjemand wird uns dort mit Sicherheit weiterhelfen können.“

„Wenn du das sagst“, sprach sie seufzend. „Ich vertraue deinem Bauchgefühl. Meines scheint ja nicht gut genug zu sein, sonst hätte ich mich nicht zu diesem schrecklichen Verhalten hinreißen lassen.“

„Ach, lass gut sein. Wenn wir morgen früh aufbrechen, brauchen wir zwei ganze Tage bis nach Teak City. Was soll da schon schief gehen?“

In Cassandras Augen blitzten Schwermut und Sorgen auf, aber sie verkniff sich weitere Kommentare, lächelte und folgte Lyra dann zum Abendessen. Anschließend zogen die beiden sich auf ihr gemeinsames Zimmer zurück und unterhielten sich noch ein wenig über den Eispfad. Es gab dort viele starke Pokémon und mit Felilou und Golbit kamen sie bestimmt nicht weit, aber die beiden Mädchen wussten, dass es auch Führungen durch gesicherte Bereiche des Bergs gab. Das war bestimmt nicht so aufregend, aber sie waren noch keine starken Trainer und deshalb war es zu gefährlich alleine zu gehen.

„Denkst du, ich kann mir bald ein zweites Pokémon fangen?“, fragte Cassie, als sie schon im Bett lagen und die Lichter ausgeschaltet hatten. „Ich würde irgendwann gerne ein ganzes Team haben und vielleicht die Orden erkämpfen. Allerdings interessiere ich mich auch für die Zucht. Ich habe gehört, dass es Züchter gibt, die ein Meganie mit einem Rameidon verpaart haben und dadurch Endivie mit der Attacke Antik-Kraft erhielten.“

Lyra hörte ihrer Freundin zu und dachte über ihre Worte nach, bevor sie antwortete. Sie wusste, dass Cassie sich wie die meisten Kinder und Jugendlichen hier nach einer richtigen Familie sehnte. Für sie musste die Vorstellung von vielen Pokémon einer Familie gleich kommen. „Viele Pokémon bedeuten viel Verantwortung“, begann sie zögerlich, fuhr dann aber unbeirrt fort. „Du solltest dich erst einmal auf Golbit und sein Training konzentrieren. Sobald es einige Attacken kann und du ein paar Kämpfe gemacht hast, sieht es schon ganz anders aus. Wenn du soweit bist, spricht doch nichts dagegen, dass du dich langsam steigerst und mehr Pokémon in dein Team nimmst.“

Cassandra antwortete nicht mehr. Man hörte nur noch, dass sie sich auf die Seite drehte. Kurz darauf schlief sie ein.

Lyra nahm den Pokéball von Felilou von ihrem Nachttisch und entließ das Pokémon neben sich aufs Bett. Felilou war ein Unlichtpokémon und hatte somit überhaupt keine Probleme mit der Dunkelheit, aber als Lyra ihm bedeutete sich hinzulegen, folgte es dem Befehl seiner Trainerin und kurz darauf schliefen sie eng aneinander gekuschelt ebenfalls ein.

Abschied

„Was soll das heißen, wir können nicht in den Arenen kämpfen und Orden sammeln?“ Mit einer gewissen Fassungslosigkeit standen Cassandra und Lyra vor dem großen Schreibtisch der Waisenhausleiterin Josephine, die ihrerseits Unverständlichkeit gegenüber den beiden Mädchen zeigte.

„Es war nie die Rede davon, dass ihr eine Karriere als Pokémontrainer einschlagt. Ich mache eine große Ausnahme, indem ich euch Golbit und Felilou behalten lasse, aber eure Befreiung vom Unterricht ist nur für eine Woche ausgestellt. Zwei Tage reist ihr nach Teak City, zwei Tage zurück. Die Zeit dazwischen könnt ihr in Teak City Nachforschungen anstellen, aber in einer Woche seid ihr wieder hier.“

Cassie senkte mit einem großen Schmollmund den Blick, während Lyra eher mit den Tränen kämpfte, doch sie riss sich zusammen und blieb ruhig. „Aber Josephine, Cassie und ich träumen schon so lange von den Orden.“

„Das tun viele Kinder und Jugendliche.“ Sie schaute über den Rand ihrer Brille hinweg und legte das Buch zur Seite, in dem sie bis gerade eben noch geblättert hatte. „Lyra, du bist jetzt fünfzehn. Wir haben Anfang April und im Juli ist das Schuljahr zu Ende, dann hast du nur noch ein weiteres Jahr vor dir. Danach bist du mit der Mittelstufe fertig und kannst eine Ausbildung machen. Denkst du nicht, dass das der vernünftigere Weg wäre? Ines und ich arbeiten jeden Tag dafür, dass ihr Mädchen im Sankt Josephines eine normale Zukunft vor euch habt. Du bist doch gut in deinem sprachlichen Profil, gibt es denn keinen Beruf, den du mit deinem Mittelstufenabschluss anfangen willst?“

„Doch, schon…“, gab Lyra kleinlaut zu und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie war keine schlechte Schülerin und in ihrem Unterrichtsprofil hatte sie schon viel über die verschiedenen Regionen, deren Geschichte und Kulturentwicklung gelernt. Sie sprach sogar eine Fremdsprache und lernte im Moment eine tote Sprache, die für den Archäologiebereich sehr wichtig war. „Ich habe darüber nachgedacht, ob ich nicht Archäologin oder Kulturwissenschaftlerin werden kann.“

Ein Lächeln erschien auf dem faltigen Gesicht von der alten Josephine. „Na siehst du? Mit einem Mittelstufenabschluss kannst du dich an einem College einschreiben und anschließend sogar noch studieren. Dir steht alles offen, aber du brauchst einen guten Abschluss.“

Cassie, die sogar noch ein Schuljahr mehr vor sich hatte, wollte ihre beste Freundin nicht hängen lassen und ergriff nun auch einmal das Wort. „Aber Trainer oder Koordinatoren, die gereist sind, bekommen dies auch angerechnet. Wir können nach unserer Reise durch Johto doch einfach wieder in die Schule einsteigen und danach unseren Collegeabschluss machen? Oh Josephine, bitte!“

„Ich verstehe euren Wunsch nach Abenteuer und Reise, aber ich kann nicht alle meine Prinzipien über Bord werfen. Es tut mir leid für euch, doch meine Entscheidung steht fest. In einer Woche seid ihr wieder hier.“

Die beiden Mädchen schauten sich an und erkannten, dass sie nichts mehr tun konnten. Mit hängenden Schultern verließen sie das Büro der Leiterin und gingen zu ihrem gemeinsamen Zimmer. Es war der nächste Morgen, der Morgen ihrer Abreise, aber statt Euphorie und Vorfreude war die Stimmung gedrückt. Da sie bereits am Vorabend ihre Rucksäcke gepackt hatten und das Frühstück an diesem Morgen schon hinter ihnen lag, stand eigentlich nichts mehr ihrer Abreise im Weg. Dennoch überwog im Moment das sichere Gefühl von einem Zuhause, als sie ihre Jacken anzogen und die Rucksäcke schulterten.

„So habe ich mir das alles nicht vorgestellt“, murrte Cassie bedrückt und zupfte eine eingeklemmte Haarsträhne unter dem Gurt des Rucksacks hervor. „Wir haben sogar warme Sachen für kalte Regionen dabei und Badesachen, falls wir im Hochsommer an den Strand gekommen wären.“

Lyra fühlte sich mindestens ebenso niedergeschlagen und seufzte deprimiert. „Wenn wir nur eine Woche fort dürfen, lohnt es sich schon fast gar nicht mehr.“ Auf Cassies erschrockenen Blick hin winkte sie schnell ab. „Nein, so meinte ich das nicht. Es lohnt sich natürlich in der Hinsicht, dass wir nach Teak City gehen, um dort nachzuforschen, ob jemand etwas zu Golbit weiß. Aber eine Pokémonreise von einer einwöchigen Dauer ist lächerlich.“

Cassandra atmete tief durch und nickte zustimmend. „Dann brauchen wir uns auch keine Pokébälle kaufen zu gehen.“

„Ein weiterer kann ja nicht schaden, aber mehr lohnt sich wirklich nicht.“

Mit diesen und weiteren bedrückenden Gedanken gingen die beiden Mädchen in die Eingangshalle, wo sie von einigen Freundinnen erwartet wurden. Nach einer großen Abschiedsszene, bei der ihnen von allen Seiten viel Glück und Erfolg gewünscht wurde, verließen sie das Sankt Josephines durch den Haupteingang und gelangten so auf die Straße.

Missmutig trotteten die beiden in Richtung Stadtzentrum, wo sie auf alle Fälle Pokémonfutter für eine Woche kaufen mussten. Nachdem dies erledigt war, holten sie sich noch jeder einen zweiten Pokéball – man konnte ja nie wissen und die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Cassandra philosophierte dabei bereits über ein Dragonir, wie es die Arenaleiterin der Stadt, Sandra, auch besaß.

„Ich wäre gerne in die Arenen gegangen“, beteuerte die Weißhaarige mal wieder, während sie das Stadtzentrum verließen und durch eine Siedlung von Wohnhäusern am Rand des Berges liefen. Doch als sie Lyras starres Gesicht sah, verstummte sie. Cassie wusste, dass Lyras Eltern einst bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, aber sie hatte mit ihren Eltern damals in diesem Viertel von Ebenholz City gelebt. „Geht’s?“, erkundigte sie sich daher einfühlsam bei ihrer besten Freundin.

Lyra nickte und schaute die Straße herunter, in der sie damals gelebt hatte. Viele Erinnerungen an diese Zeit besaß sie nicht mehr, aber sie konnte sich noch genau an das letzte Haus in der Straße erinnern. Ihr Grundstück von damals grenzte direkt an den Berg und gegen Abend konnte man immer einige Gesteinspokémon aus dem Fenster beobachten. „Gehen wir einfach zum Eispfad und halten uns hier nicht unnötig auf. Was vergangen ist, ist vergangen. Man sollte der Vergangenheit nicht nachtrauern, wenn die Zukunft vor einem liegt.“ Sie blinzelte eine Träne aus dem Augenwinkel und marschierte anschließend entschlossen in Richtung des Eispfads. Sie konnte ihre Eltern nicht wieder lebendig machen und viel war ihr aus dieser Zeit damals ohnehin nicht geblieben. Wenn sie nun aber die Chance hatte, Cassie bei der Suche nach ihrer Herkunft zu helfen, würde sie alles dafür tun; ihre Freundin hatte die Chance, die Lyra selbst nicht mehr besaß, verdient.
 

Am Eispfad trafen sie bereits auf weitere Menschen – Touristen und Tagesausflügler aus Ebenholz City –, die ebenfalls durch den Eispfad gebracht wurden oder ihn besichtigen wollten. Nachdem alle die geringe Gebühr für die Führung bezahlt hatten, wurden sie mit Schutzhelmen ausgestattet und gingen eine halbe Stunde später in einer lockeren Reihe in den Bergschacht hinein.

Die Stufen waren von der Feuchtigkeit, die sich an Decke und Boden sammelte, ein wenig rutschig, daher musste man sich an den dicken Stahlseilen links und rechts festhalten, wenn man nicht ausrutschen und alle Teilnehmer der Tour vor einem wie eine Dominosteinkette zu Fall bringen wollte. An der Decke hingen in regelmäßigen Abständen Lampen, die den Tunnel nach unten in ein schummriges Licht tauchten. Nach etwa drei Minuten tat sich vor ihnen eine weite Ebene auf und es ging in ebenerdiges Terrain über.

„Wir sind jetzt auf dem Eispfad angekommen“, begann der Guide zu erklären und deutete zuerst auf den Tunnel nach oben, dann auf die weite Fläche vor ihnen. Es war dunkler als im Tunnel, aber trotzdem gab es noch Lampen, deren Licht sich in den hellblauen Kristallen, die man bereits in einzelnen Gruppierungen sah, brach. „Wenn Trainer auf eigene Faust durch den Eispfad wandern, nehmen sie am Ende auch diesen Tunnel nach oben. Der Eispfad ist eine Höhle, die von zwei Seiten zugänglich ist und das ganze Jahr über Eismassen aufweist, daher auch der Name. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden – und achten Sie darauf, dass Sie immer als Gruppe zusammenbleiben, damit uns niemand verloren geht!“

Alle folgten brav dem Guide und lauschten den Erklärungen zur Entstehung der Höhle, der Kristalle und zur Lebensweise der Pokémon hier unten. Lyra und Cassie hörten irgendwann nur noch mit einem halben Ohr zu, weil sie mit ihren Gedanken abdrifteten und darüber nachdachten, wie wenig Zeit ihnen mit ihrer einwöchigen Auszeit blieb.

„Was soll nur aus unseren Pokémon werden, wenn wir nach der einen Woche wieder zurück sind?“, fragte Lyra ihre Freundin und kratzte sich an der Wange.

Cassie seufzte und zuckte mit den Schultern. „Ich bin Golbits Trainerin und ich werde es nicht mehr hergeben, egal, was Josephine dazu sagen wird.“ Dann warf sie Lyra einen verstohlenen Seitenblick zu. „Felilou ist ja eigentlich Josephines und Ines‘ Pokémon, sie werden es bestimmt zurückverlangen, wenn wir wieder im Waisenhaus sind.“

Lyra presste die Lippen fest aufeinander. Diese Befürchtung hatte sie auch, obwohl sie sich zu einhundert Prozent für Felilou verantwortlich fühlte und das Katzenpokémon sie bereits als seine Trainerin akzeptiert hatte. „Wir werden sehen.“ Alleine die Vorstellung davon, dass sie ihr geliebtes Pokémon nach nur einer Woche wieder verlieren würde, bereitete ihr Magen- und Kopfschmerzen. Es musste doch einen Weg geben, wie sie Josephine von der Richtigkeit einer Pokémonreise überzeugen konnte – und wenn sie dafür das ganze Schuljahr wiederholen musste.

Etwa zwei Stunden später war die Führung durch die gesicherten Bereiche der Höhle beendet. An einer Futterstelle hatten sie Zubats und Quiekel gefüttert, dann erreichten sie den anderen Ausgang des Eispfads, an dem bereits eine andere Gruppe auf ihre Führung nach Ebenholz City wartete. Der Guide sammelte die Helme wieder ein, wünschte allen noch einen schönen Tag und verabschiedete sich dann von ihnen.

Draußen suchten die beiden Mädchen erst einmal die Toiletten an einem kleinen Kiosk neben der Anmeldung für die Touren auf, dann tranken und aßen sie selbst ein wenig von ihrem Proviant, den sie sich beim Frühstück gemacht hatten. Der Himmel war klar und nur vereinzelt sah man einige Wolken, in der Hinsicht stand einer baldigen Weiterreise also nichts mehr im Weg.

„Ich hätte gerne ein Quiekel, die sind so wahnsinnig niedlich, wenn sie grunzen“, schwärmte Cassie, woraufhin Lyra lachen musste.

„Die machen Golbit in zwei Sekunden total fertig.“

Cassie verzog beleidigt das Gesicht, während sie ihren Rucksack schulterte und sie sich in Bewegung setzten. Die anderen Menschen waren bereits mit einem Linienbus weitergefahren, sie wollten als einzige den Weg über die Route 44 antreten, da der Bus recht teuer war. Es war zudem geplant, dass sie bis zum Abend Mahagonia City erreichten, sich dort ein Zimmer im Pokémoncenter nahmen und dann am nächsten Morgen über die nächste Route nach Teak City gelangten.

„Mir tun schon jetzt die Füße weh“, jammerte Cassandra und streckte dabei ihren Rücken durch. In einer Hand hielt sie einen Apfel, in den sie hin und wieder biss. Außerdem hatte sie nun Golbit aus dem Pokéball befreit und ließ das noch junge Pokémon neben sich her laufen, damit es dadurch seine Muskeln aufbauen konnte, dazu hatte Lyra ihr geraten, die wiederum ihrem Felilou ebenfalls Zeit außerhalb des Pokéballs gönnte.

„Na dann warte erst einmal ab, wie das wird, wenn wir in Teak City ankommen. Da mache ich bestimmt ein stundenlanges Fußbad; wir sind das viele Laufen gar nicht gewöhnt.“

Felilou tollte vor seiner Trainerin her, schnupperte hier und dort neugierig am Wegesrand und machte insgesamt den Eindruck, als freute es sich ungemein über die Abwechslung vom Waisenhaus, wo es bereits jeden Winkel auswendig kannte. Lyra konnte dem Unlichtpokémon das nicht verübeln, sie war doch selbst froh darüber, dass ihnen frischer Wind um die Nase wehte. „Wenn du möchtest, können wir Golbit und Felilou bei unserer nächsten Pause ein wenig kämpfen lassen.“

„Meinst du?“ Cassandra gab es nur ungerne zu, aber sie selbst war kein Fan von dicken Büchern. Lyra verbrachte manchmal Stunden in der Bibliothek und las Wälzer über Erziehung und Training von Pokémon. „Aber pass bitte auf Golbit auf, es soll sich nicht verletzen.“

Felilou schnurrte beschwichtigend, als wollte es Cassie versichern, dass es gut auf Golbit aufpassen würde.

Zum Glück der beiden Jungtrainerinnen begegnete ihnen auf der Route bis zum frühen Nachmittag kaum ein wildes Pokémon – und wenn, dann verschwanden sie sofort ins hohe Gras. Sie hatten gar nicht darüber nachgedacht, dass sie einer Konfrontation mit wilden Pokémon noch nicht gewachsen waren, daher waren sie über diese Tatsache recht erleichtert. Als sie gegen vierzehn Uhr einen kleinen Rastplatz erreichten, setzten sie sich auf die Steinbank am Wegesrand und packten wieder ihren Proviant aus. Auch Felilou und Golbit bekamen diesmal ein wenig Pokémonfutter. Nachdem sie sich noch ein wenig ausgeruht hatten und am Horizont graue Wolken aufzogen, beschlossen sie, dass sie nach einer kurzen Trainingseinheit weiterreisen wollten.

„Also gut, Felilou, wir fangen an“, sagte Lyra laut, damit sie auch die Aufmerksamkeit von Golbit und Cassie sicher hatte. „Ich weiß nicht, was du für Attacken kannst, aber Kratzer dürfte dabei sein. Greif Golbit bitte mit Kratzer an, aber sei vorsichtig.“

Felilou nickte, sprang auf das jüngere Pokémon zu und fuhr die Krallen an der rechten Vorderpfote aus.

Golbit warf sich sofort auf den Boden und rollte sich zusammen, sodass der Kratzer-Angriff weniger Schaden verursachte.

„Was ist passiert? Wieso rollt es sich ein?“, rief Cassandra sofort besorgt und eilte zu ihrem Pokémon, doch Lyra hielt sie am Ärmel zurück.

„Alles in Ordnung, es hat Einigler eingesetzt, damit es sich vor der Attacke von Felilou besser schützen konnte. Du kannst Golbit sagen, dass es nun einen Angriff versuchen soll.“

Cassandra nickte. „Schön, Golbit, setz… irgendeine Attacke ein.“

„Golb!“, machte das Pokémon, lief auf Felilou zu und verpasste ihm einen Hieb mit dem Arm, der Felilou nach hinten schob.

„Das war die Attacke Pfund“, erklärte Lyra, die sich bereits vollkommen in ihrem Element fühlte. „Gut gemacht, ihr zwei.“ Anerkennend nickte sie den Pokémon zu, dann ließen die beiden Mädchen ihre Pokémon noch spielerisch miteinander rangeln, packten aber bald darauf ihre Sachen und schlugen den weiteren Weg nach Mahagoni City ein, da die Regenwolken immer näher rückten. Es hatte sich noch herausgestellt, dass Felilou zusätzlich zu Kratzer die Attacken Zuschuss und Sandwirbel beherrschte, wobei Zuschuss ohne ein weiteres Teampokémon von Lyra keinen Sinn hatte.

„Wir sollten uns beeilen, damit wir nicht nass werden.“

Lyra nickte, dann legten beide Mädchen einen Zahn zu und erreichten am Abend eine Stunde früher als geplant die Stadt, wobei sie stets die Regenwolken im Nacken hatten, die bis zu diesem Zeitpunkt eine bedrohliche Gewitterzelle gebildet hatten.

Gewitter

Fassungslos starrten Cassandra und Lyra zu Schwester Joy, die geschäftig zwischen der Rezeption und einem Schrank mit Mullbinden, Pflastern und dergleichen hin und her wuselte. „Was soll das heißen?“, wiederholte Lyra ungläubig, als Schwester Joy gerade wieder bei ihnen war.

Die Rosahaarige seufzte. „Das habe ich euch doch gerade erklärt. Wenn ihr keine Trainerlizenz habt, kann ich euch kein kostenloses Zimmer zur Verfügung stellen. Hier ins Pokémoncenter kommen viele Trainer, die in der Arena um den Orden kämpfen oder den See des Zorns besichtigen wollen; diese Trainer gehen vor, wenn ihr keine Trainerlizenz habt.“

„Aber draußen kommt ein Gewitter auf“, mischte sich nun auf Cassie vollkommen besorgt ein. Sie hatte wenig Lust darauf, sich mit Lyra einen Platz unter der Brücke zum Schlafen zu suchen. Draußen waren die Nächte noch immer sehr frisch und Geld für ein Hotelzimmer hatten sie nicht. Sie mussten einfach ein Zimmer im Pokémoncenter bekommen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“

Schwester Joy seufzte erneut und hatte Mitleid mit den beiden Mädchen, weshalb sie ihnen jeweils ein Formular über den Tresen reichte. „Füllt das aus, dann kann ich euch eine Trainerlizenz und ein Zimmer geben. Ich bin gleich wieder zurück.“ Hektisch lief sie zu Heiteira ins Hinterzimmer, wo gerade ein kleines Pichu behandelt wurde.

Der Kugelschreiber in Lyras Hand fühlte sich unendlich schwer an, aber schließlich dachte sie nicht lange nach, füllte das Formular aus und unterschrieb. Dann reichte sie Cassie den Stift und wartete, bis auch diese alles ausgefüllt und unterzeichnet hatte. „Du weißt schon, dass wir mächtig Ärger bekommen, wenn das rauskommt“, flüsterte sie, obwohl sie niemand hören konnte. „Josephine hat uns ausdrücklich verboten, dass wir echte Trainer werden.“

„Wir können ja wohl nicht im Regen schlafen“, zischte Cassie zurück, die dem Ganzen offener gegenüberstand und scheinbar nur daran dachte, dass sie ihrem Dasein als Trainerin doch einen Schritt näher kommen konnte.

Sobald Schwester Joy wieder bei ihnen war, gaben sie die Formulare ab, erhielten kurz darauf ihre Lizenz und den Schlüssel für ein Doppelzimmer. Die beiden Jungtrainerinnen gingen einige Schritte zur Seite, dann die Treppe nach oben in den ersten Stock und schließlich zu ihrem Doppelzimmer. Erst, als die Tür hinter ihnen in Schloss fiel, begannen beide zeitgleich leicht zu zittern und sich auf das Bett zu setzen.

„Wir haben eine Trainerlizenz“, flüsterte Cassie und schaute auf das Stück Papier in ihren Fingern. „Oh mein Gott, wir haben eine Trainerlizenz!“

„Cassie, nein“, unterbrach Lyra sie sofort und ahnte bereits, was im Kopf ihrer Freundin vor sich ging. „Wir werden in einer Woche zurück im Waisenhaus sein, so wie wir es Josephine versprochen haben“, sagte sie mit bestimmendem Tonfall. Zwar tat es ihr selbst im Herzen weh, dass sie ihren Traum aufgeben musste, aber so war es eben; Regeln waren Regeln und sie sollten Josephines Gutmütigkeit nicht über die Maßen strapazieren. Um ihren vorherigen Worten noch einmal mehr Ausdruckskraft zu verleihen, kniete Lyra sich vor ihrer Freundin auf den Holzboden und nahm deren Hände in ihre, wobei sie ihr fest in die Augen schaute. „Es ist in den letzten Tagen so viel passiert, das weiß ich doch auch. Wir haben beide ein Pokémon, Golbit ist aus einem mysteriösen Ei geschlüpft und es gibt so viele offene Fragen, aber dir muss doch klar sein, dass wir nicht einfach tun können, wonach uns ist?“

Cassandra presste die Lippen stark aufeinander, drehte den Kopf zur Seite und starrte an die Wand. Einige Sekunden herrschte Stille, dann antwortete die Weißhaarige. „Es ist doch nur so, dass ich mich schon wahnsinnig darauf gefreut habe.“ Mit Tränen in den Augen schaute sie Lyra an. „Du kannst das doch verstehen, nicht wahr? Wir sind im Waisenhaus groß geworden und jedes Jahr sehen wir andere Kinder aus Ebenholz City zu ihrer Reise aufbrechen, nur wir bleiben zurück. Das ist nicht fair.“

„Wir haben Josephine und Ines, die beide auf uns aufpassen. Wir müssen ihre Regeln respektieren.“

„Das weiß ich, aber trotzdem verletzt es mich. Ich brauche jetzt ein paar Minuten für mich, okay? Kannst du bitte schon einmal in die Kantine gehen? Ich komme gleich nach.“

Einen Moment lang zögerte Lyra, dann nickte sie und stand auf. „Natürlich, lass dir ruhig Zeit. Ich bin unten und warte auf dich.“ Sie steckte die Lizenz in ihre Hosentasche, nahm Felilous Pokéball mit und war schon halb aus der Tür, als sie doch noch einmal innehielt. „Überstürz bitte nichts, Cassie.“

„Würde ich nie tun.“

„Na dann ist ja gut.“ Mit einem leichten Kopfschütteln verließ Lyra den Raum und ließ sich sehr viel Zeit auf dem Weg nach unten ins Erdgeschoss, wo auch die Kantine lag und sie sich kostenlos am Büffet bedienen konnten. Das Abendessen war bereits aufgetischt und man konnte sich sowohl Brot, Brötchen und dergleichen nehmen als auch warme Reste vom Mittagessen. Es schien Gemüselasagne, Lasagne Bolonaise und ein Fischgericht gegeben zu haben. Lyra entschied sich für jeweils ein Stück der beiden Lasagne-Sorten, nahm sich dazu eine Banane und einen Erdbeermilchshake.

Als sie an einem freien Tisch Platz genommen hatte, stellte sie ihr Tablett ordentlich hin und stocherte ein wenig in ihrem Essen herum. Cassie ließ schon fünf Minuten auf sich warten, aber Lyra rief sich ins Gedächtnis, dass Cassandra ein sehr sensibler Mensch war, auch wenn sie sich das nicht immer anmerken ließ. Wenn sie noch Zeit für sich brauchte, sollte sie sich auch Zeit lassen. Aus diesem Grund begann Lyra schon zu essen und gab auch Felilou, das sie aus dem Pokéball gelassen hatte und das auf dem Stuhl neben ihr lag, immer wieder kleine Stückchen von den großen Nudelplatten in ihrem Essen ab. Der Katze schien es zu schmecken, aber zu viel wollte sie dann doch nicht. Stattdessen reichte Lyra ihrem Ganz-oder-doch-nur-halb-eigenen-Pokémon eine Schale mit Pokémonfutter. Das alles war noch so neu und ungewohnt für sie, aber es gefiel ihr.

Auf einmal tippte ihr jemand auf die Schulter und sie schaute in das Gesicht eines schwarzhaarigen Jungen. „Ja?“

„Entschuldige bitte, wenn ich dich beim Essen störe, aber mir ist dein Pokémon sofort ins Auge gefallen.“

Felilous Ohren zuckten leicht, doch es schaute nicht von seinem Fressen auf, als wäre der fremde Junge zu unwichtig.

„Wie meinst du das?“ Lyra rutschte etwas unruhig auf ihrem Stuhl herum und nahm den Jungen genauer unter die Lupe. Er hatte schwarzes Haar, das leicht stufig geschnitten war und sein Gesicht perfekt umrahmte. Dazu standen seine bernsteinfarbenen Augen im starken Kontrast, was sich durch die schwarze Jacke und die schwarze Jeans noch weiter verstärkte, sodass seine Augen beinahe wie glühende Kohlen wirkten, die ihm einen sehr durchdringenden, aber dennoch warmen Blick verliehen.

„Nun ja, Felilou kommen hier in Johto eigentlich nicht in freier Wildbahn vor. Kommst du aus Einall?“

Die Jungtrainerin nahm einen großen Bissen Lasagne, um sich vor einer Antwort zu drücken. Als sie aufschaute, wurde sie noch immer voller Interesse gemustert, was sie tonlos seufzen ließ. „Nein, ich komme aus Ebenholz City. Felilou habe ich geschenkt bekommen, es ist schon vor einigen Jahren hier geschlüpft. Soweit ich weiß, kommt Felilous Mutter, ein Kleoparda, aus Einall. Die Besitzerin hat es damals dort gefangen.“

„Ah, ich verstehe.“ Ohne auf eine Einladung seitens Lyra zu warten, ließ der Junge sich ihr gegenüber auf einem Stuhl nieder, was jedoch Felilous Fauchen auf den Plan rief, sodass er schnell wieder stand. „Ich komme aus Sinnoh, da freue ich mich immer, wenn ich auf meiner Reise Trainer treffe, die auch Pokémon besitzen, die nicht aus Johto stammen. Ein wenig Heimweh habe ich in der Hinsicht ja doch immer. Besitzt du noch andere Pokémon?“

„Nein, nur Felilou.“ Sie schaute den Fremden an, der wohl auf Smalltalk aus war, was ihr im Moment gar nicht passte. Dennoch war sie höflich genug, um ihm auch eine Frage zu stellen. „Und was ist mit dir? Was für Pokémon hast du?“

Die Miene des Schwarzhaarigen hellte sich augenblicklich auf. „Mein Startpokémon ist ein Sheinux gewesen, mittlerweile ist es ein stattliches Luxtra. Eigentlich wollte ich damit in Sinnoh die Orden erkämpfen, aber dann habe ich meine Reise abgebrochen und bin nach Johto gegangen. In den nächsten Tagen werde ich gegen den Arenaleiter kämpfen und dann hoffentlich bald weiter nach Ebenholz City reisen können. Allerdings lege ich noch einen Zwischenstopp in einer anderen Stadt ein.“ Auf einmal begann es in der Jackentasche des Jungen zu klingeln und er zog einen schwarzen ComDex hervor – ein Gerät, das Pokédex, Handy, Computer und Lagerboxen für Pokémon in der Größe einer etwas klobigen Armbanduhr in sich vereinte. Der ComDex war vor einigen Jahren in einer weit entfernten Region namens Turfu in Zusammenarbeit mit der Silph Corporation und der Pokétch Gesellschaft entwickelt worden und war in vielen verschiedenen Farben erhältlich, sodass die Trainer und Koordinatoren diesen Gebrauchsgegenstand individueller gestalten konnten. Turfu war bekannt für die wilden Naturlandschaften und die hochmodernen Städte und hatte mit der Entwicklung des ComDex‘ mal wieder gute Arbeit geleistet. „Entschuldige mich, das ist mein Vater. Man sieht sich.“ Er winkte Lyra zu, dann entfernte er sich und nahm das Gespräch an.

Keine zwei Sekunden später betrat Cassandra die Kantine, entdeckte Lyra und holte sich ebenfalls Lasagne und etwas Obst. Als sie bei ihrer Freundin am Tisch saß, seufzte sie. „Eigentlich habe ich gar keinen Hunger, aber das riecht so köstlich, dass mir der Magen knurrt.“

„Dann bist du hungrig“, schlussfolgerte Lyra und grinste leicht. „Iss etwas, wir haben einen anstrengenden Fußmarsch hinter uns und morgen müssen wir noch die ganze Strecke nach Teak City hinter uns bringen.“

„Ja, ja, du hast ja Recht.“
 

Nach dem frühen Abendessen machten es sich die beiden Mädchen in ihrem Doppelzimmer bequem. Der Regen prasselte bereits gegen das Fenster und immer wieder zuckten Blitze über den dunkelgrauen Himmel. Cassie saß in ihrem Bett, hatte es sich unter der Bettdecke gemütlich gemacht und spielte mit Golbit, das sich immer wieder rückwärts auf die Decke fallen ließ und sichtlich Spaß dabei hatte. Lyra hatte sich in ihr Buch vertieft und warf nur selten einen Blick zu Felilou, das zusammengerollt am Fußende ihres Bettes lag und döste.

Das Gewitter wurde immer schlimmer und als sie das Licht zum Schlafen ausschalteten, tobte ein furchtbar heftiger Gewittersturm draußen. Im Sekundentakt wurde das Zimmer von Blitzen erhellt, doch Lyra hielt die Augen krampfhaft geschlossen, damit sie überhaupt die Möglichkeit zum Einschlafen hatte. Dieser Gewittersturm war stark, aber sie war sich beinahe zu einhundert Prozent sicher, dass das Donnerwetter, das Josephine ihnen bereiten würde, wenn sie auf eigene Faust zu einer langen Pokémonreise aufbrachen, noch schlimmer sein würde.

„Ich kann nicht schlafen“, murrte Cassandra nach einigen Minuten vom anderen Bett aus und raschelte mit der Decke. „Ich denke über so viele Sachen nach, dass ich einfach nicht zur Ruhe kommen kann. Was ist, wenn wir in Teak City weder etwas über mich noch über Golbit erfahren können? Ich weiß nicht, wie ich dann reagieren würde. Auf der einen Seite denke ich mir, dass mein Leben im Waisenhaus doch eigentlich ganz okay ist; wir sind wie eine große Familie und alle kümmern sich umeinander. Aber auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass ich einfach nicht nach Ebenholz City gehöre, dass mich etwas in die weite Ferne ruft. Das verwirrt mich alles so sehr.“

Lyra, die gerade fast eingeschlafen war, rieb sich über die Augen, ehe sie antwortete. „Mach dir darüber keine Gedanken, Cassie. Wenn wir in Teak City sind, werden wir sehen, was wir in Erfahrung bringen können. Die Kimono-Girls im Tanztheater könnten etwas wissen, ebenso die Weisen im Glockenturm. Vielleicht finden wir sogar jemanden an der Turmruine, einen Forscher oder so, der uns etwas zu Golbit sagen kann. Du siehst also, dass wir noch jede Menge Möglichkeiten vor uns liegen haben. Wir nutzen die drei Tage Aufenthalt einfach so gut es geht, dann können wir uns keine Vorwürfe machen, hm?“

„Hm…“

Lyra bekam keine Antwort mehr, wartete aber auch nicht lange, weil sie müde war. Sie selbst hatte mit dem Verlust ihrer Eltern innerlich abgeschlossen, doch Cassandra wusste nichts über ihre Herkunft oder ihre Familie, die vielleicht noch lebte. Aus diesem Grund konnte Lyra sich auch nicht vorstellen, wie verwirrend und belastend diese Reise für ihre Freundin sein musste, aber es fiel ihr ein Rat ein, den ihre Mutter ihr stets gegeben hatte: Es kommt immer der Tag, an dem man sich seinem Schicksal stellen muss. Man kann fortlaufen und sich verstecken, doch früher oder später wird es einen immer finden.

Geistarena

Am nächsten Morgen betraten Cassandra und Lyra nach einem sehr frühen Frühstück die Route 42, die sie direkt zum Kesselberg und von dort weiter nach Teak City führen würde. Josephine hatte ihnen versprochen, dass sie einen Bekannten am See vor dem Kesselberg auf sie warten lassen würde, damit sie sich nicht durch den Berg quälen mussten, in dem die wilden Pokémon für die beiden Jungtrainerinnen, die eigentlich gar keine richtigen Trainerinnen sein sollten, eine große Gefahr darstellten. Ihre beiden Pokémon waren noch nicht stark genug, um gegen die wilden Pokémon in dieser Gegend anzutreten.

Die beiden Mädchen hatten Glück und die meiste Zeit begegneten ihnen keine wilden Pokémon, was zum Teil aber auch an den tiefen Pfützen auf dem Weg, dem durchweichten Erdboden und den dunklen Wolken am Himmel lag. Das Gewitter hatte fast die ganze Nacht angedauert und war erst in den frühen Morgenstunden weitergezogen.

„Ich bin schon auf Teak City gespannt“, plauderte Cassandra nach einer Weile des Schweigens, während sie in das Sandwich, das sie sich als Reiseproviant gemacht hatte, biss. Dabei fiel ein Streifen Putenfleisch heraus, was sie leise fluchen ließ, aber vom Boden wollte sie es dann doch nicht wieder aufheben. „Vielleicht können wir bei einem Arenakampf zuschauen oder uns noch weitere Pokémon fangen.“

Als das Gespräch – oder eher Cassies Monolog – zu sehr in Richtung Trainerdasein abschweifte, schaltete Lyra sich ein, auch wenn sie die Rolle der Spielverderberin nicht mochte. „Wir sind nicht da, um Pokémon zu fangen. Josephine würde an die Decke gehen, wenn wir mit mehr Pokémon zurückkehren als wir aufgebrochen sind.“

„Du musst auch immer alles schlecht reden“, murrte Cassie sofort beleidigt.

„Ich will es nicht schlecht reden, aber du steigerst dich da in etwas rein, Cassie. Wir sind keine richtigen Trainer.“

„Aber wir könnten welche sein. Wir haben ein Startpokémon, eine Trainerlizenz und ganz Johto vor uns. Was spricht dagegen?“

„Josephines Regeln und ihr Vertrauen darauf, dass wir zurückkommen werden. Willst du einfach durchbrennen oder wie hast du dir das vorgestellt?“ Als Cassie beharrlich schwieg, raufte Lyra sich durch die altrosafarbenen Haare. Na wunderbar, sie hatte also doch den richtigen Riecher gehabt und nun den richtigen Nerv getroffen. „Das können wir nicht machen.“

„Dann mache ich es eben alleine“, erwiderte Cassandra, wobei dies mehr aus Trotz geschah. Sie würde niemals ohne ihre Freundin gehen, denn so sehr sie sich das Dasein als Trainerin wünschte, sie könnte Lyra nicht zurücklassen und sie die Schuld alleine tragen lassen. Alleine die Vorstellung, dass die Freundschaft zu Lyra daran zerbrechen würde, bereitete ihr Magenschmerzen. Nein, ohne Lyra würde sie nicht gehen. „Aber willst du nicht auch im Alter auf deine Jugend zurückblicken können ohne daran zu denken, was wäre gewesen wenn?“

„Ich…“ Lyra senkte den Blick und versuchte den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Dass genau in diesem Moment der See in Sicht kam, diente ihr als willkommene Ablenkung. „Schau nur, am Steg liegt ein Boot, das könnte Josephines Bekannter sein.“ Sie lief vor und sprach mit dem älteren Herrn, der ihre Vermutung bestätigte.

„Ich habe schon auf euch beide gewartet. Mein Name ist Karl, setzt euch ins Boot, ich bringe euch auf die andere Seite des Sees.“

Die beiden Mädchen taten, wie ihnen geheißen. Zusammen nahmen sie gegenüber von Karl auf der einen Seite des Ruderboots Platz, stellten ihre Rucksäcke vor sich auf den Boden und entließen ihre beiden Pokémon, damit sie sich die Bootsfahrt anschauen konnten. Felilou beäugte das Wasser mit kätzischem Abstand und rollte sich viel lieber auf Lyras Schoß zusammen, während Golbit fasziniert auf die funkelnde Wasseroberfläche starrte. Cassie hielt ihr Pokémon allerdings mit festem Griff zurück, da Golbit einen Bodentyp besaß und somit besser nicht in das kalte Wasser fallen sollte.

Das Boot an sich glich einem größeren Ruderboot mit einem Motor, der laut und wenig leistungsstark war, dennoch waren sie dankbar für Karls Hilfe, denn den See zu umgehen wäre kaum möglich gewesen, da auch der Kesselberg keine Alternative darstellte. Die rote Farbe des Lacks blätterte von den Seiten des Boots an, dennoch machte es einen sicheren und gemütlichen Eindruck, was wohl mehr an Karls freundlicher Ausstrahlung lag als an dem alten Boot selbst.

Nach etwa einer halben Stunde hatten sie das andere Ufer erreicht. Karl legte an einem Steg an und verabredete mit den Mädchen, dass er sie auch in einigen Tagen bei ihrer Rückkehr nach Ebenholz City wieder mitnehmen würde. Anschließend verabschiedeten sie sich voneinander und winkten dem alten Mann hinterher, bis er ihnen den Rücken zudrehte und wieder das Ufer ansteuerte, an dem er vorher auf sie gewartet hatte.

„Karl ist wirklich nett“, meinte Cassie gut gelaunt und streckte sich den durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen entgegen. „Wollen wir hier am See eine Mittagspause einlegen und essen?“

Lyra nickte. „Ja, das ist eine gute Idee.“

Gesagt, getan. Sie suchten sich einen kleinen Picknickplatz am See, setzten sich auf die Bänke und packten ihren Tagesproviant aus, der aus frischem Obst, Sandwiches und Brötchen bestand. Golbit und Felilou tollten nach einem kleinen Snack, bestehend aus Pokémonfutter und ein paar Apfelscheiben, um den Picknickplatz herum, hielten sich jedoch weitgehend vom Ufer fern. Lyra und Cassie versanken in kleinen und großen Spinnereien rund um das Dasein als Trainer, auch wenn beiden mehr oder weniger bewusst war, dass dies nur ein Traum bleiben würde.

Cassie erörterte, dass sie ein Fan der majestätischen Drachenpokémon war, aber auch Gallopa und Milotic sehr schön fand. „Wenn ich es mir aussuchen könnte, hätte ich gerne Milotic, Dragonir und Gallopa im Team. Mit diesen und Golbit würde ich dann die Orden in Johto sammeln und danach in eine andere Region gehen. Ach, das wäre so schön…“

„Also ich habe keine genauen Vorstellungen über mein Wunschpokémonteam, aber ich hätte gerne Pokémon, die mir bei der Arbeit nützlich sein könnten. Vielleicht wäre dafür ein Bodenpokémon geeignet, mit dem ich dann alte Ruinen untersuchen kann, dazu noch ein Feuerpokémon, das uns immer Licht spenden kann.“

Die beiden begannen zu lachen und versuchten dann auch für ihre Freundinnen im Waisenhaus passende Pokémon auszusuchen, wobei die ein oder andere witzige Kombination entstand. Als sie wieder auf die Uhr schauten, waren bereits eineinhalb Stunden vergangen, weshalb sie schnell ihre Sachen packten und den weiteren Fußmarsch nach Teak City antraten, dessen östliche Stadttore sie am späten Nachmittag durchquerten.

Zuerst fiel ihnen der riesige, majestätische Glockenturm auf, der hoch in den Himmel ragte. Dafür erntete er ehrliche Bewunderung der beiden Mädchen, immerhin war der Turm schon hunderte Jahre alt und gemeinsam mit seinem Schwesterturm – der vor 150 Jahren abgebrannte Bronzeturm, aus der Raikou, Entei und Suicune hervorgegangen waren – musste er eine Meisterleistung der damaligen Baukunst sein.

„Wir sollten uns ein Zimmer im Pokémoncenter nehmen und dann ein wenig die Stadt erkunden, meinst du nicht auch?“, fragte Lyra, die ihren Blick kaum von dem Glockenturm abwenden konnte. Es hieß sogar, dass Ho-Oh von Zeit zu Zeit auf der Spitze des Turms hauste, während andere Legenden davon berichteten, dass Lugia vor seiner Zeit auf den Strudelinseln auf dem abgebrannten Zwillingsturm zu finden gewesen war. Lyra fand diese Legenden unheimlich interessant und freute sich schon darauf, wenn sie mit den Weisen sprechen konnten.

„Das ist eine gute Idee. Dann lass uns aber gleich zu Abend essen, ich bin schon total hungrig“, erwiderte Cassie mit einem erschöpften Grinsen, wobei sie sich auf den Bauch klopfte. „Es ist zwar noch etwas zu früh für Abendessen, aber wenn ich bis um neunzehn Uhr warten muss, verhungere ich.“

„Na schön.“ Lyra zuckte mit den Schultern, dann steuerten sie das Pokémoncenter an, in dem sie sich ein Doppelzimmer geben ließen. Schwester Joy erklärte ihnen zudem noch den Weg zur Arena, in der Geistpokémon eingesetzt wurden. Nach dem Essen wollten Cassandra und Lyra fragen, ob sie mit dem Arenaleiter sprechen konnten, womöglich wusste er mehr über Golbit, da es auch ein Geisttyp war.

Die beiden Jungtrainerinnen hielten sich an ihren Plan und schlenderten, nachdem sie sich ein wenig Reis und Hühnchen zum Abendessen gegönnt hatten, durch die Straßen von Teak City. Beiden gefiel die Stadt auf Anhieb, denn der Charme von alten Zeiten und Legenden, der durch alle Gassen wehte, ließ ihr Abenteurerherz aufgehen. Es war eben vollkommen anders als in Ebenholz City, das sie in ihrem Leben nur wenige Male verlassen hatten – die Schulausflüge in andere Städte ließen sich an einer Hand abzählen, denn beide Klassenfahrten gingen nach Dukatia City und Anemonia City.

Als die Arena mit dem Typ Geist endlich vor ihnen auftauchte, mussten sie feststellen, dass die Öffnungszeiten der Arena schon vorüber waren. Da allerdings noch Licht brannte, versuchten die beiden ihr Glück, klingelten und bekamen kurz darauf die Tür geöffnet.

Eine rothaarige Frau, die eindeutig hochschwanger war, öffnete ihnen mit einem strahlenden Lächeln die Tür. „Guten Abend, ihr beiden. Wie kann ich euch helfen?“

Cassie und Lyra tauschten einen schnellen Blick, dann sprach Lyra. „Wir würden gerne mit dem Arenaleiter sprechen.“

„Das dachte ich mir schon“, sagte die Frau lachend und schüttelte dabei den Kopf. „Aber die Öffnungszeiten sind vorbei, kommt doch morgen wieder, dann hat Janosch Zeit für euch.“

„Aber es ist wirklich dringend, wir wollen auch nicht gegen ihn kämpfen, sondern möchten nur ein paar Fragen über ein Geistpokémon namens Golbit stellen.“

Die Frau schien zu überlegen, dann nickte sie. „Na schön, dann kommt rein. Setzt euch dort auf die Bank, ich hole meinen Mann und dann könnt ihr reden, aber haltet euch bitte kurz; ich habe das Essen schon auf dem Herd stehen.“

Kaum eine Minute später erschien Janosch in der Tür. Der Mann sah seinem Vater, dem ehemaligen Arenaleiter Jens, zum Verwechseln ähnlich. Er begrüßte die beiden Mädchen, setzte sich ihnen gegenüber in einen bequemen Sessel und nippte dabei immer wieder an einer Tasse mit Kräutertee, den seine Frau – sie stellte sich dabei als Laila vor – ihm gebracht hatte. „Ihr wollt also mein Wissen über Geistpokémon austesten, wenn ich Laila richtig verstanden habe?“

„Es geht um ein Pokémon namens Golbit“, begann Lyra, wurde jedoch von Cassie unterbrochen, die sich mit leicht stolzgeschwellter Brust auf die Kante der Bank gesetzt hatte.

Cassandra berichtete Janosch, wie sie das Ei von Golbit gefunden hatten. Außerdem erwähnte sie großspurig, dass Golbit ein seltenes Pokémon war, das angeblich von einer alten Zivilisation erschaffen worden war.

Lyra zog dabei einen ziemlichen Flunsch, immerhin hatte Cassie dieses Wissen von ihr, aber sie ließ ihre Freundin gewähren und hielt sich zurück.

Janosch hörte ihnen derweil aufmerksam zu und ließ sich schließlich sogar Golbit zeigen; das Geistpokémon und er kamen sofort miteinander klar. „Ich muss gestehen, dass ich noch nie ein Golbit zu Gesicht bekommen habe, deshalb bin ich besonders daran interessiert. Ich würde euch gerne helfen, aber ich muss sagen, dass ich keinen wirklichen Rat für euch habe. In der Tat ist Golbit ein seltenes Pokémon und mir fällt spontan auch nur eine Person ein – nein, zwei Personen, wenn ich genauer darüber nachdenke –, die etwas darüber wissen könnte. Schon seit dutzenden Jahren lebt ein Geschwisterpaar in Teak City, Aero ist einer der Weisen im Glockenturm und Aira das älteste Kimono-Girl. Wenn ihr Informationen zu dieser Region und den Pokémon wollt, dann sucht Aero und Aira auf, sie können euch mit Sicherheit helfen.“

In diesem Augenblick wurden sie von Laila unterbrochen, die ihren Mann zum Abendessen rief, woraufhin Lyra und Cassie sich bedankten und gingen. Sie mussten Janosch allerdings noch versprechen, dass sie ihm berichten würden, was Aero und Aira ihnen zu sagen hatten – es war unverkennbar, dass Janosch großen Respekt vor den beiden alten Leuten hatte.

„Na das war doch schon aufschlussreich.“ Gut gelaunt streckte Lyra sich vor der Tür der Arena.

„Wir haben nichts herausgefunden“, maulte Cassie hingegen. Sie schien lieber sofort Ergebnisse sehen zu wollen.

„Wir haben einen Anhaltspunkt und wissen, wen wir morgen Vormittag aufsuchen müssen. Das ist nicht nichts, Cassie“, mahnte Lyra ihre Begleiterin und zwickte sie aufmunternd in die Wange.

Cassie schmunzelte, stimmte Lyra dann zu und machte sich mit ihr zusammen auf den Rückweg zum Pokémoncenter. Von der ganzen Lauferei taten beiden Mädchen die Füße entsetzlich weh und sie wollten sich nur noch ein heißes Bad gönnen, ehe sie unter die Bettdecke schlüpften und ihren wohlverdienten Schlaf fanden. So ein Fußmarsch war anstrengender, als die beiden gedacht hatten, noch dazu kam endlich Bewegung in die ganze Sache. Mit dem Besuch bei Janosch mochten sie vielleicht nur einen kleinen Stein ins Rollen gebracht haben, aber es tat sich etwas und womöglich verselbstständigte sich das Ganze ja schon bald zu einer Lawine. Sie waren schon sehr gespannt darauf, was sie von Aero und Aira erfahren würden.

Tanztheater

Sonnenstrahlen drangen durch den geblümten Vorhang in das Doppelzimmer und zauberten helle, farbige Flecken an Wände und auf Bettdecken. Felilou streckte sich schnurrend, ließ den Schwanz ein wenig kreisen und stupste dann seine Trainerin maunzend mit der Nase an, bis diese ebenfalls die Augen öffnete und stöhnend einen Blick auf die Anzeige der Digitaluhr warf.

„Neun Uhr schon?“ Lyra drehte sich nach ihrer rhetorischen Frage vom Bauch auf den Rücken, kraulte das lilafarbene Katzenpokémon hinter den flauschigen Ohren und betrachtete das Farbenspiel neben sich an der sonst schneeweißen Wand. Ihr Blick wanderte weiter zu Cassandra, die völlig mit ihrer Bettdecke verknotet war und – genau wie Golbit neben ihr – noch tief und fest schlief. Bei dem Anblick von Cassies himmelblauem Schlafanzug, auf dem kleine Bibor und Sniebel abgebildet waren, die gemeinsam Erdbeer-Cupcakes aßen, huschte ein Grinsen über Lyras Gesicht. Sie selbst trug ein marineblaues T-Shirt, das ihr mindestens zwei Größen zu groß war und sich deshalb gut als Nachthemd missbrauchen ließ. Vorne über der Brust prangte in weißen Lettern der Schriftzug „Supertrainer“ – sie wusste nicht mehr, woher sie dieses Shirt überhaupt hatte, vermutlich hatte sie es in der Wäscherei des Waisenhauses abgegriffen und nicht auf den Spruch geachtet.

Als Bewegung ins Zimmer kam, weil Felilou und Lyra aufstanden, wachte auch Golbit auf und blinzelte ihnen neugierig entgegen. „Golb!“ Es schien ihnen wohl so eine Art guten Morgen zu wünschen, jedenfalls antwortete Felilou mit einem gedehnten miauen und trottete anschließend wieder Lyra hinterher.

„Cassie, aufwachen“, rief Lyra Cassie zu, während sie sich frische Unterwäsche und Socken aus ihrem Rucksack nahm. Als sie sah, dass ihre weißhaarige Freundin sich murrend rührte, schüttelte sie lächelnd den Kopf und lud sich auch noch ihren dünnen Frühjahrspullover und die Jeans auf. „Ich bin jetzt im Badezimmer, wir können ja dann nachher frühstücken gehen und anschließend ins Tanztheater.“

„Ist gut“, brummte Cassie und zog sich die Bettdecke über das Gesicht. Nachdem Lyra das Zimmer verlassen hatte, fand sie jedoch auch keinen Schlaf mehr, denn Golbit turnte mit seinem nicht geringen Gewicht am Fußende des Bettes herum, sprang schließlich auf den Boden und lief auf der Suche nach Beschäftigung umher. „Stell nichts an“, mahnte Cassie ihr Pokémon, schlug grummelnd die Decke zur Seite und stand ebenfalls auf, wobei sie mehrmals herzhaft gähnen musste. Die viele Lauferei an den beiden Vortagen hatte sie sichtlich erschöpft, aber im Moment überwog trotzdem die Freude, dass sie fernab vom Waisenhaus in Ebenholz City nun in Teak City waren und den Kimono-Girls später einen Besuch abstatteten.
 

Nachdem sich beide Mädchen im Badezimmer fertig gemacht hatten, gingen sie zusammen mit ihren Pokémon in die Kantine des Pokémoncenters, wo sie sich Brötchen, Quark und Marmelade holten. Felilou bekam Pokémonfutter und ein kleines Schälchen Milch, für Golbit hatte die hiesige Schwester Joy Cassandra eine kleine Tüte mit Spezialfutter geschenkt, das extra für junge Pokémon war und viele Kalorien und Vitamine enthielt, damit ihr erhöhter Energiebedarf gestillt werden konnte. Besonders für Golbit war dies wichtig, da es schon bald über neunzig Kilogramm Gewicht angesammelt haben würde.

Sie beeilten sich unbewusst mit dem Essen, packten Geldbeutel, Taschentücher und ein paar Kleinigkeiten in ihre Jackentaschen und machten sich schon nach einer halben Stunde auf den Weg in die Stadt. Teak City war nicht riesig, man konnte alles bequem zu Fuß erreichen, wenn man nichts gegen einen kleinen Fußmarsch einzuwenden hatte. Nach einer Viertelstunde hatten sie das Tanztheater erreicht und blieben vor dem eindrucksvollen Gebäude stehen.

Kunstvoll ragte das Tanztheater zwischen Blumenbeeten und sauberen Wegen auf. Es war eindeutig im asiatischen Stil gehalten und man konnte dem Theater ansehen, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, dennoch strahlte es Würde, Schönheit und Eleganz aus – diese Attribute trafen auch auf die Kimono-Girls im Inneren zu, wie Lyra und Cassandra gleich feststellen durften.

Die beiden Mädchen stiegen einige wenige Stufen zur Veranda hinauf, schoben dann die Schiebetür zur Seite und traten in einen Vorraum. An einer Wand stapelten sich die Sitzkissen, die bei den Vorführungen im großen Raum auf dem Boden lagen. Die Papiertür zu dem Raum mit der Bühne stand weit offen und so bemerkte man ihr Kommen sofort.

Eine junge Frau mit einer kunstvoll hochgesteckten Frisur kam auf sie zu, verbeugte sich leicht zur Begrüßung und machte sie dann darauf aufmerksam, dass das Theater noch geschlossen war und Besucher während der Probenzeiten nicht erwünscht waren.

„Oh, wir sind nicht deshalb hier“, sagte Cassie sofort und suchte Bestätigung in Lyras Blick. „Wir waren gestern Abend bei dem Arenaleiter Janosch und er hat uns zu dem Weisen Aero und seiner Schwester Aira geschickt. Wir würden gerne mit Aira reden, ist das möglich?“

„Mit Meisterin Aira?“ Das Mädchen runzelte nachdenklich die Stirn und wirkte etwas verunsichert. „Ich frage nach, einen Moment bitte.“ Während sie zu einem anderen, schon etwas älteren Kimono-Girl lief, bewunderten Lyra und Cassie den Kimono, der mit dunklen Rankenmustern bestickt war. Schon nach wenigen Sekunden kehrte die Kimono-Girl-Schülerin zurück und schenkte ihnen ein höfliches Lächeln. „Bitte entschuldigt, dass ihr warten musstet.“

„Oh, das macht nichts“, meinte Lyra sofort und erwiderte das Lächeln. Ein wenig befremdlich kamen ihr diese Kimono-Girls ja schon vor; sie wusste einfach nicht, wie sie sich ihnen gegenüber richtig verhalten sollte.

Nach einigen Minuten betrat eine alte Frau den Raum und sofort nahm sie alle Präsenz für sich ein. Sie strahlte etwas aus, was ihr sofort den größten Respekt aller Anwesenden sicherte und auch Lyra und Cassandra konnten sich dieser unsichtbaren Kraft nicht erwehren. „Ihr habt nach mir verlangt?“ Die langen, grauschwarzen Haare waren zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, in dem eine gelbe Lilie zusammen mit unauffälligem Goldschmuck steckte. „Folgt mir.“ Die alte Dame winkte sie zu sich heran und ging dann sofort einen schmalen Gang entlang ans andere Ende des Tanztheaters, wo sich ihr Zimmer zu befinden schien. Nachdem sie sich auf einen gemütlich aussehenden Stuhl gesetzt hatte, deutete sie auf eine antike Holzbank, auf der Lyra und Cassie sich niederließen.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen, Meisterin Aira.“ Lyra versuchte möglichst viel Ehrerbietung in ihre Stimme zu legen, wobei sie sich nicht einmal großartig anstrengen musste, denn in Airas Anwesenheit geschah dies automatisch. Erst jetzt fiel Lyra zudem auf, dass halb unter dem Mahagonischreibtisch ein mit Kissen gefülltes Körbchen stand, in dem sich ein Psiana zusammengerollt hatte und hin und wieder mit den Ohren zuckte, wie es auch Felilou tat, wenn es mit geschlossenen Augen der Umgebung folgte.

Aira bedeutete ihnen mit einer schlichten Handbewegung zu schweigen. „Ich weiß, warum ihr hier seid. Lyra Hawkins und Cassandra… White, richtig?“

Die beiden nickten, wagten aber nicht zu sprechen, bevor Aira geendet hatte. Zwar fragten sie sich, woher Aira von ihnen wusste, aber genauer dachten sie darüber nicht nach.

Airas wache Augen beobachteten die beiden Mädchen genau und registrierten jeden Atemzug, den sie tätigten. Schließlich legte das älteste Kimono-Girl die Hände ineinander und lehnte sich zurück. „Ich bin bereit euch bei eurer Suche nach Vergangenheit und Wahrheit zu helfen, allerdings werde ich nur mit einer von euch sprechen. Entscheidet euch, wer geht und wer bleibt, die Bank ist nicht breit genug für zwei Personen.“

Augenblicklich fühlte Lyra Trockenheit in ihrem Mund. Natürlich war es unbequem sich zu zweit auf die Bank zu quetschen, aber Airas Forderung versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Hier ging es um Cassies Vergangenheit, um ihre wirren Träume, um ihr mysteriöses Erscheinen als Kind vor dem Waisenhaus und auch um Golbit, aber sie war immer an Cassies Seite gewesen, hatte sie da nicht das Recht auch jetzt hier zu sein?

Cassandra fühlte sich ebenso schlecht, denn sie rutschte von einer Pobacke auf die andere und hielt den Blick gesenkt.

Betretenes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, bis Lyra zuerst sprach und für sich selbst schon eine Entscheidung getroffen hatte. „Ich werde Cassies Glück nicht im Weg stehen, aber versichern Sie mir vorher erst, dass Sie auch wirklich Informationen für uns haben.“

Aira lächelte für einen Moment, dann hatte sie wieder ihren neutralen Gesichtsausdruck. „Ich könnte euch vieles erzählen, doch in der Tat besitze ich einige Erinnerungen, die euch weiterhelfen könnten.“

„Lyra…“

„Ist schon gut“, unterbrach sie ihre beste Freundin und lächelte ihr aufmunternd zu. „Das hier ist wichtig für dich und wenn Aira nur mit einer von uns reden möchte, dann werde ich gehen und draußen auf dich warten.“

Cassandra erwiderte ihren Blick, bis sie plötzlich aufstand und Lyra mit sich zurück in den Stand zog. „Es tut mir leid, Meisterin Aira, aber ich bin nur hier, weil ich Lyra habe. Wenn Sie nicht mit uns beiden reden wollen, werden wir das akzeptieren, doch ich werde Lyra nicht ausschließen. Wir sind ein Team und wenn sie geht, gehe ich auch.“

In Lyras Augen blitzte etwas auf, dann schaute sie direkt in Airas Gesicht, die noch immer ihr Pokerface trug.

„Damit vertust du eine große Chance, Cassandra.“

„Mag sein, aber es gibt in dieser Angelegenheit nur ein Wir bei Lyra und mir.“ Cassie verbeugte sich höflich vor der Meisterin, nickte Lyra dann zu und verließ leicht angesäuert das Tanztheater.

Lyra folgte ihr und sobald sie vor der Tür an der frischen Luft waren, fiel sie der Weißhaarigen um den Hals. „Das hättest du nicht tun müssen, Cassie.“

„Du hättest doch dasselbe für mich getan und ich denke, dass es an der Zeit ist, dass ich das auch einsehe. Wir sind doch beste Freundinnen und diese Sache soll nicht zwischen uns stehen.“

Entschlossen nickte Lyra. „Danke.“

Gerade machten sie sich auf den Weg zurück zur Straße, als ihnen das junge Kimono-Girl von vorhin hinterherrief. „Wartet bitte auf mich!“

Sie blieben stehen und schauten sichtlich überrascht zu dem Mädchen, das einen in dunklen Stoff gehüllten Gegenstand vor sich her trug.

„Meisterin Aira schickt mich, um euch das hier zu geben. Sie lässt ausrichten, dass ihr die erste Prüfung bestanden habt. Nur wahre Freundschaft ist ein Band, das auch in allen Situationen halten kann.“

„Was meint sie damit?“ Irritiert nahm Cassandra das Stoffpäckchen, packte es jedoch noch nicht aus.

Lyra dämmerte es bereits und sie atmete tief durch. „Dann war das gerade eben eine Prüfung von Meisterin Aira? Sie hat nie gewollt, dass wir uns darauf einigen, dass nur eine von uns bei ihr bleibt. Aber weshalb?“

„Das kann ich euch nicht sagen.“ Airas Schülerin schenkte ihnen ein mildes Lächeln, als wollte sie den beiden Mädchen gegenüber dadurch eine Art von Mitleid ausdrücken. „Meisterin Aira ist sehr weise und oft weiß sie viel mehr, als sie zeigt. Dennoch solltet ihr auf ihr Urteil vertrauen, auch wenn sie euch gegenüber nichts Tiefergehendes verlauten ließ. Wenn sie denkt, dass ihr diesen Gegenstand haben solltet, dann nehmt ihn und setzt ihn mit derselben Weisheit ein, mit der sie ihn euch vermacht hat.“

„Ich verstehe nicht, woher sie überhaupt von uns weiß“, mischte sich Cassie ein und begann den dunklen Stoff von dem Gegenstand zu wickeln. Als sie wieder aufschaute, war das Lächeln aus dem Gesicht der Schülerin verschwunden. Stattdessen sah sie Cassie mit einem unergründlichen Blick an und die beiden Waisenmädchen hegten keinerlei Zweifel daran, dass auch Airas Schülerin mehr wusste, als sie ihnen gegenüber zugab.

„Wir vertrauen darauf, dass ihr euren Weg fortschreitet.“

„Unseren Weg?“, wiederholte Lyra nachdenklich. „Wir müssen zurück ins Waisenhaus, uns bleibt nicht viel Zeit hier in Teak City.“

Das junge Kimono-Girl begann wieder zu lächeln, wenn auch geheimnisvoll. „Man kann keinen Weg anfangen und auf einmal rückwärts laufen. Es kommt immer der Tag, an dem man sich seinem Schicksal stellen muss. Man kann fortlaufen und sich verstecken, doch früher oder später wird es einen immer finden.“

Lyra klappte beinahe der Unterkiefer herunter, als ausgerechnet der Ratschlag ihrer verstorbenen Mutter aus dem Mund der Anderen erklang. „Woher…?“ Doch sie kam gar nicht dazu, ihre Frage zu Ende zu stellen. Die Schülerin wurde von einem anderen Kimono-Girl gerufen, verabschiedete sich mit einer Verbeugung und ließ Lyra und Cassie mit mehr Fragen als Antworten stehen.

„Was sollen wir denn dazu sagen?“ Cassie hatte die Stirn gerunzelt, widmete sich allerdings schnell wieder Airas Geschenk und packte es vollständig aus. Zum Vorschein kam eine Steinplatte, die Granit ähnlich sah, die Farbe Chromoxidgrün besaß und etwa handgroß mit einer kleinen, halbkreisförmigen Einbuchtung in der Mitte einer Kante war. Die Rückseite der Steinplatte war glatt geschliffen, ebenso die Ränder, wobei es aussah, als hätte die Platte noch einen Gegenpart, denn die Kante mit der kleinen Einbuchtung zeigte deutliche Spuren einer Bruchkante. Zudem zierten Kratzer die Oberseite, in die ein seltsames Muster aus Schnörkeln eingraviert war. Ein Riss zog sich durch die Mitte der Platte. Wo auch immer sie herkam, sie musste einiges mitgemacht haben, um in die Hände von Aira und nun in die von Lyra und Cassandra zu gelangen.

„Was ist das für eine Platte?“ Neugierig nahm Lyra sie in ihre Hände, kam aber zu keinem Ergebnis.

„Und was machen wir jetzt damit?“ Cassie fuhr ratlos die Muster auf der Oberseite nach.

„Vorerst sollten wir sie einfach aufbewahren. Was auch immer das für eine Platte ist, es ist Aira äußerst wichtig, dass wir sie in unserem Besitz haben.“ Lyra, die ebenso wie Cassie eine Seite der Steinplatte umfasst hielt, fing den Blick ihrer besten Freundin ein.

In den Gesichtern der beiden spiegelte sich ein und derselbe Gedanke wieder und im nächsten Moment brachten sie ihre gesamte Kraft auf, um den tiefen Riss in der Mitte als neue Bruchkante zu nutzen und die Platte in zwei gleichgroße Stücke zu zerbrechen.

Was auch immer das für eine Platte war, falls sie ihr Geheimnis eines Tages lüfteten, dann würden sie es zusammen tun und jede von ihnen sollte vom jetzigen Zeitpunkt an eine Hälfte der chromoxidgrünen Steinplatte bei sich tragen. Dieses Rätsel umfasste sie beide und sollte es eine Lösung dafür geben, dann würden sie sie gemeinsam finden – denn nur zusammen konnten sie die Platte wieder zusammensetzen.

Kampfperformance

Der Tag war, nachdem die beiden Jungtrainerinnen zurück im Pokémoncenter waren, recht schnell auf den Abend zugegangen. Sie hatten sich am Nachmittag einen Film im Kino angesehen und noch ein wenig die Stadt besichtigt, wobei sie Pläne für die noch kommenden zwei Tage in Teak City schmiedeten. Morgen wollten sie den Weisen Aero im Glockenturm besuchen und ihm die Steintafel zeigen, die Aira ihnen geschenkt hatte. Womöglich wusste er, welches Ziel seine Schwester damit verfolgte – falls er ihnen denn helfen würde. Doch nun saßen Lyra und Cassandra in der Lobby des Pokémoncenters, hatten eine Kanne mit Kakao vor sich stehen und schenkten sich davon gerade jeweils eine Tasse ein.

„Ich bin irgendwie erschöpft, aber aufs Zimmer möchte ich noch nicht gehen.“ Cassie streckte sich und gähnte kurz, während sie einen Blick auf die Uhr warf. Es war kurz nach zwanzig Uhr und das leckere Abendessen lag ihr noch im Magen, was sie träge machte.

„Wir könnten noch einen kleinen Spaziergang um den Block machen“, schlug Lyra daraufhin vor. „Golbit und Felilou sind für die Bewegung sicherlich dankbar.“

„Gute Idee.“

Schnell tranken beide ihre Tasse mit Kakao aus, ließen die Kanne für später stehen und machten sich auf den Weg nach draußen, wobei sie schon einmal ihre Pokémon aus den Bällen entließen. Schnurrend streifte Felilou um die Beine seiner Trainerin; Golbit trottete hinter Cassie her.

Vor der Tür wehte ihnen ein kühler Frühjahrswind entgegen, aber als sie die Jacken bis oben zuzogen und die Enden ihrer Schals in den Kragen steckten, verging das Frösteln sehr schnell. Sie schwiegen eine Weile und schlenderten auf dem Bürgersteig auf eine nahegelegene Kreuzung zu, die die Straße weiter zum Stadtrand führte. Gerade wollten sie abbiegen, als sie von den Geräuschen kämpfender Pokémon abgelenkt wurden. Neugierig näherten die beiden Mädchen sich einem Spielplatz, auf dem zwei Trainer ihre Pokémon auf einer Wiese gegeneinander kämpfen ließen.

„Den kenne ich doch“, raunte Lyra, als sie den schwarzhaarigen Jungen entdeckte, der sie im Pokémoncenter in Mahagoni City angesprochen hatte. „Er wollte um den Orden in Mahagoni City kämpfen und dann Teak City besuchen.“

„Seltsame Reiseroute“, kommentierte Cassie lediglich und musterte das Luxtra des Jungen, das gerade mit Donnerzahn angegriffen hatte. „Aber wenn er meint.“

„Ich kann mich gar nicht daran erinnern, ob er mir seinen Namen gesagt hat“, murmelte Lyra, pausierte jedoch, als das Pokémon, gegen das Luxtra und der Schwarzhaarige kämpften, einen kritischen Treffer landete. „Hast du diese Performance gesehen?“ Vollkommen aus dem Häuschen trat Lyra näher an die beiden Trainer heran, dicht gefolgt von Cassie.

Der Schwarzhaarige blickte konzentriert zu seinem Luxtra, das im Begriff war gegen das Schillok eines Mädchens zu verlieren. In dem spärlichen Licht der Spielplatzbeleuchtung konnte man gar nicht erkennen, ob ihre gelockten Haare hellbraun oder dunkelblond waren. Jedenfalls wirkte sie ebenso konzentriert wie ihr Gegner.

„Schillok, setz Hydropumpe ein!“

Ihr Pokémon vollführte eine elegante Drehbewegung, wobei der mächtige Wasserstrahl aus Schilloks Mund geschossen kam. Kleine Schaumfäden überzogen die Wassermasse wie ein filigranes Netz und erinnerten an eine wunderschöne Marmorierung. Die Attacke traf Luxtra frontal, schleuderte es mehrere Meter durch die Luft und ließ es besiegt liegen.

„Gut gemacht, Schillok.“ Lächelnd trat das Mädchen auf ihr Pokémon zu, lobte es und gab ihm ein kleines Leckerli. „Du hast gut gekämpft.“

Der Junge schnaubte ein wenig enttäuscht und zog sein Elektropokémon zurück. „Du bist wirklich stark, dass du trotz Typennachteil gewonnen hast.“

„Man sollte einen Trainer und sein Pokémon nicht nach der äußeren Erscheinung beurteilen“, erwiderte sie mit einem schmalen Grinsen und zog ihr Pokémon ebenfalls zurück. Erst dann bemerkte sie ihre beiden Zuschauerinnen und kam lächelnd auf sie zu. „Hat euch der Kampf gefallen?“

„Er war spitze, leider haben wir nicht alles mitbekommen.“ Mit leuchtenden Augen blickte Lyra zwischen den beiden Trainern hin und her. „Schilloks Attacke war vollkommen graziös, wie hast du ihm das beigebracht?“

„Ich bin Koordinatorin. Es gehört viel Übung dazu und man muss auf alle Details achten.“

„Unterschätze niemals die Stärke eines Koordinators“, warf der Schwarzhaarige lachend dazwischen und bedankt sich bei der Dunkelblonden für den Kampf, die sich verabschiedete und dann ging. „Und dich kenne ich doch auch, wenn ich mich nicht irre?“

„Ja, wir sind uns schon einmal begegnet. Das ist übrigens Cassandra White, wir sind zusammen unterwegs.“

„Freut mich, ich bin Leo Galloway.“ Er nickte ihnen zu, doch da keiner der drei besonders gut im Smalltalk zu sein schien, verabschiedeten sie sich kurzerhand voneinander und gingen wieder getrennte Wege.

„Ich hätte auch gerne so ein starkes Pokémon“, flüsterte Lyra schließlich auf dem Rückweg zum Pokémoncenter und warf Felilou einen sehnsüchtigen Blick zu. Im nächsten Moment fing die Dunkelrosahaarige sich jedoch wieder, räusperte sich und lächelte. „Aber was soll’s. Konzentrieren wir uns jetzt erst einmal darauf, dass wir morgen den Glockenturm besichtigen.“

Cassie erwiderte darauf nichts, sondern musterte ihre beste Freundin mit einem neugierigen Glanz in den Augen. Es war ihr allerdings deutlich anzusehen, was sie von Lyras Aussage hielt, denn wenn es nach ihr ging, würden sie sich einfach ihre Pokémon schnappen und Hals über Kopf ein Leben als Ausreißer führen. „Ja, der Glockenturm“, ging sie auf Lyras Themenwechsel ein. „Wird bestimmt interessant.“
 

Am nächsten Morgen mussten sie überrascht feststellen, dass das Pokémoncenter fast ausgebucht war und die Kantine beim Frühstück dementsprechend voll. Schwester Joy erklärte ihnen, dass im Tanztheater eine große Vorführung stattfand, die bereits seit Wochen ausverkauft war. Außerdem fand am kommenden Wochenende ein Wettbewerb in Teak City statt – Lyra und Cassie bedauerten, dass sie dann schon wieder abgereist sein würden.

Mit ihren voll beladenen Tabletts kämpften sie sich durch die Kantine, bis sie Leo Galloway und das Mädchen vom Vorabend an einem Vierertisch sitzen sahen. Kurzerhand steuerten sie auf die beiden zu, wünschten ihnen einen guten Morgen und fragten, ob sie sich dazu setzen konnten.

„Natürlich, setzt euch“, sprach die Dunkelblonde mit einem einladenden Lächeln und räumte ihre Tasche von einem der beiden freien Plätze. „Vor Wettbewerben staut es sich immer etwas in Pokémoncentern, daran gewöhnt man sich.“

Lyra schenkte ihr einen dankbaren Blick und widmete sich vorerst ihrem Müsli. „Du bist also Koordinatorin, ja? Nimmst du am Wettbewerb teil?“

„Eher nicht.“ Die Fremde zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Wettbewerbe aufgegeben, nachdem ich am Großen Festival von Kanto teilgenommen habe. Meine Mutter ist eine berühmte Koordinatorin in ihrer Heimatregion Finera, aber ich habe nach meiner einjährigen Reise durch Kanto irgendwie die Lust daran verloren und reise jetzt einfach so durch Johto.“

„Finera“, wiederholte Cassie murmelnd. „Das liegt doch nördlich von Kanto, nicht wahr?“

„Es ist jedenfalls ein ganzes Stück von hier – zu weit für einfach mal so“, meinte das Mädchen lachend und band sich die Locken zu einem Pferdeschwanz. „Ach ja, ich heiße Grace Light. Leo kennt ihr ja schon.“

„Reist ihr zusammen?“, erkundigte sich Lyra kauend, was ihr im nächsten Moment etwas unhöflich vorkam, daher vermied sie es für den Rest des Gesprächs.

Leo und Grace warfen sich einen kurzen Blick zu und schüttelten dann synchron mit dem Kopf. „Nein, wir laufen uns nur hin und wieder über den Weg und kämpfen dann gegeneinander. Allerdings warte ich noch auf den Tag, an dem ich Grace besiegen kann.“

„Du Pappnase.“ Grace stupste ihn mit dem Ellbogen an. „Du hast mich doch schon oft genug besiegt.“

„Du liegst mit zwei Siegen in Führung“, sagte Leo sofort und in seinen bernsteinfarbenen Augen blitzte erneut der Kampfwille auf. Dann wandte er sich an Lyra und Cassandra. „Grace ist eine wirklich gute Trainerin, ihr Schillok und mein Luxtra sind in etwa gleich stark, aber ihr Arkani macht mein Walraisa platt, deshalb kämpfen wir nur noch eins gegen eins.“

Grace nahm das Lob mit Wohlwollen auf und schluckte derweil den letzten Bissen ihres Brötchens herunter. „Was ist mit euch beiden? Seid ihr in der Stadt, um den Phantomorden zu erkämpfen?“

Beide Mädchen senkten den Blick und schwiegen einige Sekunden, bis Cassandra zuerst das Wort ergriff. „Nein, aber wir wären gerne Trainerinnen. Wir leben im Waisenhaus von Ebenholz City und unsere Waisenhausleiterin verbietet uns ein Trainerdasein, obwohl wir jeder ein eigenes Pokémon besitzen. Lyra hat ein Felilou und ich ein Golbit.“

„Das klingt aber nicht nett.“

„So ist das auch nicht ganz richtig“, mischte Lyra sich ein und warf Cassie einen leicht verärgerten Blick zu. Es stieß ihr wirklich sauer auf, dass Cassie nur die Tatsachen erwähnte, die ihrer Weltsicht in den Kram passten. „Eigentlich sollten wir gar keine Pokémon haben, aber Josephine, unsere Leiterin, hat eine große Ausnahme für uns gemacht, weil die Umstände es so ergeben haben. Wir werden noch heute und morgen hier in Teak City sein und dann ins Waisenhaus zurückkehren, so wie wir es Josephine versprochen haben.“

Cassie funkelte sie wütend an. Für einen Augenblick fühlte sich die Luft schwer an, dann stand Cassandra wortlos auf und drehte den anderen drei den Rücken zu. „Ich gehe mir ein wenig die Beine vertreten.“

Lyra erwiderte nichts darauf, sondern ließ Cassie ziehen. Allerdings war ihr nun selbst der Appetit vergangen, woraufhin sie sich bei Grace und Leo entschuldigte und ebenfalls aufstand. Zügig brachte sie ihr Tablett weg und kehrte ins Doppelzimmer von Cassie und sich zurück, doch als sie dort ankam, war ihre Freundin bereits verschwunden. Lyra fluchte leise, gab sich aber keine Schuld an Cassies schlechter Laune. Stattdessen entließ sie brummend Felilou aus dem Pokéball und machte sich gemeinsam mit ihrem treuen Pokémonfreund auf den Weg nach draußen.

„Lou?“ Felilou turnte elegant vor ihr herum und blieb hin und wieder stehen, um auf Lyra zu warten.

„Cassie verhält sich unmöglich; sie weiß doch, dass wir zurückkehren werden.“ Allmählich wurde Lyra wirklich wütend. Natürlich wäre sie auch am liebsten eine Trainerin, aber es ging nun einmal nicht und das hatte sie akzeptiert. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Eltern immer verantwortungsbewusste Menschen gewesen waren, die mit Sicherheit nicht gewollt hätten, dass ihre einzige Tochter den Flausen in ihrem Kopf nachgab. Ein wenig kindliche Naivität war nichts Falsches, aber Lyra war sich dennoch deutlich darüber im Klaren, dass das Waisenhaus bis zum Ende ihrer Schulbildung ihr Zuhause sein würde. Sie war dankbar für diese Chance und die Geborgenheit, die das Sankt Josephines ihr gab – und Cassie sollte das auch sein.

Ihre Beine trugen sie wie ferngesteuert in den nördlichen Teil der Stadt, wo der Glockenturm vor dem Hintergrund des Waldes in die Luft ragte. Einig hundert Meter links davon stand der abgebrannte Bronzeturm, von dem nur noch eine Ruine übrig geblieben war. Lyra seufzte, als sie die imposante Schönheit des Gebäudes in sich aufnahm, doch ihre Wahrnehmung wurde durch einen weißen Haarschopf unterbrochen, den sie am Eingangsbereich des Glockenturms sah.

Cassie war auch hier und sie war ohne Lyra gegangen.

Erneut brandete Wut in der Fünzehnjährigen auf. Sie zog Felilou in den Pokéball und schlich sich hinter Büschen an, bis Cassie und der Weise, mit dem sie sich unterhielt, in Hörweite waren. Lyras Gesicht nahm immer steifere Züge an, als sie hörte, dass Cassandra dem Weisen von der Steinplatte erzählte und sie ihm wohl scheinbar auch zeigte. Sie verlangte eine Audienz bei Aero, die ihr gewährt wurde.

„Miststück“, entfuhr es Lyra und sie biss sich im nächsten Moment sofort auf die Zunge. So hatte sie das nicht gemeint, aber dass Cassie so wankelmütig war und einfach ihre Abmachung ignorierte, behagte ihr überhaupt nicht. Es fühlte sich sogar beinahe wie Verrat an. Lyra machte kehrt und ließ den Glockenturm hinter sich, stattdessen lief sie in das Randgebiet des Waldes hinein, um sich abzureagieren.

Nachdem sie Felilou wieder entlassen hatte, spielte sie ein wenig mit ihrem Unlichtpokémon und fasste einen Entschluss, den sie mit Sicherheit am Abend bereuen würde, aber im Moment hatte sie einfach nur das Bedürfnis, dass sie Cassie den Wind aus den Segeln nahm. Wenn Cassie ihre Einzelgänger-Nummer wollte, dann sollte sie sie auch bekommen. Mit entschlossenem Blick rief Lyra Felilou zu sich und lief gemeinsam mit ihrem Pokémon tiefer in den Wald hinein. Sie war keine Freundin zweiter Wahl und mit Sicherheit würde sie auch keine Trainerin zweiter Klasse sein, nur weil Madame Cassandra wieder eine ihrer Phasen hatte.

„Komm mit, Felilou.“

Das Katzenpokémon schenkte ihr einen aufmerksamen Blick, als wüsste es bereits, was Lyra sagen wollte. Mit kätzischer Vorfreude lief es einige Meter voraus.

Es gab da nämlich ein kleines Geheimnis, das Lyra stets für sich bewahrt hatte und von dem nicht einmal ihre beste Freundin Cassandra etwas wusste. Lyra war im Besitz eines Pokéballs, der einst ihrer Mutter gehört hatte und den sie stets als eine Art Talisman bei sich getragen hatte. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Lyra ihn bekommen und ebenfalls als Talisman aufbewahrt.

„Wir fangen uns jetzt ein neues Teammitglied.“

Unheilböen

„Möchtest du noch etwas Tee?“

„Sehr gerne sogar.“

Lyra reichte Cassie die Porzellankanne und hatte ihr freundlichstes Lächeln überhaupt aufgesetzt. Niemand würde bei ihrem zuckersüßen Anblick – sie hatte sich die Haare sogar mit einer rosa Schleife zusammengebunden – auf die Idee kommen, dass sie kein zuvorkommendes, vorbildliches Mädchen war. Cassie spielte dieses Spiel – bewusst oder unbewusst – ebenfalls mit und präsentierte sich von ihrer Schokoladenseite, während beide im Wohnzimmer von Laila und Janosch saßen.

Laila, die sichtlich angetan von den beiden Mädchen war, schaute hin und wieder rein, um sich zu erkundigen, ob noch Kekse oder weiterer Kuchen benötigt wurde, doch Janosch lehnte jedes Mal dankend ab.

„Wir haben wirklich alles, was wir brauchen, Schatz.“

Laila lächelte, verschwand dann jedoch in die Küche und ließ sich auch nicht mehr blicken.

„Das ist eine sehr abenteuerliche Geschichte, die ihr mir da erzählt habt. Eigentlich komme ich mit Aero und Aira sehr gut klar, aber dass sie diese Steintafel mir nie gegenüber erwähnt haben… Allerdings habe ich sie einmal bei Aero gesehen, damals war ich noch ein kleiner Junge und mein Vater hatte mich zu einem Treffen mitgenommen. Wieso ausgerechnet Aira sie euch gegeben hat, das weiß ich nicht. Leider kann ich euch auch nichts zu der Steintafel sagen, tut mir leid.“ Mit diesen Worten griff er das vorherige Gesprächsthema wieder auf, beendete es aber auch gleichzeitig. Eine ganze Stunde hatten Lyra und Cassandra sich mit ihm über die chromoxidgrüne Steinplatte unterhalten, waren jedoch auch gemeinsam zu keinem Ergebnis gekommen.

Dabei wurmte es Lyra noch immer sehr, dass Cassie ihren Besuch bei Aero verschwiegen hatte. Da war es kein Wunder, dass sie nach dem Mittagessen plötzlich betont hatte, dass ein Treffen bei Aero wohl keine neuen Erkenntnisse bringen würde und sie sich gleich an Janosch wenden sollten. Womöglich hatte der Weise Cassandra nichts erzählt, aber falls doch, wollte sie es Lyra keinesfalls preisgeben. Diese wiederum verschwieg Cassie ihren Ausflug in den Wald und hielt den zweiten Pokéball in ihrer Jackentasche versteckt. Die Nachricht über ihr zweites Teammitglied war ein Ass im Ärmel, das sie wie eine Bombe platzen lassen wollte.

„Ich denke, wir sollten nun gehen“, begann Cassie schließlich, bedankte sich bei Janosch und Laila für die Kekse und den Kuchen und holte dann ihre Jacke aus dem Flur.

Lyra tat es ihr gleich, verabschiedete sich von dem Ehepaar und folgte ihrer Freundin dann nach draußen, wo es bereits dunkel war und ein frischer Wind durch die Straßen fegte. „Schade, dass wir nichts Neues erfahren habe“, tastete Lyra sich vorsichtig an das Thema heran, doch Cassie spielte mit Unschuldsmiene die Freundlichkeit in Person.

„Ja, wirklich schade.“ Sie seufzte am theatralischen Punkt. „Aber da können wir wohl nichts machen. Gehen wir zurück ins Pokémoncenter und machen uns einen schönen Abend, morgen ist immerhin unser letzter Tag in Teak City, nicht wahr?“

„Wir könnten morgen noch einmal zum Glockenturm gehen.“

„Nein“, meinte Cassie sofort und für einen Moment blitzte etwas in ihren Augen auf, das Lyra nicht zuordnen konnte. „Nein,“, wiederholte die Weißhaarige mit sanfterer Stimme, „das wird nicht nötig sein. Aira wollte uns keine Informationen geben, dann wird Aero es auch nicht tun.“

„Ach, ist das so?“ Lyras Stimme klang so trocken wie Wüstensand auf Schmirgelpapier. „Na wenn du das sagst.“ Sie ging zwei weitere Schritte, blieb erneut stehen und ballte die Hände zu Fäusten, um ihre Wut unter Kontrolle zu halten. „Findest du das eigentlich sehr lustig?“

Auch Cassie blieb stehen, drehte sich zu Lyra um und fixierte sie mit einem recht ausdruckslosen Blick. „Was meinst du?“

„Ich habe gesehen, wie du zum Glockenturm gegangen bist, um mit Aero zu sprechen. Findest du es gut, dass du mich ausschließt und wieder einen Alleingang startest? Weißt du, ich dachte, wir seien Freundinnen. Aber im Moment sehe ich einer Verräterin in die Augen und keiner Freundin.“

Cassie schnappte nach Luft, wirkte sichtlich geschockt, fing sich aber schnell wieder. „Du hast mich verfolgt?“, zischte sie und war ebenso aufgebracht wie Lyra. „Du vertraust mir wohl kein bisschen, hm?“

„Bisher hast du mir dazu nicht viele Gründe gegeben“, konterte die Rosahaarige.

„Ja, ich war bei Aero, aber er wollte nicht mit mir reden. Er sagte, dass er nicht bereit ist mich zu empfangen, weil ich es auch nicht bin. Das ist absoluter Schwachsinn, natürlich bin ich bereit dazu, von ihm empfangen zu werden, aber er sieht das wohl anders. Weder du noch ich werden irgendetwas von diesem alten Weisen erfahren, Lyra. Das ist vergeudete Zeit und bevor ich mich deshalb aufrege, möchte ich lieber unsere restliche Zeit in Teak City genießen.“

„Du hättest trotzdem nicht alleine gehen dürfen“, fauchte Lyra, setzte sich wieder in Bewegung und ließ die schlechte Laune weiter in sich brodeln. „Wir ziehen das zusammen durch, schon vergessen?“

Cassandra hielt mit ihrer Freundin schritt. „Ich war aufgebracht, okay? Vielleicht war das nicht meine beste Entscheidung. Es tut mir leid. Ich habe mich entschuldigt, gut so?“

Lyra brummte etwas Unverständliches und bog in die Straße vom Pokémoncenter ein. „Weißt du was, Cassandra? Ich glaube, ich möchte den Abend alleine mit meinen Pokémon verbringen.“

Cassie überhörte den Plural. „Bitte, mach doch, was du willst.“

Mit steifer Miene schlugen die beiden Mädchen entgegengesetzte Richtungen ein und Lyra sah Cassie erst wieder, als sie kurz vor Mitternacht von einem ermüdenden Training mit ihren beiden Pokémon ins Doppelzimmer zurückkehrte, Cassandra aber natürlich schon schlafend vorfand.
 

Auch am nächsten Morgen straften sie sich gegenseitig, indem sie die Gespräche auf ein Minimum reduzierten. Lyra bedauerte dabei sehr, dass die Freundschaft zwischen Cassandra und ihr immer angespannter wurde, je länger sie ihre eigenen Pokémon besaßen. Mittlerweile dachte die Rosahaarige sogar, dass es besser gewesen wäre, wenn sie in jener Gewitternacht niemals das mysteriöse Ei mit Golbit gefunden hätten. Dann wäre Cassie noch immer ihre beste Freundin, aber stattdessen flackerte immer wieder eine gewisse Rivalität zwischen ihnen auf.

„Wir müssen die Pokémon noch füttern“, murmelte Cassie schließlich, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und entließ Golbit aus dem Pokéball. Ihr Pokémon streckte sich und nahm dankbar das Aufzuchtfutter entgegen, von dem leider nicht mehr viel übrig war. Die Packung, die Schwester Joy ihr geschenkt hatte, war klein gewesen, außerdem besaß Golbit einen gesunden Appetit.

Lyra zögerte. „Das mache ich später.“

„Wieso nicht jetzt?“ In Cassies Augen flackerte Misstrauen auf. Es überkam sie ein ungutes Gefühl, das sie schon seit Kindestagen an immer gehabt hatte, wenn Unheil aufzog. Zwar ignorierte sie ihr Bauchgefühl oft genug, aber jetzt fühlte sie sich bestätigt. Sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und funkelte Lyra erbost an. „Was verheimlichst du mir?“

Die Ältere seufzte gedehnte und fuhr sich durch die offenen Haare. „Ich war sehr wütend auf dich, weil du einfach ohne mich zu Aero gegangen bist.“

„Und?“

„Und da habe ich ein wenig im Wald trainiert und…“

„Und was?“ Cassies Stimme glich beinahe einem Fauchen und wäre sie ein Tier, dann hätte sich mit Sicherheit ihr Fell um neunzig Grad vom Körper abgestellt. „Lyra!“

„Und da habe ich mir ein wildes Pokémon als zweites Teammitglied gefangen. Lass es mich erklären…“ Doch weiter kam Lyra nicht, denn Cassandra verstummte und warf ihr Blicke zu, als würde sie sie damit töten wollen.

„Du… besitzt ein zweites Pokémon?“

„Ja. Ich kann es dir zeigen, wenn du willst. Es ist wirklich nett und Felilou versteht sich auch mit ihm. Golbit wird es auch mögen, sie haben denselben Typ.“

„Denselben Typ“, flüsterte die Weißhaarige und schüttelte ein wenig den Kopf. „Ist es deswegen? Du bist neidisch darauf, dass ich so ein besonderes Pokémon wie Golbit habe und jetzt willst du dir auch denselben Typ ins Team holen, damit du Golbit und mir Konkurrenz machen kannst.“

„Bitte?“ Mit großen Augen starrte sie Cassandra an. „Nein, so ist das nicht!“

Doch Cassie ließ sich nicht belehren. Sie stand auf, brachte mit klapperndem Geschirr ihr Tablett weg und rief Lyra durch die halbe Kantine noch etwas zu. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen, ich werde mir ein Mauzi fangen, dann sehen wir ja, wer das bessere Katzenpokémon hat!“

„Das ist doch… Das ist kein Wettstreit!“ Lyra vergrub das Gesicht in ihren Händen, machte jedoch keine Anstalten ihrer entrüsteten Freundin zu folgen. Cassandra war ein wirklich lieber Mensch, aber wenn sie sich einmal in etwas hineingesteigert hatte, dann konnte man ihr diese Dinge nur schwer ausreden. Lyra mochte diese Phasen nicht, aber ihr war klar, dass Cassie jetzt nicht mehr aufzuhalten war. „Das gibt eine Katastrophe“, murmelte sie, aß ihr Essen mehr als lustlos auf und machte sich dann auf den Weg in ihr Doppelzimmer. Es war der letzte Tag in Teak City, aber auf Cassies Gesellschaft konnte sie wohl kaum hoffen, daher packte sie schon einmal ihre Sachen für die Abreise und überlegte sich dann, wohin sie gehen könnte.

„Felilou“, maunzte das lila Unlichtpokémon, nachdem Lyra es aus dem Pokéball befreit hatte. Es spürte sofort die schlechte Laune seiner Trainerin und strich schnurrend um Lyras Beine, die das Pokémon kurzerhand auf den Arm nahm und streichelte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr Josephine ausflippen wird. Sie wird total enttäuscht von uns sein, weil wir uns nicht an die Regeln gehalten haben. Wie soll das überhaupt werden, wenn jeder von uns mit zwei Pokémon zurück ins Waisenhaus geht?“ Abwesend schmuste sie mit Felilou, das die Zuwendung genoss und es sich in Lyras Armen bequem machte. „Natürlich war es falsch, dass ich mir einfach noch ein Pokémon gefangen habe, aber Cassie reagiert noch mehr aus Trotz als ich. Ich glaube nicht, dass sie dafür geeignet ist. Meiner Meinung nach kann sie keine zwei Pokémon erziehen, sie weiß doch nicht einmal, wie sie richtig mit Golbit umgehen muss. Cassie ist… zu unbedarft.“ Sie setzte Felilou auf dem Boden ab, nahm ihre Jacke und machte sich mit dem Pokémon an ihrer Seite auf den Weg zur Turmruine, die sie trotz allem noch besichtigen wollte.

Ein Teil der Ruine war frei zugänglich, der Großteil und vor allem das Untergeschoss jedoch abgesperrt. Da man auch keinen Eintritt zahlen musste, wurde der Geldbeutel geschont. Man konnte nur erahnen, wie prachtvoll der Bronzeturm eins gewesen sein musste. Dass er vor einhundertfünfzig Jahren abbrannte, war wirklich ein Verlust für die Stadt.

Nach etwa einer halben Stunde bekam Lyra Langeweile und sie entschied sich, dass sie einen Blick ins Untergeschoss wagte, wofür sie Felilou in den Pokéball zurückzog. Zwar war der Bereich abgesperrt, aber sie ging nicht davon aus, dass es dort unten gefährlicher als im Erdgeschoss war. Außerdem war sie keine Vandalin; sie würde nichts kaputt machen.

Vorsichtig tauchte sie unter der Holzabsperrung durch und ging die Steintreppe ins Untergeschoss herunter. Natürlich brannte hier kein Licht, aber da immer wieder Löcher in der Decke waren, konnte man trotzdem genug sehen. Hier unten lag noch mehr Staub und Dreck als oben, doch dafür sah man die Überreste kunstvoller Wandmalereien, die Lyra mit der Hand nachfuhr. Man konnte eine Menschenansammlung sehen, einige Pokémon und festliche Farben wie Gold und Rot – vermutlich zeigte die Abbildung eine Art Fest oder Zeremonie. Da die Malereien bereits sehr verblasst und zerstört waren, wurde es zur Seite hin immer schwieriger etwas zu erkennen, doch Lyra hielt inne, als sie eine vertraute Form zu sehen glaubte.

„Na das ist doch nicht möglich…“ Sie ging näher an die Malerei heran und war sich fast sicher, dass sie dort – direkt am Rand des Bildes, wo die Steinwand zerschlagen war und Brocken auf dem Boden lagen – ein Golbit oder etwas in der Art sah.

Plötzlich rieselte Staub von der Decke, jemand musste sich im Stockwerk über ihr befinden. Dann waren Schritte zu hören. „Ist dort unten jemand?“ Es war eine alte, männliche Stimme, vielleicht einer der Weisen, die neben dem Glockenturm auch über die Turmruine wachten.

Lyra überkam das Gefühl, dass sie hier schnell verschwinden sollte, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Daher ließ sie die Wandmalerei hinter sich und eilte zur Treppe, auf der sie – ihre Vermutung war richtig – einem Weisen in seiner traditionellen Kleidung begegnete.

„Was tust du hier unten, junges Fräulein? Alles außer dem Erdgeschoss ist abgesperrt und für Besucher nicht zugänglich.“ Er sah wirklich aufgebracht aus, auch wenn er sich um ein freundliches Gesicht bemühte.

„Ja, entschuldigen Sie bitte vielmals. Mein Pokémon hat gespielt und ich dachte, es hätte etwas die Treppe heruntergeworfen, aber da muss ich mich wohl geirrt haben. Es war vermutlich nur ein kleines Steinchen.“ Sie lächelte und glaubte, dass der Mann ihren lauten Herzschlag hören musste, doch er schien sich mit ihrer Version der Geschichte zufrieden zu geben und nickte.

„Dass das nicht noch einmal vorkommt, junge Dame. Wir sehen es sehr ungerne, wenn jemand in der Turmruine“, sie hätte schwören können, dass ihm das Wort „herumschnüffelt“ über die Lippen kommen wollte, „in abgesperrte Bereiche geht. Das kann sehr gefährlich werden, wenn dir etwas auf den Kopf fällt. Das Gebäude ist nicht mehr ganz standfest.“

„Ich verstehe.“ Sie setzte eine schuldbewusste Miene auf und ließ sich von dem Weisen nach draußen führen, wo er sie noch einmal eindringlich ermahnte und dann verschwand. Lyra schaute ihm noch einen Moment hinterher, klopfte sich dann den Staub aus der Kleidung und warf einen letzten Blick zur Turmruine. Dass sie Golbit dort gesehen hatte, musste eine Täuschung sein. „Nichts weiter als eine Täuschung“, sagte sie zu sich selbst, während sie ihre beiden Pokébälle hervorholte und die Pokémon entließ. „Golbit stammt nicht einmal aus dieser Region, was sollte es also an der Wand eines jahrhundertealten Turms zu suchen haben.“ Ein wenig belustigt über ihre Einbildung zog sie zwei Leckerlis hervor und gab sie den beiden hungrigen Mäulern vor sich. „Was haltet ihr von einer kleinen Trainingseinheit?“

Beide stimmten lautstark zu und wirbelten um ihre Trainerin herum.

Lyra lachte. „Schön, dann gehen wir in den Park.“ Gemeinsam mit Felilou und ihrem neuen Teammitglied – Nebulak – machte sie sich auf den Weg. Doch je weiter sie die Ruine hinter sich ließ, desto düsterer wurden ihre Gedanken. In diesem Moment wünschte sie sich, dass Nebulak Unheilböen beherrschte, damit es die, die in ihrem eigenen Leben aufzogen, verscheuchen konnte. Aber leider war das nicht möglich.

Turmruine

Cassie war fort.

Als Lyra gegen Abend noch immer – oder wieder – wütend das Pokémoncenter und ihr Doppelzimmer betrat, musste sie feststellen, dass Cassandra ihre Sachen gepackt und in ein Einzelzimmer umgezogen war. Schwester Joy hatte nicht den Grund dafür nachgefragt, aber Lyra konnte ihren bohrenden Blick im Rücken spüren, als sie sich für die Information dankend umdrehte und in ihr nun seltsam leeres Zimmer ging.

Cassies Bett war ordentlich gemacht, aber irgendetwas fehlte einfach. Felilou und Nebulak schwirrten neugierig und mit fragenden Blicken um das leere Bett herum, doch Lyra deutete ihr Verhalten als Vorwurf und zog sie kommentarlos in den Pokéball zurück. Seufzend ließ sie sich auf ihrem eigenen Bett nieder, starrte minutenlang Löcher in die Luft und erhob sich schließlich, um Cassie aufzusuchen. So konnte es doch nicht weitergehen, zumal sie morgen früh zurück in Richtung Ebenholz City aufbrechen mussten.

„Cassie? Bitte mach die Tür auf“, rief sie, als sie an dem Einzelzimmer ihrer Freundin angekommen war und zögerlich an die Holztür klopfte. Da keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter und fand wieder ein leeres Zimmer vor – zwar stand Cassies Rucksack auf dem Bett, aber sie selbst war nicht hier.

Mittlerweile wog Lyras schlechtes Gewissen tonnenschwer und sie machte sich mit quälenden Gedanken auf die Suche nach ihrer eigentlich besten Freundin, die erst zwei Straßen weiter an einer kleinen Pizzeria endete, in der sie den weißen Haarschopf durch das große Glasfenster entdeckte. Mit zügigen Schritten eilte sie auf die Pizzeria zu, trat ein und ging, nun langsamer, zu dem Tisch, an dem Cassie saß.

„Lyra, hallo.“ Cassies Stimme klang merkwürdig kalt, aber Funken der Reue leuchteten in ihren Augen auf.

„Hallo… Darf ich mich setzen?“ Da Cassie nicht widersprach, nahm die Rosahaarige einfach Platz und bestellte sich ein Glas Mineralwasser, als der Kellner kam. Einige Minuten schwiegen sie sich an und Cassie stocherte in ihrer Pizza Hawaii herum, bis Lyra wieder das Wort ergriff. „Du bist aus unserem gemeinsamen Zimmer ausgezogen.“

„Ja.“

Lyra nickte und befeuchtete ihren Mund mit einem Schluck Wasser – was musste er sich auch so trocken anfühlen. „Und wie geht es weiter, wenn wir zurück im Waisenhaus sind?“

„Ich denke,“, begann Cassandra leise, atmete tief durch und sprach dann mit normaler Stimme, „dass es für unsere Freundschaft besser ist, wenn wir eine Weile Abstand voneinander nehmen.“

„Wie meinst du das?“ Ihr Herz schlug schnell und schwer, beinahe schmerzhaft.

Cassie senkte den Blick, bevor sie antwortete. Sie konnte Lyra einfach nicht in die Augen sehen. „Wir waren immer beste Freundinnen und ich will dich nicht als Freundin verlieren, aber im Moment fühlt es sich genauso an. Es ist diese Woche so viel geschehen und irgendwie… passen wir im Moment nicht als Freundinnen zusammen. Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich meine es nur gut, wenn ich im Waisenhaus wieder in mein altes Zimmer zurückgehe und Aurelie zu dir kommt. Mit dieser Distanz hat unsere Freundschaft besser funktioniert als in den letzten Tagen, in denen wir quasi vierundzwanzig Stunden am Tag aufeinander hockten.“

„Es tut mir leid, dass ich mir einfach Nebulak gefangen habe“, platzte es schließlich aus Lyra heraus. „Cassie, es tut mir wirklich leid. Diese ganze Pokémonsache sollte nicht zwischen uns stehen.“

„Und mir tut es leid, dass ich so ein Sturkopf gewesen bin.“ In Cassies Augen glitzerten Tränen, die sie jedoch verdrängte. Dann aß sie schnell noch den Rest ihrer Pizza auf und bezahlte, damit Lyra und sie nach draußen gehen konnten. „Ein Mauzi habe ich mir übrigens nicht gefangen, ich besitze ja gar keinen Pokéball mehr, daran habe ich in dem Moment überhaupt nicht gedacht.“

„Ach, Cassie…“ Lyra umarmte ihre ein Jahr jüngere Freundin und war im Moment einfach nur glücklich, dass zwischen ihnen die Fronten geklärt waren, auch wenn das bedeutete, dass Cassandra und sie in nächster Zeit etwas Abstand voneinander wahren würden. Wenn das der einzige Weg war, um ihre Freundschaft zu retten, dann war es wohl richtig so.

Gemeinsam schlenderten sie durch die abendlichen Straßen von Teak City. Musik drang aus dem Tanztheater bis auf die Straße und bunte Laternen, die an langen Seilen über das Gelände des alten Theaters gespannt waren, tauchten alles in ein rot-orangenes Licht.

„Das ist so schön“, seufzte Cassie verträumt und entließ ihr Golbit, damit es diesen Anblick nicht verpasste. „Schau mal, Golbit, das brauchen wir für unser Zimmer im Waisenhaus auch.“

Das Bodenpokémon klopfte sich mit der Faust gegen die Brust und gab ein „Golb!“ von sich.

Auch Lyra entließ ihre beiden Pokémon. Nebulak schwirrte sofort um Golbit herum, mit dem es den Geisttyp teilte. Die zwei Pokémon verstanden sich auf Anhieb gut und tollten ein wenig umher, wobei sie immer in Sichtweite ihrer Trainerinnen blieben.

„Nebulak passt zu dir“, meinte Cassie nach einer Weile, in der sie das Tanztheater wieder hinter sich gelassen hatten.

„Ach, meinst du? Wieso denn das?“

Cassie schmunzelte. „Es scheint immer gut gelaunt zu sein und es macht den Eindruck, als wäre es wirklich glücklich bei Felilou und dir.“

„Danke, das freut mich.“ Lyra pausierte kurz. „Felilou und Nebulak mögen sich auch, sie spielen viel zusammen und sind gute Trainingspartner.“

„Ich mache mir nichts mehr vor, du würdest von uns beiden sowieso die bessere Trainerin abgeben, weil du mehr Ahnung von der Materie hast“, erklärte Cassandra mit einem wehmütigen Blick zu ihrem Golbit. „Ich dachte, ich wäre das auch, aber ich kenne mich überhaupt nicht mit Attacken und Typenvorteilen aus. Vielleicht hätte ich öfter mal die Nase in ein Buch stecken sollen.“

Lyra lachte leise in sich hinein und rief Nebulak, das sich mit Golbit ziemlich weit entfernt hatte, zurück. „Wir können die beiden ja mal zusammen trainieren lassen, sie können bestimmt voneinander lernen. Es beherrscht Hypnose, damit hat es Felilou schon mehrfach aus Spaß zum Einschlafen gebracht. Nebulak ist ein kleiner Spaßvogel.“

„Ich sage doch, dass es zu dir passt, dann bist du wenigstens nicht immer so ernst.“ Grinsend steckte Cassie ihr die Zunge raus und tätschelte Golbit den Kopf, als es wieder angerannt kam und sie beinahe umgeworfen hätte. Im nächsten Moment drehte das Pokémon sich wieder um und rannte auf einen braunhaarigen Jungen zu, der um eine Ecke gebogen kam. „Golbit, golb!“

„Huch!“ Der Junge strauchelte nach hinten, als Golbit haarscharf vor ihm zum Stehen kam, ihm einen intensiven Blick zuwarf und dann wieder zurück zu Cassandra trottete.

„Oh Gott, das tut mir leid!“ Sofort lief Cassie auf den Braunhaarigen zu, zog Golbit zurück in den Pokéball und entschuldigte sich für das ungestüme Verhalten ihres Pokémon. „Das macht Golbit sonst nie.“

„Ach, schon okay.“ Er kratzte sich nachdenklich an der Wange und musterte dann neben Cassandra auch Lyra, die ihre beiden Pokémon ebenfalls zurück in die Pokébälle zog. „Ich war gerade auf dem Weg zum Tanztheater, da findet heute Abend eine Vorführung statt, aber ich glaube, dass ich schon zu spät dran bin.“

„Ja, es hat schon angefangen, wir sind daran vorbeigekommen“, bestätigte Lyra ihm und gesellte sich zu Cassie und ihm. „Du bist aber nicht wegen des Wettbewerbs am Wochenende hier oder?“

Er begann zu schmunzeln. „Willst du damit sagen, dass ich nicht wie ein Koordinator aussehe?“

„Irgendwie schon, ja.“

Ein kurzes Lachen erklang aus dem Mund des Jungen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich bin eigentlich nur auf der Durchreise und wollte mir die Vorführung ansehen. Ihr zwei seid Trainerinnen, ja?“

Cassie und Lyra tauschten einen Blick, bestätigten dann jedoch einvernehmlich, dass sie Trainerinnen waren und morgen zurück nach Hause reisten.

„Ebenholz City also, da war ich auch schon vor nicht allzu langer Zeit“, sprach er und fuhr sich dabei durch die braunen Haare. „Die Drachenhöhle sagt euch bestimmt etwas.“

„Wow, du warst in der Drachenhöhle?“ Mit leuchtenden Augen schauten die beiden Mädchen ihn an. „Da dürfen doch nur Trainer rein, die den Orden von Ebenholz City haben oder von dem Arenaleiter für würdig genug erachtet worden sind!“

„Ich bin kein schlechter Trainer“, erwiderte der Junge, doch seine Mundwinkel zuckten schelmisch nach oben. „Orden habe ich keine, nein. Aber sagt mal, wo wir schon im Gespräch sind und ich die Vorführung im Tanztheater sowieso verpasse, wollen wir nicht ein wenig trainieren? Ich könnte euch ein paar Techniken beibringen.“

„Wir waren eigentlich auf dem Weg nach…“ Cassie warf Lyra einen hilflosen Blick zu; sie hatte nicht wirklich Lust dazu, etwas mit dem Fremden zu unternehmen, wo sie sich gerade erst wieder mit Lyra vertragen hatte.

„Wir wollten uns noch die Turmruine ansehen, die soll jetzt bei Nacht mit dem Sternenhimmel ja sehr schön sein“, fügte Lyra hinzu und überspielte die Notlüge mit einem charmanten Lächeln. „Wenn du uns entschuldigen würdest?“

„Sicher. Aber falls ihr es euch anders überlegt, laufen wir uns bestimmt noch einmal über den Weg. Ich heiße übrigens Sarin.“

„Ja, danke für das Angebot, Sarin.“ Lyra lächelte noch immer charmant, drehte ihm jedoch den Rücken zu und drängte Cassie mit einem stummen Blick zum Gehen. An der nächsten Straßenecke drehte sie sich kurz um und stellte erleichtert fest, dass Sarin weiter gegangen war, jedenfalls konnte sie ihn nirgendwo mehr sehen. „Ziemlich aufdringlicher Kerl, meinst du nicht auch?“

„Ich fand ihn nett – und er hat dich gemocht.“ Cassie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, woraufhin Lyra ein empörtes Schnauben von sich gab.

„Oh bitte, auf keinen Fall.“

„Doch, ganz sicher, er hat dich die ganze Zeit mit strahlenden Augen angesehen.“

Lyra verdrehte die Augen und ehe sie sich versahen, schlugen sie tatsächlich den Weg zur Turmruine ein. Etwas Besseres hatten sie an diesem Abend ohnehin nicht mehr vor, also ließen sie sich auf der Steintreppe vor der Ruine nieder und betrachteten den Sternenhimmel, der heute ungewöhnlich klar war.

„Schau mal, Cassie, da ist das Sternbild Kassiopeia.“ Lyra deutete in den Himmel und lächelte, als ihre weißhaarige Freundin überrascht die Augenbrauen hochzog. „Sterne und Sternbilder sind so faszinierend. Ich sitze gerne an meinem Fenster und schaute nachts in den Himmel hinauf.“

„Das kann ich nachvollziehen, sie leuchten so schön“, erwiderte sie verträumt und entließ Golbit, dem sie das Sternbild zeigte und dann auf den Mond deutete, der hoch über dem Horizont stand. „Schade, dass wir morgen schon zurück müssen, nicht wahr?“

„Ja, leider… Aber das wussten wir, als wir uns auf diesen Kurztrip eingelassen haben.“

„Ich weiß… Ich war noch gar nicht in der Ruine drin, können wir noch einmal gucken gehen? Nur kurz.“

Einige Sekunden zögerte Lyra, dann stand sie auf. „Aber nur kurz, als ich in der Ruine war, hat mich einer der Weisen erwischt. Die sehen das wohl nicht gerne.“

„Was hast du denn angestellt?“, witzelte Cassie und ging mit Golbit die Stufen hinauf.

Lyra folgte ihr. „Ich war im Untergeschoss, aber nur ganz kurz. Na ja, egal. Da sind jedenfalls tolle Wandmalereien, leider sieht man sie nicht mehr besonders gut. Der Turm ist ja auch schon vor einhundertfünfzig Jahren abgebrannt, da verwundert das nicht wirklich. Auf einem der Bilder sieht es sogar aus, als wäre ein Golbit abgebildet.“

„Was, ehrlich?“ Verwundert blieb Cassie stehen und runzelte die Stirn. „Dabei kommen die hier in Johto doch gar nicht vor.“

„Das dachte ich mir auch, muss wohl ein zufälliger Fleck oder dergleichen sein.“

„Du wirst schon Recht haben, wenn du das sagst. Hey, Golbit, was machst du denn da?“ Cassie warf einen Blick zu dem jungen Pokémon, das auf die Absperrung zum Untergeschoss zulief und leise „Golb, golb, golb“ vor sich her sang. „Nicht da runter gehen!“ Doch es war schon zu spät; Golbit tauchte unter dem Holzbrett durch und man hörte, wie es die Treppe nach unten nahm.

„Verdammt, genau das meinte ich gerade“, fluchte Lyra. Sowohl sie als auch Cassie liefen mit schnellen Schritten zur Absperrung und folgten Golbit nach unten, wo es finster und kühl war. Man sah noch weniger als am Tag, denn das bisschen Mondlicht, das durch die wenigen Ritzen in der Decke drang, erhellte nicht wirklich viel.

„Ich habe eine Taschenlampe. Ach, verdammt, die liegt ja im Rucksack. Golbit, komm sofort her!“

„Golbit, golb!“, hallte es durch den Gang, es musste sich schon ein ganzes Stück von ihnen entfernt haben.

Unruhig tippelte Cassandra umher und hielt sich an Lyras Arm fest. „Wir können es doch nicht alleine lassen“, jammerte sie und wirkte sichtlich beunruhigt angesichts des dunklen Gangs und der Ruine. „Was machen wir denn jetzt?“

„Komm, wir gehen vorsichtig an der Wand entlang.“ Lyra behagte es gar nicht, dass sie der Anweisung des Weisen nicht folgte, wo sie doch sonst auch ein sehr regelkonformer Mensch war, aber Cassie war wirklich sehr aufgelöst und traute sich alleine niemals so weit in die Ruine hinein.

Während sie sich langsam vortasteten, rief Golbit immer wieder nach ihnen. Hin und wieder stießen sie mit den Schuhspitzen gegen Steinbrocken, die sie umrunden oder übersteigen mussten, doch schließlich gelangten sie in eine Art kreisrunden Saal, der sich mittig in der Ruine befinden musste. Ein riesiger Gesteinsbrocken lag genau in der Mitte und man konnte nur noch erahnen, dass das Deckengewölbe hier eingebrochen war. In der Tat fehlte nämlich ein großes Stück der Decke, sodass der Sternenhimmel zu sehen war und sie wenigstens nicht mehr in der Dunkelheit wandeln mussten.

Golbit stand seelenruhig an einer Seite des Saals vor einer Wandmalerei, die noch weitgehend intakt war.

„Was fällt dir ein, mach das bloß nie wieder!“ Es war das erste Mal, dass Cassandra mit ihrem Pokémon schimpfte, doch im nächsten Augenblick überwog die Erleichterung, dass ihm nichts geschehen war. Erst dann bemerkte sie, was die Malerei, vor der Golbit stand, zeigte. „Oh mein Gott… Lyra…?“

„Was ist los?“ Lyra ging um eine auf dem Boden liegende Stuckverzierung herum und blieb hinter Cassie stehen. Dann sah auch sie, was ihrer Freundin den Atem verschlagen hatte. „Oh…“

Vor ihnen war eine lebensgroße Abbildung eines Golgantes in die Wand gemeißelt und mit Farben ausgemalt. Auf der Brust von Golgantes war eine Vertiefung in der Wand, wo sonst der Schlüssel abgebildet sein müsste.

„Wow…!“

Cassie nickte und berührte die Vertiefung. „Sieh mal, das sieht aus, als würde etwas hineinpassen in der Größe einer…“

„Steintafel“, vollendete Lyra den Satz und berührte ihre Jackentasche, in der ihre Hälfte der Steinplatte ruhte, die Cassandra und sie von Aira geschenkt bekommen hatten. „Meinst du, wir sollten…?“

Die beiden Mädchen schluckten und zuckten zusammen, als Golbit zu einem leuchtenden Augenpaar in den Schatten deuteten. Ein Psiana trat in das spärliche Licht der Nacht und musterte sie neugierig.

„Hat Aira nicht ein Psiana?“, wisperte Cassie und krallte sich noch stärker in Lyras Arm. „Ich habe Angst, das ist gruselig hier. Bitte lass uns wieder gehen, jetzt sofort.“

Lyra wollte etwas erwidern, als Psiana ruckartig nach oben blickte und fauchend das Fell aufstellte. Das Pokémon starrte für einen Moment in den Himmel, dann stürmte es aus dem runden Saal hinaus und auch Golbit wirkte höchst unruhig. Es zuppelte an Cassies Bein, die Lyra losließ, um Golbit zu beruhigen.

„Bitte, Lyra.“

Lyra nickte, als der Mond hinter einigen Wolken hervorkam und sein Licht direkt auf die Wandmalerei von Golgantes fiel. „Was passiert hier!“, rief sie erschrocken, als die Linien in der Wand zu leuchten begannen und im nächsten Moment auch ein warmes Licht durch ihre Jackentasche nach außen drang. Panisch holte Lyra das Bruchstück der Steinplatte hervor und auch Cassie tat dasselbe mit ihrem Stück.

Das Licht wurde immer greller, sie konnten nichts mehr sehen. Wind kam auf und wirbelte so stark um sie herum, dass ihre Haare in alle Richtungen abstanden.

„Lyra!“ Cassie schrie neben ihr.

Sie hörte sie kaum, weil der Wind so stark in ihren Ohren pfiff. Lyra wollte nach ihr greifen, doch ihre Hand fasste nur Luft, als Cassie noch lauter schrie und panisch klang.

Lyra!

Lyra bemühte sich die Augen zu öffnen, doch sie konnte sie nicht gegen das grelle Licht abschirmen. Wieder griff sie ins Leere hinein und machte einen Schritt auf Cassandra zu. Das Schreien ihrer Freundin wurde schlagartig leiser und im Bruchteil einer Sekunde legten sich sowohl der Wind als auch das Licht. Ihr Herz schlug ängstlich in ihrer Brust.

Stille.

Blinzelnd öffnete Lyra die Augen und stützte sich an der Wand ab, als sie zur Seite schwankte. „Cassie…?“

Sie war alleine.

Dunkle Schatten

Lyra schreckte auf, als etwas gegen die Fensterscheibe flog und einen dumpfen Knall machte, der noch minutenlang in ihrem Kopf nachhallte. Es dauerte, dann kamen ihr die Tränen, als sich der Schreck ein wenig legte und sie nach draußen schaute, wo ein Sturm in der finsteren Nacht tobte und nicht auch nur einen Funken Sternenlicht bis zur Erde durchdringen ließ. „Cassie…“ Tränen rannen ihr die Wangen hinab, doch sie zwang sich zur Ruhe und vergrub das Gesicht im Kopfkissen, während der Regen gegen die Scheibe prasselte und der starke Wind den Rollladen klappern ließ.

Felilou, das bis jetzt auf dem Sessel gegenüber geschlafen hatte, trollte sich zu seiner Trainerin und krabbelte mit einem tröstenden Schnurren unter die Bettdecke, wo Lyra ihr Pokémon in den Arm nahm und fest an sich drückte. Kurz darauf rappelte der Pokéball von Nebulak auf ihrem Nachttisch; das Geistpokémon befreite sich mit einem „Bu!“und schwebte vor Lyras Bett, um das Mädchen mit Grimassen aufzuheitern.

„Ich danke euch“, brachte sie leise hervor und wischte sich die Tränen von der Wange. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was vor wenigen Stunden in der Turmruine vor sich gegangen war. Die Ereignisse lagen in ihrer Erinnerung hinter einer dicken Nebelwand. Das Erste, was sie wieder sicher wusste, war, dass Grace und Leo sie ins Pokémoncenter gebracht hatten. Die beiden hatten noch zu später Stunde eine Trainingseinheit nahe der Turmruine hingelegt und den kurzen, hellen Lichtschein bemerkt, den Cassies Verschwinden verursacht hatte. Kurz darauf mussten auch schon einige Weisen eingetroffen sein, die – zu Cassies Erstaunen – nicht wütend waren, sondern mit vollkommen ernsten und emotionslosen Mienen dafür sorgten, dass Lyra von den beiden anderen Jungtrainern vom Ort des Geschehens fortgeleitet wurde.

„Cassie, wo bist du nur?“ Ihr Blick wanderte wieder hinaus in den Regen, der so schlimm war wie in jener Neumondnacht vor eineinhalb Wochen, als Cassie und sie das Pokémonei mit Golbit gefunden hatten. Dies war der Beginn ihres düsteren Schicksals – sie hätten niemals nach Teak City kommen dürfen.

„Denkst du, sie schläft?“ Grace‘ melodische Stimme erklang direkt vor Lyras Zimmertür, dabei hatte man sie gar nicht kommen hören.

„Ich denke schon, sie war so panisch und nervlich am Ende…“

„Ob sie wohl die Wahrheit gesagt hat?“

Leo seufzte und man hatte sofort das Bild vor Augen, wie er sich nachdenklich über den Hinterkopf strich. „Grace, ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht…“

„Die Weisen haben uns fortgeschickt“, beharrte Grace und sie klang sehr von ihrer Ansicht überzeugt. „Als wüssten sie mehr, viel mehr. Jedenfalls hoffe ich, dass es Cassandra gut geht, wo auch immer sie jetzt ist.“

„Officer Rocky ist auch sofort gegangen, als Aero und Aira aufgetaucht sind. Sie schienen beide sehr besorgt zu sein.“

„Das sind wir doch auch.“ Einen Moment herrschte Schweigen, dann fuhr Grace leiser fort. „Lass uns morgen mit Lyra reden; ich glaube, sie braucht jetzt eine starke Schulter zum Anlehnen.“

Danach war es still. Lyra schaute noch eine ganze Weile aus dem Fenster in die finstere Nacht hinaus, wo dunkle Schatten zu tanzen schienen. Dunkle Schatten… Wie in der Neumondnacht, als Cassie sich sicher war, einen Mann in ihrer Nähe gesehen zu haben. Lyra starrte noch tiefer in die Finsternis, wo sie eine Bewegung auszumachen glaubte, die nicht zu dem Sturm passte.

Ein Blitz zuckte über den Himmel, blendete sie für einen Moment, trotzdem war sie sich sicher, dass ein rotes Augenpaar unweit ihres Fensters aufzuleuchten schien.

Wieder Dunkelheit und Stille.

Erst eine Stunde später hatte sich ihr Herzschlag soweit beruhigt, dass sie vor Verwirrung, Trauer und Erschöpfung einschlief.
 

Arceus, bitte mach, dass es Cassie gut geht, wo auch immer sie ist…
 

Am folgenden Tag traf Josephine ein, sprach jedoch nur kurz mit Lyra und verschwand für einige Stunden mit Officer Rocky, Aero, Aira und einigen anderen der Weisen in einem Konferenzzimmer. Nach einer halben Stunde verließ Rocky das Gespräch und Lyra erfuhr später, dass alle Nachforschungen seitens der Polizei eingestellt wurden – man legte den Fall zu den Akten oder ließ ihn gänzlich verschwinden, wer wusste das schon.

Grace und Leo, die beide großes Mitleid mit Lyra hatten, versuchten das Mädchen den Vormittag über aufzumuntern, doch Lyra war nicht nach großen Gesprächen zumute, weshalb sie sich die meiste Zeit über mit Felilou und Nebulak in die Lobby des Pokémoncenters zurückzog und heiße Schokolade mit Sahne trank.

Als die Konferenz von all jenen, die etwas zu sagen hatten, beendet war, trat Josephine seufzend an Lyra heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid, Liebes. Dass du so etwas erleben musst.“

Lyra hob den Blick und schaute der Waisenhausleiterin direkt in die Augen, während sie die Tasse abstellte. „Was genau ist in den Ruinen passiert? Wo ist Cassie?“ Sie entdeckte Aira in ihrem knöchellangen Kimono und Psiana, die sie beide aus der Ferne zu mustern schienen, sich jedoch wegdrehten, als Lyra ihren Blick erwiderte. Nur langsam löste sie sich von dem alten Kimono-Girl und schaute wieder zu Josephine. „Was geht hier vor?“

„Lyra, Liebes, du musst sehr verwirrt sein – und traurig, das sind wir alle.“ Die alte Dame nahm neben ihr auf einem Sessel Platz. „Es scheint wohl so zu sein, dass ihr beiden zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seid. Der Bronzeturm ist ebenso wie der Glockenturm sehr alt und birgt so manche Geheimnisse, die mit dem Einsturz infolge des Brands verloren gegangen sind. Die Weisen nehmen an, dass sich zufällig eine Art… Mechanismus eingeschaltet hat, der Cassandra an einen anderen Ort teleportiert hat.“

Für einen Moment schwieg Lyra und ließ sich die Erklärung durch den Kopf gehen. „Ist so etwas denn möglich?“

„Die Legendären Ho-Oh und Lugia waren früher sehr oft an den beiden Türmen anzutreffen, außerdem wurden Entei, Raikou und Suicune im Bronzeturm geschaffen – die Macht der Legendären ist unergründlich, ich wüsste nicht, warum es unmöglich sein sollte.“

„Also ist Cassie jetzt einfach an einem anderen Ort? Alleine und verwirrt?“

„Wir finden sie.“

„Wohin haben die Ruinen des Bronzeturms sie gebracht?“

Josephine verfiel in Schweigen, betrachtete ihren Schützling mit einem unergründlichen Blick und schüttelte schließlich den Kopf. „Das weiß ich nicht. Aber ich habe noch eine andere Frage an dich, Lyra. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du Cassandra nicht im Stich lassen möchtest.“

Die Jüngere nickte stumm.

„Der Weise Aero hat angedeutet, dass es einige Möglichkeiten gibt – Orte, mit denen der Bronzeturm und der Glockenturm früher eine enge Verbindung hatten.“

„Welche Orte?“, unterbrach Lyra sie sofort und Hoffnung machte sich in ihr breit. „Ich werde dort nach Cassie suchen, egal, wie weit ich dafür gehen muss. Sie ist meine beste Freundin und ich habe ihr im Moment ihres Verschwindens nicht helfen können. Bitte, Josephine, lassen Sie mich nach Cassie suchen!“

„Das dachte ich mir schon.“ Nachdenklich rieb sie sich die Schläfen und wirkte in diesem Moment einfach nur sehr alt und sehr müde. „Also schön… Wenn du… Wenn du bis zum Anfang des nächsten Schuljahrs zurück bist, die fehlenden Unterrichtsthemen nacharbeitet hast und sich das nicht auf deine Noten im kommenden Schuljahr auswirkt, dann erlaube ich dir zu gehen.“

„Ich werde alles nacharbeiten, das verspreche ich!“ Allmählich wurde Lyra Feuer und Flamme für diese Idee, denn alleine die Vorstellung, dass sie mehr tun konnte als nur herumzusitzen, stachelte sie zu neuem Tatendrang an. „Ich werde Cassie finden.“

„Du solltest mit Aero reden, er ist im Glockenturm und wird vermutlich auf dich warten. Lyra, Liebes… Ich wünsche dir Glück – alles nur erdenkliche Glück auf dieser Welt, du wirst es brauchen.“

Die Jüngere nickte und eilte sofort zu ihrem Zimmer, um ihre Sachen zu packen, was schnell erledigt war. Doch als sie sich von Josephine verabschieden wollte, war diese bereits gegangen und hatte bei Schwester Joy ein kleines Päckchen für Lyra hinterlegt. Neugierig öffnete sie die Verpackung und fand darin einen ComDex mit saphirblauem Gehäuse. Anbei lag ein kleiner, gefalteter Zettel mit Josephines ordentlicher Handschrift: Du wirst ihn sicher gebrauchen können. Eine kleine Weile dankte Lyra der alten Dame in Gedanken, dann packte sie den ComDex in ihre Jackentasche und begab sich auf die Suche nach Grace und Leo, bei denen sie sich noch bedanken wollte.

Sie fand die beiden in der Kantine beim Mittagessen und gab ihnen einen kurzen Zwischenbericht, dann machte sie sich auch schon auf den Weg zu Aero, wobei sie eine nachdenkliche Grace und einen mitfühlenden Leo zurück ließ.

Mit schnellen Schritten – sie rannte beinahe – erreichte sie in kürzester Zeit den Glockenturm und wurde bereits an den Stufen zum Eingangsbereich von einem alten Mann abgefangen, der unheimlich viel Autorität und Weisheit ausstrahlte. Das musste Aero sein, eine andere Möglichkeit gab es nicht.

„Lyra Hawkins“, sprach der Weise und begrüßte sie mit einem leichten Kopfnicken. „Du willst dich also auf die Suche nach deiner Freundin begeben?“

„Ja, das will ich. Ich werde nicht Ruhe geben, bis ich Cassie gefunden habe.“

„Dann sei es so. Folge mir bitte, ich möchte kurz mit dir reden.“ Er führte Lyra nicht sonderlich tief in den Glockenturm hinein, lediglich ein Stockwerk nach oben in ein Zimmer, das mehr einem typischen Büro als einem altehrwürdigen Gebäude glich. Aero nahm am Schreibtisch Platz und deutete auf den Stuhl gegenüber, der unbequemer war, als er aussah.

Erst auf den zweiten Blick bemerkte Lyra, dass sie nicht alleine waren – Aira samt Psiana saß auf einem Sofa in der Ecke, sagte jedoch nichts.

Während Aero die Hände faltete, begann er zu sprechen. „Früher waren verschiedene Stätten, die den Legendären dienten, miteinander verbunden. Wir gehen alle davon aus, dass deine Freundin Cassandra White zu einer anderen Stätte teleportiert wurde. Allerdings kann ich dir nicht sagen, welche das sein wird, zumal wir nicht einmal alle Ziele dieses Mechanismus kennen. Ein alter Freund von Aira und mir kennt sich damit besser aus, aber er lebt sehr zurückgezogen und ist nur schwer erreichbar. Du wirst persönlich zu ihm gehen müssen, um ihn um Rat zu fragen. Sein Name ist Nero.“

Die Jungtrainerin sah fest entschlossen aus. „Gut. Wo finde ich diesen Nero?“

Aero tauschte einen Blick mit seiner Schwester aus. „Als wir das letzte Mal von ihm hörten, lebte er im Weißen Wald in Einall, das ist allerdings schon einige Jahre her. Wie gesagt, Nero lebt sehr zurückgezogen. Dennoch solltest du dort deine Suche beginnen.“

Einall also, das war wirklich ein ganzes Stück weg, doch Lyra wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. „Ich werde noch heute aufbrechen, Weiser Aero. Vielen Dank für diese Hilfe.“

„Sei vorsichtig.“ Aira erhob zum ersten Mal das Wort, stand auf und trat an die Seite von Aero. „Und pass auf dich auf, junge Lyra.“

„Das werde ich.“ Sie erwartete noch etwas von den beiden zu hören, doch die Alten schwiegen beharrlich, sodass Lyra sich dankend von ihnen verabschiedete und nach draußen ging, wo sie erst einmal tief durchatmete.

Wenn das alles stimmte und Cassie einem alten Teleportationsmechanismus zum Opfer gefallen war, würde sie ihre Freundin wiederfinden. Sie konnte ja nicht im Nichts gelandet sein, nicht wahr? Fest entschlossen ging Lyra zurück zum Pokémoncenter, wo sie Grace und Leo in die Arme lief. Zu ihrer Verwunderung waren die beiden ebenso abreisebereit wie sie selbst. „Ihr reist ab?“

„Wir werden mit dir gehen“, sagte Grace mit ebensolcher Entschlossenheit, wie sie Lyra an den Tag legte, die nun allerdings ein eher perplexes Gesicht machte, immerhin kannten die drei sich nicht wirklich. „Keine Widerrede. Leo und ich haben schon länger überlegt, ob wir nicht zusammen weiterreisen sollen, da wir uns ohnehin ständig über den Weg laufen. Wir sind beide auf der Suche nach einer Herausforderung und nach einer Aufgabe, deshalb werden wir dir helfen.“

„Abgesehen davon ist es doch ganz spannend, wenn man uralten Geheimnissen auf der Spur ist, nicht wahr?“, fügte der Schwarzhaarige mit einem kecken Grinsen hinzu und stupste Lyra freundschaftlich in die Seite. „Wir würden deshalb gerne mit dir kommen, Lyra. Der Weg nach Einall ist lang, da nimmt man den doch lieber zu mehreren auf sich.“

„Also schön“, stimmte sie nach kurzem Zögern zu. Es konnte nicht schaden, wenn sie zwei erfahrenere Trainer an ihrer Seite hatte und die sie bei der Suche nach Cassie unterstützen wollten. „Dann brechen wir gleich auf?“

Sowohl Grace als auch Leo nickten.

Lyra holte schnell ihren Rucksack, bedankte sich bei Schwester Joy für den guten Service und keine fünf Minuten später trat die zusammengewürfelte Truppe ihre gemeinsame Reise an, eine Reise ins Ungewisse, fort von Lyras Heimat und ihrer Vergangenheit, die sie hinter sich lassen musste, wenn sie nach vorne sehen wollte.

Gemeinsamer Weg

Als Lyra an diesem Morgen die Augen aufschlug, fühlte sie sich ausgeruht und erholt. Allmählich gewöhnte ihr Körper sich an die täglichen Strecken, die sie gemeinsam mit Leo und Grace zurücklegte. Etwas mehr als eine Woche waren die drei schon zusammen unterwegs und in dieser Zeit hatte sich eine lockere Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die auf Cassies Verschwinden aufgebaut worden war.

Erst jetzt fiel Lyra der Geruch von gebratenem Bacon auf, weshalb sie aus ihrem Schlafsack krabbelte und sich den Schlaf aus den Augen rieb. Schnell suchte sie sich einen Waschlappen, ein kleines Handtuch und frische Unterwäsche raus, wobei sie jedoch nur den Waschlappen und das Handtuch mit aus dem Zelt nahm, das Grace und sie sich jede Nacht teilten, wenn sie nicht in einem Pokémoncenter übernachteten.

„Guten Morgen!“ Leo winkte ihr von einer Steinbank aus zu. Vor ihm köchelte heißes Wasser in einer Kanne über dem Lagerfeuer, daneben stand eine Pfanne mit Rührei und gebratenem Bacon, ihre Nase hatte sie also nicht getäuscht. Auch Leos Pokémon Luxtra und Walraisa gaben einen Begrüßungslaut von sich, als Nebulak und Felilou von ihrer Trainerin aus den Pokébällen gelassen wurden. Besonders Felilou war anfangs sehr empört gewesen, dass es die Nächte im Ball verbringen musste, doch es war einfach zu eng in dem Zelt.

„Wo ist Grace?“

„Trainieren.“

Lyra nickte und machte sich auf den Weg zu einem nahe gelegenen Bach, mit dessen kaltem Wasser sie sich eine Katzenwäsche angedeihen ließ. Danach schlüpfte sie im Zelt schleunigst in ihre frische Unterwäsche und die restliche Kleidung, ehe sie Leo am Lagerfeuer Gesellschaft leistete.

Von Teak City aus waren sie zuerst nach Viola City gereist, jetzt befanden sie sich ziemlich querfeldein auf dem Weg nach Rosalia City. Anschließend sollte die Reise weiter gehen nach Neuborkia und schließlich in Richtung Kanto nach Alabastia, wo Grace‘ Familie lebte. Dort gab es einen kleinen Flughafen, von dem man nach Einall fliegen konnte. Das war der Plan.

Kurze Zeit später tauchte auch Grace wieder auf; sie kam auf dem Rücken ihres Arkanis angeritten und lächelte ihren beiden Mitreisenden gut gelaunt zu. „Morgen, Lyra. Du siehst ausgeruht aus, das ist schön. Man gewöhnt sich schnell an das Schlafen im Zelt, finde ich.“

Lyra brummte eine undefinierbare Antwort und nahm sich lieber noch einen Nachschlag von dem köstlichen Rührei. Man konnte sagen, was man wollte, aber Leos Kochkünste waren grandios und mit ihm würden sie sicherlich nicht verhungern.

Auch Grace nahm sich einen Teller und lud sich ordentlich von dem Frühstück auf. Ihr Arkani hatte Hummeln im Hintern und brauchte täglich viel Bewegung, weshalb sie beinahe jeden Tag mit Schillok und Arkani trainierte.

Lyra fragte sich, warum Schillok sich noch nicht zu einem Turtok entwickelt hatte, aber womöglich verstand sie nicht genug von Trainingsmethoden, um das richtig beurteilen zu können. Ihr Blick wanderte zu Felilou, das sich am Feuer wärmte und darauf wartete, dass von Lyras Teller ein paar Brocken abfielen. Hoffentlich würde sie noch lange das Vergnügen mit Felilou haben, sie wollte gar nicht unbedingt, dass ihre Pokémon sich entwickelten. Je größer sie wurden, desto schwieriger wurden sie zu versorgen und Lyra besaß nicht das Geld, um später x Pokémon von der Größe eines Onix oder Wailord durchzufüttern.

Eine Stunde später hatten sie das Geschirr gespült, die Zelte zusammengepackt und sich auf die Weiterreise gemacht. Nach der gemeinsamen Woche waren die drei zu einem eingespielten Team geworden. Leo kümmerte sich um eine warme Mahlzeit am Tag, hielt ihre Raststelle sauber und sorgte dafür, dass immer genügend Wasservorrat und Lebensmittel in ihren Rucksäcken waren. Auch behielt er den finanziellen Überblick und plante genau durch, wann sie sich was leisten konnten und wann nicht. Grace und Lyra waren für den Auf- und Abbau der Zelte zuständig, sammelten Feuerholz und halfen Leo beim Abwasch. So konnte jeder seinen Beitrag leisten und keiner fühlte sich benachteiligt.
 

Johto war eine wirklich schöne Region, wie Lyra feststellte. Es war ihr nie sonderlich aufgefallen, aber die Natur war wunderschön, die Menschen freundlich und die Städte und Ortschaften sehr sauber. Sie würde ihre Heimat vermissen, wenn sie erst einmal den Boden von Einall betreten hatte, da war sie sich sicher. Mit einigen gekonnten Handgriffen steckte sie die Heringe des Zelts in den Boden und betrachtete wenige Minuten später das fertige Werk.

„Wie gut, ihr seid fertig, das Essen auch gleich“, rief Leo von der Feuerstelle aus, neben der es sich Arkani und Felilou gemütlich gemacht hatten.

„Wir haben heute ein gutes Stück geschafft“, stellte Grace fest, die sich einige Haarsträhnen aus der Stirn wischte und ihre Wasserflasche nahm, um einen großen Schluck daraus zu trinken. „Ich denke, wenn wir morgen mit dem Sonnenaufgang aufbrechen, werden wir abends in Rosalia City sein und können im Pokémoncenter übernachten.“

„Es wäre vielleicht auch nicht verkehrt, wenn wir noch ein paar Einkäufe machen, bevor wir dann weiterreisen“, mischte sich Leo ein, der in einem kleinen Kochtopf herumrührte. „Vor Einall ist Rosalia City unsere letzte größere Einkaufsgelegenheit, wenn man Alabastia nicht mitzählt.“

„Was ist an Alabastia so schlecht?“, murrte Grace sofort, die mit erhobenem Kinn ihre Heimatstadt verteidigte. „Alabastia ist sehr schön.“

„Ich hätte gerne noch einige Johto-Artikel, mit denen kenne ich mich wenigstens auf Anhieb aus.“ Leo zog eine Grimasse, die von Grace ebenso kindisch erwidert wurde, bis beide durch Knacken von nahen Ästen abgelenkt wurden.

Lyra schaute auf, als Felilous Ohren zuckten und sich das Fell des Katzenpokémon ein wenig sträubte. „Nanu?“ Sie sah zu einem Trainer, der mitsamt einem Hundemon aus dem Gebüsch gestiegen kam und so aussah, als würde er Streit suchen. Wenige Sekunden später fühlte sie sich bestätigt, als der Fremde das Wort ergriff.

„Na sieh mal einer an, ich wusste gar nicht, dass Anfänger jetzt schon mitten in der Wildnis campen. Ihr habt es euch ja ganz schön gemütlich gemacht. Zu schade aber auch, dass das hier der Platz ist, an dem ich immer mit Hundemon trainiere.“

„Dann wirst du dir wohl für diesen Abend einen anderen Ort suchen müssen. Wie du siehst, sind unsere Zelte bereits aufgebaut.“ Obwohl Leos Stimme ganz ruhig klang, konnte man ihm ansehen, dass er wütend war über so viel Dreistigkeit.

Der Trainer lachte in sich hinein und tätschelte seinem Pokémon den Kopf, das kurz zu dem Jungen blickte und dann mit einem drohenden Knurren auf die Dreiergruppe zutrat.

Gerade wollte Lyra etwas sagen, da erhob sich Grace bereits. „Ich mache das.“

„Oh, die kleine Prinzessin will sich mit mir anlegen? Wie niedlich aber auch.“ Der Fremde äffte Grace ein wenig nach und deutete dabei auf ihren rosa ComDex. „Püppchen wie du sollten sich nicht mit Verlierern herumtreiben. Ich habe schon sechs Orden dieser Region gesammelt. Nichts für ungut, aber gegen mich hast du keine Chance.“

Für einen kurzen Moment schien Grace zu Schilloks Pokéball greifen zu wollen, doch dann entschied sie sich um und nickte Arkani zu, das sich sofort in einer eleganten Bewegung erhob und zwischen Hundemon und seine Trainerin trat. „Dein Verhalten ist rücksichtslos, unfreundlich und unreif. Wenn du jetzt bitte gehen würdest…“

„Sonst was, hm?“

Sie seufzte genervt, verschränkte die Arme vor dem Körper und blickte ihn böse an. „Arkani, Feuerzahn.“

Der Junge bellte einen Gegenangriff und nur Momente später befanden sich die beiden Feuerpokémon in einem erbitterten Kampf. Hundemon kämpfte mit Bissen, Stärke und Brutalität, während Arkani seine Wendigkeit und Schnelligkeit ausnutzte, um den Angriffen auszuweichen. Arkanis Feuerzahn folgte ein Flammenwurf, der genau auf Hundemons Flanke gerichtet war, da Grace nicht das umliegende Lager gefährden wollte. Bei anderen Trainern hätte Lyra so etwas wie Besorgnis empfunden, aber was sie in der letzten Zeit von Grace und ihrem Kampfstil gesehen hatte, so wusste sie, dass die Koordinatorin ihr Fach beherrschte.

Nach einer Minute war bereits alles vorbei, Arkanis Bodycheck hatte Hundemon besiegt. Grace lobte ihr Pokémon und fixierte den sichtlich überraschten Teenager. „Und jetzt verschwinde hier.“

„Wieso… wie hast du gewinnen können?“

„Unterschätze niemals eine Koordinatorin.“

„Und erst recht keine, die bereits am Großen Festival von Kanto teilgenommen hat“, warf Leo ein und konnte sich ein patziges Grinsen nicht verkneifen, als der Fremde wortlos und geknickt von dannen zog. „Dem hast du es gezeigt, Grace. So kampfwütig habe ich dich selten erlebt.“

„Ich kann schlechte Manieren nicht ausstehen.“ Mehr schien sie dazu nicht sagen zu wollen, denn sie setzte sich wieder auf ihren Platz und bat Leo ihr etwas von der fertig gekochten Suppe zu reichen.

Auch Lyra ließ sich etwas geben und genoss die dickflüssige, warme Suppe, die ihren Hals hinunterfloss und sie von innen wärmte. „Köstlich. Du solltest Koch werden, Leo.“

„Danke für das Kompliment.“

„Ich bin wirklich froh, dass ihr mit mir reist und ich nicht alleine unterwegs bin“, sagte Lyra plötzlich und senkte den Blick, als die anderen beiden sie überrascht anschauten. „Gegen diesen Trainer hätte ich mich alleine nie wehren können, außerdem habe ich absolut keine Erfahrung im Reisen und jeden Tag erkenne ich tausend Dinge, bei denen ich total aufgeschmissen wäre. Ihr beiden geht mit allem so selbstverständlich um.“

„Aber das ist doch nur Übung, Lyra.“

„Genau, wir haben auch klein angefangen und waren am Anfang ebenso verunsichert wie du“, pflichtete Grace Leo bei und schenkte dem anderen Mädchen ein aufmunterndes Lächeln. „Das Wichtigste ist doch, dass wir jetzt alle an einem Strang ziehen und Cassie finden, damit wir sie bald zurück nach Hause bringen können.“

Lyra war gerührt, nickte stumm und glücklich und löffelte schweigend ihre Suppe. Es tat ihr gut, dass sie wusste, dass sie sich auf Grace und Leo verlassen konnte. Dies war eine andere Freundschaft als die zu Cassandra, denn obwohl sie Cassie stets vertraut hatte, spürte sie, dass sie sich wohl nicht so sehr auf die Jüngere verlassen hätte wie auf ihre jetzigen Mitreisenden. Grace und Leo waren beide erfahrene Trainer, kamen aus anderen Regionen und scheuten keine Konflikte. Ja, mit ihrer Hilfe konnte es einfach nicht schief laufen, sie würden Cassie finden und den Weg bis dahin gemeinsam gehen.
 

Später in der Nacht lag Lyra noch lange wach. Sie dachte über alles Mögliche nach und kam im Grunde genommen zu keinem wirklichen Ergebnis. Als sie sich in ihrem Schlafsack auf die Seite drehte, konnte sie Grace‘ lockigen Haarschopf von hinten sehen. Die Koordinatorin atmete ruhig und gleichmäßig, sie schlief tief und fest. Lyra musste sich eingestehen, dass sie Grace gewissermaßen sogar für ihren Mut, ihre Stärke und ihr Selbstvertrauen bewunderte. Vielleicht würde es gar nicht schaden, wenn sie ein bisschen so wie Grace werden würde.

Und dann war da noch die Tatsache, dass sie jetzt auch eine richtige Pokémontrainerin war. Sie hatte Verantwortung für Nebulak und Felilou übernommen und musste sich darum kümmern, dass es den beiden Pokémon gut ging und sie ausgelastet waren. Bei Felilou war das kein Problem, es hatte fast sein ganzes bisheriges Leben als Haustier im Sankt Josephines verbracht. Felilou war es gewohnt frei herumzustreuen und Lyra gab dem Pokémon die Möglichkeit dazu, indem es so viel Zeit wie möglich außerhalb des Pokéballs verbrachte; bisher hatte das ausgereicht. Nebulak hingegen stammte aus der Wildnis, war Raufereien mit anderen wilden Pokémon gewöhnt und hatte nur Unsinn im Kopf, wenn Lyra es nicht beschäftigte. Aus diesem Grund und der Tatsache, dass sie sich noch nicht wirklich mit dem Thema Training auseinander gesetzt hatte, verbrachte Nebulak beinahe den ganzen Tag im Pokéball.

Sie drehte sich wieder auf den Rücken und schaute an die dunkle Zeltdecke. Draußen raschelte es und der Wind rauschte in den Baumkronen, doch die Geräusche ängstigten sie nicht mehr so sehr wie am Anfang. Es war wohl eine gute Idee, wenn sie Grace und Leo um eine Trainingseinheit bitten würde, sobald sie Rosalia City erreicht hatten. Außerdem hatte sie Josephine bei ihrem Anruf in Viola City versprochen, dass sie sich in jeder größeren Stadt melden würde, damit man wusste, dass es ihr gut ging.

Es war keine einfache Aufgabe, die sie sich da ausgesucht hatte. In Lyras Kopf hatte es noch vor einer Woche so einfach ausgesehen, aber wenn sie jetzt genauer darüber nachdachte, war es recht kompliziert. Sie konnte nicht einfach irgendwo hin spazieren, Cassandra retten und zurück nach Ebenholz City gehen. Es war viel mehr als das, aber darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken mehr machen, denn sie brauchte ihren Schlaf, um am nächsten Morgen fit zu sein.

Gähnend drehte sie sich auf den Bauch, kuschelte sich in ihr kleines Reisekissen und schlief mit dem Gefühl ein, dass es jemanden gab, der schon auf sie aufpassen würde.

Hartes Training

„Ein Trainer zu sein bedeutet auch, dass man in den sauren Apfel beißt, was das Training anbelangt. Es ist kein Zuckerschlecken und du wirst viele, viele Stunden damit verbringen dir deinen Kopf zu verbrechen. Performance. Stärke. Schnelligkeit. Geschick. Verteidigung. Das alles sind Begriffe, die dir in Fleisch und Blut übergehen werden.“

Leo grinste, als Grace ihren kleinen Vortrag zum Thema Training hielt, während Lyra angespannt und vollkommen konzentriert den Worten ihrer heutigen Trainingspartnerin lauschte. „Grace, du bist kein Feldwebel.“

Der Lockenkopf strafte den Dunkelhaarigen mit einem bitterbösen Seitenblick, dann räusperte sie sich und wandte sich an Lyra. „Bist du bereit?“

„Ja, natürlich!“

„Schön, dann werden wir anfangen und eine richtige Trainerin aus dir machen. Doch zuallererst… legst du diesen albernen Notizblock aus der Hand. Das bringt nichts, du musst das Wissen hier haben.“ Dabei tippte Grace sich leicht gegen den Kopf. Anschließend entließ sie Arkani und Schillok aus ihren Pokébällen. Sofort beschnupperten sich die vier Pokémon, bis Nebulak und Felilou an die Seite ihrer Trainerin zurückkehrten und auf erste Anweisungen warteten. Lange konnte diese Einheit sowieso nicht dauern, da sie nur eine Mittagspause auf dem Weg nach Rosalia City eingelegt hatten, doch Lyra nervte, weil sie unbedingt stärkere Pokémon haben wollte, weshalb Grace schlussendlich nachgegeben hatte.

„Und was machen wir jetzt? Sollen unsere Pokémon gegeneinander kämpfen?“

„Wenn du unbedingt möchtest, dass sie in einer Minute am Boden liegen, bitte. Nein, wir werden sie miteinander kämpfen lassen, Lyra. Felilou und Arkani sollen üben einander nicht den Rücken zuzukehren, als Geschicklichkeitsübung so zu sagen. Nebulak und Schillok üben Schnelligkeit, indem Nebulak auf einige Distanz Schilloks Aquaknarre ausweichen soll, dann dürfte nicht viel schief gehen.“

„Also schön, ihr habt Grace gehört, macht euch an die Arbeit.“ Eine Weile schaute Lyra dem Treiben zu, dann setzte sie sich zu Grace und Leo ins Lager und nahm dankbar eines von Leos Sandwiches entgegen. Eine halbe Stunde hatten sie noch Zeit, dann würden sie weitergehen, damit sie noch an diesem Abend im Pokémoncenter in Rosalia City in richtigen Betten liegen konnten.
 

Pünktlich riefen Grace und Lyra ihre Pokémon zurück, wobei die von Lyra eindeutig außer Puste waren, Schillok und Arkani jedoch noch miteinander rangelten. „Genug jetzt, benehmt euch“, ermahnte Grace ihre Pokémon, doch ein Grinsen war auf ihren Lippen zu sehen. Dann lobten beide Mädchen ihre Pokémon für das harte Training, gönnten ihnen einen Snack und zogen sie zurück in die Pokébälle – selbst Felilou, das sonst meistens draußen herumlief, wollte sich ein wenig ausruhen.

„Vielen Dank, Grace. Ich denke, das Training heute hat Nebulak und Felilou ziemlich viel gebracht.“ Lyra war der Älteren wirklich dankbar, alleine wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass Training nicht nur aus Kämpfen bestand.

„Ach, kein Problem“, winkte Grace lächelnd ab. „Jeder fängt mal klein an und Leo und ich helfen dir gerne. Stimmt’s, Leo?“

„Jep.“

Schweigend liefen die drei nebeneinander her und betrachteten ihre Umgebung. Allmählich lichteten sich die Wälder um sie herum und es waren immer mehr Wiesen zu sehen, auf denen es bereits teilweise zu blühen begann. Eine Horde Schwalbini wurde aufgeschreckt, als die Trainer ihnen zu nah kamen. Die Flugpokémon flüchteten schnell in einen nahe gelegenen Wald, aus dem wiederum das entsetzte Rufen eines Hoothoots zu verlauten war, das wohl von den Schwalbini aus seinem Schlaf gerissen wurde.

Staunend betrachtete Lyra die Landschaft. Ihr war nie aufgefallen, wie vielseitig Johto doch war. Womöglich lag das daran, dass sie Ebenholz City eigentlich nie wirklich verlassen hatte und immer nur die Berge kannte. Doch Johto hatte so viel mehr zu bieten – und jetzt waren sie auf dem Weg nach Alabastia in Kanto, um von dort nach Einall zu reisen! Oh wenn Cassie das doch nur alles miterleben könnte, sie wäre begeistert… Wie es Cassandra wohl ging, wo auch immer sie gerade war? Lyra konnte nur hoffen, dass es ihrer Freundin gut ging.
 

Nachdem sie am späten Nachmittag noch zwei freundlichen Wanderern begegnet waren, erreichten sie schließlich Rosalia City und lagen dabei noch gut in der Zeit. Lyra lief sofort vollkommen begeistert auf den Strand und das Meer zu, doch Leo sprach nach einigen Minuten ein Machtwort, woraufhin die drei Trainer sich auf den Weg zum Pokémoncenter machten, um sich zwei Zimmer zu reservieren und ihr Gepäck abzustellen.

Schwester Joy war erfreut über so multikulturelle Gäste – Lyra kam aus Johto, Leo aus Sinnoh und Grace stammte aus Finera, lebte jedoch in Kanto. Es ergab sich sogar, dass Lyra und Grace sich kein Zimmer teilen mussten und so alle drei einen Zimmerschlüssel für ein Einzelzimmer in den Händen hielten.

„Bis zum Abendessen haben wir noch gut zwei Stunden Zeit, was wollen wir bis dahin machen?“, fragte Leo in die Runde und ging in Gedanken bereits die Finanzen durch. „Ich muss dringend meine Vorräte auffüllen und mir eine neue Pfanne kaufen, die jetzige hat einen Sprung bekommen. Das, was ich jetzt an Essen besorge, muss auf jeden Fall bis Einall reichen, sonst haben wir zu viel Geld verbraucht.“

„Ich möchte zum Meer“, warf Lyra mit leuchtenden Augen ein, immerhin hatte sie bisher nur einmal das Meer gesehen, als sie mit der Schule dort waren. „Und dann möchte ich mir ein wenig die Stadt anschauen.“

„So groß ist Rosalia City doch gar nicht, einfach nur ein beschauliches Kleinstädtchen“, erwiderte Grace mit hochgezogenen Augenbrauen, zuckte dann jedoch lediglich mit den Schultern. „Ich telefoniere nachher mal mit meinen Eltern und meinem Bruder, ob die Zuhause sind, wenn wir in ein paar Tagen in Alabastia ankommen. Danach… keine Ahnung. Ich schätze, ich bummel ein wenig durch die Geschäfte.“

„Dann treffen wir uns einfach alle in zwei Stunden hier im Pokémoncenter zum Abendessen“, schlug Leo vor und erhob sich bereits aus seinem Sessel. „Viel Spaß euch beiden.“

„Ja, dir auch.“ Dann verabschiedete auch Grace sich von Lyra und schlenderte zum Bildtelefon in der Ecke.

Lyra hingegen hielt es kaum noch aus und stürmte mit schnellen Schritten zurück zum Strand, wo ihr die salzige Luft ins Gesicht wehte. Rosalia City war einfach wundervoll, es gab das Meer, Wälder, Wiesen und die Stadt war nicht zu groß. Vielleicht würde sie eines Tages ja hier her ziehen können, das wäre schön. Eigentlich hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken über ihre Zukunft gemacht, aber in der letzten Zeit war so viel passiert. Es konnte so schnell gehen, dass das ganze Leben eine andere Richtung einschlug. Oh Cassie…

„Warum so trübselig?“

Lyra schreckte hoch, entspannte sich jedoch, als sie ein bekanntes Gesicht sah. „Sarin Warden, richtig? Was machst du hier?“

„Das könnte ich dich auch fragen.“

„Bist du uns etwa gefolgt?“

„Sollte ich?“

Sie starrte den Jungen mit den hellbraunen Haaren an, dann rümpfte sie die Nase und drehte sich so von ihm weg, dass sie auf die Wellen blicken konnte. „Nein, natürlich nicht, das wäre Unsinn. Also, was machst du hier?“

„Ich reise umher, das weißt du doch. Mal bin ich hier, mal dort. Es kann gut sein, dass wir uns noch öfter über den Weg laufen werden. Wo ist eigentlich deine Freundin?“

„Nicht hier“, sagte Lyra zerknirscht. „Ich wäre jetzt auch gerne ein wenig alleine.“

„Um weiter Trübsal zu blasen?“

Sie versuchte sich zurückzuhalten, doch dann platzte ihr der Kragen. Lyra wirbelte zu Sarin herum und piekte ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. „Hör mal, Sarin, ich weiß ja nicht, was du willst, aber du gehst mir auf die Nerven. Cassandra ist nicht hier, okay? Also lassen wir das Thema jetzt fallen und gut ist.“

Er schien sich ein Grinsen zu verkneifen, als er ihre Hand mit seiner umschloss und ein Stück von sich weg schob. „Cassandra ist verschwunden, nicht wahr?“

Erschrocken ließ Lyra von ihm ab. „Woher weißt du das?“

„Ich war doch auch in Teak City und habe es zufällig mitbekommen. Eigentlich wollte ich dir meine Hilfe anbieten, aber dann bist du schon mit den beiden anderen abgereist. Vielleicht ist das auch besser so.“

„Moment mal, du weißt von Cassies Verschwinden und jetzt stehst du vor mir und plauderst darüber?“ Misstrauisch blickte Lyra ihn an, doch nach wenigen Sekunden merkte sie, dass das so keinen Sinn hatte. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Außenstehende davon Wind bekommen hatten, immerhin war sogar Officer Rocky vor Ort gewesen, auch wenn Aero und Aira weitere Nachfragen abwenden konnten. „Es tut mir leid, dass ich dich angefaucht habe, ja?“

„Schon okay, ich kann dich ja verstehen“, sagte Sarin mit einem ehrlichen Lächeln, das sogar seine türkisfarbenen Augen erreichte. „Ich dachte mir, dass du vielleicht meine Hilfe gebrauchen könntest.“

„Das ist nett von dir, Sarin, aber nein. Grace, Leo und ich sind ein gutes Team und wir kommen alleine klar. Das ist meine Sache und ich werde Cassie finden, du musst dich da nicht auch noch zu verpflichten.“

„Es macht mir nichts aus.“ Dieses Mal war Sarins Tonfall nicht mehr ganz so freundlich, sondern eher ein wenig hartnäckig. „Ich könnte euch doch begleiten und bei der Suche nach Cassandra helfen. Wir profitieren gegenseitig von unserem Wissen.“

Lyra schüttelte den Kopf, ging einige Schritte und ließ Sarin hinter sich zurück. „Wie gesagt, das ist sehr nett von dir, aber wir kommen klar. Such dir ein anderes Abenteuer, in dem hier sind schon genug Leute zu Schaden gekommen. Auf Wiedersehen, Sarin…“ Gerade hatte sie sich umgedreht, um sich von ihm zu verabschieden, doch da war von dem Jungen keine Spur mehr zu sehen. Irritiert schaute Lyra in alle Richtungen. Im Sand waren eindeutig Fußabdrücke, die zurück zur Promenade führten, aber wie hatte er das so schnell… Egal. Sie verließ den Strand, hatte jedoch keine Lust mehr auf einen Stadtbummel und machte es sich stattdessen im Pokémoncenter bequem.
 

Zum verabredeten Zeitpunkt tauchten dann auch endlich Grace und Leo auf, die etwas verwundert waren, dass Lyra sich Rosalia City doch nicht angeschaut hatte, doch sie verkniffen sich Kommentare dazu. Lyra ihrerseits verschwieg das Treffen mit Sarin, aber was sollte sie da auch großartig sagen, die anderen beiden kannten ihn ja nicht einmal. „Wart ihr erfolgreich?“, erkundigte sie sich nur halb interessiert, was Leo und Grace jedoch nicht aufzufallen schien.

„Ja, ich habe genug Suppenpulver und allerlei Sachen bis Einall eingekauft – und eine neue Pfanne!“

„Und ich habe dieses kleine Schmuckgeschäft gefunden, das wirklich niedliche Sachen im Angebot hat.“ Stolz präsentiere Grace ihre neuen Ohrringe sowie ein neues Armband, an dem kleine Schiggy-Anhänger baumelten.

Ein wenig unterhielten sie sich noch über die Stadt, dann gingen sie in die Kantine des Pokémoncenters und warteten, bis das warme Abendbüffet freigegeben wurde. Außer ihnen waren noch gut sieben andere Trainer anwesend, die teils in Grüppchen und teils alleine reisten.

Grace holte sich einen Salat von der Salatbar und ein wenig Hähnchencurry, Leo schlug bei der Lasagne ordentlich zu und Lyra nahm sich sowohl Lasagne als auch Curry mit Reis. Es war wirklich angenehm, dass sie mal nicht abends in der Wildnis saßen und zwischen ihren beiden Zelten am Lagerfeuer essen mussten. Zwar kochte Leo wirklich gut, aber sich einfach ohne Vorarbeit zu bedienen, hatte auch etwas für sich. Da lernte man erst einmal schätzen, wie gut man es Zuhause doch hatte.

Als alle drei ihre Teller beladen und auf die Tabletts gestellt hatten, suchten sie sich einen freien Tisch und ließen sich dort nieder. Grace und Leo diskutierten, ob sie bereits am nächsten Tag weiterreisen oder noch einen Ruhetag einlegen sollten, entschieden sich dann jedoch dafür, dass sie so schnell wie möglich nach Einall wollten und deshalb schon am nächsten Tag aufbrechen würden.

„Wir brauchen keinen ganzen Tag bis nach Neuborkia“, erklärte Grace Lyra, die dem Gespräch mit eher mittelmäßigem Interesse gefolgt war. „Das heißt, wir können morgen ausschlafen und in Ruhe nach dem Mittagessen losgehen. Wenn wir dann zum Abendessen in Neuborkia sind, suchen wir uns dort eine Übernachtungsmöglichkeit und reisen übermorgen weiter nach Kanto. Es gibt eine Wasserroute und einen Landweg, wir nehmen den Landweg, auch wenn der etwas länger dauert.“

„Alles klar. Ich richte mich da ganz nach euch, ihr habt die Erfahrung im Reisen, ich nicht. Hast du eigentlich jemanden bei dir Zuhause erreicht?“

„Ja“, entgegnete Grace, schien jedoch nicht ganz glücklich zu sein. „Mein Vater ist auf Geschäftsreise und meine Mutter besucht gerade mit meinem kleinen Bruder unsere Familie in Finera. Mein Bruder hat gerade alle Orden von Kanto gesammelt und er überlegt, ob er jetzt durch Finera reisen soll, deshalb möchte er mit unserem Onkel Joel und unserer Tante Faith darüber sprechen, die haben beide auch die Orden von Finera gesammelt, als sie noch jung waren.“

„Also halten wir fest, dass wir uns morgen zum Mittagessen abreisefertig hier unten treffen?“

„Ja, wieso?“ Grace und Leo warfen sich irritierte Blicke zu.

„Weil ich müde bin. Nehmt es nicht persönlich, aber ich nehme mir das Essen mit aufs Zimmer und lege mich dann gleich ins Bett. Gute Nacht und bis morgen.“ Lyra ignorierte die fragenden Blicke ihrer Gefährten, schnappte sich ihr Tablett und ging. Im Moment wollte sie einfach nur mal für sich sein, um über einige Dinge nachzudenken. Wenn sie doch nur wüsste, wie es Cassie ging…

Alte Freunde

Es war ein bewölkter Tag, an dem die Dreiergruppe von Trainern Neuborkia erreichte. Hell- und dunkelgraue Wolken wechselten sich ab und ließen nur hin und wieder ein bisschen blauen Himmel durchscheinen. Dazu war es schwül und ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, man konnte die ganze Zeit mit offener Jacke durch die Gegend laufen.

„Ich brauche ganz dringend eine Dusche“, murrte Lyra, als sie die ersten Häuser in Sicht kommen sah. „Ich will gar nicht wissen, an welchen Körperteilen mir die Kleidung überall klebt. Geht’s euch auch so?“

„Ich bin auch total geschwitzt, blödes Wetter“, stimmte Grace ihr zu und wischte sich dabei über die Stirn. „Als ich das letzte Mal in Neuborkia war, war die Ankunft irgendwie weniger anstrengend gewesen.“

„Wir suchen und erst einmal eine Unterkunft und morgen reisen wir weiter. Lassen wir den Zeitplan lieber nicht aus den Augen“, ermahnte Leo die beiden Mädchen, die bereits in ein Gespräch über Badezusätze und Duftöle abgedriftet waren. „Wir sind nicht zum Spaß hier, außerdem gibt es in Neuborkia kaum etwas zu sehen; hier gibt es ja nicht einmal ein richtiges Pokémoncenter.“

Augenblicklich blieb Lyra wie angewurzelt stehen und schaute Leo mit großen Augen an. „Und wo schlafen wir dann?“

„Na im Hotel.“ Grace blickte sich suchend um. Das Labor des Professors, in dem schon seit Generationen die Jungtrainer aus Johto ihren Starter wählen durften, lag zu ihrer linken. „Ah, da drüben ist ja das kleine Hotel, das ich noch von meinem letzten Aufenthalt kenne. Es wird von Schwester Joy betrieben, aber wir müssen ganz normal dafür zahlen.“

„Zahlen“, murmelte Lyra und folgte den beiden anderen. Das war… problematisch. Sie hatte zwar das wenige Taschengeld, das sie vom Waisenhaus jeden Monat bekam, immer fleißig gespart, aber trotzdem war nie vorgesehen, dass sie auf eine Pokémonreise ging und in Hotels übernachtete. Sie konnte sich das schlichtweg nicht leisten. „Gibt es keine Möglichkeit, dass wir nicht doch in einem Pokémoncenter übernachten? Wie weit ist Alabastia von hier?“

„Weit“, sprach Grace und steuerte bereits auf das kleine, gemütlich wirkende Holzhaus zu, auf dessen Dach ein kleines Windrad stand. „Und jetzt komm, die Dusche ruft und ich will nicht länger hier draußen rumstehen.“

Nur widerwillig folgte Lyra den beiden anderen und überlegte fieberhaft, wie viel Kleingeld sie noch in ihrem Portemonnaie hatte. Gab es hier irgendwo eine Bank, wo sie Geld abheben konnte? „Und wenn wir im Labor nachfragen, vielleicht können wir auch dort schlafen. Der Professor wird ein paar Jungtrainern bestimmt helfen.“

„Professor Lind ist steinalt und wir haben hier den Komfort, den wir wollten. Lyra, was stellst du dich so an?“

„Ich…“ Sie spürte, wie das Herz in ihrer Brust hektisch schlug und wie sie allmählich rote Wangen bekam. Für gewöhnlich war sie nicht um Worte verlegen, aber sich auf ihre gewissermaßen Armut berufen zu müssen, streichelte nicht gerade ihr Ego. „Ich kann nicht“, brachte sie nur schwerfällig heraus und wich den irritierten Blicken aus.

„Wieso nicht? Gibt es ein Problem?“

In diesem Augenblick war Leo es, der realisierte, worum es ging. Er seufzte, schüttelte den Kopf und legte Lyra eine Hand auf die Schulter. „Hey, Lyra, schau mich mal an. Dir fehlt das Geld für eine Übernachtung, richtig?“ Nachdem die Rosahaarige stumm und geknickt genickt hatte, fuhr er fort. „Es war nicht richtig von uns, dass wir das nicht bedacht haben, das tut mir sehr leid. Grace?“

„Mir auch.“ Für einen Moment schwieg Grace, dann begann sie zu lächeln und betätigte die Klingel des Hotels. „Mach dir keine Sorgen, ich buche uns einfach ein Doppelzimmer und dann geht das schon in Ordnung.“

„Du kannst mir doch nicht einfach das Hotel bezahlen!“ So gebrandmarkt, wie sie sich gerade noch gefühlt hatte, so aufgebracht war Lyra jetzt. „Grace, das geht nicht!“

„Klar geht das, wofür bin ich denn die Tochter von Trixi Light? Ah, ich höre Schritte, jetzt kommt schon her ihr beiden.“

„Sie liebt es, das Geld ihrer Mutter auf den Putz zu hauen“, raunte Leo ihr grinsend zu und führte Lyra zu Schwester Joy, die ihnen gerade die Tür geöffnet hatte und sie voller Freundlichkeit herein bat.

Wenige Minuten später waren die beiden Zimmer gebucht und die Rucksäcke auf den Zimmern verstaut. Im Preis waren das Abendessen und das Frühstück am nächsten Morgen mit inbegriffen, sodass sie sich darum keine Sorgen mehr machen mussten. Obwohl Lyra noch immer nicht damit klar kam, dass Grace sie einfach eingeladen hatte, war sie froh darüber, dass sie gleich unter die Dusche springen konnte. Und ehe sie sich versah, merkte sie, dass sie Grace und Leo in ihren Gedanken als ihre Freunde bezeichnete.
 

Am nächsten Morgen saßen sie gemeinsam mit Schwester Joy, die nicht oft Gäste bewirtschaftete und daher verbranntes Omelette serviert hatte, am Frühstückstisch und unterhielten sich. Es gab jedoch einen Notfall im Labor und Schwester Joy musste sofort weg, weshalb auch die Jungtrainer das Frühstück beendeten, sich für die Gastfreundschaft bedankten und noch schnell ihre Rucksäcke holten.

„Puh, das war ein kurzes Frühstück. Ich habe immer noch Hunger.“

„Ich kann dir ein Sandwich anbieten.“ Leo reichte Grace ein Sandwich und bot Lyra auch eins an, doch diese lehnte ab, hatte sie die Cornflakes doch ziemlich schnell in ihren Magen befördert.

Stattdessen warf Lyra Neuborkia noch einen letzten Blick zu, ehe sie den Ort hinter sich ließen und einem Weg folgten, der auf weit entfernte Berge zuführte. „Jetzt lassen wir Johto hinter uns… Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine andere Region sehen würde – jedenfalls nicht so früh in meinem Leben. Mir wird erst jetzt bewusst, wie riesig die Welt doch ist.“

„Es gibt immer etwas Neues zu entdecken“, pflichtete Leo ihr bei. „Deshalb liebe ich das Reisen auch so sehr.“

„Geht mir genauso.“ Grace lächelte die anderen beiden an, dann zog sie den Gurt ihres Rucksacks nach und machte die anderen auf eine Wiesor-Familie aufmerksam, die über den Weg huschte und die Trainer dabei garstig anblickte.

„Wie niedlich“, kommentierte Lyra das Geschehen und entließ Felilou und Nebulak aus den Pokébällen. „Wir verlassen Johto jetzt, schaut euch ruhig noch einmal um. Das, was dort vor uns liegt, gehört bald schon zu Kanto.“

Die beiden Pokémon tauschten einen Blick aus, dann begannen sie herumzutollen und schienen sich nicht wirklich etwas daraus zu machen, ob sie gerade auf die Grenze zwischen Johto und Kanto zusteuerten oder nicht.

Lyra sah ihnen kopfschüttelnd zu, bis sie Nebulak nach gut einer Viertelstunde zurück in den Pokéball zog. Es hatte sich einen Spaß daraus gemacht schlafende Hoothoot in den Bäumen zu erschrecken, bis ein Noctuh sie angriff und Grace es mit ihrem Arkani verscheuchen musste. „Wie viele Tage werden wir bis Alabastia brauchen?“

„Ich rechne mit etwa fünf Tagen, das kommt ganz darauf an, ob wir noch vor dem großen Regenschauer in den Bergen ankommen oder nicht. Wenn der Weg dort durch den Regen aufweicht und matschig wird, kann es länger dauern, wenn wir Sonne erwischen, sind es gute fünf Tage. Jedenfalls habe ich auf dem umgekehrten Weg so lange gebraucht gehabt.“

„Und wie ist es in Alabastia so? Erzähl doch mal ein bisschen, Grace.“

Die Angesprochene sah nicht gerade begeistert aus, kam Lyras Wunsch jedoch nach. „Alabastia ist nicht besonders groß, aber es fließt ein kleiner Fluss durch das Dorf. Drumherum liegen weite Felder, dann kommen Wälder und die Berge. Die Xanadu-Gärtnerei ist auch ganz in der Nähe, ebenso der Flugplatz, von dem aus wir nach Einall fliegen werden. Alles ist grün mit vielen Blumen, eigentlich eine sehr schnuckelige Ortschaft.“

Lyra wollte noch mehr wissen, doch Grace war schnell so genervt, dass sie beharrlich schwieg, weshalb Lyra sich schließlich eine andere Beschäftigung suchte und Felilou hinter einigen kleinen Rattfratz herschickte, die allesamt lieber die Flucht ergriffen als sich mit dem Katzenpokémon zu messen.

So zog sich die Reise bis zum Sonnenuntergang hin, als die drei ihr Nachtlager aufschlugen und sich erschöpft in den Zelten in ihre Schlafsäcke kuschelten, bis nach einer viel zu kurzen Nacht auch schon der nächste Tag vor der Tür stand.
 

„Diese Route ist so langweilig, hier passiert überhaupt nichts.“ Lyra war gelangweilt, schaute sich um und atmete bewusst die frische Luft ein. Der Weg war gepflegt, aber dennoch wirkte es nicht so, als würden hier oft Trainer vorbeikommen. Es gab so gut wie keine Wegweiser, nur die Karte in ihrem ComDex zeigte ihr die aktuelle Position irgendwo zwischen Johto und Kanto an.

„Es ist nicht immer einfach, wenn man mit anderen Leuten reist“, erwiderte Grace genervt und fuhr sich durch die Haare. „Wir können uns nicht die ganze Zeit unterhalten; Schweigen kann auch mal sehr angenehm sein.“

„Schon, aber ich mache mir jede freie Minute Sorgen um Cassie, wenn ich nichts habe, an das ich sonst denken kann.“ Gerade wollte Lyra dazu noch etwas ausführlicher etwas sagen, als in einiger Entfernung eine andere Person in Sicht kam. „Noch ein Reisender, seht mal. Vielleicht können wir uns kurz austauschen, wie der Weg in den Bergen aussieht.“

„Gute Idee.“ Einige Minuten vergingen, in denen sie der Person, die sich als ein Mädchen etwa in ihrem Alter herausstellte, immer näher kamen, bis die Fremde auf einmal einen Freudenausruf machte, auf die Gruppe zulief und Grace lachend in die Arme fiel.

Leo und Lyra wirkten irritiert, doch Grace erwiderte die herzliche Umarmung. „Du meine Güte, Tina, was machst du denn hier?“

„Ich bin auf dem Weg nach Neuborkia – und dich zieht es zurück nach Hause?“

„Nicht ganz, wir wollen nach Einall und machen nur kurz Halt in Alabastia, um zum Flugplatz zu gehen.“

„Einall, wow!“ Tina und Grace stimmten gemeinsam in ein Lachen ein.

Erst nach einer Weile bemerkte Grace die fragenden Blicke ihrer Begleiter, sodass sie ihnen ihre Freundin vorstellte. „Das ist Tina Rabi, wir sind quasi Nachbarn und kennen uns schon, seit wir in Alabastia leben.“

„Bist du auch eine Koordinatorin wie Grace?“

Auf Lyras Frage hin schüttelte das Mädchen mit den kurzen, braunen Haaren den Kopf. „Nein, ich bin auch keine richtige Trainerin, jedenfalls sammel ich keine Orden oder dergleichen. Ich bin gerade auf dem Weg zu Professor Lind, weil ich für einen Infoflyer über sein Labor einige Zeichnungen anfertigen soll. Wir sind uns mal bei einer Tagung begegnet und letzte Woche hat er mich dann ziemlich überraschend angerufen.“

„Das ist großartig, Tina.“ Grace freute sich mit ihrer Freundin, dann unterhielten die beiden Mädchen sich bei einer kleinen Rast über dieses und jenes, vorrangig jedoch über ihre Pokémon.

Bei dem Gespräch, aus dem Leo und sie sich weitestgehend heraushielten, erfuhr Lyra, dass Grace‘ Freundin ein Chelterrar besaß, das sie vor einigen Jahren als kleines Chelast geschenkt bekommen hatte.

„Damals war ich total neidisch, weil Tina einen Starter aus einer anderen Region hat“, sagte Grace schmunzelnd, doch bald darauf wurde beiden Mädchen klar, dass sie sich voneinander verabschieden mussten, wenn sie ihre Termine einhalten wollten. „Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen.“

„So bald wie möglich.“ Tina umarmte ihre alte Freundin, verabschiedete sich dann auch von Lyra und Leo und machte sich auf den weiteren Weg nach Neuborkia, während Grace, Lyra und Leo auf die Berge zusteuerten.

„Tina ist sehr nett.“

„Ja, das ist sie. Wir haben früher oft gegeneinander gekämpft, wobei ihr Chelast immer stärker war als mein Schiggy. Aber irgendwann hat sich das ausgeglichen, weil ich auch Fukano hatte. Na ja, ich schätze, ihr Chelterrar kann es zumindest von den Typen her mit Schillok und Arkani aufnehmen.“

„Es ist schön, wenn man so alte Freunde hat.“ Leo berichtete von einem Freund aus Kindertagen, erzählte einige Anekdoten und auch Lyra steuerte Geschichten von Cassandra und sich bei.

Alte Freundschaften waren etwas Wundervolles, das wusste Lyra, doch jetzt mit Grace und Leo an ihrer Seite merkte sie auch, wie toll neue Freundschaften sein konnten. Jedenfalls würden sie gemeinsam alles dafür tun, dass Cassie bald wieder bei ihnen war, damit alles seine Richtigkeit hatte.

Und so vergingen auch die weiteren Tage, bis schließlich Alabastia in dem weiten Tal vor ihnen zu sehen war. Sie waren in Kanto, der Flugplatz war in greifbarer Nähe und fest entschlossen gingen die drei den Rest des Weges entlang. Einall konnte kommen, sie waren bereit und egal was kommen würde, sie würden es gemeinsam überstehen, weil sie Freunde waren.

Langer Flug

Lyra wachte am nächsten Morgen auf, weil Felilou mit seinen Vorderpfoten gegen Lyras Arm drückte und hungrig miaute. Die Trainerin schlug murrend die Augen auf und vernahm sogleich den Geruch von frisch gebackenen Brötchen. „Gibt es schon Frühstück?“ Sie setzte sich auf, streckte die steifen Glieder und warf einen Blick zu der majestätischen Standuhr mit goldenem Ziffernblatt. Grace‘ Mutter Trixi und ihr Stiefvater Julian von Rosenfels schienen einen sehr extravaganten Geschmack zu haben, auch wenn der Rest des Gästezimmers eher modern eingerichtet war.

Da Felilou ungeduldig an der weißen Holztür scharrte, machte Lyra sich schnell auf den Weg in das angrenzende Gästebad, das direkt mit dem Gästezimmer verbunden war. Besonders groß war es nicht, einfach eine Toilette und ein Waschbecken auf der einen Seite und eine Dusche auf der anderen, dazwischen eine Wandheizung, auf der flauschige, cremeweiße Flanellhandtücher hingen. Nach einer gut zehnminütigen Dusche – Lyra hatte sich extra für Felilou beeilt – trat sie zurück in das Zimmer, kontrollierte ihr Aussehen flüchtig im Spiegel und machte sich dann mit nassen Haaren, die auf eines der Handtücher über ihren Schultern fielen, auf den Weg in die Küche.

Grace hatte darauf bestanden, dass Leo und Lyra jeweils eines der Gästezimmer bekamen und sie sich als Gastgeberin um den Rest kümmerte. Damit hatte sie auch ganze Arbeit geleistet, denn als Lyra die Küche betrat, war der breite Marmortisch im angrenzenden Esszimmer bereits reichlich gedeckt. „Wer soll denn das alles essen, Grace?“

„Es wird sich schon jemand finden“, erwiderte der Lockenkopf am Herd, wo sie gerade einen Topf mit Milch erwärmt hatte und nun mit Schokoladenpulver und Zucker zu Kakao verrührte. „Außerdem müssen wir an den Proviant denken, ich habe dafür gesorgt, dass wir heute Nachmittag schon einen Flug nach Ondula bekommen. Von dort ist es so zu sagen nur noch ein Katzensprung bis zum Weißen Wald, wo wir dann diesen Nero suchen können. Willst du Tee trinken? Ich wusste nicht, welche Sorte du magst, bedien dich einfach. Zweiter Schrank von rechts, ganz oben.“

Leo, der bereits am Tisch saß und noch einen Schlafanzug mit Elektropokémon trug, was Lyra schmunzeln ließ, schien ebenfalls schlichtweg überfordert mit der ganzen Auswahl zu sein, die Grace aufgetischt hatte.

Lyra suchte sich einen Früchtetee mit Blaubeeren, Brombeeren und Vanille raus, dann goss sie sich etwas heißes Wasser aus dem Wasserkocher in eine weiße Porzellantasse und setzte sich neben Leo. „Viel zu viel Auswahl.“

Leo nickte. „Ich dachte, sie hört langsam mal auf, als schon zwei Sorten Müsli, das ganze Obst und die frisch gebackenen Brötchen auf dem Tisch standen, aber dann kamen noch Quark, Joghurt, Frühstückseier, Omelette und beim Bäcker war sie auch noch, um Croissants, Schokobrötchen und Puddingteilchen zu holen“, flüsterte er verschwörerisch, woraufhin Lyra die Augenbrauen hoch zog, aber nichts darauf erwiderte.

„Können wir dir noch helfen, Grace?“

„Nein, alles bestens.“ Eine Minute später brachte die Gastgeberin den Kakao, begutachtete ihr Gesamtkunstwerk und setzte sich schließlich zu ihren beiden Freunden an den Tisch. „Normalerweise haben wir eine Haushälterin, die jeden Tag für das Frühstück sorgt, aber da meine Eltern und mein Bruder im Moment außer Haus sind, hat sie eine freie Woche. Allerdings finde ich es ganz amüsant von Zeit zu Zeit selbst für ein kleines Frühstück zu sorgen.“

„Ja, vor allem liegt die Betonung auf dem kleinen Frühstück“, witzelte Leo, nahm sich etwas Kaffee und ließ sich von Grace auch eine Tasse Kakao geben.

Lyra nahm ebenfalls dankend den Kakao an und überlegte dann, was sie essen sollte. Es schien, als hätte Grace für halb Alabastia den Tisch gedeckt, aber sie wollte der anderen auch kein schlechtes Gefühl bereiten und deshalb nahm sie sich erst einmal ein Croissant, das sie mit Schokoladencreme bestrich. Dazu schnitt sie sich verschiedene Obstsorten in eine Schale mit Quark und am Ende verdrückte sie auch noch ein Käsebrötchen. Ein Blick zu Leo und Grace verriet ihr, dass die beiden nun ebenfalls ziemlich gesättigt waren – und trotzdem hatten sie nicht einmal die Hälfte von allem gegessen.

„Ich schlage vor, jeder von uns macht sich ein großes Lunchpaket mit den Brötchen. Den Joghurt, den Quark und das angeschnittene Obst essen wir später. Wir könnten dafür das Mittagessen ausfallen lassen und in Ondula im Pokémoncenter vom warmen Buffet essen.“

„Na schön, dann machen wir das so.“ Grace bestand darauf, dass sie sich alleine um das Geschirr kümmerte, während Lyra und Leo schon mit ihren Lunchpaketen anfangen sollten. Danach gesellte sie sich zu den beiden anderen und am Ende war alles gut verpackt in den Rucksäcken der Trainer.

„Wann genau geht denn unser Flug?“, erkundigte Leo sich, als alle zusammen mit ihren Pokémon im Garten auf einer gusseisernen Bank saßen.

„Und wie viel kostet er?“, hakte Lyra sofort nach, doch Grace winkte ab.

„Mein Vater kennt den Flughafenbetreiber, die beiden sind gute Freunde. Wir müssen für die Tickets nichts bezahlen, das Flugzeug fliegt so oder so heute um vierzehn Uhr. Ich habe einfach einen Freund der Familie um einen Gefallen gebeten. Wir werden übrigens die einzigen an Bord sein, vom Piloten einmal abgesehen, da ansonsten nur Modeschmuck im Frachtraum nach Ondula geflogen wird. Also lasst uns die Zeit bis nachher genießen. Soll ich euch noch ein wenig Alabastia zeigen?“
 

Nach ihrem Rundgang durch Alabastia standen die drei Trainer mit ihren zum Bersten gefüllten Rucksäcken auf dem Rollfeld des Flughafens und warteten, bis auch die letzte Kiste Schmuck im Frachtraum verstaut war. „Ihr könnt euch jetzt setzen. Macht es euch bequem, ich habe sogar ein paar Snacks dabei, falls ihr wollt.“

„Danke, wir haben selbst mehr als genug dabei.“ Grace schenkte dem Piloten ein strahlendes Lächeln, hielt ein wenig Smalltalk über das Wetter und die voraussichtliche Flugdauer, dann nahm sie neben Lyra am Fenster Platz. „Der Pilot meint, dass wir wohl gute viereinhalb Stunden unterwegs sein werden. Wir können es uns also wirklich bequem machen.“

Lyra nickte, holte ein Buch aus ihrem Rucksack und konzentrierte sich auf den Roman, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte und die Landschaft schnell immer kleiner unter ihnen wurde.

Leo hatte Ohrstöpsel an seinen ComDex angeschlossen und hörte Musik, während Grace eine rosa Schlafmaske über die Augen gezogen hatte und schon bald in einen tiefen Schönheitsschlaf fiel.

Schon bald hatte Lyra die Lust an ihrem Buch verloren, legte das Lesezeichen ein – Cassie hatte es ihr einst geschenkt – und verstaute den Roman wieder in ihrem Rucksack. Jetzt waren sie also tatsächlich auf dem Weg nach Einall, in wenigen Stunden würde sie den Boden einer weit entfernten Region betreten. Sie wusste nicht, was sie dort erwarten würde, aber sie hoffte, dass Nero ihnen helfen konnte. Aero und Aira hatten sie den ganzen weiten Weg zu ihm geschickt, damit er ihnen bei ihrem Problem helfen konnte. Laut dem Weisen und dem alten Kimono-Girl kannte Nero sich mit den Orten aus, die über den Teleportationsmechanismus miteinander in Verbindung standen. Er würde ihnen sicherlich sagen können, wohin es Cassie sehr wahrscheinlich verschlagen hatte. Er musste es ihnen einfach sagen können, sonst hatten sie keinen weiteren Anhaltspunkt und waren den weiten Weg umsonst gekommen…
 

Mit Rückenwind waren sie knappe vier Stunden unterwegs gewesen, als sie zum Landeanflug ansetzten und wenige Minuten später auf dem kleinen Flugplatz von Ondula zum Stehen kamen. „So ihr Hübschen, ihr könnt jetzt aussteigen und euch auf den Weg machen, ich habe hier noch genug zu tun.“

Die drei dankten dem Piloten, kramten ihre Sachen zusammen und stiegen aus, wobei ihnen sofort warm wurde. In Ondula herrschte strahlender Sonnenschein und es war einige Grad wärmer als in Alabastia, richtig frühlingshaft und kein launiges Aprilwetter wie in Kanto und Johto.

„Zum Pokémoncenter, richtig?“, fragte Leo.

„Richtig“, bestätigte Grace, schaute sich um und fragte einen Angestellten vom Flugplatz nach dem Weg. „Ondula ist besonders im Sommer ein beliebter Ferienort. Ich war früher ein paar Mal mit meinen Eltern hier, wenn wir nicht nach Finera zu meinen Großeltern und zu meinem Onkel gefahren sind. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass mir die Stadt besonders gefällt. Ich mag es nicht, wenn so viele Touristen unterwegs sind; das ist furchtbar.“

Leo und Lyra warfen sich lediglich einen stummen Blick zu und folgten Grace bis zum Pokémoncenter, wo sie für die Nacht zwei Zimmer bekamen und sich gleich darauf auf das Abendbuffet stürzten. Grace erzählte ihnen beim Essen etwas von einem Ernteschrein in der Nähe, aber da sie auf direktem Weg zum Weißen Wald wollten, blieb für eine Besichtigung keine Zeit mehr. „Außerdem können wir Zeit sparen, wenn wir mit dem Bus zum Weißen Wald fahren. Ich spendiere auch die Tickets.“

„Okay“, meinte Lyra, als Leo und Grace sie mit fragenden Blicken angeschaut hatten. Vermutlich hätte sie es Grace sowieso nicht ausreden können.

„Schön, dann werde ich mich morgen früh sofort nach den Buslinien erkundigen und dann brechen wir zum Weißen Wald auf – und wehe dieser Nero ist dann nicht dort. Jetzt fängt dieses Abenteuer doch erst an interessant zu werden. Möchte noch jemand Wasabi?“ Sie reichte ihre Schale mit Wasabi zu Leo; alle drei hatten sich neben einer warmen Suppe noch Sushi vom Buffet geholt.

Derweil bemerkte Leo Lyras besorgten, nachdenklichen Ausdruck in den Augen und drückte ihr aufmunternd die Hand. „Wir werden Nero finden und anschließend Cassandra. Aira und Aero haben uns den weiten Weg schon nicht umsonst machen lassen.“

„Ja, du hast Recht“, seufzte Lyra und aß endlich ihr Abendessen auf. „Morgen wissen wir mehr.“

„Und bis dahin bringen wir uns auf andere Gedanken und genießen ein wenig die Stadt. Also, was wollen wir heute Abend noch unternehmen? Ich wäre für Kino. Oder wir gehen gleich noch für zwei Stündchen in das Thermalbad?“

„Kino“, sagten Lyra und Leo wie aus einem Mund, lachten dann darüber und witzelten ein wenig mit Grace.

Nach dem Abendessen legten sie eine kleine Pause ein und erkundigten sich über das laufende Kinoprogramm, allerdings gab es keinen Film, auf den die drei sich einigen konnten. Grace wollte unbedingt eine Liebeskomödie sehen und war nicht kompromissbereit, Leo hingegen zog es zu einem Actionfilm und Lyra wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Also beschlossen sie doch nicht ins Kino zu gehen. Stattdessen entschuldigte sich Leo wegen Kopfschmerzen und ging früh ins Bett. Grace bummelte noch ein wenig durch die Stadt und Lyra machte es sich auf ihrem Zimmer mit Felilou und Nebulak gemütlich.

Das lila Katzenpokémon legte sich schnurrend an das Fußende von Lyras Bett und döste, während Nebulak umherflog und sich einen Spaß daraus machte immer wieder auf das gekippte Fenster zuzufliegen, bis ein Windstoß kam und das Geistpokémon erfasste, sodass es zurück ins Zimmer gewirbelt wurde.

„Nebulak, pass bitte auf.“ Noch eine Weile sah sie Nebulaks Treiben zu, dann schloss sie kopfschüttelnd das Fenster und zog ihr unruhiges Pokémon in den Pokéball zurück. Nun, da sie Ruhe hatte, widmete sie sich wieder dem Buch, das sie im Flugzeug nicht hatte lesen können. Es war eines von den Büchern, die Cassandra in ihrem Zimmer mit den Worten „Das ist doch viel zu dick zum Lesen“ kommentiert hatte. Als sie daran dachte, kamen ihr auf einmal Tränen in die Augen und sie wischte sie mit dem Handrücken fort. Wie lange genau war sie schon mit Grace und Leo unterwegs? Zweieinhalb Wochen? Drei? Und die ganze Zeit war Cassie irgendwo dort draußen und ihr konnte sonst was passieren. Hoffentlich hatte sie jemanden gefunden, der sich um sie kümmerte, drei Wochen überstand doch keiner von ihnen ohne alles in der Wildnis.

Felilou schlich sich schnurrend an seine Trainerin heran, rieb das Köpfchen an Lyras Körper und nahm auf dem Schoß des rosahaarigen Mädchens Platz.

„Wir finden Cassie, Felilou. Wir werden sie finden. Aus dem einfachen Grund, dass wir gar keine anderen Möglichkeit mehr haben. Sie ist meine beste Freundin und dass sie jetzt verschwunden ist, ist auch meine Schuld. Felilou, wir finden sie.“

Dafür erntete sie ein Schnurren; die Katze wollte gestreichelt werden.

Etwas später kam auch Grace von ihrem Stadtbummel zurück und bezog ihr Bett an der Wand gegenüber. Sie plauderte ein wenig darüber, wie sich Ondula ihrer Ansicht nach in den letzten Jahren verändert hatte, dann ging sie zu dem Busplan über, den sie unterwegs gefunden hatte. „Um sieben Uhr morgens fährt ein Bus, allerdings ist mir das persönlich ein wenig zu früh. Deshalb schlage ich vor, dass wir gemütlich frühstücken und dann gegen zehn Uhr den Bus nehmen. Der fährt bis in die Nähe vom Weißen Wald, wir haben dann noch vielleicht eine Viertelstunde Fußweg und dann müssen wir Nero suchen. Aber es wohnen noch andere Leute dort im Wald, vielleicht können die uns weiterhelfen.“

„Alles klar, zehn Uhr.“ Lyra schnappte sich wieder den Roman, blätterte ein wenig darin herum, kam aber wieder nicht richtig zum Lesen. Ihre Gedanken drifteten immer wieder zu der weißhaarigen Cassie ab. Morgen würden sie Nero finden. Morgen wussten sie mehr.

Weißer Wald

Der Weiße Wald ragte majestätisch vor ihnen auf. In den Kronen der riesigen Bäume raschelten die Blätter in der warmen Brise, während die drei jungen Trainer ihr verschobenes Frühstück auf einer Holzbank im Schatten einnahmen. Sie hatten schnell festgestellt, dass es im Pokémoncenter zwar auch überregionale Gerichte gab, die sie schon aus ihren Heimatregionen kannten, doch dass es bereits zum Frühstück dicke Pfannkuchen mit Heidelbeeren und süßem Sirup oder gar Cheeseburger gab, hatte sie ein wenig irritiert. Die anderen Trainer und Reisenden hatten sich wie hungrige Aasgeier darauf gestürzt, doch Lyra und ihre beiden Begleiter wählten lieber mit Bedacht aus. Nichtsdestotrotz hatte jeder von ihnen nun einen Cheeseburger vom morgendlichen Büffet verdrückt und fühlte sich gleich fünf Kilo schwerer.

„Wir sollten jetzt weitergehen“, bemerkte Leo, nachdem er einen Blick auf die digitale Uhrenanzeige seines ComDex geworfen hatte. „Elf Uhr, wo auch immer Nero sich hier aufhält, jetzt dürfte er auf den Beinen sein.“

„Wenn er nicht arbeiten ist“, fügte Grace hinzu und stand von der Bank auf.

„Eher nicht, schätze ich. Wenn er in Aeros und Airas Alter ist, dürfte er so ungefähr steinalt sein“, witzelte der Schwarzhaarige und folgte Grace zusammen mit Lyra, die gerade ihre fettigen Finger an einer Serviette abwischte und diese dann in ihren Rucksack stopfte.

Kurz darauf kamen einige Häuser in Sicht, deren Gärten sich kaum von der Umgebung abgrenzten, wenn da nicht die hüfthohen Holzzäune wären. In einem der Gärten saß eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der einem Vegimak hinterherjagte, während die Mutter Unkraut jätete.

„Kommt, wir fragen mal nach“, schlug Lyra vor, überholte Grace und trat an den Gartenzaun. „Entschuldigen Sie?“

Sowohl Pokémon und Sohn als auch die Mutter blickten überrascht auf, dann stand die Frau auf und klopfte sich etwas Erde von der Kleidung. „Ja, bitte? Kann ich euch helfen?“

„Wir sind auf der Suche nach jemandem“, erklärte Lyra, während die Frau an den Zaun kam. „Man hat uns gesagt, dass er hier im Weißen Wald lebt. Sein Name ist Nero und er müsste schon relativ alt sein.“

„Nero?“ Die Frau legte nachdenklich den Kopf schief, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich lebe schon seit meiner Geburt hier im Wald, aber einen Nero kenne ich nicht.“

Die drei Jungtrainer wechselten einen Blick und die Enttäuschung war ihnen anzusehen. Dennoch sprach Lyra weiter. „Vielleicht ist er vor langer Zeit aus Johto zugezogen. Wir sind von Johto hier her gereist, weil wir etwas Wichtiges mit ihm besprechen müssen. Freunde von ihm haben uns geschickt.“

„Johto?“, wiederholte die Frau und wirkte noch immer nicht überzeugt davon, dass es jemanden in diesem Wald geben sollte, den sie nicht kannte. Doch nach einigen Sekunden, in denen Lyra schon die Hoffnung aufgegeben hatte, erhellte sich ihr Gesicht. „Johto, sagtest du? Nun, ich kenne nur einen, den ihr vielleicht meinen könntet, wobei ‚kennen‘ nicht das richtige Wort ist, niemand hat wirklich viel mit ihm zu tun.“ Ein nervöses Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Der Alte ist ein ziemlicher Einsiedler, er kommt nur etwa einmal die Woche ins Dorf, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen, die er nicht selbst anbauen kann.“

„Und wo finden wir diesen Mann?“

„Herr Blackwood lebt, wie gesagt, als Einsiedler ziemlich außerhalb.“ Dann deutete sie in eine Richtung. „Folgt diesem Weg bis ganz ans Ende, dann könnt ihr sein Haus nicht verfehlen. Wir alle wissen nicht viel über ihn, aber er muss in seinen jüngeren Jahren viel herumgekommen sein. Bestimmt war er auch in Johto.“

„Vielen Dank für die Auskunft!“ Lyra lächelte der Mutter zu, dann drehte sie sich zu Grace und Leo um und beschleunigte sofort ihren Gang. „Das klingt doch vielversprechend, meint ihr nicht?“

„Hoffen wir, dass Nero wirklich Blackwood mit Nachnamen heißt, sonst haben wir keinen Anhaltspunkt mehr“, murmelte Leo, schüttelte jedoch den Kopf und schaute sich genauer um, während sie durch das Dorf liefen und es schon bald darauf hinter sich ließen.

Es gab gut dreißig Häuser, die den Kern des Dorfes bildeten, und noch einmal etwa zehn, die in einem Umkreis von zwei- bis dreihundert Metern zu finden waren. Man konnte also wirklich von einer sehr beschaulichen Gemeinde sprechen, für die es wirklich seltsam wirken musste, wenn jemand sich so selten blicken ließ.

Sie waren etwa eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs, als der Waldweg breiter wurde und schließlich in eine kleine Lichtung mündete, auf der ein wirklich alt anmutendes Haus stand. Die Wände waren aus unregelmäßigen Steinen geformt, doch die Fenster und Fensterläden strahlten in frisch lackiertem, weißem Holz. Daneben befanden sich noch ein Schuppen und ein Brunnen, weiter hinter dem Haus konnten sie die Konturen eines Gewächshauses erahnen.

„Meint ihr, er ist hier?“, flüsterte Lyra, obwohl sie nicht einmal genau wusste, wieso sie sich mit der Stimme zurücknahm.

„Es kommt Rauch aus dem Schornstein, also wird er wohl noch vor kurzem hier gewesen sein.“

Die drei schauten sich einige Minuten ratlos an und beobachteten das Haus, bis sie hinter einer der Gardinen eine Bewegung wahrnahmen.

„Er beobachtet uns, wie wir ihn beobachten!“, stieß Lyra erschrocken aus und ihr Herz hämmerte hart in ihrer Brust.

„Lasst und anklopfen, wenn er schon weiß, dass wir da sind.“ Grace machte den ersten Schritt, die beiden anderen folgten ihr bis zur Türschwelle, wo Grace den Türklopfer aus Metall in die Hand nahm. Beinahe blechern klang das Geräusch, doch es tat sich nichts. Noch einmal klopfte Grace, zog dann die Augenbrauen in die Höhe und zuckte passend dazu mit den Schultern. „Herr Blackwood? Wir wissen, dass Sie da sind. Wir möchten uns nur kurz mit Ihnen unterhalten. Hallo? Öffnen Sie doch die Tür!“

Wieder keine Reaktion und das ließ Lyra frustriert seufzen. „Er will nicht mit uns reden, vielleicht haben wir den Falschen erwischt.“

„Nein.“ Grace schüttelte ihren Lockenkopf, trat ein paar Schritte zurück und starrte provozierend zu den dichten Fenstergardinen. „Herr Blackwood? Nero Blackwood?“

Keine drei Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und ein alter Mann blickte sie griesgrämig aus seinen tiefschwarzen, intelligenten Augen an. Sein Haar war dunkelgrau und der Dreitagebart wirkte sehr ungepflegt. „Was wollt ihr Gören von mir?“, zischte er und verengte die Augen zu misstrauischen Schlitzen. Neben ihm kam ein Magnayen in Sicht, das sein Fell aufgestellt hatte und leise knurrte. „Woher kennt ihr meinen Namen?“

Die drei rotteten sich etwas verschreckt zusammen und sowohl Grace und Leo warfen Lyra einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie mit ihm reden sollte, weil sie Cassandras Freundin war. Lyra räusperte sich, trat vor und nestelte nervös an dem Saum ihrer Jacke herum. „Wir wollen Sie wirklich nicht lange stören, aber wir haben einen sehr weiten Weg hinter uns.“

„Ihr habt nach mir gesucht? Wer seid ihr?“ Mit jedem Wort klang seine Stimme noch bedrohlicher als zuvor. Hektisch blickte er sich um. „Seid ihr allein gekommen?“

„Ja, aber wir…“

Nero starrte sie an, dann öffnete er die Tür ganz und ging ins Haus – eine stumme Anweisung einzutreten.

Lyra zögerte einen Moment, doch Leo und Grace schoben sie vor und folgten ihr dann nach drinnen. „Nun mach schon“, zischte Leos Stimme nah an Lyras Ohr.

Diese schaute sich nur flüchtig um. Ein eigentlich recht gemütliches Wohnzimmer, viele Bücherregale und in der Ecke ein kleiner Kamin.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte Nero sich zu ihnen um und musterte sie eingehend. „Woher kommt ihr?“

„Aus Johto“, antwortete Lyra schnell. „Nun, ich komme aus Johto. Mein Name ist Lyra Hawkins. Das sind Grace Light und Leo Galloway, die beiden kommen aus Kanto und Sinnoh, aber wir haben uns in Johto kennen gelernt.“

„Komm zum Punkt.“ Nero wirkte gelangweilt und machte deutlich, dass er niemand war, den man unnötig langweilen sollte. Währenddessen legte sich sein Magnayen zu seinen Füßen nieder und leckte sich die Pfoten.

„Der Weise Aero und die Kimono-Girl-Älteste Aira schicken uns.“

Nero hob die Hand und augenblicklich verstummte Lyra. „Aero und Aira, sagst du?“ Er stieß einen abfälligen Grunzlaut aus. „Dann kann ich euch nicht helfen. Wir haben uns vor sehr, sehr langer Zeit im Streit getrennt. Geht jetzt, das Gespräch ist beendet.“

„Nein, bitte, lassen Sie mich erzählen!“ Ein Flehen lag in ihrem Blick, doch sie traute sich auch nicht näher an Nero heranzutreten, da zwischen ihnen noch sein Magnayen lag. „Sie müssen uns helfen! Meine beste Freundin Cassandra ist in Gefahr und Aero und Aira haben uns deshalb den ganzen Weg hier her geschickt. Sie können doch nicht einfach sagen, dass Sie uns nicht helfen können! Cassandra und ich waren in der Ruine des Bronzeturms, als irgendein Teleportmechanismus sie an einen anderen Ort gebracht hat. Aero und Aira sagten, dass Sie wüssten, wohin Cassie gebracht worden ist. Bitte!“

„Du solltest dich selbst reden hören, Mädchen. So einen Unfug habe ich schon lange nicht mehr gehört. Wo habt ihr diesen Schwachsinn aufgeschnappt, hm?“ Nero schüttelte den Kopf, presste dabei seine Lippen hart aufeinander, wenn er nicht gerade sprach. „Ich sagte, ihr sollt verschwinden. Raus hier!“

Allmählich stieg pure Verzweiflung in Lyras Körper auf. Ihre Kehle fühlte sich trocken und zugeschnürt an. Sollte das etwa alles gewesen sein? Sie konnte nicht glauben, dass sie den ganzen Weg umsonst gekommen waren. Die letzten drei Wochen konnten doch nicht verschenkte Zeit gewesen sein. Nero musste irgendetwas wissen! „Bitte!“

„Raus!“ Magnayen sprang auf, fletschte mit den Zähnen und trieb die drei Stück für Stück zurück zur Haustür.

„Lyra, es hat keinen Sinn.“ Leo und Grace verließen zuerst das Haus und schauten zu Lyra.

„Warum wollen Sie uns nicht helfen? Sie kennen die beiden doch, Sie müssen etwas darüber wissen!“ Lyra wich noch immer vor den scharfen Zähnen des Unlichtpokémon zurück, doch dabei suchte sie auch fieberhaft in ihrem Rucksack nach dem Bruchstück der mysteriösen Steinplatte. Als sie die kühle Oberfläche fühlte, entspannte sie sich ein wenig und zog das Bruchstück heraus. „Sehen Sie doch, hat das denn keine Bedeutung?“

Magnayen sprang mit einem Satz nach vorne, schnappte nach ihr und scheuchte alle drei bis zu den Bäumen. Dann kehrte es ihnen mit einem letzten Knurren den Rücken zu und ins Haus zurück.

Mit pochenden Herzen schauten die drei sich an und Lyra kamen sogar vor Wut die Tränen. „Er hat nicht einmal mit sich reden lassen!“ Wütend kickte sie gegen eine Baumwurzel, hatte jedoch einen schmerzenden Zeh und das Nachsehen, also ließ sie sich auf der Wurzel nieder und starrte auf den Stein in ihrer Hand. „Wir sind den ganzen Weg völlig umsonst gekommen.“

„Oh, Lyra…“ Grace setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. So saßen sie einige Minuten lang schweigend da, bis sie hörten, dass sich die Tür erneut öffnete und Nero zu ihnen schaute.

„Was wollen Sie noch von uns, wir verschwinden doch gleich“, fuhr Leo ihn sauer an.

Nero reagierte darauf gar nicht, sondern kam mit einigen Schritten zu ihnen. „Der Stein, den du bei dir hast, lass mich ihn sehen.“

„Wozu?“, erwiderte Lyra trotzig, stand auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Sie sind doch nur ein verbitterter, alter Mann.“ Trotzdem drückte sie ihm ihren Teil der Steinplatte in die Hand und beobachtete Nero, wie er den Stein drehte und wendete.

Seine dunklen Augen lagen auf der speziellen Maserung, auf der glatten Oberfläche, wobei er auch das Gewicht testete, indem er den Stein hin und wieder ein kleines Stück in die Luft warf. Schließlich bildete sich zum ersten Mal ein leicht amüsiertes Schmunzeln um seine Mundwinkel. „Weißt du, was das für ein Stein ist?“

„Nein“, gestand Lyra ehrlich. „Aira hat meiner Freundin Cassandra und mir eine Steinplatte geschenkt und wir haben sie in zwei Hälften gebrochen, damit jede von uns etwas hat.“

„Zerbrochen, ja?“ Nun schien Nero wirklich amüsiert zu sein. Er gab Lyra den Stein zurück. „Und du hast keine Ahnung, was das für eine Steinplatte ist?“

„Nicht die geringste“, mischte sich nun auch Leo ein, wurde jedoch von einem Seitenblick Neros zum Schweigen gebracht. Es war offensichtlich, dass er nur mit Lyra sprach.

„Leo sagt die Wahrheit, Aira hat uns nichts über diese Platte gesagt. Hat sie etwas mit Cassandras Verschwinden zu tun?“

„Diese Platte?“ Nero grunzte und fuhr sich durch das graue, volle Haar. In jungen Jahren musste er einmal sehr ansehnlich gewesen sein. „Du weißt nicht, was für Kräfte die Platte hat und du hast sie einfach zerbrochen. Das ist amüsant, wirklich amüsant.“

„Was genau ist so amüsant? Herr Blackwood, bitte, uns läuft die Zeit davon. Wissen Sie, wo wir Cassie finden können?“

Er ignorierte Lyras Frage zum widerholten Male. „Und Aero und Aira haben euch den ganzen Weg zu mir geschickt, damit du mir die zerbrochene Platte zeigst und mir erzählst, dass deine kleine Freundin in den Ruinen vom Bronzeturm verschwunden ist?“

„Ja, das sagte ich doch bereits. Cassie und ich waren in den Ruinen und haben eine Wand entdeckt, in die das Bild eines Golgantes eingemeißelt war. Unsere Steinplatte hat in die Vertiefung der Mitte gepasst, aber wir haben sie nicht eingesetzt, das schwöre ich! Auf einmal kam der Vollmond hinter den Wolken hervor und alles leuchtete um uns herum, dann ist Cassie von so einem Lichtstrudel eingesperrt worden und kurz darauf… war sie verschwunden.“

„Hmm…“ Nero runzelte die Stirn, schaute eine Weile in den Himmel und wieder zu Lyra. „Und deshalb schicken Aira und Aero dich zu mir. Ja, das sieht ihnen ähnlich, sie haben schon immer ihre eigenen Spielchen gespielt.“

„Was meinen Sie damit?“

Nero schnaubte verächtlich und deutete auf den Stein in ihrer Hand. „Diese Platte, wenn sie denn ganz ist, ist der Schlüssel zu der Wandmalerei. Sie aktiviert den Mechanismus, doch die Platte alleine reicht nicht aus. Und dass du jetzt hier bist und nicht bei den Zwillingen“, damit meinte er Aira und Aero, „zeigt, dass ich Recht habe. Sie planen etwas. Wenn sie euch die Platte gaben, vertrauten sie darauf, dass ihr sie auch benutzen würdet, wobei ich mich frage, ob… Nun ja.“

Lyras Herz zog sich ängstlich und angespannt zusammen. „Was meinen Sie damit?“, wisperte sie und auf einmal schien ihr der Stein in ihrer Hand viel zu verhängnisvoll zu sein. Der Weise und das alte Kimono-Girl hatten ihr doch geholfen, als sie vollkommen verzweifelt war, wieso sollten sie auf einmal etwas damit zu tun haben?

Mit einem finsteren Blick schaute Nero ihr tief in die Augen. „Ich kann euch nicht besser helfen als die beiden es auch könnten. Wir beschützen diesen Mechanismus, Lyra.“ Zum ersten Mal benutzte er ihren Namen. „Wir sind diejenigen, die ihn aktivieren und verschließen können. Wir sind… die Wächter.“

Erwachen

Nur langsam erlangte Cassandra ihr Bewusstsein wieder und das Erste, was sie fühlte, war entsetzliche Kälte, die sich in ihrem ganzen Körper festgesetzt hatte. Sie musste sich dazu zwingen die Augen zu öffnen, dann blinzelte sie einer Mauer aus Dunkelheit entgegen. „Golbit?“, rief sie leise nach ihrem Pokémon und kurz darauf war aus der Entfernung eine Bewegung, dann lautere Schritte zu hören. Sofort stieg Angst in Cassie auf und sie verlagerte sich in eine Sitzposition, als auch schon Golbit erschien.

„Golb“, machte das Bodenpokémon zur Begrüßung und kam neben seiner Trainerin zum Stehen.

Cassie atmete tief durch. Ihr ganzer Körper war steif vor Kälte, ihr Kreuz und Kopf schmerzten von dem harten Boden. Wo befand sie sich hier? Es hatte fast den Anschein, dass sie in einer Höhle war, in die nur spärlich Licht durch einen gewundenen Gang drang. „Wo sind wir? Wo ist Lyra?“

„Golbit.“ Das Pokémon streckte sich, als wollte es, dass Cassandra seinem Beispiel folgte und erst einmal in Bewegung kam.

Die weißhaarige Jungtrainerin seufzte, stand mit wackeligen Beinen auf und machte einen Schritt nach vorne, wobei sie ins Leere trat und mit einem Aufschrei der Länge nach auf dem Boden landete. Wimmernd erhob sie sich ein zweites Mal und starrte wütend zu einer Stufe, die sie in der Dunkelheit übersehen hatte. Wenn sie genauer hinsah, konnte sie sogar noch mehr erkennen. Die Stufe gehörte zu einem Podest am Ende der Höhle, im Boden war ein kunstvolles Muster und in den Wänden gab es regelmäßig Vertiefungen mit Kerzen, die bis zum Ende abgebrannt waren. Diese Höhle wurde wohl schon lange Zeit nicht mehr benutzt, was auch immer ihre Aufgabe war. „Golbit, komm, wir gehen Lyra suchen. Sie muss doch auch hier irgendwo sein.“

Während die beiden sich in Bewegung setzten, versuchte Cassie die pochenden Schmerzen in jedem einzelnen Muskel und Knochen zu ignorieren. Dieses Licht in der Ruine hatte sie hergebracht, auch wenn ihr nicht klar war, wie so etwas möglich sein konnte. Jedenfalls war es wichtig, dass sie jetzt Lyra fand. Ihre Freundin würde schon wissen, was zu tun war.

Langsam wurde es immer heller und schon nach kurzer Zeit kam der Eingang der Höhle in Sicht. „Na endlich“, murmelte Cassie und trat hinaus ins Freie. Doch was sie sah, versetzte ihr einen noch größeren Schreck als die Tatsache, dass sie an einem fremden Ort gelandet war.

Sie war im Nirgendwo. Unter ihr erstreckte sich ein steiler Hang, dutzende Meter tief und nur eine schmale Treppe, die direkt in den massiven Felsen des Berges eingelassen war, führte nach unten, wo ein halb zugefrorener Fluss durch eine karge Landschaft schnitt. Es gab keine einzige Spur von Leben, keine Pokémon, keine Tiere, keine Lyra.

„Sie hätte mich doch nicht alleine zurückgelassen!“ Cassies Worte klangen schrill und panisch, während sie ein paar Schritte ging und zu der Steintreppe kam. „Golbit, hast du Lyra gesehen? Wo ist sie?“ Sie schaute in die ratlosen Augen ihres Pokémon, schluchzte auf und klammerte sich an der Felswand neben sich fest. „Ich will zurück nach Hause!“ Wo zum Teufel war sie hier nur gelandet? „Tu doch was!“

Golbit starrte entschlossen zurück, setzte sich in Bewegung und begann die Treppe nach unten zu nehmen.

Cassie schaute ihrem Pokémon mit aufgerissenen Augen nach, wie es sich Stufe für Stufe von ihr entfernte. „Wo willst du hin? Komm zurück!“

„Golb“, machte es, nun schon deutliche Meter unter ihr.

Sie zögerte, blickte zurück zu der Höhle, die ihr immerhin Sicherheit gegeben hatte. Doch dann schloss sie mit schnellen, ängstlichen Schritten zu ihrem Pokémonpartner auf, um nicht alleine zurück zu bleiben. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich darauf nicht nach unten zu sehen, denn die Treppe war nur gut eineinhalb Meter breit, uneben und besaß kein Geländer, das sie vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt hätte.

Unten angekommen blickten beide den Weg zurück nach oben, doch war ihnen klar, dass sie hier keine Antworten finden würden. Golbit ging voraus, Cassandra folgte und beide machten sich entlang des Flusses auf den Weg ins Ungewisse.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon gegangen waren, nahm den immer kleiner werdenden Höhleneingang jedoch als Maßstab. „Golbit, mir ist kalt“, jammerte die Jungtrainerin mit den silberweißen Haaren, wobei sie die Hände schon vollständig in die Ärmel ihrer Jacke zurückgezogen hatte. Ohne ihr Gepäck war sie aufgeschmissen und wo auch immer sie gerade war, hier war es im April noch deutlich kühler als in Johto. Es würde Cassie nicht wundern, wenn es jeden Moment zu schneien anfing.

Irgendwann erreichten sie einen kleinen Wasserfall, unter dem sich ein See mit spiegelglatter Oberfläche befand und entlang des Sees sah man vereinzelt Häuser und schmale Stege, an denen einfache Boote befestigt waren. Cassandra wies Golbit an sich im Hintergrund zu halten, sie wollte zuerst alleine näher an die Häuser heran gehen, um zu schauen, was für Menschen dort lebten.

„Golbit…“ Das Pokémon schien nicht gerade angetan davon zu sein, setzte sich jedoch unter eine Trauerweide am Ufer, deren lange, dünne Äste wie unzählige Spinnenbeine gen Boden ragten.

„Ich bin bald zurück, es dauert nicht lange“, murmelte Cassie, nahm ihren ganzen Mut zusammen und schlich sich an den Bäumen am Ufer entlang immer näher auf das kleine Dorf zu. Schon bald erkannte sie, dass die winzigen Bötchen Fischerboote waren, denn in ihnen lagen Reusen und Netze. Ein älterer Mann stand an einem der Stege und sortierte dunkelbraune Fische in zwei verschiedene Eimer.

Die Stimmen von zwei jungen Frauen nur wenige Meter von ihr entfernt ließen Cassandra aufschrecken, doch sie presste sich ganz fest an die Rinde des dicken Baumes, sodass sie hoffentlich unentdeckt blieb.

„Wir haben wirklich nichts bemerkt“, beteuerte die eine der beiden Frauen, während sie gemeinsam mit der anderen auf der anderen Seite des Baums zum Stehen kam. „Ich würde Sie nicht anlügen.“

„Natürlich würden Sie das nicht“, erwiderte die andere Frau, ihre Stimme klang etwas dunkler und harscher. „Denn mich anzulügen bedeutet auch, dass Sie Prinz Melik anlügen.“

„Wie könnte ich das wagen? Jeder weiß, dass der königlichen Familie und der königlichen Garde Treue und Wahrheit zu schwören sind.“

Für einen Moment herrschte Schweigen, dann setzten sich die beiden Frauen wieder in Bewegung, allerdings nur wenige Sekunden, dann blieben sie wieder stehen. „Es wäre sehr bedauerlich, wenn Ihrem kleinen Fischerdorf etwas zustoßen sollte, nur weil Sie einen Flüchtling versteckt halten, nicht wahr?“

„Zutiefst bedauerlich. Wenn irgendjemand aus meinem Dorf etwas bemerkt, dann werden wir es Sie unverzüglich wissen lassen, Ministerin.“

„Das hoffe ich doch.“

Cassandra lugte minimal hinter dem dicken Baumstamm hervor und erhaschte einen kurzen Blick auf die beiden Damen. Eine hatte dunkelrotes Haar und eine mit purpurfarbenen Fäden bestickte Robe an, die andere trug über ihrer schwarzen Kleidung eine Art Rüstung, die in etwa die Farbe von Golbits Körper besaß.

„Auf Wiedersehen, Ministerin. Guten Flug.“ Die Rothaarige verneigte sich voller Höflichkeit, während die andere einen Hyperball zückte und aus diesem ein Panzaeron entließ, auf dessen Rücken ein leichter Ledersattel befestigt war.

Die Ministerin stieg auf den Rücken ihres Pokémon, stemmte ihre Füße in die Steigbügel und schon erhob sich Panzaeron in die Luft. Es gewann schnell an Höhe und sein kräftiger Körper trug die Frau ohne Mühe. Nach gut einer halben Minute waren sie hinter den Bergen verschwunden.

Cassies Herz klopfte schnell vor Aufregung. Sie wusste nicht, wie sie diese Begegnung einordnen sollte, aber im Moment kreiste vor allem der Gedanke in ihrem Kopf, dass irgendwo hier in der Nähe ein Flüchtling unterwegs war. Womöglich ein gefährlicher Krimineller, sie brauchte dringend einen Ort, an dem sie sich mit Golbit verstecken konnte. Es schien so, dass die Menschen hier Fremden gegenüber sehr misstrauisch waren. Was würde Lyra jetzt nur tun? Die rothaarige Frau ansprechen? Sich verstecken? Zurück zu der Höhle gehen? Doch Cassandra hatte mittlerweile auch großen Hunger und Durst, hier in der Nähe des Dorfes konnte sie womöglich Nahrung finden und Wasser aus dem Fluss trinken. Sie wartete, bis die Dorfbewohnerin in einem Fachwerkhaus verschwunden war, dann schlich sie sich zurück zu Golbit, das in aller Seelenruhe unter der Trauerweide schlief.

„Wie kannst du hier so ruhig liegen und schlafen?“, zischte Cassie sauer und ließ sich neben Golbit nieder. Mit ihrer quietschgelben Regenjacke war sie nicht gerade gut getarnt, sie mussten dringend ein Versteck finden. „Die Menschen hier fischen für ihren Lebensunterhalt, vielleicht können wir irgendwo ein oder zwei geräucherte Fische stehlen.“

„Golb!“ Sofort stand Golbit auf seinen zwei Beinen und funkelte seine Trainerin böse an.

„Das willst du nicht zulassen, hm? Oh Golbit, ich weiß nicht, was ich tun soll!“ Cassandra seufzte verzweifelt, zückte ihren Pokéball und zog das protestierende Golbit zurück. Im Moment war es einfacher, wenn sie alleine unterwegs war.
 

Es wurde Abend und Cassie kauerte in einer Mulde am Ufer des Sees, wo die dichten Wurzeln der umliegenden Bäume ein Dach bildeten. Das Wasser musste über viele Jahre – immer wenn Hochwasser war – die Erde zwischen den Wurzeln abgetragen haben, sodass nun dieser Hohlraum vorhanden war. Wasser gab es dank des Flusses genug, aber ihr Magen fühlte sich an wie ein schwarzes Loch. Obwohl sie die Kameradschaft ihres Pokémonpartners vermisste, wollte sie Golbit im Pokéball lassen, damit es dort gewärmt und ausgeruht war. Nicht mehr lange und sie würde zu den Menschen des Dorfes gehen müssen, weil sie dringend etwas zu essen brauchte. Außerdem wusste sie noch immer nicht, wo sie hier gelandet war, was überhaupt los war und wie sie zurück zu Lyra kommen konnte.

Die Äste der Trauerweiden raschelten, als jemand unter ihnen hindurch ging.

Cassie drückte sich nur noch tiefer in die Mulde hinein, was dafür sorgte, dass ihr die kalten Wurzeln in den Rücken drückten und sie nur noch dreckiger wurde. Dann hielt sie den Atem an und wartete darauf, dass etwas passierte.

Vor dem Eingang ihrer kleinen Mulde schlängelte ein Milotic entlang, stoppte und starrte ihr direkt ins Gesicht. „Milotic…“

Es folgten Schritte, dann sprang jemand leichtfüßig die Böschung hinab auf den schmalen Uferstreifen. „Ich habe mich schon gefragt, wo du dich versteckt hast.“ Die rothaarige Frau von vorhin beugte sich runter und blinzelte in die Dunkelheit der Mulde. „Und jetzt komm da raus, du musst schon halb erfroren sein.“ Sie stellte sich gerade hin, trat einen Schritt zurück und auch Milotic räumte den Weg frei.

Zögerlich setzte Cassandra sich in Bewegung, ihre blauen Augen huschten immer wieder besorgt hin und her. Sie hatte sich wegen der feuchten Erde die Kapuze übergezogen und zog sie jetzt nur noch mehr in ihr Gesicht.

„Du musst keine Angst vor mir haben“, sprach die Rothaarige und ihre helle Stimme klang sehr freundlich und einladend. „Ich habe dich sofort bemerkt, als du dich zu unserem Dorf geschlichen hast, allerdings musste ich die Ministerin erst noch ablenken.“

„Ich verstehe nicht.“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie betrachtete Cassies Gesicht, von dem sie nicht viel mehr sah als die Nasenspitze. „Komm mit mir, ich bringe dich zu meinem Haus, dort kannst du dich etwas ausruhen.“

Für einen Moment überlegte Cassie, was für Fluchtchancen sie hatte, allerdings überwog dann ihr Hunger und ihre Erschöpfung, weshalb sie der Fremden mit hängenden Schultern folgte. Konnte es sein, dass sie selbst der Flüchtling war, nachdem diese Ministerin gesucht hatte? Woher wusste man, dass sie hier war?

„Mein Name ist Leia, ich bin die Bürgermeisterin dieses Dorfes“, erklärte die Rothaarige ihr. Es war kein langer Weg bis zu ihrem Fachwerkhaus und sobald sie eintraten, standen sie in einer gemütlichen, warmen Küche, in der es nach gebratenem Fisch und Schokoladenkuchen roch. „Verrätst du mir, wie du heißt?“

„Cassandra.“ Unschlüssig stand Cassie mitten im Raum und streifte sich die Kapuze ab.

Leias Blick blieb lange Sekunden an Cassandras weißen Haaren hängen und die Augen der Bürgermeisterin weiteten sich ein wenig, doch dann drehte sie sich in Richtung der Herdplatte und warf ihren bestickten Umhang über die Stuhllehne. „Setz dich, ich mache dir den Fisch warm.“

„Vielen Dank.“ Noch immer fühlte die Jungtrainerin sich vollkommen überfordert mit der Situation, doch sie kam Leias Gastfreundschaft gerne nach. Nachdem sie ihre gelbe Regenjacke vor den Kamin zum Trocknen gehängt hatte, ließ sie sich auf einem freien Holzstuhl nieder und schaute sich etwas genauer um. Die Küche war großzügig geschnitten und ging nahtlos in den Wohnbereich mit dem kleinen Kamin über, nur Holzbalken, die das ganze Haus durchzogen, trennten die beiden Bereiche optisch ein wenig voneinander. „Wo genau bin ich hier?“

„In einem Fischerdorf, erwähnte ich das nicht bereits?“ Lächelnd stellte Leia ihr einen Teller mit Fisch vor die Nase, dazu reichte sie Cassandra einen warmen Tee und ein Stück Kuchen. Danach setzte sie sich auf den Stuhl gegenüber. „Ich weiß, dass du einen weiten Weg hinter dir hast. Das muss alles sehr verwirrend für dich sein.“

Cassie schluckte den Bissen in ihrem Mund herunter. „Dann wissen Sie, wie ich zurück nach Hause komme? Ich bin in dieser Höhle aufgewacht, dabei war ich doch noch in Teak City in dieser Turmruine, alles ist nur Golbits Schuld gewesen. Ich möchte doch nur zurück nach Hause. Ist es weit bis nach Johto?“

Leia stand auf, rührte ein wenig in ihrem Kochtopf herum, doch in ihrem Lächeln lag nun eine bittere Note. „Ich lege dir Bettzeug raus, du kannst auf dem Sofa schlafen. Ruh dich aus, morgen ist ein neuer Tag und dann sehen wir weiter.“

Sie starrte die Bürgermeisterin an und begriff, dass Leia nicht gewillt war ihr eine Antwort zu geben. Doch zu groß war ihr Hunger, als dass sie protestieren konnte. Aus diesem Grund aß sie schweigend zu Ende und war dankbar für die Schlafmöglichkeit, die Leia ihr bot, als sie wenige Minuten nach dem Essen eine unsägliche Müdigkeit überfiel.

Verwirrung

Cassandras Augenlider fühlten sich so unendlich schwer an, als sie mitten in der Nacht aufwachte und sich mühselig von dem Rücken auf die Seite drehte. War sie schon jemals so müde gewesen? Sie war sofort eingeschlafen, nachdem Leia ihr eine Wolldecke über das Sofa gelegt und ihr Bettzeug gebracht hatte. Nur langsam wurde Cassie so wach, dass sie an ihr hungriges Golbit im Pokéball dachte. Das Ärmste hatte noch nichts gegessen, da Cassie nicht wusste, wie Leia auf ihr Pokémon reagieren würde – sie konnte schließlich nicht einmal genau erklären, woher sie Golbit nun hatte.

Langsam schwang Cassandra die Beine aus ihrem provisorischen Bett und rieb sich über die Augen, um den Schlaf aus diesen zu vertreiben, dann entließ sie Golbit aus dem Pokéball und tätschelte ihrem Pokémon den Kopf. „Warte hier, fass nichts an und bleib ruhig“, wies sie ihr Pokémon an, das gähnte und sich auf den Boden setzte, während Cassie barfuß durch den Raum zur Küche ging. Irgendwo hier musste Leia doch das Essen aufbewahren, von dem Fisch war schließlich noch genug übrig geblieben und Kuchen gab es auch noch.

Im Halbdunkeln – es schien von draußen nur der Mond durch die Fenster – tastete sie sich bis zum Backofen vor, dessen Tür sie leicht öffnete, doch nichts fand. „Verdammt“, murmelte sie leise, schloss vorsichtig die Backofentür und öffnete einen der Schränke. Vor ihr standen unzählige kleine Gläschen, die mit einer sauberen Handschrift beschriftet waren. Wahllos griff Cassie sich eines der vordersten Gläser, drehte es ins Mondlicht und im selben Moment weiteten sich ihre Augen vor Schreck. „Schlafpudertee?“ Sie schraubte den Deckel ab und roch kurz daran, dann zog sie die Nase kraus, verschloss das Gefäß und stellte es zurück. Dieser Tee roch im ersten Moment so wie der, den Leia ihr am Abend zum Essen gemacht hatte, aber sie musste sich irren. Leia war gastfreundlich, weshalb sollte sie ihr so einen Tee geben.

Kurz darauf entdeckte Cassie den Fisch, nahm ein großes Stück mit den Fingern aus der Auflaufform und ging zurück zu Golbit, dem sie den Fisch in die Hand drückte. „Ich weiß, es ist kein Pokémonfutter, aber ich will nicht die ganze Küche auf den Kopf stellen.“ Irgendwo hatte Leia sicher Futter für Pokémon, immerhin besaß sie ein Milotic, das sich wohl kaum jeden Tag seine Ration selbst im See fing.

Seufzend ließ sie sich auf dem Sofa nieder und krabbelte wieder unter die warme Decke, während sie Golbit beim Kauen zusah. Leias Haus war so anders als die Häuser, die sie aus Johto kannte. Nicht nur, dass es von außen ein klassisches, altes Fachwerkhaus war, auch hier drinnen wirkte alles viel rustikaler mit vielen Holzmöbeln.

Plötzlich machte sich ein Lichtschein im Erdgeschoss breit und Cassie zog Golbit sofort zurück in den Pokéball. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn hoch und lauschte mit klopfendem Herzen.

„Sie schläft tief und fest“, sprach Leia leise vom oberen Ende der Treppe, die in den ersten Stock führte. In ihrer Hand hielt sie eine Kerze und leuchtete sich den Weg aus, als sie nach unten ging.

Dicht hinter ihr lief ein älterer Mann mit einem weißen Bart. Er hielt sich am Geländer fest und war langsamer als Leia, weshalb sie alle paar Stufen auf ihn wartete.

Unten angekommen führte Leia ihren nächtlichen Besucher zur Haustür. „Du kümmerst dich um alles?“

„Natürlich“, erwiderte der Mann und sein Blick fiel auf Cassie, die gerade noch rechtzeitig die Augen geschlossen hatte, um so zu tun, als würde sie noch immer schlafen. „Es war gut, dass du die Ministerin abgewimmelt hast, ein zweites Mal wird uns das nicht so leicht gelingen, fürchte ich.“

„Wir werden sehen, was sich ergibt“, sprach Leia mit sanfter Stimme. „Bis es soweit ist, sorge ich dafür, dass Cassandra hier bleibt.“

„Unterhalte sie, Leia. Langeweile bringt Torheit und Dummheit.“ Mit diesen Worten verabschiedete der ältere Herr sich von der Bürgermeisterin und trat hinaus in die kalte Luft.

Leia verriegelte die Tür hinter ihm, pustete die Kerze aus und ging in der Dunkelheit die Treppe hoch zurück in ihr Zimmer.

Cassies Herz klopfte noch immer wie wild. Hatte sie das, was sie gehört hatte, richtig verstanden? Sie war verwirrt von den Worten der beiden – und wieso lief dieses Treffen augenscheinlich heimlich ab? Sollte das bedeuten, dass Leia ihr tatsächlich ein Schlafmittel in den Tee gemischt hatte? War sie eine Gefangene hier? Aber weshalb? Sie hatte doch niemandem etwas getan und sie war noch nicht einmal freiwillig hier. Cassie drehte sich auf die Seite, zog die Knie bis an den Bauch an und krallte sich dabei in das Kissen, wobei sie ihre Tränen unterdrückte. Alles, was sie wollte, war doch nur wieder nach Hause zu können.
 

Es hatte nicht lange gedauert, bis Cassie trotz ihrer massiven Aufregung wieder eingeschlafen war, der Tee wirkte noch immer in ihrem Körper nach. Zuerst hatte sie Leia am nächsten Morgen auf ihren Verdacht ansprechen wollen, doch die Frau mit den dunkelroten Haaren benahm sich so freundlich wie eh und je, dass Cassie dieses Vorhaben in ihren Hinterkopf verdrängte. Obwohl irgendetwas nicht stimmte – sie wusste nur nicht, was es war –, war sie auf Leia angewiesen. Zumindest hatte sie es bei der Bürgermeisterin warm und sie bekam Essen und Trinken, während diese gewisse Ministerin nach ihr zu suchen schien.

„Ich hoffe, du hast gut geschlafen“, flötete Leia, während sie einige Eier an der gusseisernen Bratpfanne aufschlug und Spiegeleier machte.

„Wie ein Stein“, erwiderte Cassie und ließ Leia nicht aus den Augen. Für den Anfang wollte sie sich nicht anmerken lassen, dass sie mehr wusste, als sie sollte, trotzdem musste sie sich freundlich und dankbar benehmen, was ihr im Moment etwas schwer fiel. „Ich bin nur einmal kurz aufgewacht, als ich dachte, dass ich Schritte gehört hätte.“

Für einen winzigen Moment hielt Leia inne, dann verfrachtete sie die fertigen Spiegeleier auf zwei Teller, die bereits mit kleinen Tomaten, Gurkenscheiben, Bohnen und Toastbrot belegt waren. „Schritte? Du hast geträumt, hier läuft nachts niemand durch das Haus. Milotic kann nur kriechen, es macht keine Geräusche.“ Mit einem charmanten Lächeln servierte Leia das Frühstück und reichte Cassie einen Krug mit Kakao, aus dem sie sich bereits selbst etwas eingegossen hatte.

Cassie kam zu dem Schluss, dass wohl weder der Kakao noch das Essen vergiftet waren, also langte sie ordentlich zu, denn ihr Magen fühlte sich schon wieder vollkommen leer an.

„Sag, hast du auch eigene Pokémon?“ Neugierig blickte Leia zu ihrem Gast und nahm einen Bissen von ihrem Toastbrot.

„Nein“, meinte Cassandra entschlossen, senkte jedoch den Blick, um nicht beim Lügen erwischt zu werden. Sie hatte sowohl Josephine als auch Lyra versprochen, dass sie sich immer um Golbit kümmern würde und solange sie nicht wusste, was genau Leia im Schilde führte, wusste sie auch nicht, ob Golbit hier sicher war. Man hatte ihr schließlich gesagt, dass Golbit ein seltenes Pokémon war und sie wollte kein Risiko bei diesen Dorfbewohnern eingehen.

„Oh das ist schade“, sprach Leia zwischen zwei weiteren Bissen und einer Tomate. „Pokémon können wundervolle Partner und Beschützer sein. Je nach Saison wimmelt es im See nur so von Barschwa, vielleicht willst du dir eins fangen? Milotic ist ein starkes Wasserpokémon.“

„Danke, ich denke darüber nach.“ Cassie musste an das Streitgespräch mit Lyra denken. Sie hatte Lyra vorgeworfen, dass diese sich Nebulak nur gefangen hatte, um ebenfalls ein Geistpokémon zu besitzen. Im Trotz wollte sie sich deshalb unbedingt ein Mauzi fangen. All das schien so unendlich weit hinter ihr zu liegen, dabei war es doch erst wenige Tage her. „Oh Lyra…“

„Hast du was gesagt?“

„Nein“, erwiderte sie schnell und nahm einen großen Schluck Kakao. „Ich habe nichts gesagt.“

Nach dem Frühstück bot Leia Cassie an, dass diese ihr ein wenig im Garten helfen könnte. „Ich baue den Großteil von meinem Gemüse selbst an und auch die Obstbäume müssen regelmäßig beschnitten und gepflegt werden. Du kannst die Erde umgraben.“ Lächelnd drückte sie Cassie eine Schaufel in die Hand und holte eine große Kiste mit Blumenzwiebeln, die sie vor dem Haus einpflanzen wollte. „Ich komme zwischendurch mal schauen, wie du dich so machst.“

„Alles klar, ich helfe doch gerne.“ Die Ironie in ihrem Ton unterdrückte die Weißhaarige. Eigentlich war sie ja dankbar dafür, dass Leia sie bei sich aufgenommen hatte, obwohl sie sie nicht kannte und auch keine Fragen stellte, woher sie kam. Wieso eigentlich nicht?

Widerwillig machte sie sich also an die Arbeit und grub mit der kleinen Schaufel die Erde um. Leias Garten war riesig, größer als die Fläche, die das Haus einnahm, aber zumindest war der Garten durch große, immergrüne Hecken geschützt, sodass sie niemand sehen konnte. Das war wohl besser so und vermied nervige Fragen. Abgesehen davon schien zumindest der seltsame, alte Mann von letzter Nacht die Wahrheit gesagt zu haben – solange Cassie etwas zu tun hatte, konnte sie sich nicht auf andere Gedanken konzentrieren.
 

Zum Mittagessen rief Leia Cassandra zurück ins Haus. Es gab – wie schon am Vorabend – Fisch, dieses Mal jedoch ein wenig anders zubereitet. „Essen Sie immer so viel Fisch hier?“

„Wir sind ein Fischerdorf, der Fisch ist unser Kapital und wir leben von dem Handel damit. Er ist gesund, also beschwer dich nicht.“ Leia schien sich wirklich ein wenig über Cassies Frage aufzuregen, denn sie verteilte die beiden Portionen unsanft auf den zwei Tellern, von denen sie einen zu Cassie schob.

Cassie stocherte erst einige Sekunden lang in dem überbackenen Fisch herum, dann probierte sie und begann zu essen; es schmeckte ja nicht schlecht. Während sie schweigend an dem Holztisch saßen, überlegte die Jungtrainerin, wie sie mehr Informationen aus Leia herausquetschen konnte ohne zu auffällig zu wirken. „Leia?“

„Hm?“

„Könnte ich mal Ihr Telefon benutzen? Ich würde gerne nach Johto telefonieren, damit meine Freunde wissen, wo ich bin. Sie würden mich bestimmt holen kommen. Nicht dass ich Ihre Gastfreundschaft nicht schätze, aber ich würde gerne so schnell wie möglich nach Hause.“

Leia schaute sie mit einem undefinierbaren Blick an, dann kaute sie weiter und schluckte das Stück in ihrem Mund runter. „Telefon? So etwas gibt es hier nicht. Wir könnten ein Tauboga mit der Botschaft schicken, wenn dir das hilft.“

„Taubogapost, ernsthaft?“ Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen – wo auch immer sie hier gelandet war, die ganze Gegend schien technisch weit hinter den ihr bekannten Regionen zurück zu liegen. „In welcher Region sind wir hier eigentlich? Johto und Kanto wohl kaum. Vielleicht irgendein Randgebiet von Sinnoh oder Hoenn?“

„Nein. Wie gesagt, mach dir keine Sorgen, es wird sich schon alles regeln. Noch ein paar Kartoffeln?“

Murrend nahm Cassie sich einen Nachschlag. In ihr brannten so viele Fragen, dass sie kaum wusste, welche sie zuerst stellen sollte, aber für den Moment wollte sie alles auf eine Karte setzen. „Als ich im Garten war, habe ich zwei Dorfbewohner hinter der Hecke reden gehört. Sie sagten etwas von einer Ministerin, die nach einem Flüchtling sucht. Was genau ist denn da dran? Sind wir in Gefahr?“, log sie gekonnt, mittlerweile fiel es ihr einfacher.

Leia verschluckte sich an ihrem Fisch und stürzte eilig ein Glas Wasser ihren Hals hinunter. „Bei Kyurem, nein!“

Kyurem? Diese Redewendung hatte sie noch nie gehört. Sie wusste nur, dass ein paar ältere Leute aus Ebenholz City gerne „Bei Arceus“ sagten.

Augenblicklich setzte Leia sanfte Gesichtszüge auf und nahm Cassies Hand, um diese ein wenig zu tätscheln. „Liebes, mach dir darüber doch keine Gedanken. Es ist alles in bester Ordnung. Du musst dich verhört haben, wir sind doch nicht in Gefahr!“

„Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich mich nicht verhört habe.“

„Aber so muss es sein. Ich bin die Bürgermeisterin, wüsste ich über eine Gefahr nicht Bescheid?“

Cassandra hielt dem starken Blick stand, dann erhob sie sich. „Danke für das leckere Essen, ich bin jetzt aber satt und mache mich im Garten wieder an die Arbeit.“

„Sicher, viel Spaß.“

Sie schaute nicht zurück, als sie das Haus verließ und wieder in den Garten ging. Leia wollte also nicht, dass sie davon wusste – aber wer genau war diese Ministerin eigentlich? Sie hatte einen gefährlichen Eindruck gemacht und ihr Panzaeron sah sehr stark aus. Im nächsten Moment wurde sie eiskalt von hinten mit einer Ladung Wasser erwischt. „Igitt, kalt!“

Milotic schlängelte sich durch den Garten und warf Cassie einen verachtenden Blick zu.

„Wieso hast du das getan, verdammt!“ In Gedanken fügte sie noch ein paar Beleidigungen für das Wasserpokémon hinzu.

„Ist alles in Ordnung?“ Leia erschien besorgt schauend im Garten. „Du bist ja ganz nass. Komm lieber sofort rein, ich bringe dir ein paar trockene Sachen von mir.“

„Milotic hat das mit Absicht gemacht!“

„Wohl kaum“, sprach Leia und um ihre Mundwinkel bildete sich ein Lächeln. „Ich habe ihm gesagt, dass es den Garten bewässern kann. Du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Na komm, sonst erkältest du dich. Ich mache dir einen Tee.“

Tee? Cassie sträubte sich dagegen noch einmal Tee von Leia anzunehmen, doch im Moment triefte sie vor kaltem Wasser – alles dank Leias Milotic, das ihnen hinterher schaute. Was schadeten schon der Rest des Tages und die Nacht, wenn sie wieder alles verschlief, eine Erkältung konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Resigniert und mit hängenden Schultern wartete sie in der Küche auf Leia, die ihr eine dicke Stoffhose, ein blaues Hemd und ein besticktes Gewand zum Umhängen brachte.

„Zieh dich oben im Badezimmer um, derweil koche ich dir einen schönen Tee.“

„Alles klar.“ Cassie nahm die Sachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie zurück kam, stand die Tasse bereits auf dem Tisch und unter Leias wachsamen Blick trank sie alles bis auf den letzten Tropfen aus. Es war doch nur ein Tag, der ihr verlorenging. Sie würde schon noch ihre Antworten bekommen – oder nicht?

Fluchtgedanken

Das Licht der Öllampe blendete Cassandra, als sie sich zur Seite drehte und müde in Leias Richtung blinzelte. Ihr Kopf brummte und sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Im Moment war es einfach nur schön hier zu liegen und nichts zu tun, alles andere kam ihr wie eine Welt aus Watte vor, die vollkommen nebensächlich geworden war.

„Geht es dir besser, Cassandra?“ Leia setzte sich an die Kante des Sofas und servierte Tee und Muffins auf einem Tablett. „Iss etwas und trink deinen Tee.“

„Mache ich“, murmelte Cassie dankbar, nahm einen großen Schluck des gesüßten Tees und biss in einen Erdbeermuffin. Danach legte sie sich wieder hin, schloss die Augen und driftete ab ins Traumreich.
 

Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie. Ihr Blick traf ein letztes Mal eine Gruppe von fünf Personen, die wie riesige Gestalten gesichtslos vor ihr standen.
 

Cassie riss die Augen auf. Ihr Herz raste, als wäre dieser Traum viel zu nah an der Realität gewesen. Noch nie hatte sie ihren Alptraum weiter erlebt als bis zu dem Punkt, an dem sie zu schreien begonnen hatte. Nie. Doch jetzt wusste sie nicht, ob diese fünf Personen zu ihrem Traum gehörten oder nicht, es war so wahnsinnig verwirrend.

„Golb…“

Sie schaute neben sich, wo Golbit auf dem Boden saß und hungrig zu ihr starrte. In diesem Augenblick dämmerte es ihr und zum ersten Mal seit Tagen hatte sie einen halbwegs klaren Kopf, was wohl an dem Adrenalin liegen musste, das ihr Alptraum freigesetzt hatte. Wann hatte sie ihrem Pokémon das letzte Mal etwas zu fressen gegeben? „Es tut mir so leid, Golbit.“ Die junge Trainerin drückte ihr Pokémon versöhnlich und reichte ihm die beiden Erdbeermuffins von ihrem Tablett, von denen sie am Abend nur einen Bissen gekostet hatte.

Ihr Blick wanderte durch das dunkle Zimmer bis zum Fenster, durch das nicht wie sonst Mondlicht drang. „Neumond, mein Traum… Golbit, ich kann Leia nicht vertrauen. Sie gibt mir ständig ihre seltsamen Tees, aber was soll ich dagegen tun?“ Eine Antwort erhielt sie natürlich nicht, aber es beruhigte sie, dass sie dem Bodenpokémon beim Fressen zusehen konnte. Als Golbit fertig war und noch immer hungrig wirkte, stand sie auf und wankte auf wackeligen Beinen rüber in die Küche. Schnell fand sie eine Schale, die sie mit Wasser füllte. Von dem Backblech mit den Muffins nahm sie noch zwei weitere, dieses Mal Blaubeermuffins, einen für Golbit und einen für sich.

Schweigend saßen sie wieder nebeneinander auf und neben dem Sofa und aßen. Der Blaubeermuffin schmeckte köstlich, Leia war eine sehr gute Köchin. Dennoch fühlte Cassie sich hier von Sekunde zu Sekunde unwohler und begann zu begreifen, dass sie den Überblick darüber verloren hatte, wie lange sie schon hier war. Drei Tage? Vier? Oder schon eine ganze Woche? Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, aber die letzten Tage waren nur eine verschwommene, graue Masse in ihrer Erinnerung. Stattdessen wurde ihr immer bewusster, dass sie hier weg musste. Sie war Leias Gefangene.
 

„Und hast du gut geschlafen?“, fragte Leia am nächsten Morgen mit einer säuselnden Stimme, während sie am Herd stand und Eier für ein Omelett machte. „Zum Glück geht es mit deiner Erkältung bergauf, so ein Pech aber auch, dass Milotic dich beim Wässern des Gartens mit seinem Wasser erwischt hat. Möchtest du noch einen Tee?“

„Nein danke, ich habe nur Hunger, keinen Durst“, log Cassie. Früher war es ihr immer schwer gefallen zu lügen, aber mittlerweile hatte sie es als eine Notwendigkeit anerkannt. Die Wahrheit war, dass sie pausenlos durstig war, weil sie viel zu wenig trank, obwohl sie immer Leias Tees vorgesetzt bekam.

„Oh du solltest aber etwas trinken, das ist gesund und du willst doch wieder fit werden?“ Leia lächelte sie an und kam bereits mit einer frisch aufgebrühten Tasse Tee zu Cassie. „Ich habe ihn mit Honig gesüßt. Trink ihn aus, bis das Omelett fertig ist.“

Cassandra starrte auf die Tasse auf dem Couchtisch. Sie wollte diesen Tee nicht trinken, würde sie es aber nicht tun, würde Leia merken, dass etwas nicht stimmte und dass sie ihr misstraute. „Gut, mache ich. Ich muss nur erst auf Toilette, bin gleich wieder da.“

„Sehr schön. Ich warte mit dem Essen auf dich.“

Cassie rang sich ein Lächeln ab, schlug die Decke zur Seite und ging die Treppe hoch ins Obergeschoss, wo auch das Badezimmer lag. Sie hatte nur wenige Minuten, in denen Leia unten noch beschäftigt war, reichte das, um Leias Zimmer nach irgendwelchen Hinweisen – worauf auch immer – zu durchsuchen? Vermutlich nicht, wie sie resigniert feststellte, weshalb sie sich von Leias Zimmertür abwandte und ins Badezimmer ging. Nachdem sie auf Toilette gewesen war und sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, putzte sie sich noch die Zähne und ging zurück nach unten.

Leia war bereits mit dem Kochen fertig und deutete auf den Platz gegenüber, wo auch schon der Tee auf Cassie wartete. „Guten Appetit. Vergiss den Tee nicht.“

„Danke, dir auch einen guten Appetit.“ Sie nahm einen Bissen von dem Frühstück und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit Leia von dem Tee abzulenken. „Schmeckt wirklich gut.“

„Schön, das freut mich.“ Die Bürgermeisterin ließ ihren Schützling keine Sekunde aus den Augen, was bei Cassandra eine Gänsehaut verursachte. „Ich habe nachher noch ein Treffen mit einigen Leuten aus dem Dorf, wir werden erst später zu Mittag essen können.“

Die Weißhaarige tat so, als würde sie an dem Tee nippen, vermied jedoch tatsächlich auch nur einen Tropfen zu sich zu nehmen. Das schien Leia soweit zu beruhigen, dass auch sie zu essen begann. „Ein Treffen, das klingt interessant. Was muss dort besprochen werden?“

„So dies und das, langweiliges Zeug. Möchtest du noch ein wenig Gemüse für dein Omelett?“

„Gerne.“ Mit einem engelsgleichen und vollkommen unschuldigen Lächeln reichte Cassie Leia ihren Teller und wartete auf den Moment, in dem Leia ihr den Rücken zuwandte, um zum Herd zu gehen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, in denen Cassie die Tasse genommen und auf einen Schlag die Hälfte des Inhalts in die Topfpflanze neben sich gegossen hatte. Gerade rechtzeitig führte sie die Tasse zum Mund. „Der Tee schmeckt auch gut, was ist das für eine Mischung?“

„Nur ein paar Kräuter für deine Erkältung, Liebes. Bitte, dein Gemüse.“

Schweigend aßen die beiden fertig und letzten Endes blieb Cassie nichts anderes übrig als die halbe Tasse Tee zu trinken, doch sie hoffte einfach, dass die Wirkung nicht so stark sein würde wie bei einer vollen Tasse.

Leia räumte das Geschirr ab und stellte es ins Spülbecken. „Ich mache nur noch ein paar Dinge fertig und dann muss ich auch schon los, du kannst dich weiter ausruhen und nachher koche ich uns einen leckeren Kartoffelauflauf.“

„Klingt gut. Danke für deine Gastfreundschaft, Leia.“

„Gerne doch. Ich bin froh, wenn ich meinen Mitmenschen helfen kann.“

„Das sehe ich.“ Für einen winzigen Augenblick lag so eine Spannung in der Luft, dass Cassandra befürchtete, dass Leia hinter ihr kleines Geheimnis kam. Doch die Bürgermeisterin drehte sich weg und Cassie legte sich zurück aufs Sofa, wo sie auch schon mit der aufkeimenden Müdigkeit zu kämpfen hatte. Es musste einfach klappen, dass sie früh genug aufwachte. Eine andere Möglichkeit hatte sie nicht und es würde ihr nicht oft gelingen Leia zu täuschen.
 

Es war vollkommen still im Haus, Leia war bereits gegangen. Cassandra fühlte sich nicht so beschwert wie sonst, auch war sie sofort klar im Kopf, als sie sich aufsetzte und über die Augen rieb. Ihr kleiner Trick hatte funktioniert, doch wie viel Zeit blieb ihr nun? War Milotic auch fort? Mucksmäuschenstill lauschte sie, doch wie schon vorher bemerkt blieb es ruhig. Vorsichtig stand sie auf, durchsuchte das Erdgeschoss nach Milotic. Ein kurzer Seitenblick zur Standuhr verriet ihr, dass es kurz nach elf Uhr war, sie hatte also etwas mehr als eine Stunde, bis Leia zurückkommen würde. Diese Zeitspanne musste einfach ausreichen, um das zu erledigen, was sie vorhatte.

Cassie schlich sich nach oben, noch immer besorgt, dass das Wasserpokémon sie überraschen könnte, doch auch oben war keine Spur von der Seeschlange. Erst jetzt entspannte sie sich etwas und öffnete die Tür zu Leias Zimmer. Sie trat ein, schaute sich in dem aufgeräumten Raum um und überlegte kurz, ob sie Golbit für ein bisschen Bewegung aus dem Pokéball entlassen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Ihr Pokémon würde vermutlich nur Unordnung anrichten, dabei sollte Leia nie erfahren, dass sie ihre Sachen durchwühlte. Wo fing man bei so einer Durchsuchung überhaupt an?

Zuerst nahm Cassandra sich den Kleiderschrank vor. Sie schob die Tür zur Seite, konnte aber nur Kleidung finden und ein paar Schuhe und Socken, also schob sie die Tür wieder zu und ging zum Schreibtisch. Einige Blätter lagen dort lose herum, andere waren in dicken Mappen mit Ledereinband verstaut. Nach was genau sie suchte, wusste sie nicht, aber sie war fest davon überzeugt, dass Leia ein paar sprichwörtliche Leichen im Keller haben musste. Doch obwohl sie so fest davon überzeugt war, konnte sie die ersten zwanzig Minuten nichts Verdächtiges finden; die Zeit rannte ihr davon.

Gerade wollte sie schon aufgeben, als ihr Blick auf ein kleines Foto fiel, das zwischen den ganzen Blättern unterging. Zu sehen waren drei Männer und zwei Frauen mittleren Alters, die mit ihren Pokémon auf einer Wiese saßen und picknickten. Alles wirkte so harmonisch und ruhig, bis Cassie genauer hinschaute und die verbitterten Gesichtsausdrücke erkannte. Drei der Personen hatten dem Fotografen den Rücken zugewandt und von den beiden anderen kam ihr der Mann sogar recht bekannt vor. Wenn sie sich nicht irrte, war das der alte Besucher kurz nach ihrem Eintreffen, den Leia mitten in der Nacht empfangen hatte. Er sah bestimmt dreißig Jahre jünger aus. Vielleicht gehörte er ja zu Leias Familie oder war ein guter Bekannter.

Cassie legte das Gruppenfoto weg, streckte ihren verspannten Nacken und suchte weiter vorsichtig in den Unterlagen, bis ihr das zu langweilig wurde. Stattdessen trat sie ans Fenster und blickte hinaus auf das Fischerdorf. Siebzehn Häuser konnte sie zählen, eine sehr kleine, beschauliche Gemeinde also. Bisher hatte sie mitbekommen, dass die meisten Familien vom Handel mit größeren Gemeinden lebten. Fischfang sicherte natürlich das Haupteinkommen, aber manche Familien hatten sich auch dem Anbau von Obst verschrieben, dafür gab es etwas außerhalb des Dorfes kleine Obstplantagen. Viele bauten auch im eigenen Garten Gemüse und Obst an, Leia beispielsweise erntete jedes Jahr ihre eigenen Erdbeeren und besaß auf der Plantage ihrer Familie zwei Birnbäume, um die sie sich kümmerte. Viel erzählte die rothaarige Bürgermeisterin jedoch nicht von ihrem Privatleben. Cassie hatte die wenigen Infos eher nebenbei mitbekommen und wusste auch, dass Leias Verlobter momentan für einige Monate in einer weiter entfernten Stadt arbeitete.

Sie trat vom Fenster weg und ging rüber ins Badezimmer, wo ihre schon längst getrockneten Sachen lagen. In den letzten Tagen war es draußen wärmer geworden, der Schnee war geschmolzen und das Eis getaut, es setzte auch hier der Frühling ein. Sie nahm ihre Sachen und brachte sie runter zum Sofa, unter dessen Decke sie ihre kanariengelbe Regenjacke zusammen mit ihrer Hose und ihrem Oberteil versteckte. Anschließend ging sie wieder nach oben.

Es war bereits kurz vor zwölf und Leia würde bald nach Hause kommen, weshalb Cassie die Ordnung auf dem Schreibtisch so gut es ging wieder herstellte. Die Lederakten legte sie auf einen Stapel auf der linken Seite, die losen Blätter drehte sie so, wie sie vorher auch lagen. Gerade hatte sie den letzten Stapel Blätter in der Hand.

„Cassandra, was tust du da!“, ertönte Leias Stimme direkt hinter ihr aus dem Türrahmen.

Noch nie in ihrem Leben hatte die Jungtrainerin sich so erschreckt. Sie wirbelte mit angstgeweiteten Augen herum, ließ die Blätter fallen und konnte nur zusehen, wie sie zu Boden fielen.

In Leias Augen funkelte Zorn, als sie zwei Schritte auf Cassie zuging. „Du durchsuchst meine Sachen? Was fällt dir ein!“

Eine Rechtfertigung kam Cassie gar nicht erst über die Lippen, sie war wie erstarrt und blickte runter auf die Blätter, die zwischen ihnen lagen. Auch das Gruppenfoto lag dort, doch daneben noch ein zweites Bild, das Cassandra augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dort lag ein Foto von Lyra und ihr aus der Nacht, in der sie Golbits Ei gefunden hatten.

Zerstörung

Leia und Cassandra starrten sich an und wirkten beide gleichermaßen erschrocken, nur dass sich Leia schneller fing und alle Unterlagen samt Fotos zügig zusammensuchte.

„Das war ein Foto von Lyra und mir“, begann Cassie schließlich und stammelte vor sich hin. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie dort gesehen hatte, doch allmählich dämmerte es ihr, dass es vielleicht nie ein Zufall gewesen war, dass sie in der Höhle aufgewacht und zu Leia gelangt war. „Verdammt, woher ist das Foto! Wir waren in jener Nacht alleine im Regen unterwegs, niemand war dort, außer…“ Schlagartig erinnerte sie sich daran, wie sie für einen kurzen Moment einen Mann zu sehen geglaubt hatte. Alleine der Gedanke daran, dass sie wirklich nicht alleine im weitläufigen Garten des Waisenhauses unterwegs gewesen waren, verursachte bei ihr Übelkeit. Leia wusste also viel mehr, als sie ihr gegenüber zugegeben hatte. Wütend machte Cassie einen Schritt nach vorne und in ihren saphirblauen Augen funkelte etwas Bedrohliches. „Die Spielchen sind vorbei, Leia! Ich will zurück nach Hause, sofort! Und ich verlange eine Erklärung für Ihr Verhalten, wieso halten Sie mich wie eine Gefangene, was soll das alles?“

„Cassandra, du musst ruhig bleiben.“

„Ruhig?“ Sie spie das Wort aus wie ein aufgebrachter Drache. „Oh nein, ich muss hier gar nichts mehr! Sie haben mich die ganze Zeit über angelogen und sagen mir nicht einmal, wo genau ich hier eigentlich bin und was los ist. Ich will doch nur zurück nach Hause…“ Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie das St. Josephines und vor allem Lyra vermisste. Ihre beste Freundin war die vergangenen Jahre so gut wie jeden Tag an ihrer Seite gewesen und sie hatten schon so viel miteinander erlebt, mit Sicherheit machte Lyra sich ganz schreckliche Sorgen um sie.

„Du wirst tun, was ich dir sage, Cassandra. Hör auf dich so aufzuregen, es hat schon alles seinen Sinn.“

„Ich kann aber keinen Sinn darin erkennen.“ Jetzt reichte es der Jungtrainerin. Sie wollte sich an Leia vorbeidrängen, doch in diesem Moment baute sich Milotic mit einer Drohgebärde im Türrahmen auf und versperrte Cassie den Fluchtweg. Ihre Augen weiteten sich für einen Augenblick, dann wich sie zurück zum Regal neben dem Schreibtisch. Leia und Milotic wollten sie nicht fortgehen lassen und Golbit konnte nicht gegen das Wasserpokémon kämpfen. Hinter ihrem Rücken versuchte sie mit den Händen irgendetwas zu finden, das schwer genug war, um Leia damit abzulenken ohne sie ernsthaft zu verletzen. Sie griff einen rundlichen, flachen Gegenstand und führte ihre freie Hand zu Golbits Pokéball in ihrer Hosentasche.

„Tu nichts Unüberlegtes. Versteh doch, ich habe alles nur zu deinem Besten getan. Natürlich hast du viele Fragen, das verstehe ich, aber ich kann dir keine Antworten geben, so leid es mir tut.“

„Ich denke, ich weiß selbst, was für mich das Beste ist“, fauchte Cassie und entließ Golbit aus seinem Pokéball, während sie die Scheibe auf Leia warf.

Milotic hatte jedoch eine schnelle Reaktion und wehrte die Scheibe mit seinem Schwanz ab, sodass sie direkt gegen Golbit knallte. Das Bodenpokémon rieb sich den Bauch und spielte mit der Scheibe rum, anstatt irgendetwas gegen Leia oder Milotic zu unternehmen.

Cassie atmete tief durch. „Lassen Sie mich sofort gehen.“

„Das geht nicht.“ Leias Blick glitt zu Golbit; sie schien nicht einmal überrascht von dem Pokémon zu sein, obwohl Cassie ihr gegenüber gesagt hatte, dass sie kein eigenes Pokémon besaß. „Milotic, nimm Golbit die TM ab.“

TM? Cassandra schaute zu ihrem Pokémon, das mit der Technischen Maschine spielte und gerade darauf herum kaute, wodurch sie erheblich beschädigt wurde. Sollte die Zeit trotzdem gereicht haben, dass es die Attacke der TM erlernt hatte? Doch nicht jedes Pokémon konnte bestimmte TMs lernen. Zerknirscht musste Cassie zusehen, wie Golbit ihr keine große Hilfe war. Es gab die angesabberte und mittlerweile kaputte TM freiwillig an Milotic ab, das die Scheibe über den Boden wischte und finster zu dem anderen Pokémon starrte.

Währenddessen ging Leia rüber zu Cassie, legte die Papiere auf dem Schreibtisch ab und packte die Jüngere grob am Arm, um sie die Treppe runter ins Erdgeschoss zu schleifen. Milotic eskortierte Golbit.

„Lassen Sie mich sofort los!“ Doch Cassie konnte sich nicht gegen Leia wehren, die einen ungewöhnlich starken Griff hatte und mit eiserner Klaue zupackte. Verzweifelt schaute Cassie sich um, wobei sie lediglich das Sofa entdeckte, unter dessen Decke noch ihre Kleidung lag. Sie wollte hier unbedingt weg, sofort und auf der Stelle. „Golbit, greif an!“

„Du glaubst doch nicht, dass dein Pokémon stärker als mein Milotic ist?“

Aber Golbit hatte genau verstanden, was seine Trainerin wollte. Es sprang auf, in seinen Augen funkelte der Kampfgeist und es griff Leia mit einer Finsterfaust an.

Die Bürgermeisterin schrie auf und taumelte benommen nach hinten, was Cassandra die Chance gab sich loszureißen und schnell ihre Sachen und ihre Schuhe vom Sofa zu holen. „Golbit, komm schnell!“ Dicht gefolgt von ihrem Pokémon stieß sie die Haustür auf und rannte hinaus ins Freie. An einer Eiche hielt sie für einen Moment an und schlüpfte in ihre Schuhe, während sie die gelbe Regenjacke überzog und ihre Hose und das Oberteil festhielt. „Hier entlang!“ Natürlich wusste sie nicht, wohin sie rannte, aber Golbit folgte ihr treu und die beiden durchquerten das kleine Dorf.

Einige Dorfbewohner schauten den beiden Fremden nach, bis Leia „Haltet sie auf!“ schrie und ein paar sich in Bewegung setzten, um ihrer Bürgermeisterin zur Hilfe zu eilen. Allen voran stellte sich am Ende des Dorfes der alte Mann von dem Gruppenfoto in Cassies Weg und aus einem Aprikokoball entließ er ein Nidoking. „Bleib stehen, Cassandra!“

„Großvater, du musst sie aufhalten!“, rief Leia weiter hinter ihr. Sie humpelte, kam jedoch mit Milotic an ihrer Seite und unterstützt von ein paar Dorfbewohnern immer näher. „Sie darf nicht entkommen!“

Der alte Mann hatte eine Weisheit in seinen Augen, die Cassie für einen Moment ruhig innehalten ließ. Er wirkte um einiges vernünftiger als die meisten Menschen, denen sie in ihrem bisherigen Leben begegnet war. „Cassandra, mein Name ist Yegor und es ist sehr wichtig, dass du meiner Enkelin und mir vertraust. Wir wollen dir nichts tun. Hier bei uns bist du in Sicherheit.“

Cassie zögerte, aber je näher Leia ihr kam, desto unruhiger wurden sowohl Golbit als auch sie. „Ich vertraue Ihnen aber nicht. Hier wird irgendetwas gespielt, was mir gar nicht gefällt. Ich bin niemandes Gefangene, verstanden?“

„Wir haben immer nur alles zu deinem Wohl gemacht.“

Für einen Moment fragte sie sich, wen er mit seinem Wir meinte, doch sie schüttelte den Gedanken ab. Für den Augenblick wusste sie einfach nur, dass sie nicht zurück in Leias Haus wollte. Keine zehn Zebritz bekamen sie dort wieder rein. „Haben Sie das Foto von Lyra und mir gemacht?“

Eigentlich hatte Cassie erwartet, dass der Mann sie fragte, wer Lyra war, doch stattdessen schüttelte er den Kopf. „Nein.“ Sein Blick ging kurz zu Leia, die endlich stehen geblieben war. „Und du hättest das Foto niemals finden dürfen.“ Obwohl der Satz an Cassie gerichtet war, war er ein Seitenhieb gegen die junge Bürgermeisterin. „Hör mir bitte zu, Cassandra. Alles, was dir passiert ist, bedeutet so viel mehr als du ahnst. Ich…“ Er brach ab und auf seinem Gesicht machte sich Angst breit, während er in den Himmel schaute.

Einige andere Dorfbewohner samt Leia folgten seinem Blick, bis seine Enkelin einen aufgebrachten Laut von sich gab beim Anblick des schnell näherkommenden Panzaeron mit seiner Reiterin.

Cassie erkannte die Reiterin an ihrer blaugrünen Rüstung, die die Farbe von Golbits Körper hatte. Die Ministerin flog auf ihrem Panzaeron heran, doch sie kam nicht alleine, denn zwei weitere Reiter begleiteten sie, hinter ihnen etwa zwei Dutzend Washakwil, die kampflustige Schreie von sich gaben.

„Oh nein, Kyurem steh uns bei…“ Leia starrte in den Himmel.

„Du musst sofort dein Golbit verstecken!“, bellte der alte Mann. „Mit etwas Glück haben sie es noch nicht gesehen.“

„Aber sie haben sie gesehen!“, klagte Leia und sie verfiel in eine ähnliche Panik wie die restlichen Dorfbewohner, die ihre Kinder in die Häuser brachten und aufgebracht zwischen den Häusern umherliefen. „Was sollen wir tun, sie werden uns angreifen!“

Cassandra spürte nun ebenfalls Angst in sich aufsteigen und sie zog Golbit zurück in seinen Pokéball, den sie in ihre Jackentasche zu ihrer Hälfte der chromoxidgrünen Steinplatte steckte. „Was ist mit dieser Ministerin, wieso greift sie an?“

„Wir haben sie angelogen, wir haben eine Ministerin vorsätzlich belogen und nun wird sie unser Dorf vernichten!“ Leia humpelte umher, fuhr sich durch die Haare und wimmerte, als die drei Reiter mit ihren Panzaeron auf dem Dorfplatz landeten.

Leias Großvater stellte sich gemeinsam mit seinem Nidoking vor Cassie. „Wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann rennst du in diese Richtung von unserem Dorf fort. Es ist existenziell wichtig, dass sie dich nicht kriegen, hörst du?“

„O-okay…“

„Na sieh mal einer an, die Bürgermeisterin höchstpersönlich“, spuckte die Ministerin aus und ihre stechenden Augen hafteten auf dem alten Mann, dessen Nidoking das Einzige war, was die Sicht auf Cassie versperrte, die das Gespräch nur mithören konnte.

„Ministerin Sofia, welche Ehre“, stammelte Leia. „Was kann ich für Sie tun?“

„Bei meinem letzten Besuch hatte ich eigentlich den Eindruck gewonnen, dass Sie wissen, was gut für Ihr Dorf ist, Leia. Wie lauteten Ihre Worte doch gleich? Jeder weiß, dass der königlichen Familie und der königlichen Garde Treue und Wahrheit zu schwören sind. Mit der Wahrheit und der Treue Prinz Melik gegenüber scheinen Sie und Ihr erbärmliches Fischerdorf es jedoch nicht so genau zu nehmen, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Leia schluckte schwer und die vielen Washakwil, die über dem Dorf kreisten und nur auf den kleinsten Befehl zum Angriff warteten, verängstigten sie zutiefst.

Die Ministerin schien sich eine andere Antwort erhofft zu haben, denn sie knirschte mit den Zähnen und stieg zurück auf den Rücken ihres Panzaeron. „Entweder Sie liefern uns die Flüchtige augenblicklich aus oder ich muss meiner Forderung noch ein wenig Nachdruck verleihen. Es ist Ihre Entscheidung, Leia. Das Schicksal Ihres Dorfes liegt einzig und alleine in Ihren Händen.“

Sie schaute ängstlich zu ihrem Großvater, der sich noch immer mutig an die Seite seines Nidoking stellte. „Wir haben Ihnen nichts zu geben, Ministerin.“

„Dann soll es so sein.“ Auf ihren Befehl hin erhoben sich die beiden anderen Reiter gemeinsam mit ihr in die Luft. Die Panzaeron schraubten sich mit ihrem Flug ein Stück in die Höhe, während die Washakwil sich auf die Dächer der Häuser stürzten. Binnen Sekunden verwandelte sich das idyllische Fischerdorf in einen Schauplatz des Gefechts.

Menschen schrien und liefen unkoordiniert durcheinander. Einige eilten zu ihren Booten, um auf dem See Schutz zu suchen, doch ein paar der Flugpokémon machten kurzen Prozess mit den kleinen Holzbooten. Ihre scharfen, kräftigen Krallen Rissen ganze Planken heraus, so wie auch die Dächer spielend leicht zerfetzt wurden. Holzsplitter flogen durch die Gegend, Chaos brach aus und mitten drin Cassie und Leias Großvater, der sie zum Rand des Dorfes führte.

„Oh Gott, wieso tun sie das!“, schrie Cassie und klammerte sich an den alten Mann, der sie ein paar Mal hart schüttelte.

„Du musst jetzt laufen, hast du das verstanden? Verschwinde von hier, lauf so schnell du kannst und schau nicht zurück. Hiermit werden wir fertig und Nidoking kann die Ministerin ein wenig in Schach halten. Du musst jetzt fort von hier, also lauf!“

Gerade setzte Cassie sich in Bewegung, als schräg über ihr die Stimme der Ministerin erklang. „Hier ist sie, folgt mir!“

Ihr Atem brannte in ihrem Hals beim Luftholen, sie war noch nie eine besonders gute Sportlerin gewesen, doch der Schock und die Angst sorgten dafür, dass ihr Körper mit genügend Adrenalin versorgt war, um Höchstleistungen zu erbringen. Ohne sich umzuschauen rannte sie vom Dorf weg am See entlang, weiter hinter ihr erklang Nidokings Kampfschrei, als es versuchte die Panzaeron samt Reiter vom Himmel zu holen. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, gleichzeitig jedoch leer und leicht. Wieso hatte es die Ministerin ausgerechnet auf sie abgesehen? Was hatte es mit dem Foto von Lyra und ihr auf sich? Von was für einem Prinzen war hier die Rede gewesen? Sie rannte immer weiter und weiter, ihre Beine schienen sich verselbstständigt zu haben und trugen sie schon bald vom Wasser fort auf die Obstplantagen der Dorfbewohner zu.

Nur wenige Meter neben ihr prallte die Luftklinge der Attacke Luftschnitt auf einen Orangenbaum, dessen Stamm augenblicklich zerfetzt wurde und zur Seite krachte.

Cassie schrie auf und musste zur Seite springen, um nicht selbst getroffen zu werden. Mit Todesangst in den Augen drehte sie sich um und kroch mit dem Rücken gegen einen anderen Baum.

Irgendwie musste die Ministerin sich von Nidoking befreit haben, denn sie landete nun mit ihrem Panzaeron vor der weißhaarigen Jungtrainerin. „Glaubst du wirklich, dass du mir entkommen könntest, Cassandra?“

Obwohl Cassie wusste, dass sie keine Chance hatte, stand sie auf und rannte erneut los, fort von dieser grausamen Frau.

„Oh bitte, das meinst du nicht ernst. Panzaeron, los.“

Das Stahlpokémon sprang in die Luft, segelte auf Cassie zu und pinnte sie mühelos mit seinen Klauen an den Boden.

Langsam trat die Ministerin näher. „Wir können es einfach oder kompliziert machen, Cassandra, das liegt an dir. Entweder du ergibst dich und kommst mit mir mit oder wir spielen solange weiter, bis meine Washakwil-Armee im Dorf keinen Stein mehr auf dem anderen lässt.“

Sie wusste, dass die Worte der Frau der Wahrheit entsprachen. In ihren Augen lag so eine grausame Kälte, die Cassie keine Sekunde zweifeln ließ, dass sie kurzen Prozess mit Leias und Yegors Dorf machen würde und obwohl sie Leia verachtete für die vielen Lügen und ihr Verhalten, konnte sie diese Menschen nicht noch schlimmer verletzen und bestrafen lassen. „Also gut, ich komme mit“, sprach sie mit kratziger Stimme.

Panzaeron ließ sie aufstehen und die Ministerin zerrte Cassie auf den Rücken ihres Pokémon, sie selbst nahm direkt dahinter Platz, dann erhoben sie sich auch schon in die Luft. Unter ihnen glitten die Haine der Plantagen dahin, bis sie wieder das Dorf erreichten, in dem die Zerstörung wütete. Die Ministerin gab einen kurzen Befehl, dann brachen die Pokémon ihren Angriff ab und auch die beiden anderen Reiter gesellten sich links und rechts neben sie.

Cassie war noch immer verwirrt und furchtbar verängstigt, als sie die Dorfbewohner in ihren Verstecken sah. Yegor schaute sie beim Vorbeifliegen mit einer Intensität an, als hätte sie etwas Unverzeihliches getan, indem sie sich der Ministerin ergeben hatte. Doch was hätte sie tun sollen? Mit hängenden Schultern blieb ihr nichts Anderes übrig als der Ungewissheit entgegen zu fliegen.

Kristallpalast

Schwerfällig blinzelte Cassie gegen die Müdigkeit an. Es war Abend, die Sonne stand dicht über dem Horizont und verfärbte die Wolken in hellen Rosatönen. Sie mussten eine gute Stunde geflogen sein und machten nun eine Pause auf einem kleinen Plateau mitten auf der Bergkette, die sie überflogen. Sie fühlte sich aufgekratzt und erschöpft, belebt und abgestorben zugleich. Golbits Pokéball wog so schwer in ihrer Tasche, doch Yegors verzweifelter Anblick ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte nicht gewollte, dass die Ministerin von Golbit erfuhr, deshalb versuchte Cassandra gar nicht erst mit Hilfe ihres Pokémon zu entkommen. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt.

„Wir müssen weiter, Prinz Melik erwartet uns bereits.“ Die Ministerin trat auf Cassandra zu, zerrte sie auf die Beine und zu ihrem Panzaeron, das ruhig stehen blieb, bis beide auf seinem Rücken saßen. Für einen Moment starrte sie auf das Mädchen nieder, dann nickte sie ihren beiden Begleitern zu und sie erhoben sich gleichzeitig in die Luft, als hätten sie dieses Manöver schon hunderte Male geprobt.

Cassie atmete tief durch und krallte sich wie schon zuvor an Panzaerons glatter Haut fest, was mehr schlecht als recht funktionierte, sodass sie wirklich froh war, dass die Ministerin sie die ganze Zeit mit einer Hand am Rücken festhielt.

„Wir sind fast da. Schau, dort.“

Sie folgte mit halb zusammengekniffenen Augen – der Flugwind brannte in ihrem Gesicht und erschwerte ihr das Atmen – dem Fingerzeig der Ministerin, dann riss sie die Augen jedoch ganz auf.

Vor ihnen erstreckte sich ein Stück vom Fuße der Bergkette entfernt das Meer, so weit und ruhig und wunderschön im Sonnenuntergang. Das Land schien in wuchtigen, steilen Klippen direkt aus dem Meer gerissen zu sein und auf dem höchsten Punkt der Klippen ragte ein Palast empor. Das Sonnenlicht tauchte alles in einen lilafarbenen Schein, reflektierte, spiegelte und ließ das Schloss in einem Licht erstrahlen, als würde es von innen heraus leuchten.

Cassandra konnte ihren Blick nicht davon abwenden, obgleich ihr das Schloss Angst einjagte, je näher sie kamen und desto größer es wurde. Schließlich landeten die drei Panzaeron auf einer Art ausladendem Balkon an der Seite des Schlosses. Direkt unter ihnen befanden sich die Klippen, man konnte sogar bis hier oben das Meeresrauschen hören. „Das ist wunderschön!“

Die Ministerin schmunzelte leicht, doch sofort kehrte ihre kalte Miene zurück. „Komm, man wartet auf uns.“ Sie packte Cassandra am Arm und winkte den beiden Männern zu. „Ihr könnt gehen.“ Dann trat sie gemeinsam mit Cassie durch einen gläsernen Torbogen ins Innere des Schlosses ein. Sie standen in einem kreisrunden Saal, in dessen Mitte sich ein ebenfalls runder Tisch befand, der dieselbe türkisfarbene Oberfläche hatte wie das gesamte Schloss, von den Kristallflächen einmal abgesehen. „Polierter Lapislazuli aus den königlichen Minen“, erklärte die Ministerin ihr, schenkte dem Raum jedoch keine weitere Beachtung, sondern ging mit unverändert zügigen Schritten weiter.

Sie gelangten in einen breiten Flur mit Rundbögen wie in einer Galerie. Cassie konnte nur einen kurzen Blick über die Brüstung in die Tiefe erhaschen, erkannte jedoch einen Springbrunnen mitten im Zentrum des Saals dort unten. Abrupt wurde sie zum Stehen gebracht, als auch die Frau neben ihr anhielt und an eine große Tür klopfte, die – natürlich – ebenfalls aus Lapislazuli gefertigt war. Mittig war ein kunstvolles Wappen eingeschnitzt. Die Farbe des Schlosses erinnerte sie ein wenig an Golbit oder die Rüstung der Ministerin.

Ein Mann in derselben Rüstung öffnete ihnen nun von innen die Tür und grüßte die Ministerin mit einem leichten Kopfnicken, ehe er wortlos den Raum verließ.

„Eure Majestät, ich bringe Euch die Flüchtige, wie Ihr es mir aufgetragen habt.“ Sie führte Cassandra über den steinernen Boden bis zu einem türkisfarbenen Thron, der auf einem Podest stand und das Herz des ganzen Raums darstellte. Sobald sie vor dem Thron stand, machte sie eine Verbeugung und verharrte in dieser Position, bis ein Mann hinter dem Thron hervorkam. Er schien aus den wandhohen Fenstern geschaut zu haben.

„Ausgezeichnete Arbeit, Ministerin Katleen. Der nächste Auftrag wartet bereits; besprechen Sie die Details mit Minister Eyvan.“

„Natürlich, Eure Majestät.“ Erneut verbeugte sie sich, dann ließ sie Cassandra los und verließ ohne sich noch einmal umzuschauen den Raum.

Cassandra schluckte schwer, während sie ihre Augen gegen das blendende Licht des Sonnenuntergangs abschirmte. Sie konnte den Prinzen nicht einmal richtig erkennen, nur seine Umrisse zeichneten sich gegen das Licht ab, das mit jeder Sekunde abzunehmen schien, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Cassie schaute einem jungen Mann ins Gesicht, der vielleicht zehn Jahre älter war als sie, vielleicht auch jünger, das konnte sie schlecht einschätzen. Doch neben seinen taubenblauen Augen, die sie voller Kälte anstarrten, waren es die schneeweißen Haare, die ihr den Atem verschlugen. Prinz Melik besaß dieselben weißen Haare wie sie.

„Wieso bin ich hier?“, traute Cassie sich nach einer gefühlten Ewigkeit zu fragen.

Der Prinz begann zu lächeln, doch es war ein grausames Lächeln wie bei einem Raubtier, das mit seiner Beute spielte. „Weil du von diesem Tag an mein Gast bist. Genieß deinen Aufenthalt und freu dich, dass ich so gnädig bin dir ein Zimmer im Gästeflügel zuweisen zu lassen.“

„Ich brauche kein Gästezimmer, ich möchte gehen.“

„Gehen? Und wohin?“

Erneut schluckte sie und wich nervös einen Schritt zurück. „Nach Hause, zu meinen Freunden. Ich möchte nicht hier sein. Macht Euch keine Umstände wegen mir.“

„Umstände?“, wiederholte der Prinz und brach in ein trockenes, kratziges Lachen aus. „Umstände, sagst du?“ So schnell, wie das Lachen gekommen war, erstarb es und mit wenigen Schritten hatte er die Distanz zwischen ihnen überbrückt. Seine Hand legte sich um ihren Hals und er riss ihr Kinn nach oben, damit sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Die Angst, die er in ihren saphirblauen Augen erblickte, schien ihm zu gefallen. „Du hast keine Ahnung, Cassandra, wie viele Umstände du mir machst – und nun geh mir aus den Augen, bevor ich mir meine Gastfreundschaft anders überlege und dich noch heute Abend in tausend Stücke reißen lasse.“

Sie gab einen erstickten Schrei von sich und versuchte seine Hand von ihrem Hals zu lösen, doch er warf sie zu Boden und ging zurück zu seinem Thron, auf dem er sich niederließ. Tränen traten in ihre Augen und ihr Hals brannte wie Feuer, doch sie ließ es sich nicht zweimal sagen, dass er ihre Nähe nicht länger wünschte, also drehte sie sich um, rannte zur Tür, stieß sie auf und stolperte direkt in die Arme einer älteren Dame, die eine Art weißer Schürze über ihrem türkisfarbenen Kleid trug.

„Kindchen, Kindchen, du zitterst ja am ganzen Körper wie Espenlaub.“ Sie schüttelte den Kopf, auf dem eine Haube saß. „Komm mit mir, komm mit der alten Margaret, ich bringe dich zu deinem Zimmer. Komm Kindchen, komm.“ Beherzt fasste sie Mira bei der Hand und führte sie den ganzen Flur entlang über eine andere Galerie und durch mehrere Salons hindurch zu dem Gästeflügel, von dem Prinz Melik gesprochen hatte.

Cassie hatte hoffnungslos die Orientierung in diesem riesigen Schloss verloren, war jedoch froh, als Margaret sie in ein Vorzimmer brachte, das direkt in ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett samt Baldachin aus Samt und Seide führte.

Margaret umfasste Cassies Gesicht mit beiden Händen und schaute ihr einen Moment lang in die Augen, dann ließ sie sie los. „Kindchen, du bist so blass, nicht dass du mir krank wirst. Ich werde dir eine heiße Milch mit Honig bringen und eine leichte Mahlzeit. Ruh dich aus, ich bin bald zurück.“ Mit diesen Worten verließ Margaret das Schlafzimmer durch eine Seitentür.

Cassandra schaute ihr hinterher, fand nur langsam zu sich selbst zurück und berührte die Stelle an ihrem Hals, an dem Meliks Finger leicht zugedrückt hatten. „Er ist wahnsinnig“, flüsterte sie, stürzte auf das Bett zu und brach in Tränen aus. „Ich will nach Hause!“, japste sie immer wieder zwischen ihren erstickten Schluchzern, bis sie hörte, dass die Tür aufging. „Margaret?“ Sie wischte sich die Tränen ab, doch statt Margaret stand ein stattliches Snobilikat, das einige Pfunde zu viel auf den Rippen hatte, im Türrahmen.

Die Katze fixierte Cassandra, lief auf sie zu, stieß sie zu Boden und … schleckte ihr Gesicht voller Inbrunst ab, die von einem tiefen, wohligen Schnurren begleitet wurde.

„Na, na, du zerquetscht mich noch, geh runter von mir.“ Sie lachte, rollte sich von Snobilikat weg und tätschelte der großen Katze den Kopf, woraufhin das Schnurren nur noch lauter wurde und beinahe wie ein kaputter Rasenmäher klang. „Du lebst wohl hier in diesem Schloss, hm?“

„Ah, wie ich sehe, habt ihr bereits Bekanntschaft geschlossen.“ Es war Margaret, die mit einem Silbertablett ins Zimmer kam und es auf dem Nachttischchen abstellte. Dampf stieg von der heißen Milch auf, daneben stand ein Porzellanteller mit Trauben, Käsewürfeln und kalten Fleischspießchen. „Auch wenn ich verwundert bin, Snobilikat mag für gewöhnlich keine Besucher. Wie dem auch sei, du musst etwas essen, damit es dir besser geht, Kindchen.“

„Können Sie bitte aufhören mich immer ‚Kindchen‘ zu nennen?“

Die alte Dame legte verwundert den Kopf zur Seite. „Oh, wie du möchtest, Liebchen. Ich lasse dich nun alleine. Trink die Milch. Iss etwas. Schlaf. Morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus, du wirst sehen.“ Sie hielt dem Snobilikat die Tür auf, doch das Normalpokémon rollte sich auf dem Fußende des riesigen Bettes ein, woraufhin Margaret die Tür hinter sich schloss und Cassie ihre Privatsphäre gönnte.

Cassandra seufzte, rieb sich die letzten Tränen aus den Augen und zog ihren gelben Regenmantel aus, den sie auf einen Stuhl an der Wand legte. Anschließend entließ sie Golbit aus dem Pokéball und umarmte ihr geliebtes Pokémon, mit dem all diese Strapazen begonnen hatten. „Ich weiß nicht, wo wir sind, aber ich bin mir sicher, dass wir schon bald zurück nach Hause können.“

„Golb.“ Das Pokémon streckte sich, marschierte schnurstracks auf den Essensteller zu und stopfte sich auf einen Schlag alle Käsewürfel in den Mund.

„Hey!“ Cassie entriss Golbit den Teller, schaute es böse an und schnappte sich selbst einige Fleischspieße. Erst danach reichte sie Golbit den Teller, damit es den Rest essen konnte. Auch trank sie die heiße Milch und sah dabei zu, wie Golbit an Snobilikats Schwanz zog, woraufhin das Pokémon fauchte und mit der Tatze in Golbits Richtung patschte.

Golbit sprang zurück, ließ sich jedoch nicht beirren und kletterte kurz darauf behände auf das Bett neben Snobilikat. Die beiden Pokémon beschnüffelten sich gegenseitig, dann akzeptierte Snobilikat die Gesellschaft des jüngeren Bodenpokémon und schloss die Augen, um ein wenig zu dösen.

Nachdem Cassandra die Milch getrunken und die Fleischspieße gegessen hatte, stellte sie das Tablett auf einen Tisch an der Wand und öffnete den Kleiderschrank. Dort fand sie ein Paar flauschiger Gästepantoffeln, einen weißen Bademantel sowie ein Damennachthemd, das ihr etwas zu groß war, aber sie wollte auch nicht in ihren eigenen Sachen schlafen und die Chancen, dem Palast zu entkommen, schienen verschwindend gering zu sein. Zumal Cassie sich eingestehen musste, dass sie Margarets fürsorgliche Art mochte und das große, weiche Bett nach den Tagen auf Leias Sofa sehr verlockend war. Schlussendlich zog sie sich das Nachthemd an und fand auf der gegenüberliegenden Seite der Tür, durch die Margaret verschwunden war, ein großzügig geschnittenes Badezimmer, in dem sie alles hatte, was sie brauchte. Der Neugier halber öffnete sie anschließend auch noch die andere Tür und fand eine Art Dienstbotengang, von dem in regelmäßigen Abständen weitere Türen abzweigten, doch nach gut dreißig Metern kehrte sie zu ihrem eigenen Gästezimmer zurück, machte die Tür zu und krabbelte unter die Bettdecke.

Snobilikat und Golbit schliefen bereits seelenruhig aneinander gekuschelt.

„Gute Nacht, Golbit.“ Cassandra löschte das Licht, legte sich hin, den Kopf zur Seite gedreht, sodass sie aus dem Fenster sehen konnte. Kein Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen des Meeres, die so weit entfernt schienen. „Gute Nacht, Lyra.“ Sie schloss die Augen, stellte sich das Gesicht ihrer besten Freundin vor und hoffte inständig, dass es ihr gut ging. Und vielleicht – aber nur vielleicht – besaß Cassie die Hoffnung, dass Lyra mutig und tapfer genug war, um sie zu finden und nach Hause zu holen. Bisher hatte sie sich doch immer auf Lyra verlassen können. Ja, Lyra würde kommen und sie finden. Lyra würde sie retten.

Doch auch hier, so weit von Ebenholz City entfernt, fand sie der Traum, der sie jede Neumondnacht quälte.

Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie.

Spiegelwelten

An jenem Morgen schneite es so stark, dass Cassandra von ihrem Fenster aus nicht einmal das Meer sehen konnte. Schon eine ganze Woche war sie in diesem Zimmer gefangen und von Tag zu Tag fühlte sie sich niedergeschlagener. Margaret hatte ihr gleich am nächsten Morgen nach ihrer Ankunft mitgeteilt, dass Prinz Melik eine Ausgangssperre für sie verhängt hatte. Cassie durfte diesen Raum nicht verlassen, wenn man von dem angrenzenden Badezimmer einmal absah, und obwohl Margaret ihr täglich einige Stunden Gesellschaft leistete und ihr immer neue Bücher zum Lesen brachte – was sie jedes Mal an Lyras Leselust erinnerte und sie noch trauriger machte –, hätte sie sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt.

Die Tür zu ihrem Zimmer wurde schwungvoll aufgestoßen und sie rechnete damit, dass man ihr das Frühstück brachte, doch stattdessen trat ein älterer Mann mit wippenden Schritten und Gefolge ein. „Chérie, raus aus den Federn, wir haben viel vor! Hopp, hopp!“

Ehe Cassie sich versah, standen bereits zwei jüngere Damen bei ihr und hantierten mit Zollstock und Maßband an ihr herum. „Hey, was soll das?“

Snobilikat, das wie immer am Fußende ihres Bettes lag, hob ein Augenlid und musterte die Szenerie, ehe es sich zum Schlafen auf die andere Seite drehte.

„Wer sind Sie?“ Trotzig schob sie ein Maßband von sich weg, woraufhin der Mann schnaubte und seinen grauen Schnurrbart mit den geschwungenen Enden zwirbelte.

„Du weißt nicht, wer ich bin? Chérie, du bist viel zu lange in diesem Zimmer eingesperrt, ein Glück, dass sich das jetzt ändern wird.“ Grinsend verbeugte er sich vor ihr, drehte sich einmal um die eigene Achse und klopfte in die Hände, woraufhin die beiden Damen das Zimmer verließen und wenige Augenblicke später mit aufgerollten Stoffbahnen zurückkehrten. „Ich“, er machte eine theatralische Pause, „bin Monsieur Günther, der Hofschneider des Palasts. Von mir stammen all die wundervollen Kleidungsstücke der königlichen Familie und der Minister. Prinz Melik höchstpersönlich hat angeordnet, dass ich dich mit geeigneter Garderobe ausstatte, damit du dir bei dieser Kälte draußen im Garten die Beine vertreten kannst.“

„Prinz Melik hat was?“ Ungläubig starrte Cassandra Günther an, doch dieser war bereits zu beschäftigt zum Antworten und hielt ihr diverse Stoffproben vor den Körper. Erst ließ der Prinz sie eine ganze Woche lang einsperren und nun sorgte er dafür, dass sie Winterkleidung geschneidert bekam?

„Deine Haare sind zu hell für kräftige, warme Farben, aber diese Saison sind ohnehin die Metalle in Mode. Weißes Fell und silberner Stoff! Chérie, du wirst bezaubernd aussehen!“ Mit diesen Worten klatschte er erneut in die Hände. Seine Assistentinnen rafften alles zusammen und schon waren die drei wieder verschwunden.

Kopfschüttelnd ließ Cassie sich auf der Bettkante nieder und schaute auf, als – zum Glück – Margaret mit einem Tablett hinein kam anstatt Günther. „Günther war hier“, sagte Cassandra trocken und machte der Dienstmagd Platz, damit sie das Tablett auf dem Nachttischchen abstellen konnte. „Er hat gesagt, dass Prinz Melik mir eine Wintergarderobe schneidern lässt.“

„Ja, einen Wintermantel“, erwiderte Margaret, während sie die Abdeckhaube vom Tablett nahm und wieder einmal lauter Köstlichkeiten zum Vorschein kamen. „Wir haben einen Kälteeinbruch, aber das ist nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit. Von den Bergen kommen noch bis in den Mai hinein immer wieder kalte Fallwinde. Vor einigen Jahren hat es sogar Anfang Juni Frost gegeben.“

„Wieso bekomme ich einen Wintermantel? Ich dachte, der Prinz hasst mich.“

„Prinz Melik ist kein so schlechter Mensch, wie du vielleicht denkst, Cassandra.“ Margaret seufzte wie eine alte Frau, die in ihrem Leben schon so viel gesehen hatte. „Er hat es nicht einfach – und nun iss, damit du etwas in den Magen bekommst. Du brauchst deine ganze Energie, wenn du heute den Tag mit Günther verbringst.“ Mit einem flüchtigen Augenzwinkern verließ Margaret wieder das Zimmer und ließ Cassandra mit dem Frühstück alleine zurück.

Diese setzte sich wieder auf die Bettkante und zog das Tablett zu sich aufs Bett. Eine große Tasse Kakao dampfte vor sich hin, daneben stand ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft, der sehr süßlich schmeckte, wahrscheinlich waren noch ein paar Beeren mit dabei. Auf einem Teller stapelten sich mehrere dicke, kreisrunde Pfannkuchen mit Blaubeeren und Sirup, auf einem anderen Teller lag Omelette mit Käse- und Schinkenfüllung. Schließlich gab es noch einen durchsichtigen Glasbecher, in dem abwechselnd Schichten mit Müsli, Obststückchen und Joghurt waren, sodass es ein hübsches Streifenmuster ergab.

Cassie aß alles restlos auf, trank den Kakao und den Saft und machte sich anschließend im Badezimmer fertig, da sie nicht wusste, wie bald Günther zurück sein wurde. Zum Glück musste sie sich keine Sorgen mehr um das Futter für Golbit machen, denn Snobilikat hatte sich angewöhnt nach seiner Fütterung immer ein paar Reste mit in Lyras Zimmer zu schleppen. Gestern hatte es sogar eine ganze Packung mit Knurspen für Golbit aus der Küche stibitzt. Meistens fütterte Cassandra ihr Pokémon nach dem Frühstück und dem Abendessen, aber heute wollte sie das Risiko nicht eingehen, dass Günther ins Zimmer gestürmt kam und Golbit sah, immerhin wollte sie nicht, dass jemand wusste, dass sie ein Pokémon hatte. Cassie spürte, dass ihr diese Tatsache nur noch mehr Probleme einbringen würde.

Im weiteren Verlauf des Vormittags wurde sie von Günthers Assistentinnen abgeholt und in ein anderes Stockwerk gebracht, wo sich sein Arbeitsraum befand. Ein ganzer Saal war vollgestellt mit Tischen, Modepuppen und Stoffbahnen, an den Wänden hingen Skizzen, Schmuck, Federn und überall standen Kleiderstangen mit wundervollen Gewändern.

„Chérie, wo hast du so lange gesteckt?“ Günther warf ihr einen tadelnden Blick zu und winkte sie zu sich in die Raummitte, wo ein riesiger, kreisrunder Tisch stand, auf dem verschiedene Fellsorten und ein silberner, dicker Stoff lagen. „Das hier wird dein Mantel, ein hinreißendes Stück, hinreißend!“

Cassie rang sich ein Lächeln ab und suchte die Wände nach Türen und Fluchtmöglichkeiten ab, doch es schien nicht so, dass Günther sie so schnell aus den Augen lassen würde. So blieb ihr nichts übrig, außer sich von dem Modeschöpfer stundenlang wie eine lebende Modepuppe behandeln zu lassen.

Erst gegen drei Uhr am Nachmittag entließ man Cassie und Margaret holte sie ab, um sie zurück zu ihrem Zimmer zu bringen. „Du siehst blass aus, aber das Essen wartet schon auf dich.“ Während sie zu Cassandras Zimmer liefen, erzählte die alte Dame ihr, was es heute zum Essen gab: Karpadorkaviar in einer Miltankmilchsuppe und dazu Gewürzbrötchen und Lauchtarte.

„Vielen Dank für das Essen“, sagte Cassie brav, als sie ihr Zimmer betrat und das Tablett erblickte.

„Ach, du musst dich nicht jeden Tag bei mir bedanken“, erwiderte Margaret und verabschiedete sich schnell, da sie noch viel zu tun hatte.

Seufzend begann die Jungtrainerin zu essen, auch wenn sie den Kaviar minutenlang skeptisch in der Schüssel herum stupste, bis sie den ersten Bissen probierte und angewidert das Gesicht verzog. Den Rest der Suppe ließ sie stehen und aß dafür alle Brötchen und das riesige Stück Tarte auf. Günther hatte sie wirklich bis an ihre Grenzen erschöpft, obwohl sie kaum mehr tun musste als ruhig zu stehen und alles über sich ergehen zu lassen, wobei der Mantel am Ende in seiner Rohfassung wirklich wundervoll ausgesehen hatte.

Da sie nicht davon ausging, dass sie so schnell wieder Besuch bekam, entließ sie Golbit aus seinem Pokéball und gab ihm die Suppe, die das Bodenpokémon mit Begeisterung schlürfte. „Na wenigstens schmeckt dieses schleimige Zeug einem von uns.“ Ein schmales Lächeln erschien auf ihren Lippen, dann beschäftigte sie sich noch eine Weile mit ihrem türkisfarbenen Freund und zog ihr Pokémon schließlich wieder zurück, da sie ja nicht wollte, dass man Golbit entdeckte.
 

Der restliche Nachmittag erstreckte sich wie so oft in unendliche Langeweile. Cassandra lag auf ihrem Bett und starrte in die Luft, bis sie den Entschluss fasste, dass es so nicht weitergehen konnte. Gut, sie mochte Prinz Meliks Gefangene sein, aber wenn man sie nicht die ganze Zeit bewachte, hieß das nicht auch, dass der Prinz selbst schuld war, wenn sie ausbüxte? Sie wollte sich nur eine halbe Stunde die Beine vertreten, mehr nicht. Wild entschlossen öffnete Cassie die Tür, spähte heraus und als die Luft rein war, schlüpfte sie leise wie ein Schatten in den Gang und verschwand hinter der nächsten Biegung.

Während sie tief durchatmete und sofort so etwas wie Erleichterung spürte, ging sie den Gang entlang tiefer in das Schloss hinein. Sie wusste von Margaret, dass der Gästetrakt momentan kaum genutzt wurde, daher war das Risiko, dass sie jemandem über den Weg lief, sehr gering. Trotzdem hielt sie Augen und Ohren offen und wartete an jeder Biegung, bis sie sicher war, dass auf dem nächsten Flur niemand war.

Schon bald hatte sie sich in dem Labyrinth der Gänge und Treppen verlaufen, doch viel interessanter war, dass dieser Teil des Schlosses ganz anders aussah. Die Wände waren massiver und weniger filigran verziert, auch hingen nicht mehr in regelmäßigen Abständen Bilder und Teppiche an den Wänden. Hier schienen sich wohl keine Gäste mehr aufzuhalten. Ob sie überhaupt noch in ihrem Flügel war? Und welches Stockwerk war das hier? An einer großen Bogentür hielt sie inne, lauschte und drückte die Klinke – es war nicht verschlossen, also trat sie ein.

Dunkle, schwere Vorhänge verdeckten die Fenster. Spiegel hingen ringsherum an den Wänden, sodass Cassie sich in dem Dämmerlicht vielfach selbst entgegenblickte. In der Mitte des Raums stand ein großer Gegenstand, mit Sicherheit an die zwei Meter groß, der ebenfalls mit einem dunklen Tuch verhüllt war. Was das wohl war? Sie zögerte, doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich zu diesem Ding hingezogen, als gäbe es etwas, das sie rufen würde.

Mit den Händen umfasste sie den schweren Brokatstoff, zog ihn mit einem Ruck herunter und hustete, da viel Staub aufgewirbelt wurde. Es schien, als wäre hier schon lange niemand gewesen, ganz wie bei dieser merkwürdigen Höhle, in der sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgewacht war.

„Nanu?“ Als Cassie die Augen öffnete, schaute sie direkt in die Augen ihres Spiegelbilds. Der mysteriöse Gegenstand war ein großer Spiegel mit silbernem Rahmen voller Edelsteine und Schnörkeln und obwohl die Vorhänge kaum Licht von draußen nach innen ließen, sah sie sich so klar und deutlich wie im hellsten Tageslicht. Was auch immer das für ein Spiegel war, er schien von innen zu leuchten und für einen Moment lang wirkte es so, als würde er ein- und ausatmen und den Staub in der Luft in Bewegung versetzen.

Vorsichtig berührte sie die glatte, kühle Oberfläche. Bilder strömten auf sie ein. Stimmengewirr. Laute Schritte. Kerzenlicht. Glitzernde Luft. Mondlicht. Schimmer. Erinnerungen? Cassie schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück. Nein, sie hatte so etwas noch nie gesehen, dieser Spiegel war ihr unbekannt und doch blieb tief in ihrem Herzen ein Gefühl zurück, das sie nicht einzuordnen vermochte. Sie drehte sich zur Seite. „Oh Lyra, wenn du nur hier wärst…“, flüsterte sie, schloss die Augen und spürte einen Luftzug, der von dem Spiegel ausging.

Ängstlich öffnete sie die Augen, schaute auf die glatte Oberfläche und erstarrte. Plötzlich wirkte das Glas flüssig, kleine Wellen gingen von der Mitte aus zum Rand und unterbrachen das Licht, sodass tausende winzige Reflexionen entstanden, die sich zu einem Bild zusammensetzten.

Cassie konnte eine junge Frau sehen, erst undeutlich und verschwommen, dann immer klarer. „Nein, das ist doch… Lyra?“ Ungläubig starrte sie auf das Bild, das der Spiegel ihr zeigte. Wenn das Lyra war, sah sie vollkommen anders aus: Kurze Haare, erwachsene Gesichtszüge und ein fester, starker Blick. An der Seite der Frau lief ein Kleoparda mit geschmeidigen Bewegungen, doch auch der Blick des Pokémon war starr, beinahe kalt und berechnend nach vorne gerichtet. „Lyra“, wiederholte Cassandra, dieses Mal lauter. Konnte das… konnte das wirklich ihre Lyra sein? So erwachsen, Jahre älter als jetzt? Und wieso hatte sich Felilou entwickelt? Dieser Spiegel konnte doch unmöglich die Gegenwart zeigen.

„Lyra!“ Mit beiden Händen krallte sie sich am Rand des Spiegels fest. Das war Lyra, sie musste es sein. War das eine Zukunftsvision, wie auch immer das möglich war? War ihre beste Freundin ihr durch diesen Spiegel so nah? Cassie wollte nach ihr greifen, doch ihre Finger trafen auf die unbarmherzige Glasschicht. „Lyra!“ Nun trommelte sie gegen den Spiegel, Tränen stiegen ihr heiß und salzig in die Augen und liefen ihre Wangen herunter. „Ich bin hier, Lyra! Sieh mich an, ich bin hier! Lyra!“

Auf einmal blieb die Frau stehen, zögerte und schaute sich um. Hatte sie sie gehört?

„Lyra!“ Wieder rief Cassie nach ihr und Panik ergriff sie, als die Oberfläche zu verschwimmen begann. „Nein!“ Cassie schlug weiter auf den Spiegel ein und holte ein letztes Mal aus.

In dem Augenblick, als ihre Faust das Glas zerschlug, schaute Lyra ihr direkt in die Augen. Sie sah den überraschten Blick, beinahe vor Schock geweitete Augen und hörte Lyras vertraute Stimme, die aus dem Inneren des Spiegels zu kommen schien: „Cassie?

Alter Wächter

„Die Wächter“, wiederholte Lyra und ihre Augenbrauen zogen sich voller Skepsis in die Höhe. Wenn es einen Gedanken gab, der sich ihr immer weiter aufdrängte, dann der, dass Nero Blackwood im Laufe seiner Lebensjahre als Einsiedler vollkommen verrückt geworden war. „Das klingt irrsinnig.“ Sie schüttelte ihren rosaroten Haarschopf und drehte sich zu Leo und Grace um, um ihnen mit den Augen zu signalisieren, dass sie gehen wollte, doch Nero hielt sie am Handgelenk zurück.

„Mädchen, du hast keine Ahnung, was dir bevorsteht.“

„Was daran liegen könnte, dass Sie nicht vernünftig mit uns reden wollen!“, warf sie ihm aufgewühlt an den Kopf, riss sich los und ging einige Schritte über den Rasen, nur um am Ende doch wieder stehen zu bleiben. „Alles, was ich will, ist, Cassie zu finden. Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit oder nicht?“

„Welchen Grund hätte ich zu lügen?“

Lyra schnaubte, raufte sich die Haare und verspürte den Drang Nero eine runter zu hauen. „Wissen Sie, Nero, ich bin ein friedliebender Mensch, aber manchmal schlägt meine passiv-aggressive Art aus und im Moment sprengt diese Aggression den Rahmen, mit dem ich umgehen kann.“

„Wenn Sie uns nicht helfen wollen, hören Sie auf uns aufzuhalten“, pflichtete nun auch Leo ihr bei und stellte sich an Lyras Seite, während Grace mit verschränkten Armen schräg neben ihnen stand und Nero finster anstarrte, ohne etwas zu sagen.

Nero blickte hin und her, dann schmunzelte er einen Moment, schaute zum Himmel, zurück zu Lyra und nickte schließlich. „Ich würde dir wirklich gerne helfen, Mädchen, aber ich kann nicht.“

„Wieso nicht?“, knurrte sie.

„Weil du noch nicht bereit für die Wahrheit bist. Du bist überhaupt für gar nichts bereit und ich bin nicht dein Ausbilder oder Freund oder was auch immer.“

„Was auch immer“, äffte Lyra ihn nach, sprach allerdings so leise, dass nur Leo sie hören konnte und ihr beruhigend den Arm tätschelte, ohne Nero oder sein Magnayen, das im Hintergrund im Haus stand, aus den Augen zu lassen. „Ich vertraue den Ältesten und Aira und Aero haben uns zu Ihnen geschickt, Nero, also los, helfen Sie uns endlich!“

„Oh ja, die beiden machen sich nie selbst die Hände schmutzig, als ob ich das nicht schon wüsste.“ Nero murmelte eine Reihe von Beleidigungen vor sich hin, kehrte ihnen den Rücken und ging zurück zu seiner Haustür. „Wie ich bereits mehrfach betont habe, kann, will und werde ich dir nicht helfen. Da musst du alleine durch.“ Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Aber“, fügte er schlussendlich gedehnt hinzu, „ich kann dir sagen, zu welchem Ort du gehen musst, um deinen Antworten ein Stück näher zu kommen.“

„Was soll das werden, Schnitzellaufen?“, polterte Leo ein wenig ungehalten.

Lyra funkelte Leo an, schob ihn ein Stück von sich weg und stapfte auf Nero zu. „Ich würde alles tun, um Cassie zu finden. Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.“ Sie hielt seinem durchdringenden Blick stand und je länger sie sich in die Augen schauten, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass sich ein Ausdruck von Verbitterung und Trauer auf sein Gesicht legte. „Nero? Bitte.“

Der alte Mann seufzte. „Also gut, aber nur, weil du mich so sehr an mich selbst erinnerst. Als ich in deinem Alter war, war ich genauso ein nerviger Quälgeist. Lyra, du hast keine Ahnung, was wirklich los ist. Alles, was mit deiner Freundin und dir passiert ist, hat einen Grund, der weit über deinem jetzigen Verständnis liegt, doch glaube mir, eines Tages wirst du es verstehen. Bald, fürchte ich. Oh du bist noch so jung, so etwas sollte keinem jungen Menschen passieren.“

Irritiert und verunsichert suchte sie Leos und Grace‘ Blick, doch die beiden zuckten nur leicht mit den Schultern.

„Wächter haben ein grausames Schicksal, es ist niemals fair.“

„Sie reden schon wieder von diesem Wächterkram, ich verstehe es aber nicht, Nero.“

Er überging Lyras Kommentar, seufzte und sein Blick verlor sich in den Bäumen um sie herum, als würde er in alten Erinnerungen hängen. Nach einem langen Moment blinzelte er, schnaubte und fixierte das junge Mädchen vor sich. „Wie ich bereits sagte, ist die Steinplatte der Schlüssel zu der Wandmalerei in der Turmruine des Bronzeturms. Es gibt noch mehr Orte, an denen man diesen Mechanismus mit so einer Platte aktivieren kann. Deine kleine Freundin wurde an einen anderen dieser Orte teleportiert, aber wo sie gelandet ist, weiß ich nicht.“

Lyra atmete tief durch. „Wissen Sie, wo sich die anderen Orte befinden?“

„Natürlich weiß ich das, ich bin ein Wächter, gottverdammtes Kind!“ Die Geduld, die er bis gerade eben kurzzeitig an den Tag gelegt hatte, war dahin. Er fuchtelte mit den Armen herum und rollte mit den Augen, ehe er sich über das Gesicht fuhr und wieder beruhigte. „Es sind Tempel, Schreine, heilige Stätten, solche Orte eben. Orte, an denen die Energie der Legendären besonders stark ist. Der Bronzeturm ist der Ort, an dem Entei, Suicune und Raikou von Ho-Oh geschaffen wurden, die Energie aller vier legendärer Pokémon befindet sich dort, das ist ein mächtiges Energiezentrum. Vermutlich hat aus diesem Grund der Mechanismus funktioniert, obwohl der Bronzeturm schon längst zerstört ist.“

So verrückt das, was Nero ihnen erzählte, auch klang, spürte Lyra tief in ihrem Herzen, dass er die Wahrheit sagte, dass sie ihm jedes einzelne Wort glaubte. „Wenn ich zurück zum Bronzeturm gehe, kann ich die Platte ein zweites Mal benutzen und Cassie folgen, wohin auch immer dieser Lichtstrudel sie gebracht hat?“

„Theoretisch ja.“ Nero grunzte und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sodass er ganz finster guckte. „Aber das wird nicht einfach sein. Es muss alles genau so sein wie beim letzten Mal, um zu gewährleisten, dass es funktioniert. Ich nehme an, bei ihrem Verschwinden war es Vollmond?“ Als Lyra nickte, fuhr er fort. „Das habe ich mir gedacht. Der Vollmond und der Neumond sind mächtig, sie beeinflussen die Natur, so wie auch die Kraft der Legendären Einfluss auf die Natur hat. Sonne, Mond, unsere Welt, die Legendären, alles befindet sich in einem Kreislauf, alles hat Einfluss aufeinander. Es muss Vollmond in Teak City sein, wenn du eine Chance haben willst, deiner kleinen Freundin zu folgen. Ihr alle“, seine Handbewegung bezog Grace und Leo mit ein, „könnt das nur zusammen schaffen. Es ist kein Zufall, dass ihr euch gerade jetzt begegnet seid. Es ist Schicksal. Merkt euch meine Worte gut. Und nun geht, ich habe genug gesagt, den Rest müsst ihr alleine herausfinden.“

„Ist das alles?“ Dieses Mal war es Grace, die sprach. „Ein Haufen kryptischer Aussagen und die Anweisung, im Mondlicht seltsame Dinge zu tun? Das ist verrückt, wie soll so etwas möglich sein? Sie sind uns keine Hilfe.“

„Grace, vielleicht stimmt es doch, was er sagt. Bitte, lass es uns versuchen, auch wenn es verrückt klingt. Es ist die einzige richtige Spur, die wir bisher haben.“

„Für mich klingt es eher so, als würde er uns als billige Versuchskaninchen missbrauchen.“ Grace warf ihre Haare über die Schultern nach hinten und starrte verächtlich in Neros Richtung. „Du willst dich doch nicht wirklich auf seine Worte einlassen, Lyra?“

„Doch, genau das will ich. Ich habe keine andere Wahl, Cassies Leben könnte davon abhängen. Grace, bitte, ohne Leo und dich kann ich es nicht schaffen.“

„Lyra hat recht, wir müssen zusammen bleiben. Irgendwie erscheint es mir… richtig so.“

Grace zögerte, doch schließlich nickte sie. „Also gut, wir stehen das gemeinsam durch.“

Lyra wollte sich bei Nero für seine Hilfe bedanken, doch der Einsiedler hatte sich bereits während ihrer kleinen Diskussion mit Grace und Leo in sein Haus zurückgezogen und die Tür geschlossen. Wieder einmal ließ er sie mit unbeantworteten Fragen zurück, doch auch, wenn er ihnen nur Bröckchen vorsetzte, spürte sie, dass es womöglich der richtige Weg sein könnte. „Lasst uns gehen, wir sollten hier keine Zeit mehr verlieren. Bis zum nächsten Vollmond ist es keine Woche mehr und wir müssen bis dahin irgendwie zurück nach Teak City kommen.“

„Ich finde diese ganze Geschichte nach wie vor total verrückt. Also bitte, als würde dieser Wächterkram stimmen.“ Kopfschüttelnd ging Grace vor, durch den Wald zurück zu dem Dorf. „Mir stellen sich da konkret vor allem folgende Fragen: Wer sind die Wächter? Woher haben sie die Steinplatten? Wieso können sie die Energie der Legendären für solche Teleportationen nutzen? Wieso weiß davon sonst keiner? Mal angenommen, dieses Netzwerk aus besonderen Orten gäbe es wirklich, sollte es dann nicht auch möglich sein von jedem einzelnen Ort auf jeden anderen Ort zuzugreifen? So zu sagen als Knotenpunkt, jeder Ort ist irgendwie mit den anderen Orten verbunden, weil sie einen gemeinsamen Nenner haben müssen.“

„Oh, Grace, das ist…“, begann Leo, doch Lyra unterbrach ihn mit leuchtenden Augen.

„Grace, das ist genial! Das ist die Lösung!“

„Wie meinst du das?“

„Nero hat doch gesagt, dass die Steinplatte die Energie von Legendären an Orten nutzen kann, die mit den Legendären zu tun haben. Wir sind hier doch in Einall und gar nicht so weit entfernt gibt es den Schrein der Ernte, der Demeteros gewidmet ist.“

„Ich verstehe, was du meinst.“ Grace legte den Kopf schief und blieb stehen. „Wenn Nero uns die Wahrheit gesagt hat – und ich sage nicht, dass ich diesem Verrückten glaube –, dann müssten wir auch an dem Schrein der Ernte die Energie aktivieren können. Allerdings gibt es da eine Tatsache, die mir Bauchschmerzen bereitet. Als Cassie und du in der Turmruine wart, hattet ihr die ganze Platte bei euch. Jetzt, da Cassie verschwunden ist, hast du nur noch die halbe Platte. Glaubst du wirklich, dass das reicht?“

„Es muss reichen!“

Leo nickte. „Ich finde Grace‘ Bedenken gar nicht unwichtig. Ihr habt doch beide gesehen, wie Nero reagiert hat, als er von Lyra erfahren hat, dass die Platte zerbrochen ist. Außerdem hat er davon gesprochen, dass Aira und Aero uns absichtlich zu ihm geschickt haben, um ihren eigenen Geschäften nachzugehen. Wenn Nero über diese Platte und den Teleportmechanismus Bescheid weiß, dann wissen Aira und Aero mit Sicherheit auch davon. Ach was, ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass sie es wissen, immerhin war die Platte in ihrem Besitz. Das wiederum wirft die Frage auf, warum die beiden uns nicht selbst von der Platte und all dem erzählt haben. Stattdessen lassen sie uns – oder eher Cassandra und dich – ins offene Messer laufen. Wieso?“

„Willst du damit etwa sagen, dass wir Aira und Aero nicht trauen können?“

„Ich stimme Leo zu, du bist zu naiv, Lyra. Wenn das alles wahr ist, ist es ganz eindeutig, dass Aira und Aero uns mit voller Absicht von Teak City fortgeschickt haben, obwohl sie alles in wenigen Minuten hätten aufklären können. Warum also wollten sie, dass wir uns auf die lange Reise zu Nero machen? Wir waren jetzt drei Wochen unterwegs, in der Zeit konnten sie wer weiß was arrangieren oder tun.“

„Sie wollen uns bestimmt nur helfen.“

„Lyra, sieh es doch endlich ein, niemand will uns wirklich helfen! Nero, Aira und Aero haben alle nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt, warum wohl? Na weil sie unter einer Decke stecken, ist doch logisch. Wir können ihnen nicht trauen.“

„Wir sind auf uns alleine gestellt. Also, was sagt ihr, gehen wir nun zurück nach Teak City oder zum Schrein der Ernte?“

Grace und Lyra wechselten einen Blick, dann antworteten sie wie aus einem Mund: „Zum Schrein der Ernte.“

„Wunderbar, genau der Meinung bin ich auch“, sagte Leo. „Und es klingt irgendwie ziemlich danach, dass Nero uns den langen Weg zurück nach Teak City schickt, um Zeit zu schinden, meint ihr nicht auch?“

„Ihr klingt beide wie Verschwörungstheoretiker“, sprach Lyra entgeistert, doch auch sie wollte lieber Grace‘ Theorie mit dem Schrein der Ernte ausprobieren, anstatt sich auf die ungewisse Rückreise nach Teak City zu begeben. Wenn sie ehrlich war, hätten sie es ohnehin nicht rechtzeitig bis zum nächsten Vollmond dort hin geschafft und einen ganzen Monat verloren.

Sie schwiegen, als sie das Dorf durchquerten und zum Beginn der Route 14 gingen. Bis zum Schrein der Ernte war es noch ein gutes Stück und Lyra wusste, dass der Schrein gut geschützt lag, aber bis zum Vollmond würden sie es auf jeden Fall schaffen.

„Also dann, unser Ziel steht fest: Schrein der Ernte.“ Lyra ging voran, schaute zum Fluss und zum Waldrand auf der anderen Seite. Dort, weit hinten zwischen den Bäumen, machte sie eine Bewegung aus. Eine menschliche Silhouette und ein Blick, der schwer auf ihren Schultern lastete und ihr eine Gänsehaut verursachte. Wurden sie etwa beobachtet?

Gerade machte sie den Mund auf, um nach der Person zu rufen, als ein schrecklicher Schmerz in einem Schrei ihren ganzen Körper durchzuckte. Dumpf drangen Grace‘ und Leos besorgte Stimmen zu ihr, doch ihr Körper sank bereits krampfend zu Boden und ihr Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. In der Sekunde, bevor sie das Bewusstsein verlor, tauchte ein zweiter Schatten auf der anderen Flussseite auf und die Gewissheit traf sie wie ein Vorschlaghammer: Es war keine Einbildung, sie wurden verfolgt.

Neuer Freund

„Lyra? Lyra! Arceus sei Dank. Hey, schnell, Lyra kommt wieder zu sich!“

Als Lyra stöhnend ihre Augen öffnete, blickte sie direkt in die besorgten Gesichter von Grace, Leo und Sarin, der wie selbstverständlich zwischen den beiden anderen hockte und ein bisschen entspannter aussah. „Du? Wieso?“ Sie richtete sich auf in eine Sitzposition und bemerkte, dass sie am Ufer des Flusses im Schatten einer riesigen Eiche lag, sodass man sie vom Weg aus nicht sehen konnte.

„Wir hatten ja so einen Schreck, als du einfach umgekippt bist!“, begann Grace und die Besorgnis stand ihr noch immer mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Zum Glück war Sarin hier, dank ihm geht es dir jetzt wieder besser“, beendete Leo die kurze Erklärung und nickte Sarin dankbar zu. „Er ist sofort zu uns gelaufen, als du zu Boden gesunken bist. Wie fühlst du dich?“

„Ganz gut … denke ich. Mir ist nur ein bisschen schwindelig.“

„Das legt sich auch gleich, wenn du wieder auf den Beinen bist“, sagte Sarin und biss in einen Apfel. „Allerdings solltest du gleich etwas essen, die Medizin, die ich dir gegeben habe, wirkt dann besser nach.“

„Außerdem warst du fast eine Stunde bewusstlos, du Ärmste.“ Mitfühlend tätschelte Grace ihr die Hand und reichte ihr ebenfalls einen Apfel.

Lyra nahm den Apfel, wog ihn leicht hin und her, dann fixierte sie Sarin. „Medizin, sagst du, ja? Dann weißt du, was da vorhin mit mir los gewesen ist? So etwas habe ich noch nie erlebt und das passiert ausgerechnet, wenn du rein zufällig auch hier bist?“

Sarin biss sich leicht auf die Unterlippe, dann schüttelte er zögernd den Kopf. „Ich habe eine vage Vermutung, was da passiert ist, dass es bald passieren musste, deshalb verfolge ich dich schon die ganze Zeit. Cassandra und dich, aber als ihr getrennt wurdet, habe ich mich an deine Fersen geheftet.“ Als er ihre zusammengezogenen Augenbrauen sah, sprach er schnell weiter. „Bitte verlang nicht von mir, dass ich dir alles erkläre, das kann ich nicht. Noch nicht. Wichtig ist für den Moment nur, dass es dir wieder besser geht und meine Kräuterpaste dir geholfen hat, allerdings habe ich nicht mehr viel auf Vorrat, wenn es wieder passiert.“

„Du meinst also, ich werde noch so einen Anfall haben?“ Vor Schreck ließ sie den Apfel fallen und riss die Augen auf. „Nein, sag mir, was hier los ist! Grace, Leo, wieso bleibt ihr so ruhig?“ Irgendetwas stimmte hier doch vorne und hinten nicht. Irgendwie musste Sarin die beiden um den Finger gewickelt haben.

Grace legte ihr die Hände auf die Schultern und sprach mit beruhigender, einfühlsamer Stimme: „Sarin weiß, wo Cassie ist. Er hat uns seine Hilfe angeboten und wird uns zu ihr führen, aber vorher müssen wir sichergehen, dass es dir besser geht.“

Die Worte sackten tief in Lyras Bewusstsein ein, doch die Skepsis in ihrem Blick blieb. „Woher weißt du das? Was weißt du überhaupt? Steckst du mit Nero unter einer Decke?“

„Lyra, ich weiß mehr von den Wächtern, als du ahnst. Cassie ist in großer Gefahr, deshalb müssen wir sie finden, aber ohne eure Hilfe kann ich es nicht schaffen.“

„Warum nicht?“

„Weil …“ Sein Blick glitt hinüber zum Fluss und beinahe mechanisch begann er in einer kleinen Schüssel mit einem Löffel in den Resten einer grünlichen Paste herum zu rühren. „Du solltest auch den Rest essen, damit wir sicherstellen können, dass der nächste Anfall möglichst weit hinausgezögert wird. Das sind sehr seltene Kräuter, die mit Kyurems Atem gefroren wurden. Sie helfen gegen allerlei Krankheiten, aber auch gegen die Beschwerden, die du jetzt hast. Hier.“

Einige Sekunden lang streckte er ihr die Schüssel hin ohne sie anzusehen, dann zog Lyra sie zu sich heran und leckte den Rest – schmeckte wie eine Mischung aus Pfefferminztee und bitterer Medizin – vom Löffel ab. „Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich mit Halbwahrheiten abspeist, weißt du? Das haben Aero, Aira und Nero auch getan und wir sind Cassie noch kein Stück näher gekommen. Wenn du also wirklich irgendetwas weißt, was hilfreich ist, dann kannst du mit uns kommen.“

Sarin blickte zurück zu ihr und ein Anflug von Dankbarkeit mischte sich in sein Lächeln. „Vielen Dank für dein Vertrauen, aber ich wäre auch so mitgekommen.“

Sie drückte ihm unsanft die Schüssel gegen den Arm. „Ich vertraue dir nicht, Sarin. Aber Leo und Grace tun es, deshalb beuge ich mich in diesem Fall der Mehrheit.“ Dafür strafte Lyra die beiden mit einem beleidigten Blick und hievte sich hoch. „Wenn ich allerdings mitbekomme, dass du uns an der Nase herumführst, werde ich ungemütlich.“
 

Am späten Nachmittag hatten sie auf Sarins Anweisung hin weitere Äpfel gesammelt und als Proviant eingepackt. Leo trat das Lagerfeuer aus, über dem sie einige Fische gegrillt hatten, auch diese befanden sich nun gut verpackt in ihren Rucksäcken. Zwar hatte Sarin ihnen nicht erklären wollen, warum genau so viel Proviant nützlich sein würde, sie waren seinen Anweisungen jedoch nachgekommen.

„Lyra, freust du dich denn gar nicht, dass er uns helfen möchte?“, erkundigte Grace sich leise. Die beiden Mädchen warteten auf dem Weg auf die Jungs und sprachen mit gedämpften Stimmen. „Ich finde ihn nett.“

„Nein, es ist nicht so, dass ich nicht dankbar für seine Hilfe bin. Es ist nur… ich weiß auch nicht so genau. Es ist doch eindeutig, dass Sarin viel mehr weiß und dieses Wissen für sich behält. Das gefällt mir nicht.“

Grace wiegte ihren Lockenkopf vorsichtig von einer Seite auf die andere. „Als du ohnmächtig warst, hat er auch von dem Ernteschrein gesprochen. Er weiß zumindest von diesem ganzen Wächterkram, von dem Nero gesprochen hat. Vielleicht weiß er auch, wie genau wir deine Steinplatte benutzen können, um diese Teleportation zu aktivieren.“

„Falls das überhaupt klappt, beim letzten Mal war noch Cassies Platte dabei.“ Lyra verstummte, als Sarin und Leo lachend die Böschung hinauf kletterten und kurz darauf bei ihnen standen. „Fertig?“

„Ja, wir haben alles erledigt. Lasst uns keine Zeit verlieren, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit am Schrein sind“, sagte Sarin und nickte ihnen zu.

„Tja, weißt du, wir wären schon längst da, wenn du nicht gewesen wärst.“ Lyra presste die Lippen aufeinander, drehte ihm den Rücken zu und lief den anderen voran den Weg entlang.
 

Gegen Abend hatten sie den Schrein der Ernte erreicht, der dem legendären Pokémon Demeteros gewidmet war. Um sie herum tanzten die Glühwürmchen und erzeugten eine ruhige, fast schon magische Atmosphäre, sodass Lyra gar nicht anders konnte als sich ein wenig zu entspannen. Den ganzen Weg über hatte sie kein Wort mit Sarin gewechselt und ihm lediglich einige beleidigte Blicke zugeworfen, was wiederum Grace dazu veranlasste, Lyra mit Ignoranz zu strafen.

„Wir sollten hier unser Lager errichten“, sagte Leo, streckte sich und stellte seinen Rucksack ab.

„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Sarin sofort und deutete gen Himmel. „Sobald der Mond seinen Höhepunkt erreicht hat, können wir das Portal aktivieren. Zwei, vielleicht drei Stunden, dann ist es soweit.“

„Ihr habt Sarin gehört, ein kleines Lagerfeuer reicht.“ Sofort war Grace Feuer und Flamme und kümmerte sich darum, dass in weniger als fünf Minuten ihre Fische über der knisternden Hitze erwärmt wurden. Ihre beiden Pokémon, Arkani und Schillok, lagen neben ihr auf dem Boden und dösten.

Leo hatte sich etwas abseits niedergelassen und fütterte Walraisa und Luxtra. Vor allem das Wasser- und Eispokémon schien sich gar nicht in der Nähe des Feuers aufhalten zu wollen und rollte stattdessen vergnügt von links nach rechts.

Auch Lyra fütterte Felilou und Nebulak, gönnte dem Katzenpokémon eine lange Massage und zog die beiden anschließend wieder in ihre Pokébälle zurück. Dann blickte sie zu Sarin, der neben Grace auf dem Boden saß und in die Flammen starrte. Zuerst zögerte sie, doch nachdem sie sich einen Ruck gegeben hatte, stand sie auf und setzte sich auf der anderen Seite des Lagerfeuers auf den Boden. „Hey… es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war. Du willst uns nur helfen, das sehe ich jetzt ein.“

Sarin hob den Kopf und ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Danke, das freut mich. Deine Pokémon sehen sehr gesund und kräftig aus, du trainierst bestimmt regelmäßig mit ihnen.“

„Ja, das tue ich.“ Sogleich erhellte sich Lyras Miene ein wenig und sie rutschte hin und her, um es sich bequem zu machen. „Hast du auch ein Pokémon? Wenn du ganz alleine durch die Gegend reist, ist es bestimmt viel angenehmer und sicherer, wenn du Gesellschaft hast.“

Sarin lachte leise. „Weißt du, ich kann ganz gut auf mich alleine aufpassen.“

„Also bist du gar kein Trainer?“ Nachdenklich legte Grace den Kopf schief und umfasste ihre angewinkelten Beine mit den Armen. „Das hätte ich nicht gedacht, du hast so viel Ahnung von allem, da dachte ich…“

„Dass ich ein Trainer sein muss, ich verstehe schon“, beendete er ihren Satz und lächelte sanft. „Ja, ich habe ein Pokémon, aber es hält sich die meiste Zeit außerhalb seines Pokéballs auf. Es schätzt die Gesellschaft anderer nicht so sehr. Momentan habe ich es in meinem Pokéball und wenn es euch kennen lernen möchte, wird es von alleine erscheinen.“

„Das klingt ja sehr mysteriös. Welches Pokémon ist es?“ Neugierig lehnte Lyra sich nach vorne.

„Rate doch mal.“

Sofort schaltete Grace sich wieder ein. „Ein stures, eigenbrötlerisches Pokémon, das stark genug ist, um von dir unabhängig zu sein? Dann tippe ich auf… uff, das ist schwer. Ich kann dich gar nicht so gut einschätzen. Gib uns einen Tipp, welchen Typ hat es?“

„Also schön, aber nur den einen Tipp. Es hat einen Kampftyp.“

„Kampf?“, fragten Lyra und Grace aus einem Mund und grübelten still weiter.

In dem Moment kam auch Leo dazu, der mit dem Füttern seiner Pokémon fertig war und sie in ihre Pokébälle verfrachtet hatte. „Ein Kampftyp? Dann sage ich Wie-Shu. Es ist elegant, stark und flink, würde irgendwie zu dir passen.“

„Ja, finde ich auch.“ Bestätigend nickte Grace mit dem Kopf.

„Liegen wir richtig? Sag schon!“

„Nein, ich behalte das für mich. Geduldet euch einfach.“

„Du bist gemein.“ Lyra nahm einen kleinen Stock und bewarf Sarin damit, der den Stock grinsend abfing und in das Lagerfeuer legte.

Noch immer grinste Sarin und schüttelte tadelnd mit dem Kopf. „Wir sollten uns jetzt noch ein bisschen ausruhen. Ich sage euch Bescheid, wenn es losgehen kann.“
 

Pünktlich zum Hochstand des Mondes hatten die vier Jungtrainer sich um den Schrein der Ernte versammelt. Lyra hielt ihre halbe Steinplatte in den Händen und legte sie genau nach Sarins Anweisung in eine Vertiefung im Holz, die gar nicht auffiel, wenn man nicht wusste, dass es sie dort gab.

„So, fertig.“ Lyra trat einen Schritt zurück und schaute mit klopfendem Herzen nervös in den Nachthimmel. „Und du sagst, wir müssen jetzt nur darauf warten, dass die Wolken aufreißen und das Mondlicht auf die Platte fällt, ja?“

„Genau.“ Sarin nickte mit ernstem Gesichtsausdruck. „Mehr ist nicht zu tun.“

„Das erklärt einiges.“ Die Rosahaarige kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Als ich mit Cassie in den Ruinen unterwegs war, standen wir auch genau dann an dem Wandbild, als der Vollmond hineinschien und die eingesetzte Platte berührt hat. Oh Arceus, es geht los!“

Wie Sarin ihnen bereits aufgetragen hatte, fassten sie sich an den Händen. Sarin und Grace standen in der Mitte, links von Sarin befand sich Leo und neben Grace stand am anderen Ende Lyra, die mit der freien Hand die Platte umklammerte.

Die rabenschwarzen Nachtwolken gaben den Blick auf den Vollmond frei, dessen Licht die Steinplatte in ein tiefgrünes Licht tauchte, als würde sie von innen heraus selbst leuchten. Sogleich kam der vertraute Wind auf, den Lyra schon vom ersten Mal kannte, dann glühte die Steinplatte immer heller und heller. Es roch nach frisch gemähtem Gras und in der Ferne konnte sie den Ruf eines Pokémon hören.

Grace kniff die Augen zusammen und krallte sich sowohl in Sarins als auch in Lyras Hand.

Lyra keuchte, als ihr der Wind mit ganzer Kraft ins Gesicht blies, die Platte tauchte alles in gleißend helles Licht und dann fühlte sie, wie ihr etwas den Brustkorb zerdrückte. Sie wollte schreien, konnte sich jedoch keinen Millimeter bewegen und auch ihre Stimme brachte keinen Ton hervor. Es riss sie von den Füßen, schleuderte sie von links nach rechts, alles drehte sich und dann, ganz unvermittelt, hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen und stürzte auf kalten Stein.

In ihrer Hand hielt sie noch immer die halbe Steinplatte. Vollkommen verkrampft umklammerten ihre Finger den kalten, dunklen Stein, der keine Anzeichen dafür zeigte, dass er sie jemals hier her gebracht und den weißen Lichtwirbel hervorgerufen hatte.

Blinzelnd und zitternd richtete sie sich auf. „Leute? Seid ihr okay?“

Leo brummte nur wenige Meter neben ihr und hielt sich die Schläfen, als er aufstand. „Das war… unglaublich.“

„Warum ist es so dunkel hier? Wo sind wir?“ Das war Grace, die direkt neben Lyra auf dem Boden gelandet war. „Sarin?“

„Ich bin hier.“

Sobald Lyras Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie sich in einer Art Höhle befanden. An den Wänden waren Vertiefungen mit alten Kerzen und ganz am Ende stand so etwas wie ein Alter. „Hier geht es nicht weiter, wir müssen in die andere Richtung. Könnt ihr laufen?“

„Ja, alles bestens.“ Leo stützte sich an der Wand ab, während er voraus ging, wo es um eine Biegung herum schnell heller wurde.

Grace fuhr sich durch die Haare, wartete auf Sarin und atmete tief ein und aus. „Wow, das war total unglaublich. Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich funktioniert.“ Doch mehr schien sie zu dem Thema auch nicht sagen zu können, denn so kreidebleich, wie sie aussah, musste ihr Kreislauf ganz schön durcheinander geraten sein.

Nur noch wenige Meter, dann standen sie am Eingang der Höhle und schauten hinab auf ein Tal, das vom halb verdeckten Vollmond in ein schummriges Licht getaucht wurde. Ein Fluss schlängelte sich durch die karge Landschaft und neben ihnen führte einzig und alleine eine Steintreppe, die direkt in den Fels gehauen worden war, hinab.

„Hier sind wir richtig“, sprach Sarin und sein Blick war so finster wie die Nacht. „Das ist meine Heimat.“

Eisige Kälte

„Deine Heimat?“, wiederholten Lyra, Leo und Grace wie aus einem Mund und schauten Sarin verblüfft an. Sie hatten ihn nie großartig etwas über sich erzählen hören, aber dass er ausgerechnet aus dieser mysteriösen Gegend, in die es sie verschlagen hatte, stammte, überraschte sie sehr.

Sarin nickte und sein Blick wanderte über die schneebedeckte Landschaft in die Ferne. „Ja, hier bin ich aufgewachsen.“

Während Leo sich Schmutz von der Kleidung klopfte und Grace mit noch immer sehr blassem Gesicht die Steintreppe begutachtete, stellte sich Lyra neben Sarin und folgte seinem Blick. Sie kannte aus den Reiseführern keinen Ort, der mit diesem hier vergleichbar wäre. „Welche Region ist das? Wie Johto sieht es nicht aus.“

„Wir sind auch nicht in Johto.“

„Sondern?“

Sarin schaute sie an, sein Blick noch immer finster und die Gesichtszüge verbittert. „Das erkläre ich euch in Ruhe, wenn wir von diesem Berg runter sind und das Dorf erreicht haben.“

Grace lächelte ihm zu. „Klingt nach einer längeren Geschichte. Du bist uns auf jeden Fall eine große Erklärung schuldig.“

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und betrat die Steintreppe, die in schwindelerregender Höhe am Fels hinunter in das Tal mit dem Fluss führte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, kehrte Schnee von den Stufen herunter und winkte seine Begleiter zu sich. „Haltet euch direkt am Fels und schaut nicht so oft nach unten, dann passiert euch schon nichts.“

„Sehr vertrauenserweckend“, kommentierte Leo die Treppe, schüttelte den Kopf und folgte Sarin, Grace direkt hinter sich. Lyra bildete den Schluss und hatte nicht so große Probleme wie Grace, die aussah, als würde sie jeden Moment wieder ohnmächtig werden. Ihre Hände zitterten und ihr Gesicht schien mittlerweile vollkommen blutleer zu sein, doch sie hielt sich tapfer und folgte den beiden Jungen bis nach ganz unten.

Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, atmeten alle vier tief durch und schauten nach oben. Den Höhleneingang konnte man von hier aus kaum sehen und die Treppe schien im Nirgendwo zu verschwinden. Grace hielt sich an Leo fest und trank einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Besorgt berührte Sarin ihre Schulter, ließ sie jedoch wieder los, als Grace tapfer nickte und die Flasche wegpackte. „Gut. Wir müssen dort entlang, folgt mir einfach.“

Schweigend gingen sie hinter Sarin am Fluss entlang, folgten den Biegungen in der Landschaft und ließen die Höhle weit hinter sich. Für Anfang Mai war es ungewöhnlich kalt und schon bald begannen die Jungtrainer zu frieren. Lyra schaute ihrem Atem dabei zu, wie er in der eisigen Luft gefror. „Wie lange dauert es noch?“ Sie mussten schon mindestens eine Stunde unterwegs sein.

„Nicht mehr lange. Sehr ihr den See dort hinten? Da befindet sich auch das Dorf.“

Mit dem Ziel vor Augen lief es sich deutlich besser und die Gruppe legte noch einmal an Geschwindigkeit zu, um der Kälte zu entkommen. Dennoch brauchten sie noch ein gutes Stück, bis sie die ersten Häuser sehen konnten. An kleinen Stegen waren Boote befestigt und neben dem Dorf erstreckten sich rund um den See in das Tal hinein Plantagen mit Beeren und Früchten, doch irgendetwas an dem Anblick verunsicherte Lyra. Sie wusste nicht genau, was sie störte, bis sie Menschen und Pokémon erkennen konnte, die Löcher in den Häusern zunagelten, umgeknickte Bäume zerkleinerten und aus dem Weg räumten. Je näher sie kamen, desto größer wurde das Ausmaß der Zerstörung.

Sarin stieß einen erstickten Laut aus, rannte los und sie hatten Mühe ihm zu folgen. Einige Menschen warfen ihnen misstrauische Blicke zu, doch als sie Sarin erkannten, wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ignorierten ihn. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er auf den Hauptplatz des Dorfes einbog, wo die Zerstörung am größten war. Ganze Häuser waren zerstört, Dachziegel und Glas lagen in Splittern auf dem Boden verstreut. Als er eine junge Frau entdeckte, lief er zu ihr.

„Leia, was ist hier passiert?“

Die Frau drehte sich zu ihm um, schloss ihn fest in die Arme und ihre dunkelroten Haare fielen in unordentlichen Strähnen ihren Rücken herab. „Es tut mir so leid, Sarin. Ich konnte nichts tun.“

Er biss sie auf die Unterlippe, erwiderte die Umarmung und ließ Leia los, als die anderen drei zu ihm stießen. „Das halbe Dorf ist zerstört, wie konnte das passieren? Haben sie…? Hat er…?“

Leia nickte schwach und winkte ihr Milotic zu sich. „Es waren zu viele, als dass wir etwas gegen sie hätten ausrichten können. Sie haben… oh Kyurem! Sie haben uns mit ihren Washakwil angegriffen. Ich schwöre dir, Sarin, sollte ich jemals die Gelegenheit bekommen Ministerin Katleen oder Ministerin Sofia das heimzuzahlen, werde ich es tun. Wir sind doch nur ein kleines Fischerdorf mit ein paar Plantagen. Was bringt es ihnen, wenn sie uns vernichten?“

„Sarin, was ist hier los?“ Verwirrt schaute Grace sich um und begutachtete die Schäden um sie herum. „Ich verstehe nicht, was hier passiert ist.“

Als hätte sie die Neuankömmlinge erst jetzt bemerkt, raffte Leia ihren purpurfarbenen Umhang und hob stolz das Kinn an. „Mein Name ist Leia und ich bin die Bürgermeisterin dieses Dorfes. Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“

„Ist schon gut, Leia. Sie gehören zu mir“, besänftigte Sarin seine alte Bekannte.

„Mein Name ist Lyra Hawkins. Das sind Grace Light und Leo Galloway“, stellte Lyra sich und ihre Begleiter vor. „Wir sind auf der Suche nach einer Freundin von mir und Sarin hilft uns dabei.“

„Allerdings wäre es interessant zu wissen, wo genau wir uns hier befinden“, ergänzte Leo. „Wären Sie so nett und würden uns verraten, in welcher Region wir gerade sind, Leia?“

Sie wirkte überrascht, antwortete jedoch nicht, sondern warf Sarin einen verschwörerischen Blick zu. „Sind das etwa…?“

Er nickte. „Ja, ich habe sie gefunden und hergebracht, so wie Yegor es mir aufgetragen hat.“

Leia quietschte vergnügt und schlug in die Hände. „Großvater wird sich über diese ausgezeichneten Nachrichten freuen. Ich bringe euch sofort zu ihm. Folgt mir!“

Lyra schaute Leo und Grace verwirrt an, doch an den ebenfalls verwirrten Blicken, die ihr begegneten, erkannte sie, dass sie nicht alleine mit ihren Gedanken und Fragen war. Unauffällig ließen die drei sich ein paar Meter nach hinten fallen, während sie Sarin und Leia durch das zerstörte Dorf bis zum Rand der Plantagen folgten.

„Irgendetwas ist hier faul.“

Leo brummte eine Zustimmung. „Es scheint zu einer Epidemie zu werden, dass niemand mit der ganzen Wahrheit rausrückt. Meint ihr, Sarin steckt mit den anderen unter einer Decke?“

„Ich glaube nicht, dass er einer von den Bösen ist.“ In Grace‘ Blick spiegelte sich so etwas wie Bewunderung für Sarin, doch selbst sie musste zugeben, dass er sich merkwürdig benahm. „Warten wir einfach seine Erklärung ab. Er hat uns immerhin gesagt, dass er im Dorf alles erklären wird.“

„Alles, was ich will, ist Cassie zu finden“, sagte Lyra und verschränkte beim Gehen die Arme vor ihrem Oberkörper. „Aber Sarin hat uns bisher geholfen, also scheint er zumindest kein Feind zu sein. Wir sollten ihn über Nero, Aira und Aero ausfragen.“

„Ja, bestimmt weiß er mehr über sie. Er scheint ohnehin sehr viel mehr zu wissen, als er uns gegenüber zugibt.“ Leo knirschte mit den Zähnen und wirkte sehr unzufrieden mit der Situation, was Lyra voll und ganz verstehen konnte. Sie wollten doch endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen, stattdessen wurden sie nun auch noch von Sarin hingehalten.

Leia führte sie zu einem alten Mann, der gemeinsam mit seinem Nidoking umgestürzte Sträucher mit Beeren aufrichtete und neu einpflanzte. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und trotz seines offenbar hohen Alters schien er keine Probleme mit der körperlich anstrengenden Arbeit zu haben. „Großvater, Sarin ist zurück und er hat Freunde mitgebracht.“

Dass Leia sie plötzlich als Freunde bezeichnete, ließ Lyra das Gesicht verziehen, doch sie hielt sich mit einem Kommentar zurück. Vielleicht würde der alte Mann ihnen Antworten geben.

Yegor schaute von seiner Arbeit auf, musterte die Gruppe und klopfte seinem Nidoking auf die Seite, damit es sich eine kleine Pause gönnte. „Das sind sie also?“

Sarin nickte. „Ja. Zuerst war ich mir eine ganze Weile nicht sicher, aber wie du gesagt hast, hat sich alles gefügt. Das sind Lyra, Leo und Grace.“

„Nette Namen.“ Der Alte lachte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wie geht es euch, habt ihr die Teleportation gut überstanden? Die ersten Male war mir so schlecht, dass ich Nero vollgekotzt habe.“

Grace und Leo wechselten einen schnellen Blick. „Sie kennen Nero Blackwood?“

„Natürlich kenne ich den alten Miesepeter.“ Yegor winkte ab. „Aber alles der Reihe nach. Leia, sei so lieb und bereite für unsere Gäste etwas zu essen und Tee vor.“

„Soll ich nicht lieber dabei bleiben?“

„Nein, ich brauche dich hier nicht. Geh du nur.“

Leia wirkte verletzt, streckte jedoch schnell den Rücken durch und kehrte zum Dorf zurück, um der Bitte ihres Großvaters nachzugehen. Ihr Milotic schlängelte gemächlich hinter ihr her.

Yegor schaute ihr einen Moment hinterher, dann musterte er die Jungtrainer erneut. „Das erste Pokémon eines Trainers ist das, mit dem man sein Leben lang die engste Bindung haben wird. Welche Starter habt ihr?“

„Felilou, Schillok und Luxtra, aber das ist doch nicht wichtig“, meinte Leo leicht genervt. „Wir würden viel lieber wissen, was Sie uns zu erzählen haben. Wie war Ihr Name noch gleich?“

„Ich bin Yegor, merkt euch das. Felilou, Schillok und Luxtra also… ja, das ist eine gute Basis. Darauf können wir aufbauen.“

„Allmählich sind wir das Warten leid.“ Nun verschränkte auch Grace die Arme vor ihrem Körper. „Wir wollen wissen, was los ist.“

Yegor seufzte. „Ihr müsst eine ganze Tonne an Fragen haben, aber alles zu seiner Zeit. Der Muffelkopf Nero hat euch wahrscheinlich nur mit halben Sachen abgespeist, nicht wahr? Ja, so kenne ich ihn, den guten, alten Kotzbrocken. Kommt mit zum Dorf, dann setzen wir uns ins Warme und können über alles reden. Sarin, kannst du Finn sagen, dass wir komplett sind?“

Sarin runzelte zwar die Stirn, nickte jedoch und wandte sich seinen Begleitern zu. „Bitte habt noch ein kleines bisschen Geduld. Ihr bekommt alle Antworten, das verspreche ich euch. Ich bin in einer Stunde zurück.“

Leo schaute ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterher, dann setzten sie sich wieder alle in Bewegung und gingen mit Yegor und seinem Nidoking zurück zum Dorf. Die meisten Häuser hatten Schäden, aber ein paar wirkten heil und zu einem dieser Häuser führte Yegor sie. Im Inneren stand Leia an einem Holztisch und deckte für sie alle Teller und Tassen ein. Kleine Brote mit Marmelade standen auf einem großen Holzteller, daneben dampfte eine dickbäuchige Kanne mit Yapabeertee.

„Vielen Dank, Leia. Du kannst uns jetzt alleine lassen.“

Enttäuscht zog Leia sich nach draußen zurück. Es war offensichtlich, dass sie bei dem folgenden Gespräch gerne dabei gewesen wäre, doch ihr Großvater scheuchte sie zurück an die Arbeit.

Lyra, Leo und Grace nahmen auf der einen Seite des Tisches Platz, während Yegor sein Nidoking in einen Aprikokoball zurückzog und sich ihnen gegenüber hinsetzte.

„Tee?“

Alle drei lehnten vorerst dankend ab, woraufhin Yegor mit den Schultern zuckte und sich den Tee in eine Tasse goss, in die er großzügig Zucker gab. Nachdem er davon getrunken hatte, entspannte sich sein Gesicht und er wirkte zufrieden. „Also dann, ihr habt eine Menge Fragen, nicht wahr? Ich weiß nicht, wie viel ihr bisher wisst, daher werde ich euch einfach alles von Anfang an erklären, aber zuerst warten wir auf Sarin und Finn.“

„Wer ist Finn?“

Yegor lächelte Lyra an. „Euer letzter Gefährte. Dann seid ihr zu fünft und komplett. Alle endlich vereint.“

Damit konnte Lyra recht wenig anfangen, aber das war mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Ihr blieb nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass Yegor Licht ins Dunkel bringen würde. Wenn er Nero kannte, dann kannte er höchstwahrscheinlich auch Aira und Aero. Außerdem wusste er von dem Teleportationsmechanismus und schien ihn sogar selbst schon benutzt zu haben. Wenn es jemanden gab, der ihnen helfen konnte Cassie zu finden, dann er. Er musste ihnen einfach helfen können.

Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war nahezu unerträglich. Sarin ließ auf sich warten und Yegor sprach sie in der Zwischenzeit nicht mehr an. Erst als der Tee bereits kalt geworden war, klopfte es an der Tür.

Mit einem Schwung kalter Luft trat Sarin ein, direkt hinter ihm ein schwarzhaariger Junge mit stechend türkisfarbenen Augen. Das musste Finn sein. Auch Sarins Augen waren von intensiver Farbe, wirkten aber grünlicher und wärmer.

„Ah, da seid ihr ja.“ Yegor deutete auf die zwei freien Stühle neben sich, auf die sich Sarin und Finn setzten.

Lyra versuchte freundlich zu lächeln, doch ihr Kopf brummte und Finns Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Er schaute sie an, als würde er sie am liebsten auf der Stelle erdolchen wollen, so durchdringend war sein Blick.

Gut gelaunt biss Yegor in eines der Brote. „Also dann, meine Lieben: Willkommen in der Zerrwelt!“

Gefährliche Wahrheit

Yegor grinste und schaute den Jungtrainern langsam nacheinander direkt in die Augen. Ihn schien diese Zusammenkunft beinahe zu amüsieren, denn gut gelaunt biss er in sein Brötchen und ließ die Stille, die eintrat, auf sich wirken.

Es war Grace, die die Stille schließlich zuerst brach, indem sie sich räusperte, unruhig auf der Stuhlkante nach vorne rutschte und die Hände faltete. „Zerrwelt, was soll das sein? Ich habe nur von einer Zerrwelt gehört und das auch nur in alten Legenden.“

Das Grinsen auf Yegors Gesicht wurde noch eine Spur breiter, sofern das überhaupt möglich war, dann nippte er an dem kalten Yapabeertee und stellte die Tasse wieder ab. „Grace, du scheinst mir ein intelligentes Mädchen zu sein. Was hast du über die Zerrwelt gehört?“

Sie zog eine Augenbraue nach oben – eine Angewohnheit, die Lyra schon oft an ihr gesehen hatte. Erneut räusperte Grace sich. „Die Zerrwelt ist den Legenden zufolge eine Parallelwelt und entstand durch …“ Einen Moment lang legte sie die Stirn in Falten und überlegte. „Durch eine Art Verwirbelung von Raum und Zeit, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hat etwas mit Dialga, Palkia und Giratina zu tun. Giratina soll die Zerrwelt geschaffen haben und in ihr leben. Angeblich ist die Region Sinnoh der Zerrwelt besonders nahe, weshalb es dort eine Verbindung geben soll. Die Zerrwelt ist ein Abbild unserer Welt, allerdings sind dort Raum und Zeit anders gekrümmt oder etwas in der Richtung.“

„Richtig, das kommt in etwa hin.“

„Wir befinden uns aber nicht in Sinnoh, außerdem wirkt das hier nicht wie das, was Grace gerade beschrieben hat“, schaltete sich nun auch Leo ein, der für seine Kritik von Finn mit einem finsteren Blick gestraft wurde, der Lyra frösteln ließ, obwohl er nicht ihr galt.

Yegor beschwichtigte Finn, indem er ihm kurz die Hand auf die Schulter legte, dann fuhr er fort. „Auch das ist richtig. Die Zerrwelt ist eine Parallelwelt und hat sich seit ihrer Entstehung über alle Regionen ausgebreitet. Das Tal, in dem wir hier leben, liegt an einer Stelle der Zerrwelt, die sich im Laufe der Zeit vollständig stabilisiert hat und Spiegelungen aller Regionen enthält. Die Orangenhaine unseres Dorfes stammen ursprünglich von den Orange Inseln, das Gebirge im Süden, in dem ihr in der Höhle angekommen seid, liegt in eurer Welt in Blizzach. Alles hat sich irgendwie verändert und neu zusammengefügt. So ist unsere Welt entstanden. Vor einigen Jahrhunderten kam es zu einem großen Kampf der Drachenpokémon, die seit jeher unsere Welt beschützen. Infolgedessen verschwammen die Grenzen der Welten und Menschen aus allen Regionen gelangten durch Zufall hier her. Sie konnten den Kampf der Legendären beenden und ließen sich hier nieder, als sich die Zerrwelt wieder stabilisierte und die Übergange verschlossen wurden.“

Erneut breitete sich Schweigen über die Gruppe aus, das dieses Mal jedoch schneller durchbrochen wurde als zuvor. Lyra öffnete den Mund, schloss ihn wieder und blickte zu Sarin und Finn, dann zu Grace und Leo. „Wenn das nicht so verrückt klingen würde, würde ich Ihnen nicht glauben, Yegor. Aber ich tue es. Ich weiß nicht, wieso, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass das hier die einzige Erklärung ist, die ich nachvollziehen kann.“

„Geht mir auch so.“ Grace warf ihre blonden Locken über die Schulter nach hinten. „Wir haben in der letzten Zeit ziemlich verwirrende Sachen erlebt und Sie wirken nicht wie ein Lügner, Yegor.“

Sarin schenkte Grace ein dankbares Lächeln. „Ich wusste, dass ihr uns glauben würdet. Yegor hat mich in eure Welt geschickt, um euch zu suchen. Ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben.“

Grace erwiderte sein Lächeln und eine schüchterne Röte legte sich auf ihre Wangen, die Yegor wissend schmunzeln ließ. „Aber warum hast du ausgerechnet uns gesucht? Was hat die Zerrwelt mit uns oder“, sie warf Lyra einen Seitenblick zu, „Cassandra zu tun?“

„Eine Menge“, mischte sich nun auch Finn ein, der mit verschränkten Armen auf seinem Platz saß.

„Lasst mich erklären“, unterbrach Yegor den Jüngeren. „Die Menschen, die diesen Teil der Zerrwelt bevölkerten, sehnten sich nach einem Anführer, also beteten sie zu den Legendären. Eines Tages erschien Kyurem und erwählte den ersten König, indem er ihn mit seinem eisigen Atem anhauchte und seine Haare so silbern wurden wie Mondlicht, das sich in Kristall brach. Seither regiert die Königsfamilie über uns und sichert das Fortbestehen unserer Welt. In jeder Generation wird ein Herrscherkind mit silbernen Haaren geboren, was das Zeichen für die andauernde Gunst der Drachenpokémon ist.“

Lyras Augen weiteten sich, als sie das hörte. „Aber Cassies Haare sind silbern! Soll das etwa bedeuten, dass sie …?“

Yegor nickte und sein Lächeln verschwand. Stattdessen schaute er traurig in die Ferne, als würde eine Erinnerung vor seinem inneren Auge lebendig werden. „Ja, meine liebe Lyra, das bedeutet es. Prinz Melik ist seit dem Verschwinden seiner Eltern unser Herrscher, doch noch nie gab es in einer Generation zwei Kinder, die von Kyurem gesegnet waren. Mit der Geburt von Prinzessin Cassandra wurde klar, dass die Drachen sich nicht einig über die Thronfolge waren. Es kam zu Aufständen in der Bevölkerung und auch die Pokémon, die sonst friedlich mit uns im Tal leben, wurden unruhig. Als die Prinzessin gerade einmal acht Jahre alt war, verdunkelte sich der Himmel und die Spiegelbilder von Zekrom und Reshiram erschienen. Sie bekämpften sich, ließen das ganze Tal erzittern und verschwanden kurz darauf wieder. In diesem Moment war klar, dass es nicht zwei Herrscher geben konnte.“

„Bei Arceus!“ Lyra holte erschrocken Luft und wurde ganz blass. „Das heißt, dass Cassie und Melik sich ebenfalls bekämpften?“

„Nein.“ Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. „Cassandra war noch ein Kind und Prinz Melik schon damals durch die strenge Erziehung seines Vaters auf den Thron versessen. Die sieben Minister, die für den Schutz des Landes und der Königsfamilie zuständig sind, wussten nicht, auf wessen Seite sie stehen sollten. Es kam zu einem Putsch. Vier der Minister stürzten die drei anderen, das Volk wurde gegen Cassandra aufgehetzt, weil es keine zwei Herrscher geben durfte. Uns blieb keine andere Möglichkeit als sie aus dem Palast zu retten, doch auch bei uns war sie nicht sicher. Sie musste fort von hier, fort aus der Zerrwelt. Aus diesem Grund haben wir sie in eure Welt gebracht und dafür gesorgt, dass sie dort ein neues Zuhause findet.“

Leo kniff die Augen bestürzt zusammen und auch Grace und Lyra konnten sich nicht vorstellen, was Cassandra schon in einem so jungen Alter durchgemacht haben musste. „Und wer sind wir?“, fragte nun Leo, der als einziger einen klaren Kopf behalten hatte. „Sie haben uns doch gesagt, dass die Tore zwischen den Welten verschlossen sind. Wie konnte Cassie entkommen?“

„Wir sind die Wächter.“ Yegor sah das Unverständnis in den Gesichtern aufblitzen und seufzte. „Ich nehme an, dass Nero euch darüber nicht richtig aufgeklärt hat? Nein? Ja, das dachte ich mir. In jeder Generation gibt es fünf Wächter. Wir stammen aus den beiden Welten und können als einzige nach Belieben die Tore zwischen den Welten durchqueren. Wir haben Cassandra nach Ebenholz City gebracht und mit Hilfe einer alten Magie ihre Erinnerungen gelöscht, um sie zu beschützen. Doch nun sind wir alt und unsere Macht schwindet. Es ist Zeit für neue Wächter und wie es das Schicksal so will, haben wir zueinander gefunden. Lyra, Grace, Leo, Sarin und Finn, ihr seid die fünf neuen Wächter. Ihr seid die einzigen, die Cassandra und die Welten jetzt noch vor einem drohenden Krieg der Drachenpokémon retten können, denn wenn unsere Zerrwelt instabil wird und untergeht, wird das große Schäden in eurer Welt anrichten. Es liegt in euren Händen.“

„Halt, halt, halt!“ Lyra war aufgesprungen. „Das geht mir jetzt zu weit. Wir sind bestimmt keine Wächter-Dings, wir werden keine Welten retten. Wir sind nur hier, um Cassie zu finden und zurück nach Hause zu bringen.“

„Prinzessin Cassandra ist zu Hause. Genau das ist ja das Problem.“

„Nein, Yegor.“ Auch Leo stand auf und stellte sich hinter Grace‘ Stuhl neben Lyra. „Sie hat recht. Wir sind ganz normale Pokémontrainer, keine Auserwählten.“

„Ihr könnt dem Schicksal nicht entkommen“, sagte Finn beiläufig und wirkte unbeeindruckt von dem aufkommenden Widerstand. „Wir haben uns das ebenfalls nicht ausgesucht, aber wir haben von Anfang an gespürt, dass wir anders sind, bis wir Yegor getroffen haben. Ihr müsst es auch spüren, das weiß ich.“

„Das ist verrückt. Wirklich verrückt.“ Leo erwiderte Finns finsteren Blick. „Wieso sollten wir euch glauben?“

„Weil nur wir Wächter die Teleportation überhaupt aktivieren können“, konterte Finn sichtlich genervt. „Cassandra ist nur deshalb wieder in unserer Welt gelandet, weil Lyra und sie in der Ruine des Bronzeturms am Mechanismus herumgespielt haben. Lyra hat mit Hilfe der Steinplatte ihre Kraft kanalisiert, die Teleportation aktiviert und Cassie zurück in die Zerrwelt geschickt.“ Er schnaubte. „Natürlich unabsichtlich“, fügte er hinzu. „Aero und Aira hätten ihr niemals die Platte geben dürfen, sie ist viel zu unerfahren und nicht vertrauenswürdig genug.“

„Hey!“ Lyra machte einen Schritt auf ihn zu. „Wie kommst du auf die Idee, dass ich nicht vertrauenswürdig bin! Ich habe Cassie niemals in Gefahr bringen wollen und immerhin wusste ich gar nichts von der ganzen Sache!“

„Lyra trifft keine Schuld“, bestätigte auch Sarin und rieb sich die Schläfe. Es war offensichtlich, dass die Stimmung allmählich hochkochte. „Vielleicht sollten wir uns alle wieder hinsetzen, beruhigen und eine Tasse Tee trinken.“

„Als ob kalter Tee etwas an der Situation ändern würde!“, giftete Lyra wütend.

„Es bringt nichts, sie mit Samthandschuhen anzupacken“, sagte Finn herausfordernd. „Yegor, Sarin, ihr seht doch beide, wie unreif die anderen sind. Wir sollten die Mission einfach alleine durchziehen.“

„Ausgeschlossen“, knurrte Yegor und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr klirrte und die Stimmen verstummten sofort. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. „Wir Wächter arbeiten immer zusammen im Team, niemals alleine. Meine Zeit als Wächter ist bald abgelaufen, den anderen vier Wächtern meiner Generation ergeht es ebenso. Ihr könnt die Welten nur retten, wenn ihr zusammenarbeitet und gemeinsam nach einer Lösung sucht. Nur zusammen seid ihr stark genug.“

Finn sah aus, als würde er mit sich kämpfen, ob er überhaupt etwas sagen sollte, dann entschied er sich jedoch dafür. „Sarin und ich haben starke Pokémon als Partner, aber diese drei nicht. Nun, Leo hat zumindest ein vollentwickeltes Pokémon, aber Lyra hat nur ein Felilou und Grace ein Schillok als Partner. Was sollen wir damit machen, hm? Sollen wir Prinz Melik zu Tode kratzen und mit Blubber angreifen?“

„Felilou ist nicht schwach“, zischte Lyra, setzte sich jedoch wieder auf ihren Stuhl, ebenso wie Leo. Finn wurde ihr mit jedem Wort nur noch unsympathischer, sie hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht.

Finns Blick tangierte sie nur kurz, dann wandte er sich wieder den anderen zu. „Das erste Pokémon eines Trainers formt mit ihm das stärkste Band. Wir Wächter haben alle genau ein Pokémon als lebenslangen Seelenpartner, das ebenso wie wir die Teleportation nutzen kann. Nur mit einem starken Partner an unserer Seite können wir gewinnen.“

„Es kommt nicht nur auf die äußere Stärke an.“ Grace straffte ihre Schultern. „Lyras Felilou ist vielleicht kein starker Kämpfer, aber es vertraut ihr und seine innere Stärke ist sein starker Willen. Ebenso ist es bei Schillok und mir. Wenn wir kämpfen müssen, werden wir gemeinsam mit diesen Pokémon kämpfen. Nicht wahr, Lyra?“

Lyra nickte.

„Leo?“

Auch Leo nickte.

Finn atmete tief aus, dann zuckte er mit den Schultern. „Gut, ist mir auch egal. Macht, was ihr wollt.“

Die Trainer starrten alle auf den gedeckten Tisch. Yegor nahm sich noch ein zweites Brötchen, Sarin trank von dem Tee, Finn murmelte undefinierbares Zeug. Nachdem Yegor einen Bissen genommen hatte, stand er auf und setzte frisches Wasser für eine neue Kanne mit Tee auf. „Ich weiß, dass es nicht leicht für euch ist. Als wir damals in eurem Alter waren, wollten wir auch nicht glauben, was für eine Aufgabe uns vorbestimmt war. Wir hatten das Glück eine friedliche Zeit zu erleben. Vielleicht haben wir mit Cassandras Flucht nicht alles richtig gemacht, aber es war die einzige Möglichkeit, die wir gesehen haben, um einen Krieg zu verhindern. Nun liegt es an euch. Wir Alten werden euch keine große Hilfe mehr sein.“

Lyra legte erschöpft den Kopf in den Nacken. Das waren verdammt viele Wahrheiten auf einen Schlag. Gefährliche Wahrheiten noch dazu. „Wer sind überhaupt die anderen Wächter? Nero, Aira und Aero leben in unserer Welt, Sie hier in der Zerrwelt. Aber wer ist der fünfte Wächter?“

„Ich werde euch ein Foto holen, wartet kurz.“ Mit diesen Worten verließ Yegor den Raum.

Finn schaute ihm nach und sobald der Alte außer Hörweite war, beugte er sich zu den drei neuen Wächtern vor. „Damit eine Sache klar ist: Es steht verdammt viel auf dem Spiel. Das hier ist für euch nur eine Welt, in die ihr zufällig geraten seid, aber für Sarin und mich ist das unser Zuhause. Wir müssen viel aufgeben, wenn wir Wächter sein wollen. Ich bin ein Ritter in der königlichen Garde und Sarin ist ein Mitglied der königlichen Familie. Wir könnten bei dieser Sache alles verlieren, was uns etwas bedeutet.“

„Ein Mitglied der königlichen Familie?“ Grace japste und schaute Sarin mit großen Augen an. „Wie meint er das?“

Sarin lächelte gequält. „Tja, ich schätze, jetzt muss ich es euch sagen.“ Er wuschelte sich nervös durch die braunen Haare. „Cassandra ist meine kleine Schwester, Melik mein großer Bruder. Ich bin ein Prinz der Zerrwelt.“

Zarte Bande

Als Yegor mit dem Foto zurückkehrte, starrten sie Sarin noch immer mit offenem Mund an, doch Yegor kümmerte sich nicht darum und warf Lyra ein Foto hin, das schon vergilbt und leicht zerknittert war. „Ist schon ein paar Jahre alt, aber man erkennt uns noch ganz gut. Das da in der Mitte bin ich und hier am Rand ist Nero, man erkennt ihn unmissverständlich an der Fresse, die er immer gezogen hat. Das da sind Aira und Aero und hier ist unsere Nummer Fünf.“

„Josephine“, wisperte Lyra ungläubig, nahm das Foto in die Hand und schaute es genauer an. „Das ist Josephine, die Leiterin unseres Waisenhauses!“

„Ganz genau. Josephine hatte schon immer eine mütterliche Art, das Waisenhaus war die Erfüllung ihrer Träume. Wir haben all die Jahre immer Kontakt gehalten und als wir Cassandra evakuieren mussten, fiel uns die Wahl nicht schwer. Wir wussten, dass sie bei ihr am besten aufgehoben sein würde.“

„Josephine …“, wiederholte Lyra, gab Yegor das Foto zurück und atmete einmal tief durch. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Es kommt mir so vor, als wäre mein ganzes Leben eine Lüge gewesen, als hätte immer irgendwer die Fäden in der Hand gehabt und alles in eine Richtung gelenkt. Ich …“

„Vielleicht nennst du es auch einfach Schicksal?“, schlug Yegor vor und steckte das Foto in seine Brusttasche. „Josephine hat schon früh gespürt, dass du einer der Wächter sein wirst. Wir fühlen es, wenn wir den neuen Wächtern gegenüber stehen. Sie war immer sehr froh, dass Cassandra und du so gute Freundinnen wart. Auf diese Weise hattet ihr euch und wart nicht alleine. Sie hat immer auf euch beide aufgepasst, Lyra. Ihr seht alle ziemlich geschafft aus, warum ruht ihr euch nicht ein wenig aus, während ich kurz zu Leia gehe und mich anschließend um das Abendessen kümmere? Heute Abend sieht die Welt bestimmt schon anders aus.“
 

Leia hatte ein üppiges Mahl gekocht. Sie empfand die Anwesenheit aller neuen Wächter als Grund für ein Festessen und hatte alles aufgefahren, was sie zu bieten hatte. Das Essen schmeckte großartig, auch wenn es schlicht war im Gegensatz zu dem, was Grace ihnen in ihrem Haus in Alabastia zum Frühstück aufgetischt hatten. Die Menschen in der Zerrwelt lebten einfacher, waren nicht auf dem technischen Stand der anderen Welt und trotzdem hatte Leia in kürzester Zeit unterschiedliche Speisen gezaubert.

Nach dem Essen saßen Sarin, Finn, Leo, Lyra und Grace in Yegors Wohnzimmer auf Kissen auf dem Boden und wärmten sich an dem knisternden Kaminfeuer, das der alte Wächter entzündet hatte. Der Tag neigte sich dem Ende zu, draußen war es bereits dunkel geworden und noch immer gab es offene Fragen zu klären.

Sie hatten sich beim Essen nicht über Cassandra oder die Wächter unterhalten, doch nun, da sie wieder unter sich waren, wollte Lyra noch mehr darüber wissen. „Wie lange warst du in unserer Welt unterwegs, bis du uns gefunden hast?“, fragte sie Sarin und rutschte auf ihrem Kissen etwas näher an das wärmende Feuer heran.

„Ich war früher schon ein paar Mal in eurer Welt, um Cassie aus der Ferne zu beobachten, aber richtig nach euch gesucht habe ich etwa ein knappes Jahr lang. Ich bin durch alle Regionen gezogen, habe alle Städte abgeklappert und dann zufällig Leo und Grace gefunden. Dass du eine Wächterin bist, wusste ich ja bereits von Josephine. Es hat dann noch weitere zwei Monate gedauert, bis Leo, Grace und du endlich zueinander gefunden habt. Direkt eingreifen sollte ich nicht, aber Josephine und ich haben euch immerhin in die richtige Richtung lenken können.“

„Dann hast du uns also zwei Monate lang wie ein Schatten begleitet?“ Grace‘ Augen leuchteten und man konnte sich nicht sicher sein, ob das nur am Feuerschein lag oder sich noch etwas anderes in ihnen offenbarte. „Und du bist schon früher in unserer Welt gewesen? Ganz alleine als Kind?“

Sarin lächelte. „Ja, ganz alleine. Wer hätte mich auch begleiten können? Nach der Sache mit Cassandra hat mein Bruder die alten Wächter bewachen lassen wollen, aber hier in der Zerrwelt blieb nur Yegor zurück. Deshalb war ich schon früh alleine unterwegs. Wenn ich mal für ein paar Tage verschwunden bin, hat das Melik nicht gekümmert. Er hat sich nie um meine Anwesenheit geschert.“

„Hattest du keine Angst, dass dir etwas zustoßen könnte?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe doch immer zwei Beschützer bei mir. Meine Pokémon sind immer an meiner Seite. Nun, zumindest so gut wie immer.“

„Er hat einen Streuner“, ergänzte Finn aus der Ecke. „Sein Partner mag keine Bälle und verbringt deshalb fast keine Zeit im Aprikokoball.“

„Deshalb haben wir nie gesehen, wie du mit deinen Pokémon interagierst“, mutmaßte Leo, woraufhin Sarin nickte.

„Genau.“

„Verrätst du uns auch, was für Pokémon du hast?“ Grace lächelte. „Du hast noch nie gesagt, was genau deine Pokémon sind. Ich bin wirklich gespannt.“

„Als Kind habe ich ein verletztes Riolu im Wald gefunden. Jetzt ist es ein Lucario und befindet sich vermutlich ganz in der Nähe des Hauses. Mein anderes Pokémon ist nichts Besonderes, alle Mitglieder der Königsfamilie haben eins.“

„Ein was?“, fragte Lyra. „Nun mach es doch nicht so spannend.“

„Ein Golbit. Nun, oder ein Golgantes, wenn es schon entwickelt ist.“

„Golbit?“ Lyra saß augenblicklich kerzengerade. „Aber genau so ein Pokémon-Ei haben wir …“

„In der Nacht beim Waisenhaus gefunden, ich weiß.“ Sarins weiße Zähne blitzten auf. „Die Nacht war echt furchtbar, ich war von Kopf bis Fuß durchnässt und mit Schlamm bedeckt. Beinahe hätte man mich erwischt, wie ich Cassies Golbit-Ei aus der Schatzkammer gestohlen habe. Ich habe es dann bei euch im Garten versteckt und Lucario hat euch geweckt. Wir sind geblieben, bis ihr das Ei hattet, dann ging es zurück in die Zerrwelt.“

„Wieso hast du ein Ei vom Schloss bis zu unserem Waisenhaus gebracht?“

„Jedes Mitglied der Königsfamilie hat ein Golbit, das war schon von Anfang an so. In der Schatzkammer des Schlosses liegen die Pokémon-Eier, die Kyurem dem ersten König übergeben hat. Durch Kyurems Atem sind die Eier irgendwie konserviert, jedenfalls schlüpfen die Pokémon nur, wenn sie spüren, dass das richtige Familienmitglied bei ihnen ist. Cassies Ei hat schon früh auf sie reagiert, aber Vater und später Melik haben dafür gesorgt, dass sie keinen Kontakt mehr dazu hatte. Ich dachte mir, dass Golbit und sie es verdient haben endlich vereint zu sein. Deshalb der ganze Aufwand.“

„Das ist so nett von dir, Sarin.“ Grace blickte ihn verträumt an. „Du bist ein richtiger Held.“

„Und du, meine liebe Grace, bist fukanomüde.“ Leo stupste sie an und erntete dafür einen bösen Blick von ihr.

„Wieso sollte ich müde sein?“

„Weil du Sarin anstarrst, als hättest du einen Traum vor dir.“

Grace errötete, schlug Leo gegen den Oberarm, woraufhin dieser lachte und Grace kitzelte. Während die beiden in eine Kabbelei verfielen und sich am Ende gegenseitig die Kissen um die Ohren schlugen, verdrehte Finn genervt die Augen und Sarin schaute ein wenig peinlich berührt zu Boden. Die anfängliche Abneigung, die Finn offensiv demonstriert hatte, schien abzuflachen, denn er gab keinen bissigen Kommentar mehr von sich. Stattdessen stand er auf, legte sein Kissen zurück auf das Sofa und verkündete, dass er nun gehen würde. „Wir sehen uns morgen früh, dann können wir besprechen, wie wir die nächste Zeit vorgehen werden.“

„Ich mache mich dann jetzt auch auf den Weg“, schloss sich Sarin an. „Lucario braucht bestimmt noch etwas Bewegung und ich könnte ein wenig mit ihm trainieren. Falls irgendetwas ist, schlafen Finn und ich auf Leias Dachboden.“ Bevor er ging, nahm er Grace‘ Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Die beiden teilten einen kurzen, aber innigen Blick, dann ließ er sie los und schloss sich Finn an, der an der Tür auf ihn wartete.

Grace schaute den beiden hinterher, dann stand auch sie auf und gab Leo einen letzten Schubs. „Du bist echt unmöglich, Leo Galloway!“

Der Angesprochene grinste. „Und du bist in Sarin Warden verliebt.“

„Bin ich nicht!“

„Doch, du wirst rot.“

Sie knallte ihm ihr Kissen ins Gesicht und ging unter aufgebrachtem Gemurmel ins Badezimmer, um sich frisch zu machen.

Lyra legte den Kopf schief. „Meinst du echt, dass sie in ihn verliebt ist?“

„Sieht man das nicht?“

„Keine Ahnung“, gestand Lyra. „Ich habe von so etwas keine Ahnung. Außerdem glaube ich nicht, dass die beiden eine Zukunft haben, wenn sie aus unterschiedlichen Welten kommen.“

Leo zog die Augenbrauen hoch. „Da könntest du sogar recht haben.“ Sein Blick wanderte zur verschlossenen Badezimmertür. „Ich hoffe nur, dass er Grace nicht das Herz bricht, denn ich mag sie viel zu gerne, um sie leiden zu sehen.“
 

Am nächsten Morgen waren die Neuigkeiten des vergangenen Tages fürs Erste verdaut. Nach einem einfachen Frühstück ging Yegor mit ihnen zu den Orangenhainen, damit sie bei der Ernte und dem Wiederaufbau der Plantage helfen konnten. Die Zerrwelt schien nicht nur aus zusammengewürfelten Teilen der Regionen zu bestehen, sondern auch innerhalb eines Tals eigene Regeln zu haben. Oben im Gebirge, durch das sie gekommen waren, lag noch immer Schnee, das konnten sie vom See aus sehen. Gleichzeitig standen die Orangen in voller Pracht, waren saftig und reif. Eine leichte Brise ließ sich die Wasseroberfläche des Sees kräuseln, auf dem zwei kleine Boote trieben und Fischer ihre Angeln auswarfen. Alles wirkte ruhig und friedlich, doch Sarin und Finn hatten ihnen erzählt, mit welch strenger und teils grausamer Hand Melik sein Reich führte. Die Königin war schon früh verstorben und der König kurz nach Cassandra verschwunden, vermutlich auf hoher See oder in den Bergen bei einem seiner Ausflüge umgekommen, man hatte seine Leiche jedoch nie gefunden. Seither regierte der noch junge Herrscher Melik und setzte seinen sturen, jugendlichen Willen durch.

Leia summte gut gelaunt ein Lied, das Lyra nicht kannte. Sie war noch immer begeistert davon, dass die neuen Wächter endlich vereint waren, denn ihrer Meinung nach würden sich dadurch bald alle Probleme in Luft auflösen. Die restlichen Dorfbewohner kümmerten sich nicht um die Neuankömmlinge, sondern bauten die zerstörten Wohnhäuser und Stallungen wieder auf.

„Ich kann nicht glauben, dass ein Herrscher seine Untertanen so bestraft, nur weil sie sich seinen Befehlen widersetzt und eine Flüchtige versteckt haben“, murmelte Lyra zu Leo, der gemeinsam mit ihr einen Baum aberntete.

Leo zuckte leicht mit den Schultern und warf Grace und Sarin, die sich gemeinsam etwas abseits aufhielten, einen Seitenblick zu. „Finn hat erzählt, dass alle Minister starke Stahlpokémon in ihrem Team haben, weil dieser Typ nur der königlichen Garde und der königlichen Familie vorbehalten ist. Wahrscheinlich durfte Sarin nur deshalb sein Riolu behalten. Wenn sein Lucario wirklich so stark ist, wie Finn behauptet, dann müssen auch die sieben Minister sehr starke Gegner sein. Ich weiß nicht, ob wir wirklich eine Chance gegen sie haben.“

„Wir wissen doch gar nicht, ob wir überhaupt kämpfen müssen.“ Lyra kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe. „Vielleicht reden wir einfach mit Prinz Melik und dann klärt sich alles von alleine?“

„Ich bezweifle, dass das so leicht wird.“ Leo bedachte sie mit einem prüfenden Blick, wandte sich dann von Lyra ab und ging zum nächsten Orangenbaum. „Die normalen Bewohner der Zerrwelt haben keine Chance gegen die Garde oder die Minister. Grace kann Arkanis Typenvorteil nutzen und Sarins Lucario hat einen Kampftyp als Zweittyp, aber das war es dann auch schon. Wir anderen haben nicht so gute Karten in der Hand.“

„Worüber tuschelt ihr beiden?“ Mit einem bis oben gefüllten Korb kam Finn an ihnen vorbei und blieb mit misstrauischem Blick stehen. „Na los, sagt schon.“

„Du bist paranoid, Finn. Nicht jeder will dir gleich an den Kragen.“ Lyra verdrehte genervt die Augen, schnappte sich ihren Korb und ging von ihm weg, wobei sie gerade noch mitbekam, wie Leo ein „Oder an die Wäsche“ hinzufügte, doch Finn schien den Witz nicht zu verstehen und sein Gesicht wurde nur noch finsterer. Ohnehin machte er keinen entspannten Eindruck, wie Lyra fand. Was musste er schon alles in seinem Leben erlebt haben? Sie war neugierig, ja, aber nicht lebensmüde genug, um Finn auf seinen Seelenfrieden oder mögliche Traumata anzusprechen.

Gerade hatte sie einige Schritte gemacht, als sie ein Ziehen in ihrer Brust spürte. Sie blieb stehen, lehnte sich an einen Baum und schloss kurz die Augen. Die Schmerzen wurden stärker, zogen von ihrem Herz ausgehend in ihren Arm, breiteten sich dort aus, ließen sich jedoch noch aushalten. „Was zum …“ Im nächsten Augenblick explodierten tausende von Nadeln mitten in ihrem Körper. Lyra schrie auf, sackte zu Boden und krümmte sich. Ihr ganzer Körper zitterte und kalter Schweiß lief ihr über die Stirn.

Yegor war zuerst bei ihr, dicht gefolgt von Leo und den anderen. „Was ist passiert?“

„Oh nein, nicht schon wieder!“ Sarins Gesicht war ganz blass geworden. „Verdammt, ich habe keine Kräuter mehr bei mir. Lyra, hörst du mich? Du musst bei Bewusstsein bleiben!“

„Hatte sie das schon öfter?“

„Einmal, kurz bevor wir durch den Schrein der Ernte hier her gekommen sind“, antwortete Grace und kniete sich neben sie. „Lyra, bitte schau mich an.“

Lyra keuchte, rollte sich auf den Rücken, doch ihre Augen konnten die anderen kaum fokussieren. Dunkle Schatten legten sich über ihre Sicht, die Wolken am Himmel schienen sich zu verdunkeln. „M-Mein A-Arm …“ Eine erneute Schmerzenswelle nahm sie in Beschlag und Lyra verlor beinahe das Bewusstsein. Als sie den Arm hob, sah sie direkt … hindurch.

„Scheiße“, fluchte nun auch Finn und zum ersten Mal blitzte so etwas wie Panik in seinen Augen auf. „Ich glaube, ich weiß, was los ist.“ Er tauschte einen besorgten Blick mit Yegor aus, der sogleich nickte. „Scheiße … Lyra, wir müssen dich sofort in den Palast bringen.“

„N-Nein, das g-geht nicht …“

„Lyra.“ Finn packte sie mit einer Hand an der Schulter, die andere berührte ihren Arm, der eine seltsam milchige Farbe angenommen hatte. Ihre Haut und selbst die Blutgefäße und Knochen wurden lichtdurchlässig, beinahe transparent. „Du wirst sterben, wenn wir es nicht tun.“

„Was passiert mit ihr?“ Leo pflückte Finns Hand von Lyras Arm, doch Finn stieß ihn einfach zur Seite.

„Ich verstehe …“, sagte nun auch Sarin und seine Augen waren vor Schock weit geöffnet. „Der Spiegel im Spiegelsaal … Jemand hat ihn benutzt. Oh scheiße …“

„Ich verstehe nur Bahnhof!“ Leo oder Grace, einer von beiden hatte gesprochen, aber Lyra verstand kaum noch etwas davon.

Sie keuchte ein letztes Mal, ihr Körper bebte und dann wurde es schwarz um sie herum. Das letzte, was Sarin sagte, war: „Jemand hat auf Lyras Kosten mit Zeit und Raum gespielt.“

Vergangenheit

Cassie?“ Die Lyra aus dem Spiegel stand inmitten der Scherben und auf ihrem blassen, harten Gesicht konnte man nicht erkennen, ob Freude, Angst, Verunsicherung oder Schock überwogen. „Cassandra …“

„Du … du bist echt …“ Cassie stockte der Atem. Von dem Spiegel, den sie gerade mit der Faust zertrümmert hatte, stand der Rahmen ungerührt an seinem Fleck, doch um ihn herum breiteten sich die Scherben in großen und kleinen Teilen aus wie eine Pfütze. Ein leichter Wind kam direkt aus dem Spiegelrahmen, der nun nicht mehr die Vision einer anderen Lyra zeigte, sondern wie eine Tür mitten im Raum stand. Auf der anderen Seite standen die Bäume so dicht, dass es nur ein großer und tiefer Wald sein konnte. Der Geruch von feuchter Erde und Tannennadeln strömte in den Spiegelsaal hinein.

Die Lyra aus dem Spiegel blinzelte, löste sich aus ihrer Starre, trat einen Schritt nach vorne – und direkt durch den Rahmen des Spiegels hindurch. Sie packte Cassie an den Schultern, drückte sie an sich, erst vorsichtig, dann mit einem Ruck richtig hefig. „Ich habe dich überall gesucht … Wieso jetzt? Wie ist das möglich?“ Ihr Kleoparda folgte ihr lautlos und seine Ohren zuckten unruhig in alle Richtungen, als rechnete es jede Sekunde mit einem Angriff aus dem Hinterhalt. Nachdem Lyra Cassandra losgelassen hatte, schaute sie sich in dem Raum mit den verspiegelten Wänden um, umrundete den Spiegel, der von der anderen Seite ganz normal und kaputt aussah, und kam wieder vor Cassie zum Stehen.

„Du bist so … erwachsen. Du bist doch Lyra, nicht wahr?“

„Natürlich bin ich es, Cassie.“ Ein warmes Schmunzeln huschte über ihre Lippen. „Vier Jahre lang habe ich dich überall gesucht. Ich bin durch ganz Johto gereist, habe bei den Weisen des Glockenturms trainiert, aber ich konnte dich nirgendwo finden.“

„Ich bin die ganze Zeit hier gewesen“, sagte Cassie, zögerte dann jedoch. „Aber definitiv keine vier Jahre. Lyra, ich bin doch gerade einmal knappe drei bis vier Wochen von dir getrennt.“

Lyra brummte und ließ ihre Fingerspitzen über die kostbaren Edelsteine, mit denen der Spiegel geschmückt war, gleiten. „Aira und Aero haben mir davon erzählt. Ein Raum-Zeit-Krümmer also, ich verstehe. Vor ihrem Tod haben sie mir viele Dinge erklärt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Siehst du diese Steine? Sie sind nicht einfach nur gewöhnliche Edelsteine, sondern Bruchstücke der Brustplatten von Dialga und Palkia. Dieser Spiegel besitzt die Macht von Legendären.“

„Was meinst du damit?“

„Ich bin in der Zeit gereist, zurück in die Vergangenheit.“ Plötzlich lag etwas Wildes in Lyras Blick und das kinnlange Haar wehte unruhig hin und her, als sie den Kopf bewegte. „Das ist meine Chance, die alten Fehler wieder gutzumachen. Das muss es sein.“

Cassie wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht, was sie zu einer Unterhaltung beitragen konnte. Diese Lyra war eindeutig nicht die Lyra, die sie als ihre beste Freundin bezeichnete und mit der sie noch vor wenigen Wochen gemeinsam zu einer kleinen Pokémonreise aufgebrochen war. Diese Lyra war vier Jahre älter, erwachsen, hatte ihr Felilou zu einem Kleoparda trainiert und strahlte etwas aus, vor dem Cassie sich beinahe fürchtete.

„Wir sind wieder hier, nicht wahr?“ Lyras Stimme senkte sich minimal. „In der Zerrwelt. Ich bin zurück.“

„Zerrwelt?“

Lyra nickte und ihr Blick glitt zurück zum Spiegel, durch den man noch immer das Waldstück betreten konnte. „Es hätte nicht so enden dürfen, wir waren so kurz davor, aber dann … Ich werde nicht zulassen, dass es noch einmal so laufen wird.“

„Ich verstehe nicht, was du meinst. Was ist die Zerrwelt?“

„Eine Parallelwelt.“ Sie schaute zu Cassie, pirschte nervös zur Tür und wieder zurück. „Mehr musst du nicht wissen, unwichtige Details, die vom Wichtigen ablenken. Man hat dich hier her verschleppt. Wir sind im Kristallpalast, nicht wahr?“

„Wenn du den Palast von Prinz Melik meinst, dann ja. Ich bin seine Gefangene und irgendwie auch sein Gast, schätze ich. Aber ich verstehe trotzdem nicht, was hier vor sich geht. Kannst du mich nicht einfach zurück nach Hause bringen?“

Lyra kniff die Augen zusammen. Kleopardas Körper glitt lautlos durch den Raum, dann grollte das Unlichtpokémon leise und kehrte zu seiner Trainerin zurück, um sich neben ihr hinzusetzen. „Ausgeschlossen, das ist die einzige Chance, die ich noch haben werde. Ich werde ihn töten.“

Cassie schnappte nach Luft und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Töten? Wen, Prinz Melik?“

„Er ist ein Monster, seine Seele von der Gier nach Macht zerfressen. Er oder du, Cassandra. Er wird dich niemals gehen lassen. Als wir vor vier Jahren schon einmal hier waren, hatten wir keine Chance gegen ihn. Er hat uns vernichtet, seinen Bruder im Kampf ermordet. Seinen eigenen Bruder!“

„Wovon redest du? Melik hat niemanden getötet!“ Cassie wusste nicht, wieso sie den Prinzen auf einmal verteidigte, doch die Lyra, die ihr gegenüber stand, machte in diesem Augenblick einen weitaus wahnsinnigeren Eindruck als der Prinz, der sie in diesem Schloss gefangen hielt.

„Noch nicht!“, zischte Lyra und ihr Gesicht schnellte nach vorne, bis nur noch Zentimeter zwischen ihr und Cassie lagen. „Aber er wird es tun. Es wird sich wiederholen und nur ich kann es ändern.“ Abrupt richtete Lyra sich auf. „Sie hätten es auch getan.“

„Wer?“

„Meine Gefährten. Die anderen Wächter. Die toten Wächter. Er wird nicht noch einmal gewinnen, das verspreche ich dir, Cassie. Gibt es hier einen Ort, an dem ich mich verstecken kann?“

Cassie fühlte sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie ihr Zimmer mit einer Wahnsinnigen teilen sollte, doch Lyra war immer ihre beste Freundin gewesen. Wenn es etwas gab, was aus ihrer Lyra diese Lyra gemacht hatte, war es dann nicht ihre freundschaftliche Pflicht, dass sie ihr half? „Also gut, du kannst erst einmal mit in mein Zimmer kommen. Außer Margaret darf niemand zu mir kommen und wenn sie da ist, kannst du dich im Badezimmer verstecken.“

„Wer ist diese Margaret?“

„Eine Dienstmagd. Sie bringt mir Essen und saubere Kleidung.“

„Gut. So machen wir es.“ Lyra hob den schweren Brokatstoff, den Cassandra zuvor vom Spiegel gezogen hatte, vom Boden auf. Dann begann sie mit den Schuhspitzen die Scherben direkt an den Spiegel zu schieben und warf den Stoff zuletzt über den Rahmen. Zum Glück bedeckte der Stoff alles, auch die Splitter auf dem Boden. „Die Spuren sind verwischt. Gehen wir. Kleo, komm.“ In einer fließenden, geschmeidigen Bewegung erhob Kleoparda sich und folgte Cassandra und Lyra durch die Gänge des Schlosses.

Cassie hatte Mühe den Rückweg zu finden und mehr als einmal mussten sie in einem Gang umkehren oder im Treppenhaus eine andere Abzweigung nehmen, doch nach einer halben Stunde, in der sie sämtlichem Personal aus dem Weg gegangen waren, erreichten sie wieder das Gästezimmer.

Erleichtert nahmen die beiden auf der Bettkante Platz. Lyra zog einen Riegel aus ihrem kleinen, schwarzen Rucksack, in dem sie kaum mehr als eine Hose und ein Pullover zum Wechseln befinden konnten. „Reist du neuerdings mit so wenig Gepäck?“, fragte Cassie.

„Ich war nicht auf Reisen“, entgegnete Lyra, teilte den Riegel und gab Kleoparda die Hälfte. „Ich war im Wald von Teak City unterwegs, um einen Trainer zu stellen, der kurz zuvor in den Glockenturm einbrechen wollte. Fast hatte ich ihn, als ich auf einmal deine Stimme gehört habe und mitten aus dem Nichts flimmernd dein Bild aufgetaucht ist.“

„Oh.“ Cassie konnte sich nur ungenau vorstellen, was Lyra mit dem Einbrecher gemacht hätte, wenn sie ihn erwischt hätte. Kleopardas rasiermesserscharfe Krallen, die sich bei der Erinnerung an die Jagd nach dem Trainer in freudiger Erwartung aus- und wieder einfuhren, ließen jedoch die Vermutung zu, dass es für den Jungen nicht gut ausgegangen wäre. „Erzählst du mir, was alles passiert ist?“

„Du willst es wissen?“, fragte Lyra düster, zückte ihren zweiten Pokéball und entließ ein stattliches Gengar, das den neuen Raum mit seinen rotleuchtenden Augen erfasste und dann den halben Riegel in sein großes Maul warf. Anschließend zog sie beide Pokémon in ihre Bälle zurück und befestigte diese an ihrem Gürtel. „Wir sind dir in die Zerrwelt gefolgt und haben einen Plan geschmiedet. In der schützenden Dunkelheit der Nacht haben wir uns vom Dorf in die Berge vorgewagt. Die königliche Garde patrouillierte auf der Suche nach uns, weshalb wir uns nur bei Nacht fortbewegen konnten. In der zweiten Nacht erreichten wir den Kristallpalast. Wir dachten, dass uns niemand bemerkt hätte, doch nahe den Stallungen gerieten wir in einen Hinterhalt. Prinz Melik wartete nur auf uns. Wir kämpften, aber wir waren nicht stark genug. Sarin starb, als er uns zur Flucht verhelfen wollte, doch es war vergebens. Sie waren in der Überzahl.“

Einen Moment lang schwieg Lyra, dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. „Wir haben es nicht einmal bis zu dir geschafft, Cassie. Der Himmel über uns riss auf und Zekrom griff uns auf seinen Befehl hin an. Was, glaubst du, hätten wir gegen ein Legendäres Pokémon ausrichten sollen? Der Herrscher der Zerrwelt hat die Gunst der Drachenpokémon. Sie erkennen ihn an dem Mal, das Kyurem den Herrschern bei der Geburt verleiht.“ Lyra knirschte mit den Zähnen und griff in Cassies silbernes Haar. „So wie du.“

Dann stand sie auf und begann durch das Zimmer zu tigern wie ein gefangenes Tier. „Wir hatten keine Chance. Durch den Kampf wurde die Zerrwelt instabil, es öffnete sich ein Riss, durch den ich zurück nach Johto geschleudert wurde. Hätten mich die Weisen nicht so schnell in der Turmruine gefunden, hätte auch ich nicht überlebt. Die anderen … Sie …“ Traurig schüttelte Lyra ihren Kopf. „Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört und von diesem Tag an konnte ich auch nicht mehr den Teleportationsmechanismus nutzen. Die Verbindungen zwischen der Zerrwelt und unserer Welt waren endgültig gekappt. Es gab keine Möglichkeit mehr, dass ich dich finden und retten konnte.“

Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus. Cassie fühlte sich unwohl, wollte am liebsten alleine sein, doch sie konnte Lyra nicht fortschicken, immerhin durfte sie nicht entdeckt werden und wenn es stimmte, was sie sagte – und daran zweifelte Cassandra zu diesem Zeitpunkt nicht mehr –, dann würde Prinz Melik sie hinrichten lassen, sobald er sie entdeckte. Doch was noch schlimmer war, war die Gewissheit, dass ihre Lyra dabei war den Fehler der alten Lyra zu wiederholen. Oder zu begehen? Wie nannte man es, wenn man auf einmal einem Zeitreisenden gegenüber stand?

Das Klopfen an ihrer Zimmertür riss beide aus ihren trüben Gedanken und sofort eilte Lyra ins Badezimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, öffnete auch schon Margaret die Zimmertür und lächelte Cassie an. „Das Abendessen kommt heute ein wenig früher, meine Liebe. Der Prinz lädt zu einer wichtigen Konferenz mit seinen Ministern, dafür habe ich alle Hände voll zu tun. Lass es dir schmecken, ich komme in ein paar Stunden vorbei und hole das Tablett ab. Hier sind noch frische Handtücher für das Bad.“

Sogleich war Cassandra zur Stelle. „Vielen Dank, ich nehme die Handtücher und erledige das schon.“ Ihr entging Margarets verdutztes Gesicht nicht, doch die Dienstmagd reichte ihr die Handtücher und verließ wieder das Zimmer, ohne dass sie sich über das seltsame Verhalten ihres Gastes äußerte.

„Ist sie weg?“, kam es leise aus dem Badezimmer.

„Ja, aber wir müssen uns das Essen teilen.“ Cassie hob die Abdeckung vom Tablett und zum Vorschein kamen ein Obstsalat, dampfendes Rührei und mehrere kleine Sandwiches. Lyra sicherte sich das Rührei und die Hälfte der Sandwiches, Cassandra bekam die andere Hälfte und verfütterte den Obstsalat an Golbit, das über die kleine Portion murrte.

Sie aßen schweigend und währenddessen dachte Cassie darüber nach, was Lyra ihr erzählt hatte. Sie war damals nicht stark genug gewesen, um auch nur eine Chance gegen Prinz Melik zu haben, weshalb sie Cassie nicht erreichen konnte und diese erst viel zu spät von dem Kampf etwas mitbekommen hatte – dann, als es bereits zu spät gewesen war.

Cassies Blick fiel auf Golbit. Sie hatte es die ganze Zeit über nicht richtig trainiert, aber es hatte in Leias Haus kurz vor ihrer Flucht mit einer TM gespielt und auf ihr herumgekaut. Vielleicht hatte es doch eine Attacke gelernt und vielleicht war genau das der kleine Vorteil, den Cassie nutzen konnte, wenn es soweit war. Die Lyra aus der Zukunft hatte in ihrer Vergangenheit die Schlacht verloren, aber die Lyra in dieser Zeit würde auf Cassandra zählen können. Sie würde Lyra nicht hängen lassen und einfach zusehen, wie sie in ihr Verderben rannte.

Finstere Nacht

Finn und Sarin lehnten nebeneinander an der Hauswand, kauten auf frischen Äpfeln herum und beobachteten das Training der drei anderen Wächter, wobei Sarin lobende Worte und Finn lediglich scharfe Kritik übrig hatte. Besonders Lyra, die Felilou und Nebulak noch gar nicht trainiert hatte, bekam von Finn ihr Fett weg und hatte unter seinen Kommentaren zu leiden.

„So wird das nie etwas“, ermahnte er sie zum wiederholten Mal und löste sich von der schattigen Wand, um zu ihr in die Sonne zu treten. „Wir wollten den heutigen Tag nutzen, um zu überprüfen, auf welchem Niveau sich eure Pokémon befinden, damit wir uns heute Abend gut vorbereitet auf den Weg in die Berge machen können. Das hier sollte keine Trainingseinheit sein, in der wir deine Pokémon wenigstens auf Level 20 bringen.“

„Sei nicht so hart zu ihr“, verteidigte Grace sie sofort und ihr Arkani knurrte leise, als es an die Seite seiner Trainerin trat. „Lyra ist auch ohne das Training schon erschöpft.“ Besorgt blickte sie die Jüngere an, die am Vortag alle mit ihrem Zusammenbruch geschockt hatte. Jetzt, da klar war, was Lyra so zu schaffen machte, wussten sie alle, dass sie noch heute Abend aufbrechen mussten. Niemand konnte sagen, wie viel Zeit Lyra noch blieb, bis ihr Körper sich auflöste und in dem Riss zwischen Zeit und Raum verschwand, dessen Opfer sie ganz offensichtlich geworden war. Grace lächelte ihr aufmunternd zu und tätschelte ihre Schulter. „Am besten legst du dich etwas hin und Leo und ich kümmern uns um deine Pokémon.“

Lyra verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht …“

„Die Idee ist gut“, stimmte Leo sofort zu. „Wir trainieren die beiden und du schläfst eine Runde, damit es dir heute Abend besser geht.“

„Na schön.“ Sie drückte den beiden die Pokébälle von Felilou und Nebulak in die Hand, dann straffte sie ihre Schultern. Der Schmerz, der sie gestern überwältigt hatte, klang noch immer dumpf in ihrem Arm nach und wenn sie in den Spiegel blickte, konnte sie sehen, dass ihr Gesicht blass, fahl und schon leicht durchsichtig war. Es war kein schönes Gefühl einfach so zu verschwinden.

Nachdem Lyra gegangen war, trat Finn kopfschüttelnd näher. „Sie sieht nicht gut aus, wir müssen auf jeden Fall heute Abend aufbrechen und es in der Nacht bis zum Bergkamm schaffen. Dort rasten wir über Tag im Schutz der Felsen und erledigen dann in der nächsten Nacht die restliche Strecke bis zum Kristallpalast.“

„Ich mache mir Sorgen um sie.“ Grace schaute zunächst Finn, dann Sarin mit traurigen Augen an. „In der ganzen Zeit habe ich sie noch nie so still erlebt.“

Beruhigend legte Sarin ihr eine Hand auf den Arm. „Sie wird es schaffen. Lyra ist eine Kämpferin, sie wird sich nicht aufgeben.

„Hoffentlich hast du recht.“ Einen Moment lang zögerte Grace, dann legte sie ihren Kopf auf Sarins Schulter und ließ sich von ihm beruhigend den Rücken streicheln.

Leo und Finn tauschten einen Blick aus, sagten jedoch nichts, sondern wandten sich Lyras Pokémon zu. „Also“, begann Finn und musterte die beiden jungen Pokémon mit einem strengen Blick. „Wir brauchen schnelle Erfolge, deshalb halte ich es für angemessen, dass Felilou mit einem viel stärkeren Unlichtpokémon trainiert und Nebulak von Sarins Golgantes unterrichtet wird.“

„Wir haben aber kein Unlichtpokémon“, fügte Leo hinzu, erntete jedoch nur ein diabolisches Grinsen seitens Finn.

„Doch, haben wir. Ich präsentiere meinen Starter: Rosi.“ Finn drückte den Knopf an seinem Aprikokoball. Der rote Strahl schoss nach vorne, bäumte sich auf, formte ein fast zwei Meter großes Pokémon und erlosch. Übrig blieb ein Trikephalo, das gurrend auf Finn zulief und seinen blauen Kopf an seinem Oberarm rieb, woraufhin er Rosis Hals tätschelte.

„Ich glaub’s nicht!“ Leo starrte Rosi und Finn und offenem Mund an, dann lachte er. „Du hast die ganze Zeit so ein Geheimnis aus deinen Pokémon gemacht und jetzt zeigst du uns einfach so ein vollentwickeltes Drachenpokémon? Was ist dein zweites Pokémon, das du bei der Palastwache erhalten hast? Vielleicht ein Stahlos?“

„Nein, es war ein Stollunior und ich musste es abgeben, als ich aus dem Palastdienst ausgetreten bin.“ Finn warf Leo einen bösen Blick zu und ging dann zusammen mit Rosi, deren Halskragen und Bruststreifen in einem schönen Altrosa strahlten, zu Felilou, das ehrfürchtig einen Schritt zurück wich. „Sarin, hör mit dem Rumgeschmuse auf und kümmere dich um Nebulak, wir haben nicht viel Zeit.“

Sarin und Grace lösten sich voneinander, sahen verunsichert auf den Boden, dann entfernte Grace sich mit hochroten Wangen und murmelte, dass sie zu Lyra gehen wollte, um nach dem Rechten zu sehen.

Kurz darauf standen sich Rosi und Felilou sowie Golgantes und Nebulak gegenüber und das Training begann.
 

Die Sonne ging gerade über den Berghängen unter und färbte den Himmel in ein wolkenloses Orangerot, als sich die fünf Wächter von Yegor und Leia verabschiedeten. Leo und Grace schulterten ihre Reiserucksäcke, in denen zusätzlicher Proviant steckte, während Lyra auf Grace‘ Arkani ritt und ihr Rucksack am kräftigen Hals des Pokémon festgeschnallt war. Sarin und Finn hatten jeweils nur ein kleineres Bündel mit Decken und etwas Essen dabei.

„Wir müssen heute Nacht auf jeden Fall einige Kilometer schaffen“, wiederholte Finn ihren Zeitplan und deutete auf einen der entfernten Berghänge. „Dort wird es gefährlich, weil es viel Geröll gibt und sich schnell kleine Steinlawinen lösen können.“ Rosi, sein Trikephalo, tapste neben ihm her, als er sich in Bewegung setzte und der Gruppe voran ging.

Arkani gähnte herzhaft und trottete gemächlich neben seiner Trainerin, Sarin und Leo her. Lyra hielt sich locker am langen Fell des Feuerpokémon fest und staunte, wie kräftig Arkani war. Obwohl seine Bewegungen geschmeidig und sein Fell seidig war, spürte sie die starken Muskeln, die nur ansatzweise verrieten, wie schnell es werden konnte. „Wenn Arkani eine Pause braucht, kann ich auch laufen. So schlecht geht es mir nicht.“

„Du solltest dich ansehen“, erwiderte Grace und sogleich legte sich ein besorgter Ausdruck auf ihr Gesicht. „Ich bin froh, wenn du dich festhalten kannst und nicht zusammenklappst.“

„Ganz so schlecht geht es mir wirklich nicht, Grace.“ Lyra versuchte sich an einem lockeren Grinsen, doch die Kopfschmerzen, die nun ihre ständigen Begleiter waren, ließen das Grinsen sogleich wieder einstürzen. Stattdessen drehte sie den Kopf weg und schaute dem immer kleiner werdenden Fischerdorf hinterher, bis ihr Weg sie in ein Waldstück führte und die Bäume die Sicht versperrten.

Nebulak schwirrte vergnügt zwischen den Bäumen hin und her, Felilou lief ihm hinterher und die beiden verfielen in ein Fangspiel. Dass sie trotz des harten Trainings noch so viel Energie hatten, versetzt Lyra in Staunen und in ihr keimte der Verdacht, dass ihre beiden Pokémon sie damit auf ihre Art aufheitern wollten. „Danke nochmal, dass ihr euch um Nebulak und Felilou gekümmert habt. Das Training war total effektiv, ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell neue Attacken lernen.“

„Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, kommentierte Finn sofort von vorne mit seiner gewohnt harschen Stimme, doch wenige Sekunden später fügte er etwas weicher hinzu: „Aber ich denke, wir können mit dem Ergebnis zufrieden sein. Felilou steht kurz vor seiner Entwicklung und hat Verfolgung gelernt, die Attacke könnte uns nützlich sein. Nebulak beherrscht jetzt Konfustrahl und Tiefschlag. Die Unlichtattacken sind natürlich nur neutral gegen die Stahlpokémon der königlichen Garde, aber deine Pokémon dürften jetzt zumindest eine hilfreiche Ablenkung im Kampf darstellen.“

Lyra verdrehte die Augen und fragte sich, ob Finn nicht einfach mal nett sein konnte, aber sie schluckte den Kommentar herunter. Schweigend ließ sie sich von Arkani wie auf Wolken tragen und nach einiger Zeit eine Decke von Sarin reichen, die sie sich um die Schultern und den Oberkörper wickelte.
 

Sie war eingeschlafen und als sie aufwachte, taten ihr alle Muskeln von der krummen Haltung weh. Lyra verzog das Gesicht und begann sich die Schultern zu reiben, als sie sah, dass der See und das Dorf mittlerweile unterhalb von ihnen lagen. Wie lange hatte sie geschlafen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass der Aufstieg ins Gebirge längst begonnen hatte?

„Schlafmütze“, kommentierte Leo grinsend, als er ihren verwirrten Blick bemerkte, dann stupste er sie an. „Finn meint, dass wir bis jetzt gut vorangekommen sind. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, bald haben wir den Bergkamm erreicht, von dem aus wir in der nächsten Nacht den Abstieg zum Kristallpalast starten. Willst du was essen oder trinken?“

„Ja, danke.“ Lyra nahm einen Schokoriegel, den sie noch in ihrer Welt gekauft hatten, und eine Orange entgegen. Seit sie herausgefunden hatten, dass ihr Körper sich langsam auflöste, fühlte sie sich von Stunde zu Stunde schwacher, aber wenigstens hatte sie keine erneute Schmerzattacke heimgesucht. Als sie Nebulak und Felilou entdeckte, die noch immer außerhalb ihrer Pokébälle waren, zog sie die beiden in die Sicherheit der Bälle zurück und befestigte sie wieder an ihrem Trainergürtel.

Den restlichen Weg über schwieg sie und auch die anderen unterhielten sich nur kurz, denn die Anspannung, die sie alle fest im Griff hatte, wurde immer stärker. Sie mussten ihr Lager so aufschlagen, dass sie tagsüber nicht von einer Patrouille der Palastwache entdeckt werden konnten, was natürlich beinhaltete, dass sie keine Feuerstelle haben durften. Wenn sie etwas Warmes essen oder trinken wollten, mussten sie das heute Nacht im Schutz der Dunkelheit erledigen. Abgesehen davon waren die Temperaturen noch immer recht frisch und sie hatten nur die Decken, die Leia und Yegor entbehren konnten.

Als der Weg immer schmaler und steiler wurde, liefen sie alle hintereinander und konzentrierten sich auf ihre Schritte, um auf den losen Steinen nicht auszurutschen. Einmal trat Leo daneben, purzelte mehrere Meter am Hang hinab und musste von Rosi unterstützt werden, um wieder zur Gruppe zu gelangen. Natürlich verkniff Finn sich keinen Kommentar und als sie endlich die Stelle erreichten, an der sie ihr Lager errichten würden, hatte jeder mindestens zweimal von Finn sein Fett weg bekommen.

Sarin und Grace entzündeten im Schutz einer Felsspalte, die gut zehn Meter weit waagerecht in den Felsen ging und sich dann immer weiter verengte, bis man nur noch Finsternis sah, ein kleines Feuer, über dem sie gemeinsam Gemüsespieße grillten. Leo und Finn kletterten noch gut zwei Dutzend Meter höher zur Kuppe, von der aus sie einen Blick auf die umliegenden Berge und das weiter entfernt liegende Meer werfen konnten. Dort, direkt an der Küste, an der das Gebirge in steile Klippen überging, lag der Kristallpalast, der nun jedoch im Schutz der Dunkelheit verborgen lag.

Lyra setzte sich zu Sarin und Grace ans Feuer und wärmte ihre Handflächen, während der Duft von gegrilltem Gemüse immer intensiver wurde und bald ihren kompletten Unterschlupf erfüllte. „Ich hoffe, unser Plan funktioniert.“

„Das wird er, da bin ich mir sicher.“ Sarin lächelte zuversichtlich und reichte einen Spieß an Lyra weiter, ehe er zwei weitere auf die Steine ins Feuer legte. „Finn und ich sind das Ganze mehrmals durchgegangen. Wenn wir bei Tageslicht nicht von den Panzaeron-Fliegern entdeckt werden, kann mein Bruder nicht wissen, dass wir unterwegs sind. Morgen werden wir uns nach Sonnenuntergang an den Abstieg machen und wenn wir am Kristallpalast ankommen, ist es etwa Mitternacht. Die meisten werden tief und fest schlafen und Finn kennt die Routen der Nachtwachen auswendig. Wir schleichen uns rein, befreien Cassandra und bringen dich in den Spiegelsaal, um zu reparieren, was auch immer falsch gelaufen ist.“

„Wenn du das so erzählst, klingt es, als könnte nichts schief gehen.“ Trotzdem hatte Lyra nicht das Gefühl, dass sie ohne Probleme in den Palast eindringen und dort herumspazieren konnten. Sie mussten Cassie ohnehin erst einmal finden und selbst Sarin hatte zugegeben, dass er nicht wusste, in welchem Teil des Kristallpalasts sie gefangen gehalten wurde.

Seufzend knabberte Lyra an dem Gemüse und zog die schwarzen, verbrannten Stellen der Paprika ab, die sie ins Feuer warf. Kurz darauf trafen auch Leo und Finn wieder ein und begannen ebenfalls zu essen.

Sie alle saßen bis in die frühen Morgenstunden um das Feuer und nutzten die Wärmequelle so lange aus, wie es ihnen möglich war. Dann löschte Grace‘ Schillok die Flammen und nachdem der Rauch sich verzogen hatte, kuschelten sie sich alle dicht aneinander in die Wolldecken. Arkani hatte sich hinter Lyra und Grace gelegt und sein dichtes Fell funktionierte wie eine warme, kuschelige Decke in ihrem Rücken.

Als es draußen immer heller wurde und die ersten Sonnenstrahlen die Berghänge einnahmen, war Lyra bereits tief und fest eingeschlafen, doch sie träumte von Kämpfen, die sie nicht gewinnen konnten, und schreckte mehrfach schweißgebadet aus ihren Alpträumen hoch.

Hinterhalt

Die Tage vergingen nur langsam und fühlten sich zäh und langweilig an. Cassandra verbrachte die meiste Zeit auf ihrem Zimmer, bekam hin und wieder Gesellschaft von Margaret, die jedoch nie lange bleiben konnte, und wurde einmal zu Monsieur Günther, dem Hofschneider, gebracht. Cassie fand den Schneider noch immer sehr eigenwillig und kam mit seiner Art nicht so ganz klar, doch sie war dankbar für die Abwechslung, die er ihr bot, als er die letzten Nadeln an dem Wintermantel setzte, den er extra für sie angefertigt und nun maßgeschneidert hatte. Der schwere Stoff schmiegte sich eng an ihren Körper und war mit weißem Fell besetzt – sie wollte nicht wissen, welches Pokémon dafür sein Leben lassen musste.

An den restlichen Tagen spielte sie mit Golbit auf dem breiten Gästebett und versuchte weitere Informationen aus der Lyra aus der Zukunft heraus zu bekommen, doch diese schwieg beharrlich und verschwand die meiste Zeit über in den Dienergängen innerhalb der Palastmauern. Cassie war es ein Rätsel, wie Lyra sich so gut im Schloss bewegen konnte und dabei nie erwischt wurde, zudem schlich sie lautlos wie ihr Kleoparda umher.

„Das Essen ist da“, sagte sie an jenem Abend, als Lyra bereits den ganzen Tag nervös war. „Willst du nichts essen? So spät kommt keiner mehr nach mir sehen, du kannst dich ruhig zu mir aufs Bett setzen.“ Dieses Zimmer war ihr Gefängnis, aber immerhin war es wie ein goldener Käfig und Prinz Melik hatte sie noch nicht hungern lassen.

„Es ist soweit. Heute geschieht es.“

Cassie, die gerade die frischen Apfelspalten auf zwei gleich große Haufen sortierte, schaute auf. „Was geschieht heute?“

„Das Schicksal kann neu entschieden werden. Aber ich habe ein ungutes Gefühl. Er weiß etwas.“ Mit diesen Worten riss Lyra die Augen auf, tigerte dann, dicht gefolgt von ihrem treuen Pokémon, um das Bett herum und stibitzte sich ein Sandwich. „Ich bin mir sicher, dass es heute Nacht geschieht.“

Das ungute Gefühl, das Lyra hatte, sprang nun auch auf Cassie über, was jedoch mehr an den kryptischen Aussagen ihres Gastes lag. „Du erzählst mir nichts, Lyra. Ich kann nicht verstehen, was du da redest, wenn du es mir nicht erklärst.“

„Diese Nacht greifen sie an. Wir. Ich.“ Sie atmete einmal tief durch. „Die jungen Wächter, sie werden heute Nacht angreifen. Es ist soweit.“

Heute?“ Cassie fiel das Apfelstück, das sie gerade in der Hand gehalten hatte, runter, wo Golbit es sich sogleich schnappte und nach mehr verlangte. „Diese Nacht?“ Noch immer starrte sie Lyra an. „Wieso hast du mir das nicht früher gesagt! Wir hätten uns vorbereiten können!“ Wütend funkelte sie diese andere Lyra, die ihr so unbekannt war, an.

„Du kannst gar nichts unternehmen.“ Lyras Tonfall war sachlich und nicht so verletzend, wie es bei Cassie ankam. „Was willst du tun? Sobald die Wachen – oder Arceus bewahre, der Prinz – dich sehen, werden sie dich zurück in dein Zimmer bringen oder irgendwo einsperren, wo du mit Sicherheit nicht mehr von alleine herauskommst. In den letzten Tagen konnte ich Melik hin und wieder ausspionieren und er hat seine Wachen zur Wachsamkeit ermahnt. Ich bin fest davon überzeugt, dass er genau weiß, dass es in dieser Nacht passiert. Heute Nacht wird sich entscheiden, ob sich das Schicksal wiederholt und es wieder so enden muss.“ Langsam, ganz langsam begann sie den Kopf zu schütteln. „Nein, es wird sich nicht wiederholen, denn dieses Mal bin ich hier. Wenn deine Freunde angreifen, wird auch Melik abgelenkt sein. Das ist meine Chance. Ich muss nur nahe genug an ihn herankommen, dann kann ich ihn töten.“ Mit der rechten Hand tätschelte sie ihren breiten Trainergürtel, an dem neben zwei Pokébällen ein breites, scharfes Jagdmesser hing.

Bei dem Anblick der Klinge lief es Cassie eiskalt den Rücken runter. Die ganze Zeit über hatte sie gewusst, dass es Lyra in dieser Sache ernst war, aber ihre Lyra würde niemals einen anderen Menschen töten – oder überhaupt ein anderes Lebewesen, egal ob Mensch oder Pokémon, diesem Zorn aussetzen. „Lyra, das kann ich nicht zulassen.“

„Du kannst es nicht verhindern.“ Die andere, ältere Lyra kniff die Augen leicht zusammen, was ihr ein ziemlich wildes Aussehen gab, woran die kinnlangen, ungleichmäßig geschnittenen Haare jedoch einen nicht unerheblichen Anteil hatten. „Wenn du dich meiner Mission in den Weg stellst, werde ich keine Rücksicht nehmen können, Cassandra. Ich tue das hier, um zu verhindern, dass der Prinz weiter an der Macht bleibt. Nur so kann ich dich beschützen.“

„Ich will nicht von dir beschützt werden, wenn das bedeutet, dass du mordest!“, zischte Cassie aufgebracht, doch ihre Worte mussten etwas zu laut gewesen sein. Draußen ging eine Wache ihren Rundgang, wurde langsamer und klopfte wenige Sekunden später an der Tür. Ein Seitenblick auf Lyra verriet ihr, dass diese bereits das Messer gezückt hatte und Kleoparda lautlos die Zähne fletschte.

„Ist alles in Ordnung, Miss Cassandra?“

„Ja, alles bestens“, versuchte sie mit möglichst gut gelaunter Stimme zu sagen. „Sie können gehen.“

„Mir war, als hätte ich Stimmen gehört.“

„Stimmen?“ Cassies Stimme überschlug sich und hastig befeuchtete sie ihre Lippen. „Nein, alles ist gut. Woher sollen denn Stimmen kommen? Ich bin wie immer ganz alleine.“ Bange Sekunden des Wartens, dann entfernten sich die Schritte des Wachmanns wieder und Cassie atmete erleichtert aus. „Das war knapp.“

Lyra steckte das Messer zurück an ihren Gürtel. „Knapper wird es, wenn Melik dir die Kehle durchtrennt oder das Herz herausreißt. Du bist jung und naiv, Cassandra. Du verstehst noch nicht, was getan werden muss.“

Und diese Lyra war verwirrt, verrückt und von Zorn zerfressen, doch diesen Teil dachte sich Cassie nur und traute sich nicht, Lyra dies ins Gesicht zu sagen. „Was wirst du jetzt tun? Die Sonne geht gleich unter.“

Lyra nickte und schnalzte dabei leise mit der Zunge. „Wir haben damals den Sonnenuntergang abgewartet, sind dann den Berghang hinab gestiegen und mitten in den Hinterhalt gelaufen. Ich habe keinen Grund zur Annahme, dass es dieses Mal anders laufen wird. Du“, dabei schaute sie Cassandra durchdringend an, „wirst hier warten und dieses Zimmer nicht verlassen.“

Cassie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch als in genau jenem Augenblick etwas Bedrohliches in Lyras Augen aufblitzte, schloss sie den Mund wieder und nickte stumm. Es war dieser kurze Augenblick, in dem Cassie eine Entscheidung fällte. „Ja, du hast recht. Ich bin zu schwach und kann nichts tun. Ich würde euch allen nur im Weg stehen.“

Lyra musterte sie misstrauisch, warf dann einen Blick aus dem Fenster und drehte sich wieder um. „Ich gehe jetzt. Die Stallungen sind der Ort, an dem damals alles passierte. Dort werde ich auf Melik und die anderen warten.“

Als sie Lyra aus dem Spiegel geholt und hier in diese Welt gebracht hatte, hatte Cassie noch nichts gewusst. Lyra hatte ihr nur wenig erklärt, war meistens verschwiegen und grübelte an ihrem Racheplan, doch was Cassie wusste, war, dass dies hier die Zerrwelt war. Lyra war aus der Zukunft gekommen, um zu verhindern, dass alle ihre Freunde – und damit auch Cassies Freunde – durch einen Hinterhalt von Prinz Melik getötet werden. Zekrom hatte Melik gehorcht, der von Kyurem als Herrscher auserwählt worden war, was laut Lyra jedoch auch auf sie, Cassandra, zutraf. Cassie hatte zwar nachgefragt, was das über ihre eigene Vergangenheit aussagte, doch Lyra hatte geschwiegen.

Noch immer wusste sie nicht, wie alle Puzzleteile genau ineinander passten, doch wenn Melik von Kyurem zum Herrscher ernannt worden war und sie ebenfalls, bedeutete das dann nicht, dass sie eine Verantwortung besaß? Ein Herrscher sollte sich für seine Verbündeten und sein Volk einsetzen, nicht andere für sich kämpfen lassen.

Cassie presste die schmalen Lippen aufeinander und sah zu, wie Lyra mit Kleoparda aus dem Zimmer huschte und im Labyrinth der Schlossgänge verschwand.

„Golb.“

„Ich bin ganz deiner Meinung“, sagte Cassie und tätschelte ihrem Pokémon den Kopf. „Lyra lässt sich von ihrer Mission nicht abbringen, aber ich werde garantiert nicht hier sitzen und darauf warten, dass entweder meine Freunde ins offene Messer laufen oder Lyra den Prinzen tötet. Ich weiß nicht, wieso Kyurem Melik und ausgerechnet mich auserwählt hat, aber es fühlt sich falsch an, dass ich ganz offensichtlich Mittelpunkt eines Kampfes bin, der in der Vergangenheit der anderen Lyra tödlich endete.“ Sie wollte nicht, dass irgendjemand sein Leben opferte, ganz bestimmt nicht für sie. Sie war Cassandra White, aufgewachsen im Waisenhaus Sankt Josephines, sie war die beste Freundin von Lyra Hawkins. Lieber würde sie für ihre eigenen Fehler gerade stehen als zuzusehen, wie Lyra ihretwegen von Zekrom vernichtet wurde.

„Wir gehen.“ Cassie ging zu ihrem Kleiderschrank, öffnete beide Türen so weit wie möglich und betrachtete ihre Garderobe. Nichts davon eignete sich für einen Kampf und war unauffällig genug, aber wenn sie etwas verändern wollte, musste sie ein Risiko eingehen. Sie wählte den kanariengelben Regenmantel, den sie auch bei ihrer Ankunft getragen hatte, ließ Günthers maßgeschneiderten Wintermantel liegen und kniete sich dann vor Golbit hin. Beide Hände legte sie auf die Schultern ihres kleinen Pokémon und schaute ihm tief in die Augen. „Golbit, ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, um Lyra beschützen zu können, aber ich kann nicht länger andere für mich kämpfen lassen.“

Golbit nickte treu und Cassie wusste, dass sie sich in diesem Gefecht ganz auf ihren Partner verlassen konnte. Abgesehen davon gab es da noch immer die TM-Attacke, die Golbit womöglich gelernt hatte, auch wenn sie noch immer nicht wusste, was es war.

Die Sonne war gerade untergegangen, als sie vorsichtig ihre Zimmertür öffnete und hinaus auf den Flur spähte. Cassie hatte Glück, denn es war keine Wache zu sehen, was merkwürdig war, aber wenn die andere Lyra recht hatte und Melik den Hinterhalt vorbereitete, brauchte er mit Sicherheit jede Kraft, die er woanders entbehren konnte. So wie bei ihr, einem kleinen, hilflosen Mädchen, dem nicht auffallen würde, wenn es ein paar Stunden unbewacht war. Von wegen.

Auf leisen Sohlen schlich Cassie sich hinaus, dicht gefolgt von Golbit, das zur Abwechslung keinen Ärger machte und sich nicht ablenken ließ. Beiden war der Ernst der Lage nur zu gut bewusst und lastete schwer auf ihren Schultern.

Da sie nicht wusste, wo genau sich die Stallungen befanden, diese jedoch mit Sicherheit im Erdgeschoss waren, wagte Cassie sich bis zu der breiten Wendeltreppe vor, die mehrere Etagen miteinander verband und so wie der Großteil des Schlosses aus türkisfarbenem, kristallartigem Stein gefertigt war. Gerade als sie den ersten Fuß auf die Treppe setzte, kam eine Dienstmagd um die Ecke, fing Cassies ängstlichen Blick auf und blieb stehen.

Es vergingen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Cassie sah Margaret direkt ins Gesicht, keine von beiden blinzelte. Es war vorbei. Margaret würde jeden Moment Alarm schlagen, dann würde man sie abführen und ins Gefängnis sperren, genau so, wie Lyra gesagt hatte. Sie würde nichts mehr zu essen bekommen, verhungern und ihrer Lyra nicht mehr helfen können. Sie würde …

Margaret blinzelte, dann nickte sie Cassie kaum merklich zu, drehte sich um und ging weiter, als wäre nie etwas geschehen.

Cassie wusste nicht, wieso Margaret sie nicht verraten hatte – oder tat sie es noch? Jedenfalls nutzte sie den Moment, zog Golbit in den Pokéball zurück, um schneller voran zu kommen, und eilte die Wendeltreppe hinunter. Irgendwo schräg über ihr rief jemand nach ihr, eine männliche Stimme, einer der Wachen, doch mitten im Ruf brach die Stimme ab und ein Blick über die Schulter zeigte Cassie, wie Margaret gerade verschwand und den Wachmann mit sich zog. Sie half ihr, Margaret war auf ihrer Seite!

Cassandra rannte weiter, bog in einen schmaleren Gang ein, eilte in eines der engen Treppenhäuser für die Diener und folgte dem Geruch der Küche, die sich, das hatte Margaret ihr einmal erklärt, im Keller des Schlosses befanden. Auf halber Strecke stieß sie einen verdutzten Koch um, dann eine andere Dienstmagd, die wie vom Wattzapf gestochen aufschrie, sich Cassie jedoch nicht in den Weg stellte. Margaret mochte ihr einen Vorsprung verschafft haben, doch wenn sie nicht sehr bald ein Versteck oder die Stallungen fand, würde man sie früher oder später aufhalten, das wusste sie.

Eine Biegung, noch eine. Raus aus dem Treppenhaus auf einen breiten Flur. Ein Wachmann, der die entdeckte. Zurück ins Treppenhaus, wieder ein Stück nach oben, zur Seite, runter. Cassie hatte längst die Orientierung verloren, stolperte mit rasendem Herzen hinaus auf einen weiteren Flur und direkt vor ihr taten sich riesige Rundbogenfenster auf, die den Garten in all seiner Pracht zeigten. Ebenerdig. Das Erdgeschoss, sie hatte es geschafft.

Schnell weiter durch die Gartentür, noch mehr Wachen, die ihr dicht auf den Fersen waren. Einer rief sein Pokémon, dann ein zweiter roter Blitz direkt neben ihr, doch sie schlug einen Haken, tauchte zwischen den Bäumen ab und rannte weiter, immer weiter.

„Sie flieht, haltet sie auf!“

Das Glück musste auf ihrer Seite sein oder es war einfach nur die pure Verzweiflung, die Cassies Beine trotz einsetzender Schmerzen immer weiter antrieb. Die Stollunior der Wachen waren langsam und konnten nicht mit ihr mithalten, verloren sie zwischen den Bäumen, Sträuchern und Hecken und viel zu spät fiel ihr auf, dass es etwas zu bedeuten hatte, wenn nur die schwächsten und rangniedrigsten Wachen im Palast verblieben waren.

Sie erreichte die Stallungen zehn Minuten später, schlich sich von hinten an und versteckte sich zwischen einem halb verwilderten Tamotbusch und einer niedrig gestutzten Aprikokohecke. Ihr Atem war laut, keuchend, stoßweise und sie musste sich die Hand vor den Mund halten, um leise zu sein. Einige Minuten wartete sie, bis ihr Körper sich allmählich beruhigte und sie die Wachen nicht mehr hörte, dann huschte sie unentdeckt an die Rückwand der Stallungen und kletterte durch ein geöffnetes Fenster ins Innere.

Drinnen war es stickig, roch nach Stroh, Pokémondung und das Licht war schummrig. Die Öllampen an den Seiten waren nicht angezündet und nur durch vereinzelte, schmutzige Fenster drang Licht hinein. Niemand schien hier hinten zu sein, doch dann vernahm Cassie Stimmen aus dem vorderen Bereich. Zur Vorsicht entließ sie Golbit wieder aus seinem Pokéball und wagte sich einige Stallboxen weiter nach vorne.

An den Türen waren Namensschilder angebracht, doch die Boxen waren leer bis auf eine, in der ein Panzaeron mit verbundenem Flügel stand und unruhig mit den Füßen im Stroh scharrte, als es sie erblickte. Die messerscharfen Augen folgten ihr, doch das Pokémon blieb stumm.

Husch.

Cassie zuckte zusammen, presste sich an die Wand und starrte nach oben in die Dunkelheit. Dort oben auf einem der Querbalken im Schatten des Giebels, hatte sie für einen Augenblick geglaubt eine Bewegung zu sehen, doch so angestrengt sie auch nach oben blickte, konnte sie nichts erkennen.

Sie senkte den Blick, wagte sich weiter vor. Ein Stück, eine Box. Pause. Weiter.

Die Stimmen, die sie gehört hatte, wurden lauter und hinter einer Biegung konnte sie mehrere Gestalten in Rüstung erkennen, unter ihnen Ministerin Katleen und Minister Eyvan, beide begleitet von je einem Stolloss, die unruhig hinaus in die Nacht starrten. Waren das alle? Hatte sie nicht noch mehr Leute gehört? Warum waren sie auf einmal verstummt?

Cassies Nackenhaare stellten sich auf. Irgendetwas stimmte nicht. Dann hörte sie die Schritte hinter sich, direkt aus einer der Boxen kommend, die sie passiert hatte. Sie schreckte herum, hörte Golbits warnendes Knurren.

Prinz Melik höchstpersönlich stand vor ihr und an seiner eigenen Rüstung schillerten diverse militärische Abzeichen. Er grinste spöttisch, herablassend, siegessicher. Boshaft. „Wie schön, dass du dein Kommen einrichten konntest. Gerade rechtzeitig, um das Beste nicht zu verpassen. Ich wusste doch immer, dass auf diese alte Prophezeiung Verlass ist, Schwesterherz.“

Keine Sekunde später explodierte alles um sie herum in pechschwarzen Rauch.

Verlorene Rettung

Tagsüber hatten sie es nicht gewagt das Feuer erneut zu entzünden und schon am Nachmittag war Lyra sicher, dass ihr Magenknurren die Wachen des Kristallpalasts anlocken würde. Laut Grace, die sich als ihre persönliche Krankenschwester sah, war es ein gutes Zeichen, dass ihr Körper Hunger verspürte und nach Essen verlangte, doch Lyra war sich dessen nicht so sicher. Gegen Abend war der Großteil beider Arme milchig und lichtdurchlässig geworden und es breitete sich Stunde um Stunde über ihren Bauch Richtung Beine aus.

„Sie hat nicht mehr viel Zeit übrig“, hörte sie Finn sagen. Zusammen mit Sarin stand er am Höhlenrand und wartete darauf, dass die Sonne unterging, damit sie ihre gepackten Sachen schultern und sich an den Abstieg auf der anderen Seite des Bergkamms machen konnten. Vermutlich dachten sie, dass sie leise genug flüsterten, um Lyras Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen, doch dem war nicht so. Sie hatte zwar die Augen geschlossen und saß an Arkani gelehnt auf dem Boden, lauschte allerdings jedem Wort der beiden.

„Ich weiß.“ Sarin klang müde und besorgt. „Es sind nicht viele Fälle dokumentiert, in denen Menschen durch den Zeitenspiegel im Spiegelsaal gingen und diese Zeitreisen beschränkten sich stets auf maximal wenige Stunden.“

„Mir war schon immer klar, dass dieser Spiegel nur Unheil bringt.“ Finn machte einige Schritte und kickte dabei einen kleinen Steinsplitter locker vor sich her. „Dialga und Palkia sind mächtige Pokémon, ihre Kraft sollte nicht in ein menschliches Gebrauchsobjekt gebannt sein.“

„Unsere Vorfahren wussten vermutlich nicht, was für eine Gefahr der Spiegel darstellt.“

Einen Moment herrschte Schweigen, dann fuhr Finn fort: „Sarin, du weiß genauso gut wie ich, dass kein Mensch über diese Macht verfügen sollte. Der Zeitenspiegel ist exklusiv für die Wächter und die Königsfamilie gedacht, aber ich finde es nicht richtig.“ Dann sagte er, mit gesenkter Stimme, sodass Lyra sich anstrengen musste, um ihn doch noch zu verstehen: „Wir sollten ihn vernichten. Wenn wir schon einmal im Palast sind, sollten wir dafür sorgen, dass Lyra geheilt wird und so etwas nie wieder passieren können. Sie könnte sterben. Sie wird sterben.“

Lyra lief es eiskalt den Rücken runter. Sterben? Sie wollte nicht sterben, sie hatte eine Mission, Cassie. Unruhig rutschte sie umher, was Arkani aufscheuchte und damit auch Sarin und Finn, die ihr Gespräch augenblicklich mit einem besorgten Blickwechsel beendeten.

„Hast du gut geschlafen?“, erkundigte Sarin sich, ging zu ihr und half ihr hoch. „Bis zum Sonnenuntergang dauert es noch eine knappe halbe Stunde. Siehst du, der Himmel färbt sich bereits rot.“

„So gut, wie man auf Steinboden schlafen kann“, erwiderte sie, rang sich ein erschöpftes Lächeln ab und tätschelte Arkanis Flanke. Dann befestigte sie mit Sarins Hilfe ihren Rucksack wieder auf Arkanis Rücken.

Finn nickte ihr wortlos zu, als er nach draußen trat und zum wiederholten Mal überprüfte, ob die Panzaeron-Patrouille irgendwo zu sehen war. Er winkte Grace und Leo zu sich, steckte für einige Minuten die Köpfe mit ihnen zusammen, dann kehrten sie zu dritt zurück. „Wir haben einen Schlachtplan gemacht.“

Lyra lehnte sich gegen Arkani. Alleine das Stehen strengte sie an und wo sie letzte Nacht noch problemlos selbst für einige Zeit umherlaufen konnte, brauchte sie nun Grace‘ Pokémon, das sie wärmte und stützte. „Wie sieht der Plan aus?“

„Du kommst nicht direkt darin vor.“ Finns Worte klangen harsch und ließen Lyra leicht zusammenzucken, doch er erläuterte unbeirrt, wie sie vorgehen wollten. „Wir warten, bis die Sonne komplett untergegangen ist und es dunkel wird, dann kann man uns nicht mehr aus der Luft erkennen. Für den Abstieg zum Palastgelände werden wir, wenn es gut läuft, etwa eine halbe Stunde brauchen. Der Hang ist steil, aber es gibt einen Trampelpfad, auf dem wir von alleine ins Straucheln und Laufen geraten werden. Unten erwartet uns das großflächige Plateau, das bis zum Meer führt. Direkt an den Klippen steht der Kristallpalast, aber wir werden uns ein kleines Stück weiter westlich halten und zu den Stallungen vordringen. Diese sind im Regelfall so gut wie nicht bewacht. Von dort aus gelangen wir in den Garten des Palasts und können uns so weit heranschleichen, dass wir durch einen Geheimgang ins Innere kommen. Wenn wir uns genau an den Plan halten, wird man uns erst bemerken, wenn wir schon längst drinnen sind.“

Nun schaltete Sarin sich ein. „Finn und ich kennen den Palast wie unsere Westentasche. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wo Cassandra sein kann. Entweder hat man sie in die Kerker im Untergeschoss gesperrt, was wir aber für unwahrscheinlich halten, oder aber sie ist im Seitenflügel bei den Gästezimmern. Wir teilen uns auf. Finn, Grace und du gehen zum Spiegelsaal, Leo und ich holen Cassie. Wir müssen uns auf jeden Fall beeilen.“

„Nein, das geht so nicht, ich komme mit euch zu Cassie!“

„Lyra, sei nicht albern“, schalte Finn sie und schnaubte. „Du kannst nicht einmal gerade stehen, geschweige denn kämpfen. Grace und ich bringen dich zum Zeitenspiegel und dann sehen wir zu, dass wir dich wieder in den Normalzustand bekommen. Sarin ist Cassies Bruder, er kann auf sie aufpassen.“

„Und wenn es zu Kämpfen kommt?“

Grace legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Dann werden wir kämpfen. Sarin und Finn sind die stärksten von uns, mit Arkani können wir dich schnell zum Zeitenspiegel bringen und Sarin kann sich den Weg zur Not mit Lucario und Golgantes freikämpfen.“

Sarin nickte ihr zuversichtlich zu. „Wir treffen uns dann wieder bei den Stallungen und gehen zusammen zurück in die Berge.“

Lyra mochte den Plan nicht, gab sich jedoch mit hängenden Schultern geschlagen und setzte sich auf Arkanis Rücken. Der Plan stand und sie hatten nur diesen einen Versuch. Alles hing davon ab, dass sie unerkannt zu den Stallungen, durch den Garten und zum Geheimgang kamen.
 

Der Abstieg war, so wie Finn es prophezeit hatte, sehr steil. Arkani rutschte immer wieder mehrere Meter am Stück und wäre es nicht so kräftig gewesen, wäre es mitsamt Lyra den Hang hinuntergerollt. Grace folgte mit Sarin, beide kamen mehr rutschend als gehend voran und schürften sich die Handflächen auf, zuletzt ging Leo, neben dem Finn bequem auf Rosis Rücken flog.

Sie brauchten statt der geplanten halben Stunde etwas länger, kamen aber alle nacheinander durchgeschwitzt und kaputt auf dem Plateau an – bis auf Finn, der energiegeladen und beschwingt von Rosis Rücken kletterte, seinem Trikephalo einen Klaps auf die Flanke gab und sie zurück in ihren Aprikokoball zog.

Schweigend schlich die Gruppe hinter Sarin her. Trotz der Dunkelheit, die die Nacht mit sich brachte, hielten sie sich in den Schatten der Bäume auf, die immer wieder in unregelmäßigen Abständen auftauchten, bis sie das Schloss sehen und das Rauschen des Meeres hören konnten. Sarin gab ihnen ein Handzeichen und sie alle kauerten sich hinter eine Reihe von Aprikokobäumen, die bereits zum königlichen Grundstück gehörten und Zeugen einer alten Plantage waren, die man vor knapp einhundert Jahren zum größten Teil gerodet und in den Schlossgarten verlegt hatte.

„Sehr ihr die Gebäude dort hinten?“ Sarin flüsterte und schaute sich immer wieder misstrauisch um. „Das sind die Stallungen. Zwischen unserer Positionen und den Ställen liegt etwa ein halber Kilometer braches Land, wir können uns dort draußen nicht mehr verstecken, also müssen wir schnell sein.

Finn nickte. „Dahinter bietet uns der Garten wieder mehr Schutz. Der Geheimgang ist gut getarnt, aber wir müssen nach einem Tamotstrauch Ausschau halten. Es ist der einzige im ganzen Garten, unter ihm befindet sich eine Falltür, die in einen unterirdischen Gang führt. Wenn wir diesem Gang folgen, kommen wir im Untergeschoss raus.“

„Wofür braucht ein Schloss einen Geheimgang nach draußen?“, fragte Grace und reckte leicht den Hals.

Sarin lächelte sie an. „Das ist für den Fall, dass es eine Revolte gibt und man einen der Herrscher in den Kerkern einsperrt. Nur Mitglieder der Königsfamilie kennen diesen Geheimgang und wissen, wie man ihn vom Kerker aus öffnet.“

„Sehr vertrauenserweckend.“ Leo war die ganze Zeit über sehr still und in sich gekehrt gewesen, stand nun jedoch als erster auf und nickte den anderen zu. „Wir sollten keine Zeit verlieren. Rüber zu den Ställen, durch den Garten, rein in den Kristallpalast und dann teilen wir uns auf. Ein Mädchen mit silberweißen Haaren sollten wir doch finden können.“

Grace legte ihre Hand auf seine. „Wir schaffen das.“

Auch Lyra schlug ein und kurz darauf hatten sie alle fünf ihre Hände übereinander gelegt. „Wir schaffen das.“ Sie nickten sich gegenseitig zu und ohne auf ein Kommando zu warten, begannen sie hinaus auf das Grasland zu rennen.

Die Zeit verging gefühlt viel zu langsam und Lyra hatte ständig Angst, dass man sie entdeckte, doch sie erreichten die Stallungen, drückten sich an die lange Außenwand der Westseite und atmeten schnaufend durch. Von dieser Position aus konnten sie weder den Garten noch den Palast sehen, doch das Rauschen der Wellen war deutlicher zu vernehmen. Das Meer musste ganz nah sein und mit ihm die Klippen, die laut Finn und Sarin den sicheren Tod für jeden bedeuteten, der über sie stürzte und kein Flug- oder Wasserpokémon war – und selbst bei diesen wollte Finn nicht garantieren, dass sie einen Sturz aus der Höhe in die gefährlichen Strudel und hohen Wellen überlebten.

„Das … ging einfach …“ Grace lächelte und keuchte, aber auch ihr hatte der Sprint zugesetzt und kleine, feine Schweißperlen hatten sich unterhalb ihres lockigen Haaransatzes gebildet. „Keine Wachen … weit und … breit.“

Sarin nickte zögerlich. „Ja, das war einfach. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es schaffen.“

„Du hattest Zweifel?“ Leos Stimme war lediglich ein wütendes Zischen, dann riss er sich wieder zusammen, rieb sich über die Nasenwurzel und drehte Sarin den Rücken zu. „Los, kommt, wir müssen weiter.“

„Bist du sicher, dass es hier keine Wachen gibt? Nur weil wir nicht sofort welche gesehen haben …“ Weiter kam Lyra nicht, denn in genau diesem Augenblick brach innerhalb der Stallungen ein Tumult aus. Die Glasscheiben zerbrachen, ein heller Kreideschrei zerriss die Stille der Nacht und schwarzer Rauch, der nur von einer Rauchwolke stammen konnte, drang aus den Fenstern nach draußen.

Sarin riss Grace mit sich, der Arkani natürlich sofort folgte und Lyra dabei unsanft durchschüttelte. „Verdammt, wir müssen sofort zum Geheimgang!“

Aus dem Inneren kamen Schreie, es brach ein Tumult aus und mehrere Wachen rannten, dicht gefolgt von einem Mann und einer Frau in glänzenden Rüstungen, die die Farbe von einem Golbit-Körper hatten. „Da sind sie!“ Die Frau, die hinter den anderen gelaufen war, boxte sich einen Weg an die Spitze frei und ihr kinnlanges, braunes Haar wehte unter ihrem Helm hervor, an dem sieben lange, grüne Federn befestigt waren.

„Ministerin Katleen, scheiße!“ Es dauerte keine Sekunde, in der Sarin und Finn sich mit einem Blick darauf geeinigt hatten, dass sie hier nicht entkommen konnten. Sie mussten kämpfen.

Sarin packte Grace am Handgelenk. „Planänderung, du musst Lyra sofort zum Spiegelsaal bringen.“

„Sarin, das kann ich nicht alleine!“

„Grace, hör mir zu! Erinnerst du dich an die Wegbeschreibung, die ich dir gegeben habe?“ Als sie nickte, drückte er sie für einen winzigen Augenblick an sich. „Dann schnapp dir Arkani und Lyra und lauf, so schnell du kannst!“

„Wieso wussten sie, dass wir hier sein würden?“ Die Stimme gehörte zu Leo, vor dem bereits Luxtra und Walraisa Stellung bezogen hatten. Beide Pokémon stellten sich Ministerin Katleen und ihrem Stolloss entgegen, doch sie bekam sofort Unterstützung von einem zweiten Stolloss und dessen Trainer, den Finn sogleich als Minister Eyvan identifizierte. Hinter ihnen strömten weitere, normale Wachen aus dem Stalltor wie aus einer offenen Wunde und zogen dabei die letzten Ausläufer der Rauchwolke hinter sich her.

Lyra wollte protestieren, doch Arkani rannte los, neben seiner Trainerin her, die ihr Schillok rief. Dank der Hydropumpe, die ihr Ziel zwar nicht traf, aber für genügend Ablenkung sorgte, konnten sie einen Vorsprung von gut zwei Dutzend Metern erhaschen.

Irgendwo hinter ihnen stürzte Rosi sich brüllend ins Gefecht und Finn verpasste einem Wachmann, der ihm zu nahe kam, einen kräftigen Kinnhaken. Lyra krallte sich fester in Arkanis Fell, versuchte sich den Bewegungen des Feuerpokémon anzupassen, doch ihre Muskeln besaßen nicht mehr genügend Kraft.

Etwas Silbriges blitzte mitten im Getümmel auf. Cassie. „Cassie!“ Lyra wollte umkehren, doch Grace lief weiter. Nein, sie konnte Cassie nicht alleine mitten im Kampfgeschehen lassen, sie konnte nicht … Noch ehe Lyra ein zweites Mal darüber nachdenken konnte, ließ sie Arkani los, rollte sich von seinem Rücken herab und landete hart auf der Erde, was ihr die Luft aus den Lungen drückte.

Es geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, die alle wie in Zeitlupe vor ihr abliefen.

Cassandra riss sich von Prinz Melik, der sie am Arm gepackt hatte, los, stolperte jedoch über einen am Boden liegenden Wachmann und stürzte direkt in die Arme einer weiteren anwesenden Ministerin, die sie in einen Schraubstockgriff nahm.

Leos Pokémon wurden von den beiden Stolloss immer weiter zurück gedrängt und ein Steinhagel traf Walraisa mit solch heftiger Präzision, dass es bereits nach wenigen Sekunden im Kampf besiegt zusammenbrach.

Rosi und Finn kämpften wie wilde Tiere, waren aber von einer Überzahl umzingelt.

Sarin rannte auf seinen Bruder, Prinz Melik, zu.

Meliks Schwert, das sich hob und Sarins Körper traf.

Grace, die ebenfalls gesehen hatte, was mit Sarin geschah. Ihr schriller Schrei. Arkanis wütendes Heulen. Ein Flammenwurf, der direkt über Lyra hinwegfegte und eines der Stolloss in die Brust traf.

Und zuletzt eine Unbekannte, die wie aus dem Nichts auftauchte. Lyra sah in eine erwachsene Version ihres eigenen Gesichts.

Zeitenspiegel

„Sarin! Bei Arceus, nein!“ Grace‘ schrilles Schreien durchschnitt die Kampfgeräusche wie Butter. Lyra bekam am Rande ihres Sichtfelds mit, wie Grace sich an Arkanis Seite mitten ins Getümmel stürzte, während Leo ihr zurief, dass sie sich um Lyra kümmern musste.

Lyra hingegen starrte direkt in ihr eigenes Gesicht und dieser Anblick blendete die Gefahren um sie herum aus, sodass sie den Kampf ihrer Freunde gegen Melik und seine Wachen wie durch Watte hörte. „Du bist … ich?“

Diese andere Lyra blickte sie zuerst geschockt, dann düster, dann verwirrt an. Sie griff Lyra unsanft an den Schultern, zerrte sie hoch auf die Füße und ließ sich wenige Meter weiter an der Wand des großen Stalls nieder. „Du bist es.“

„Und du bist?“

Ein weiterer, langer Blick hing zwischen ihnen in der Luft, dann weiteten sich die Augen der Lyra, die aussah wie sie und dennoch anders, erwachsener mit kürzeren Haaren und wilder Wut im Gesicht. „Nein.“ Das Wort war ein Flüstern, das sich zwischen ihnen ausbreitete, dann ließ sie Lyra zitternd los und robbte selbst mit dem Rücken zur Wand. „Nein, das kann nicht sein. Es läuft schief. Alles läuft schief. Der Spiegel, du verschwindest, ich … Dir bleiben nur noch wenige Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Sieh dich an.“

Lyra rang sich ein gequältes Lächeln ab. Sie besaß selbst schon nicht mehr die Kraft, um alleine aufzustehen. Würde ihr Spiegelbild sie hier liegen lassen und einer der Wachen sie angreifen, sie könnte sich nicht einmal wehren. „Ich weiß, aber wir sind hier, um Cassie zu retten, nicht mich.“

„Nein, du verstehst es nicht. Du bist ich. Ich bin du, Lyra. Der Zeitenspiegel hat mich aus der Zukunft hier her gebracht, das muss es ausgelöst haben. Deshalb verschwindest du. Für einige Stunden kann es funktionieren, aber eine Person darf sich nicht zweimal in derselben Zeit aufhalten. Das ist gegen die Gesetze der Natur. Cassandra sie …“ Ihre Augen huschten unruhig hin und her, als sie Cassies weißen Haarschopf nicht finden konnte. Ihre Finger zuckten zu einem Messer an ihrem Gürtel, dann zog sie es hervor und starrte die Klinge an. „Ich bin hier, um Cassandra zu retten, aber weil ich hier bin, bringe ich dich um. Ohne dich sind die Wächter nicht komplett, ohne dich kämpfen zu wenige gegen Melik. Ich dachte, ich könnte dich ersetzen, aber das kann ich nicht, ich …“ Die andere Lyra schluckte heftig. „Ich darf nicht länger hier sein. Keine Sekunde. Du musst es tun.“

„Was?“, fragte Lyra mit krächzender Stimme und duckte sich unter den Ausläufern einer weiteren Flammenwurf-Attacke weg, die quer geschlagen war. „Ich verstehe nicht, was los ist.“ Ein leises Stöhnen durchfuhr sie, als die andere Lyra sie heftig am Arm packte.

„Im Kristallpalast gibt es einen Spiegel, der einen Teil der Macht von Dialga und Palkia besitzt. Nur die Wächter und die Königsfamilie können ihn benutzen und als Cassandra mich gerufen hat, bin ich aus der Zukunft hier her gekommen. Ich bin dein zukünftiges Ich, Lyra. Damals wurden alle außer mir getötet, deshalb bin ich geblieben, ich wollte es verhindern. Ich dachte, ich kann die Vergangenheit retten und damit auch meine Zukunft, aber Zeitreisen sind zu gefährlich. Wenn ich bleibe, stirbst du. Wenn du stirbst, gibt es mich nicht und ich kann nicht hier her kommen. Dann wird es so enden wie bei mir und alle finden den Tod. Es gibt nur eine Möglichkeit, Lyra. Nutze dieses Wissen, rette Cassandra! Tu es für mich, für uns beide.“ Und im Anschluss an diese Worte stach die andere Lyra sich ihren Dolch tief ins eigene Herz hinein.
 

Cassandra wusste nicht, wo oben und unten war, als sie über den Boden rollte. Auf einmal hatte Prinz Melik sie von sich gestoßen, sein Schwert gezückt und einem braunhaarigen Jungen einen Stoß verpasst. Durch Meliks Beine hindurch konnte sie sehen, wie Sarin – so hieß er wohl – zu Boden stürzte, sich die Hand auf die Wunde presste und keuchte. Innerhalb weniger Sekunden glänzten seine Augen fiebrig und er kippte vornüber wie ein Sandsack, dann rührte er sich nicht mehr. Prinz Melik hatte ihn umgebracht!

Sie wusste, dass sie etwas tun musste, also sprang sie nach oben und riss den Prinzen mit sich zu Boden, doch im nächsten Moment verpasste ihr einer der Wachmänner einen Tritt in die Seite, der ihr die Luft aus dem Körper drückte.

Mit tränenden Augen krümmte Cassie sich zusammen. Es gab einen Schlag, dann noch einen, wütendes Gebrüll und eine Feuerwand, die sich durch die Reihen von Meliks Kriegern fraß. Gerade noch rechtzeitig konnte Cassandra aus der Bahn kriechen und sah, wie Melik, Ministerin Katleen und Minister Eyvan den Rückzug auf das freie Feld zwischen Stallungen und Berghang antraten. Gaben sie sich schon geschlagen? Nein, das konnte nicht sein. Die Wachen und Pokémon folgten ihnen und kurz darauf hatte sich der Kampf auf die freie Fläche verlagert. Es war kein Rückzug gewesen, sondern ein taktischer Ortswechsel, denn abseits der Stallungen musste niemand mehr fürchten, dass das Gebäude Schaden nahm. Sie konnten ohne Gnade kämpfen.

„Nicht“, wimmerte Cassie, als ein schwarzhaariger Junge mit Luxtra an ihr vorbei stürmte und den anderen folgte. „Das ist eine Falle“, versuchte sie es etwas lauter, doch es war vergeblich, denn der andere war bereits wieder mitten im Geschehen, ebenso ein weiterer Junge, der Seite an Seite mit einem Trikephalo kämpfte.

„Sarin, nein! Nein, nein, nein, nein, nein …“ Ein Mädchen mit blasser Haut und Lockenkopf ließ sich neben dem leblosen Körper zu Boden gleiten, umfasste seine Schultern und drehte den Körper auf den Rücken. Das dicke Wollhemd, das die oberste Schicht seiner Bekleidung bildete, war bereits zur Hälfte mit Blut durchtränkt und knapp unterhalb seiner Brust klaffte die Schnittwunde. Da! Kaum wahrnehmbar das Heben und Senken des Brustkorbs. Er lebte noch.

Cassie setzte sich auf, kniete sich neben das Mädchen und drückte mit zittrigen Händen auf die Wunde. „W-wir müssen die Blutung stoppen. Schnell, sonst stirbt er.“

Mit tränenverhangenen Augen wandte das Mädchen den Kopf zur Seite und erst da schien sie zu realisieren, dass sie nicht mehr alleine war. Sie schnappte nach Luft und gleichzeitig nach Cassandras Hand. „Cassie, wir haben dich gefunden! Arceus sei Dank!“

„Dafür ist später Zeit, wir müssen ihm helfen“, erwiderte Cassie und ihr ohnehin blasses Gesicht war kalkweiß vor Angst und Schock.

Die andere nickte und begann Sarins Taschen zu durchwühlen. „Verdammt, er hatte doch noch einen Rest der Kräuter bei sich, wo … Ah! Hier!“ Sie zog ein kleines Bündel Blätter, die silbrig schimmerten. „Das hat er auch Lyra gegeben, wegen Kyurems Atem müssen die speziell sein.“

„Lyra?!“

„Ja, wir sind hier, um dich zu retten, Cassandra. Das ist Sarin, ich bin Grace und dort drüben kämpfen Leo und Finn. Wir sind deine Wächter.“

„Wächter?“

Grace schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen, dass für Erklärungen nicht der richtige Zeitpunkt war und vermutlich hatte sie damit auch recht. Während Cassandra weiterhin die Wunde zudrückte, verrieb Grace die Kräuter zu einem Ball und drückte diesen dann mitten in den Schnitt hinein, was durch Sarins ohnmächtigen Körper ein Zucken schickte. „Bist du sicher, dass du ihm irgendwelche Pflanzenteile in die offene Wunde drücken willst?“

„Für Zweifel ist keine Zeit. Die Kräuter sind von Kyurem gesegnet, wenn das nicht hilft, dann …“ Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, doch sie blinzelte sie weg und streichelte Sarin liebevoll über die Wange. Als ihr Arkani knurrte und ein Schillok sie am Ärmel zupfte, schaute sie wieder auf. „Ja, ihr habt recht. Cassie, kannst du bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen? Ich muss den anderen helfen, sonst verlieren wir. Pass auf Sarin auf, er ist dein Bruder.“ Mit diesen Worten entschwebte Grace mitten ins Kampffeld und sah dabei aus wie ein Racheengel.

Cassie sah ihr noch einige Sekunden lang hinterher, dann widmete sie sich wieder Sarin, den ein erneuter Schauer durchzuckte, dann noch einer, bis er so herzzerreißend röchelte, dass ihr beinahe das Herz brach. Er starb, das sah sie ihm an, auch wenn sie noch nie einen Toten gesehen hatte oder jemanden, der kurz davor war. Sarins Gesicht hatte seine Farbe verloren, seine Stirn glänzte vor Schweiß und noch immer quoll dunkles Blut zwischen ihren Fingern hervor. Wie lange konnte er das noch überleben?

Sie biss sich auf die Unterlippe, verstärkte den Druck und achtete nicht länger auf das Geschrei der Menschen und Pokémon, die einige Dutzend Meter von ihr entfernt bis aufs Blut miteinander kämpften. Lyra und die anderen waren hier, um sie zu retten. Sie hatten die ganze Zeit nach ihr gesucht, genau so, wie es die andere Lyra gesagt hatte. Sarin war in der Vergangenheit der anderen Lyra gestorben, genau wie Grace, Leo und Finn, doch dieses Mal war Cassandra hier und wenn sie schon keine große Hilfe im Kampf war, weil Melik – wie auch immer – von ihrem Auftauchen gewusst hatte, konnte sie wenigstens Sarins Leben retten.

Als die Krämpfe weniger wurden, stabilisierte sich auch Sarins Atmung und er öffnete die Augen. „C-C-Cassandra?“

Sie lächelte ihn an, hob ihre Hände ein kleines Stück an und stellte erleichtert fest, dass kein frisches Blut mehr aus der Wunde kam. „Ein Glück, du bist wieder bei Bewusstsein.“ Als er versuchte sich zu bewegen, rollten seine Augen für einen Moment nach hinten, dann ließ er den Kopf wieder zu Boden sinken und atmete tief ein und aus. „Prinz Melik hat dich ziemlich schwer verwundet, aber Grace hat dir Kräuter in die Wunde gestopft und jetzt lebst du noch. Oh Arceus, ich dachte, du würdest sterben, weil die andere Lyra genau das gesagt hat, aber du bist nicht tot, also müssen wir bereits etwas verändert haben.“ Sie hielt inne, als sie sah, wie der Junge sie schweigend anlächelte, dann verlor er wieder das Bewusstsein, doch dieses Mal ohne Zucken und Schmerzenslaute.

Langsam, ganz langsam ließ sie ihre Hände ganz von seinem Körper gleiten. Die Kräuter, die Grace in den Schnitt gesteckt hatte, hatten sich mit dem Blut zu einer undefinierbaren, dunklen Masse vermischt, die leicht silbrig glomm. Was auch immer es war, es hatte ihm zusammen mit ihrer Behandlung das Leben gerettet, da war Cassandra sich sicher.

Zu spät bemerkte sie, wie sich zwei Personen vom Kampf gelöst hatten, unter ihnen Minister Eyvan. Innerhalb weniger Sekunden waren sie bei Cassie, zogen sie auf die Beine und Eyvan nahm sie in einen festen Griff. „Deine kleinen Helfer verlieren, Prinzessin. Wieso schaust du dir nicht aus erster Reihe an, wie unser Prinz diesen Verrätern den Gnadenstoß gibt?“

„Nein!“ Cassie wand sich hin und her, wurde jedoch einfach mitgeschleift, bis ihre Fingerspitzen Golbits Pokéball streiften. Sie brauchte drei Versuche, dann manifestierte Golbit sich aus dem roten Blitz und hob verärgert eine Faust in die Luft. „Golbit, hilf mir!“

Das ließ sich ihr Pokémon nicht zweimal sagen und im nächsten Augenblick sauste das kleine Golbit mit der Faust nach vorne, um Eyvan einen Fokusstoß in die Magengrube zu verpassen. Der Minister verzog das Gesicht, gab aber noch nicht einmal mehr einen Laut von sich, als er wie ein Stein zur Seite kippte und dort gekrümmt liegen blieb. Von dem anderen Wachmann konnte Cassie sich alleine losreißen und ehe sie sich versah, sank auch dieser zu Boden.

Sie wirbelte herum und erwartete bereits den nächsten Angreifer, doch vor ihr stand Lyra, ihre Lyra. Augenblick stürzte Cassie ihrer besten Freundin in die Arme und begann an ihrer Schulter zu schluchzen. „Lyra, du lebst, es geht dir gut! Ich bin so froh dich zu sehen!“

Lyra lächelte, tätschelte Cassie den Rücken und schob sie dann sanft zur Seite. „Ja, mir geht es wieder blendend.“ Wie zum Beweis entließ sie Nebulak und Felilou aus ihren Pokébällen. „Diese andere Lyra hat mir das Leben gerettet.“

„Du bist ihr begegnet? Wo ist sie?“

„Weg.“ Lyra schüttelte leicht den Kopf. „Sie hat sich ihren Dolch in die Brust gerammt und in dem Augenblick hat sie sich in Luft aufgelöst und mein Körper wurde geheilt. Der Fluch des Zeitenspiegels ist gebrochen.“

„Lyra, es tut mir alles so furchtbar leid, was passiert ist.“

Sie drückte Cassie noch einmal kurz, dann nickte sie ihren Pokémon zu und warf einen Blick nach hinten zu Sarin. „Sarin ist wach, aber er kann sich noch nicht bewegen.“

„Immerhin lebt er, die andere Lyra hat gesagt, dass er in ihrer Version des Kampfes gestorben ist.“

„Ist das so?“

Cassie nickte. „Wir können gegen Melik nur gewinnen, wenn wir verhindern, dass er Zekrom ruft.“

„Zekrom.“ Lyra wirkte, als würde sie das nach all den Erlebnissen nicht mehr groß überraschen. „Und wie sollen wir das tun?“

„Ich weiß es nicht“, gab Cassandra zu. „Aber die andere Lyra hat gesagt, dass diese mächtigen Legendären Drachenpokémon nur der Königsfamilie gehorchen.“

Einen Moment lang schien Lyra erstarrt zu sein, dann nahm sie Cassies Hand. „Na wenn das so ist, haben wir eine Chance. Du bist Meliks und Sarins Schwester, du bist von Kyurem ebenfalls als Thronfolgerin auserwählt, deshalb deine weißes Haar. Wenn Melik Zekrom rufen kann, dann kannst du das auch – und es vielleicht vom Kampf abhalten.“

„Aber Lyra, ich bin viel zu schwach! Ich bin mein ganzes Leben immer nur weggerannt!“

„Unsinn.“ Lyra schaute Cassie tief in die Augen, dann ließ sie sie wieder los. „Ich bin deine Wächterin, ich werde dich beschützen, aber kämpfen können wir dieses Mal nur gemeinsam. Bist du bereit dafür, Cassie? Bist du bereit, deine Position als Prinzessin der Zerrwelt anzunehmen, wenn das der einzige Weg ist, um uns zu retten?“

Dieses Mal zögerte Cassandra nicht mehr. „Ja, das bin ich.“ Zusammen mit ihren Worten zuckten Blitze durch die Schwärze des Nachthimmels.

Zekrom

Blitze zuckten durch den finsteren Nachthimmel hoch oben über den Köpfen der Wächter, Minister, Krieger und der beiden verbliebenen Mitglieder der Königsfamilie der Zerrwelt. Das Donnergrollen ließ nicht lange auf sich warten und man hatte beinahe das Gefühl, dass der Boden ganz leicht vibrierte wie unter dem Schrei eines, nun ja … Legendären Pokémon.

Cassandra und Lyra tauschten einen besorgten Blick aus, der nur zu deutlich zeigte, wie beide Mädchen an dasselbe dachten. Prinz Melik hatte ihnen mit Zekrom gedroht und nun zuckten immer wieder Blitze über den Himmel, der sich innerhalb weniger Minuten mit dunklen Gewitterwolken zu füllen begann, deren gespenstisches Glühen immer dann zu sehen war, wenn sich die Elektrizität entlud.

„Ich kann nicht verstehen, wieso ein Legendäres sich ausgerechnet diesem Ekel von Prinz unterwirft“, stieß Lyra aus beinahe zusammengekniffenen Lippen hervor und warf einen Blick zurück auf Sarin, der noch immer ohnmächtig auf dem Boden lag, aber wenigstens nicht mehr aus der Stichverletzung blutete.

„Meinst du, wir können ihn einfach hier liegen lassen?“, fragte Cassie und ihr Blick wanderte unruhig zwischen Sarin, ihrem Bruder, den sie nie richtig kennen gelernt hatte, und dem Kampfgeschehen auf der freien Ebene hin und her. „Nicht, dass er wieder verletzt wird.“

„Hier hinten ist außer uns keiner mehr und die Wachen haben alle Hände voll zu tun, um unseren Angriff abzuwehren. Siehst du, wie sie sich um Melik zusammenrotten?“ Lyra knirschte mit den Zähnen und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, den er selbst auf die Entfernung zu spüren schien, denn in genau diesem Augenblick wandte er den Kopf in ihre Richtung und ihr lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. „Wahrscheinlich denkt er sowieso, dass Sarin stirbt. Wir können hier nicht rumstehen.“

Cassie nickte, dann rannten sie gemeinsam auf das Geschehen zu, Golbit, Nebulak und Felilou dicht auf den Fersen.

„Lyra!“ Grace‘ Gesicht war gerötet und die unzähligen Tränen, die sie um Sarin vergossen hatte, hatten ihre Augen ebenfalls feuerrot werden lassen, was in der dunklen Nacht, die nur durch die Blitze und die Attacken ihrer Pokémon erhellt wurde, gruselig aussah. „Dir geht es wieder gut? Wie …“

„Später.“ Lyra drückte Grace‘ Unterarm. „Sarin hat überlebt. Er wird durchkommen.“ Zumindest hoffte sie das. Sie war keine Ärztin und weit davon entfernt sich medizinisch ausgebildet zu nennen, aber Kyurems Heilkraut hatte die Blutung gestoppt und die Wunde verschlossen. Mehr als hoffen konnte sie nicht, doch das sagte sie Grace nicht – erst recht nicht jetzt, wo sie sich mitten im Kampf befanden.

Grace nickte und ihr Blick flackerte für einen kurzen Moment, als wüsste sie nicht, ob sie Lyras Worten Glauben schenken konnte, doch im Endeffekt machte es keinen Unterschied. Sie mussten kämpfen, wenn sie sich, Cassie und diese ganze Welt vor Melik retten wollten.

Lyra ließ ihren Blick über das Getümmel schweifen und versuchte sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Die gute Nachricht war, dass außer den Ministern Katleen und Eyvan keine weiteren Minister am direkten Kampf beteiligt waren und sie im Gegensatz zu den normalen Palastwachen als einzige vollentwickelte Pokémon besaßen. Die schlechte Nachricht war, dass von den beiden kampferprobten Stolloss noch beide im Rennen waren, auch wenn sich eines nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte und sich einen erbitterten Zweikampf mit Grace‘ Arkani und Schillok lieferte.

Leos Walraisa hatte bereits zu Beginn des Kampfes einen Volltreffer erlitten und war besiegt zu Boden gegangen, was bedeutete, dass sein Luxtra mit wildem Brüllen gleich gegen mehrere Gegner zu kämpfen hatte.

Das zweite Stolloss hielt Rosi in Schach, was insofern gut war, als dass es sich nicht auf die anderen Wächter stürzen konnte, doch gleichzeitig hieß das auch, dass Finns Pokémon ihnen nur Zeit verschaffen konnte, um näher an Melik heranzukommen. Finn hingegen bekämpfte mitten im Zentrum zwei Palastwachen mit bloßen Fäusten.

Sarins Pokémon, Lucario und Golgantes, waren stark, aber gegen die Masse an Gegnern hatten auch sie ihre Schwierigkeiten. Trotzdem wichen beide Pokémon keinen Zentimeter zurück und stellten sich furchtlos jedem in den Weg, wobei insbesondere Lucario aussah, als würden seine Augen vor Wut Funken sprühen. Weder Cassie noch Lyra zweifelten daran, dass beide Pokémon aus Loyalität ihrem Trainer gegenüber bis in den Tod gehen würden.

Ungerührt von all dem befand sich Melik am anderen Ende des Geschehens, neben ihm ein halbes Dutzend Wachen und die beiden Minister, die den Pokémon Befehle zuriefen. Als sich Meliks und Lyras Blicke kreuzten, glaubte sie ein Grinsen auf seinem Gesicht zu erkennen. „Er findet das alles unglaublich spaßig“, resümierte sie und ballte die Hände zu Fäusten. „Wir müssen ihn irgendwie außer Gefecht setzen.“

„Wie sollen wir das schaffen?“ Cassies Stimme war ungewohnt fest. Vor einigen Wochen wäre sie noch panisch vor dieser Auseinandersetzung geflohen, doch nun stand sie Schulter an Schulter neben Lyra und ihr Blick war fest geradeaus gerichtet, direkt auf ihren Bruder. „Wenn wir versuchen einfach außen rum zu gehen, werden uns die Pokémon angreifen und an den Wachen kommen wir sowieso nicht alleine vorbei.“

„Dann gehen wir eben einmal quer durch.“ Lyra nickte Cassie zu. „Ich passe auf dich auf, außerdem haben wir noch unsere Pokémon. Sie sind keine starken Kämpfer, aber sie werden uns beschützen.“

Felilou sträubte zustimmend sein Fell, während Nebulak einmal schnell im Kreis schwebte und Golbit seine Fäuste aneinander schlug, sodass ein krachendes Geräusch zu hören war.

„Einverstanden. Wir kämpfen uns bis zu Melik vor und wenn wir ihn nicht zur Vernunft bringen können, werden wir ihn angreifen.“

„Zur Not mit roher Gewalt.“

Cassie verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. „Zur Not mit roher Gewalt“, wiederholte sie.

Wie auf ein Kommando hin stürmten die beiden los und duckten sich unter einem von Arkanis Flammenwürfen hindurch. Nebulak und Felilou wehrten gemeinsam einen Angriff von der linken Seite ab, während Golbit seine neu entdeckte TM-Attacke nutzte, um ein Stollrak aus dem Weg zu fegen. Finn und Leo, die beide ebenfalls mitten im Schlachtfeld standen und bereits ebenso ramponiert aussahen wie ihre Pokémon, erkannten gleichzeitig, was Lyra und Cassie vorhatten. Auf halber Strecke sprang ihnen Luxtra zur Hilfe, musste sich jedoch Sekunden später wieder verabschieden, um ein Panzaeron zu Boden zu reißen, das vom Himmel zu ihnen hinunter gestürmt kam.

„Verdammt, wir stecken fest!“

„Nein, wir müssen einfach weiter!“ Lyra versuchte die ganzen Kampfgeräusche einfach zu überschreien, was ihr jedoch nur mäßig gelangt. Im selben Augenblick erwischte sie der Ausläufer einer Erdbeben-Attacke und sie stürzte der Länge nach zu Boden – so wie etwa die Hälfte aller am Kampf beteiligten Pokémon, was auf einen Schlag bedeutete, dass sich der Kampf dem Ende näherte.

Irgendwie schafften sie es sich Melik bis auf wenige Meter zu nähern. Noch immer stand der Prinz ungerührt an seinem Platz, doch seine Wachen waren nicht mehr bei ihm. Sie hatten sich, nachdem so viele Pokémon besiegt waren, ebenfalls nach dem Erdbeben in den Kampf gestürzt.

Lyra schaute Melik direkt ins Gesicht. Er lächelte zufrieden, während Ministerin Katleen ihr Schwert zog und Minister Eyvan eine Streitaxt in den Händen hielt. Ein Treffer wäre tödlich, daran bestand kein Zweifel.

Obwohl Lyra Melik hasste für das, was er ihr und allen anderen angetan hatte, war es Cassandra, die das Wort ergriff. „Du musst sofort damit aufhören, Melik!“

„Wie kannst du es wagen, den Prinzen einfach anzusprechen!“, polterte Eyvan, doch Melik gebot ihm mit erhobener Hand zu schweigen.

„Cassandra, Schwesterherz, gefällt dir die Vorstellung?“

Sie presste die dünnen Lippen aufeinander. „Du hast das Fischerdorf am See einfach angreifen lassen, nur weil du mich gefangen nehmen wolltest. Es war pures Glück, dass es statt der ganzen Verletzten keine Toten gab. Außerdem hast du meine Freunde angegriffen!“

„Deine Freunde, wirklich? Soweit ich mich entsinne, bist du doch nur mit Lyra bekannt.“ Er grinste. „Weißt du, ich finde das alles wirklich amüsant. Sehr amüsant.“

„Amüsant ist es ganz sicher nicht“, mischte sich nun auch Lyra ein. „Du unterdrückst dein Volk, löschst ganze Dörfer von der Landkarte und wolltest Cassandra ermorden lassen, als sie noch ein Kind war! Und wofür? Du bist doch schon Herrscher der Zerrwelt, wie viel Macht willst du noch?“

„Das verstehst du nicht, kleine, dumme Wächterin.“ Das Lächeln in seinem Gesicht gefror und sein Blick wanderte über ihre Köpfe hinweg zu den anderen. Die Geräusche des Kampfes waren leiser und weniger geworden und kurz darauf tauchten Leo und Grace neben Lyra und Cassandra auf, dann auch Finn.

„Gib auf Melik, wir haben alle deine Palastwachen besiegt. Es sind nur noch du und deine beiden Minister übrig.“ Finn sprach klar, doch sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. „Wir haben gewonnen.“

„Gewonnen?“ Melik schnalzte mit der Zunge. „Wohl kaum. Ich wollte nur wissen, wie weit ihr es bringt.“ Aus einem Aprikokoball an seinem Gürtel schoss ein roter Lichtblitz hervor, dann formte sich daraus ein Golgantes, das das von Sarin um einen Kopf überragte und noch dazu einen schwarzen, schimmernden Körper besaß. Lyra hatte überhaupt nicht bemerkt, wie Melik nach dem Ball gegriffen hatte.

Alle Anwesenden hielten für einen Moment den Atem an. Grace und Leo warfen sich beinahe panische Blicke zu, denn den Sieg über das zweite Stolloss hatte sowohl Schillok als auch Luxtra die letzten Kraftreserven gekostet und Arkani konnte nur noch mühsam auf drei Pfoten stehen. Rosi knurrte bedrohlich, verstummte jedoch, als das Golgantes des Prinzen mit einem lauteren, tieferen Grollen antwortete und unmissverständlich klarmachte, wer der Stärkere war.

„Wie ich sehe, seid ihr schlau genug, um zu bemerken, dass ihr gegen mein Pokémon keine Chance habt.“

Lyra unterdrückte nur mühsam den Drang aufzuschreien und Melik an die Kehle zu springen. Er hatte sich den ganzen Kampf über nicht eingemischt, weil er sie auflaufen lassen wollte. „Wir sind noch lange nicht fertig, Melik!“

„Das sehe ich anders.“ Er warf ihr einen tadelnden Blick zu, mit dem man für gewöhnlich kleine, unachtsame Kinder bedachte. Außerdem gab es noch immer Katleen und Eyvan und ihre Waffen, die kein Spielzeug waren. Sie waren echt und würden genauso gut durch ihre Körper schneiden wie durch Sarins, nur dass es kein Heilkraut mehr gab, das ihre Leben ebenfalls retten würde.

„Wieso wusstest du überhaupt, dass die Wächter kommen würden, um mich zu befreien?“, fragte Cassie nun. Auch sie musste sich eingestehen, dass sie nicht gegen Golgantes und die Waffen angehen konnten. „Und woher wusstest du, dass ich hier sein würde? Außer der anderen Lyra und mir hat niemand von diesem Plan gewusst.“

Wenn Cassie erwartet hatte, dass Melik bei der Erwähnung der anderen Lyra überrascht sein würde, hatte sie sich geirrt. Der Prinz gab lediglich ein müdes Gähnen von sich. „Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass ich nicht weiß, was in meinem Kristallpalast vor sich geht? Natürlich habe ich mitbekommen, dass du im Spiegelsaal den Zeitenspiegel benutzt hast und deine Wächterin aus der Zukunft zu dir gekommen ist. Ich dachte mir, dass es eine nette Abwechslung sein würde, aber sie hielt sich nur im Hintergrund und dachte, dass man sie nicht entdeckt hatte.“ Er schüttelte über so viel Naivität den Kopf. „Als ich merkte, dass sie mir nicht direkt von Nutzen sein würde, ließ ich sie trotzdem herumspionieren, weil ich wissen wollte, was ihr tun werdet – und siehe da, du tauchst hier auf.“

„Das erklärt noch lange nicht, wieso du uns in eine Falle locken konntest.“ Finn spießte ihn mit seinem Blick nahezu auf, doch natürlich hatte dies keine Wirkung. „Du hast von Anfang an gewusst, dass wir heute Nacht angreifen würden und warst vorbereitet.“

„Natürlich war ich das.“

„Wie?“, fragte nun auch Leo.

„Eigentlich seid ihr es überhaupt nicht wert, dass ich euch das erzähle, aber … Wieso eigentlich nicht?“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ihr werdet sowieso nicht mehr lange leben. Wisst ihr, in euren Augen muss ich aussehen wie ein Monster, aber das bin ich nicht. Die Zerrwelt ist mein Zuhause, mein Königreich, aber diese Welt ist nur stabil, wenn sie von einem Herrscher reagiert wird, der die Drachenpokémon besänftigt und die Kraft der Legendären stabil hält. In dem Moment, in dem Cassandra geboren wurde, geriet unsere Welt ins Ungleichgewicht. Sie oder ich, es kann nur einen Herrscher geben. Was bedeutet ihr Leben im Vergleich zu einer ganzen Welt?“

Schweigen legte sich über die Gruppe. Bisher hatten sie angenommen, dass Melik ein machthungriger, fehlgeleiteter Tyrann war, doch wenn er mehr wusste als sie, wenn diese Welt wirklich aus den Fugen geriet, nur weil Kyurem zwei Königskinder gezeichnet hatte, dann ließ es ihn in einem ganz anderen Licht erscheinen. Dennoch weigerte Lyra sich auch nur annähernd so etwas wie Verständnis aufzubringen. Er hatte sie alle töten wollen – und wollte es immer noch. Er war kein guter Mensch. Punkt.

„Zu meinem Glück gibt es seit Anbeginn dieser Welt eine Prophezeiung, die auf die heutige Nacht verweist: Fünf Wächter, gesegnet mit der Kraft der Sterne, werden kommen und die zweigeteilte Macht wird wieder geeint. Leier leuchtet hell, Löwe ist der unscheinbare Beschützer, Kranich steigt wie Phönix aus der Asche, Delphin rettet die Todgeweihten, Herkules kniet nieder. Wie passend, nicht wahr? Es geht noch weiter: Der Glücksstern des Königs überlebt die Flut, der Seherin Unheil bringt die Vernichtung.“ Melik begann wieder zu grinsen. „Wusstest ihr schon, dass ich nach Sadalmelik, einem Stern im Sternbild Wassermann, benannt bin und dieser Name ‚Glücksstern des Königs‘ bedeutet? Und wusstet ihr auch, dass Cassandras voller Name Cassandra Cassiopeia lautet, also ebenfalls genau dieser Prophezeiung entspricht? Oh, euren bestürzten Gesichtern nach wusstet ihr das noch nicht. Wie nett von mir, dieses Wissen mit euch zu teilen, nicht wahr?“

Lyra musste schlucken. Wenn das alles wahr war – und daran zweifelte sie nicht, denn wieso hätte Melik ihnen sonst diese Falle stellen können –, dann klang diese Prophezeiung wirklich sehr danach, dass Melik der Sieger dieses Kampfes sein würde und Cassie die Vernichtung über sie brachte. Waren all ihre Bemühungen tatsächlich vergebens? Lyra bemerkte nicht einmal, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

„Nun aber genug mit der Plauderei.“ Meliks Gesichtsausdruck wurde ernst. „Ich kann nicht zulassen, dass euer Handeln die Zerrwelt vernichten wird, denn das würde den Tod tausender Menschen und Pokémon bedeuten. Es tut mir leid, aber mir bleibt keine andere Wahl.“

Über ihnen teilten sich die Gewitterwolken und aus ihrer tiefen Schwärze senkte sich Zekrom wie ein todbringender Gott herab.

Reshiram

Die schwarzen Gewitterwolken brachen auf und aus ihrer Mitte schwebte umgeben von Blitz und Donner das Legendäre Pokémon Zekrom auf die Erde hinab. Als es den Boden berührte, standen Lyra und den anderen bereits die Härchen auf den Armen vom Körper ab, weil sich die Luft mit Spannung auflud. Melik schien sich daran jedoch nicht zu stören, sondern schenkte dem Legendären, das sich keine fünf Meter hinter ihm befand, nicht einmal besonders viel Beachtung. Stattdessen grinste er süffisant vor sich hin und badete in Genugtuung und der Angst seiner Gegner.

Zekroms glutrote Augen leuchteten in der Dunkelheit und es richtete seinen Blick starr geradeaus auf die fünf jungen Wächter und Cassandra. Dabei war sein Maul leicht geöffnet und ein tiefes, kratziges Grollen untermalte seine imposante Erscheinung.

Noch nie hatten die Jungtrainer ein Legendäres gesehen und obwohl Zekrom nur knappe drei Meter groß war und damit so groß wie Meliks Golgantes, hatte es eine weitaus stärkere Ausstrahlung. Niemand wagte laut zu atmen und selbst das schillernde Golgantes zog unwillkürlich die Schultern ein, um sich kleiner zu machen.

„Wie kannst du ein Legendäres dazu benutzen diese Welt zu unterdrücken?“ Lyras Stimme war nur ein Wispern. „Die Legendären sind frei und sollten niemandem gehören. Sie wachen über die Pokémon und über die Welt, sie beschützen sie, aber wenn du Zekrom benutzt, dann ist daran nichts Gutes.“ Dieses Mal sprach sie lauter und bemerkte, wie sich Cassie bei ihren Worten in ihren Arm krallte.

Melik schüttelte mit dem Kopf. „Ich sagte doch bereits, dass ich weiß, wie ich in euren Augen aussehe. Zekrom gehört mir nicht. Es unterstützt mich und erfüllt meine Bitte, weil ich der auserwählte Herrscher der Zerrwelt bin. Weil ich diese Welt beschütze. Glaubt ihr wirklich, es würde mir helfen, wenn es nicht das Richtige wäre?“

Lyra biss sich auf die Unterlippe und konnte sehen, wie es Grace neben ihr ebenfalls tat. Ob sie es wollte oder nicht, aber an Meliks Worten war etwas dran. Sie alle sahen in ihm einen Tyrannen, der sein Volk unterdrückte und Cassie im zarten Alter von acht Jahren ermorden lassen wollte, damals war der Prinz selbst fünfzehn gewesen und hatte gerade den Thron von seinem verschollenen Vater übernommen. Fünfzehn, genau das Alter, das Lyra jetzt hatte, trotzdem fand sie es unvorstellbar, dass sie jemandem den Tod wünschte. Selbst Prinz Melik verachtete und hasste sie zwar, aber sie würde ihn nicht töten wollen.

Sie atmete tief ein und aus und wollte gerade wieder etwas sagen, als sich Finn einmischte. Er hatte die Hände geballt und sein Blick funkelte vor Zorn, dazu klebte Blut an seinen Wangen und Lyra konnte nicht einmal sagen, ob es von ihm oder einer der Wachen stammte. „Du magst zwar von Kyurem als Herrscher auserwählt worden sein, aber das ist Cassandra auch. Sie ist die Prinzessin und ihr steht der Thron genauso zu wie dir, Melik. Du hast kein Recht sie oder uns Wächter zu ermorden. Wir beschützen die Verbindungen zwischen der Zerrwelt und den heiligen Stätten der einzelnen Regionen. Nur wir können sie benutzen.“

„Ihr und die Königsfamilie“, ergänzte Melik gelassen und Zekroms Knurren hinter ihm wurde eine Spur lauter. „In den vergangenen Generationen waren die Wächter stets ein wichtiger Bestandteil des Königshofs und sorgten dafür, dass die Verbindungen und damit auch letztendlich die Zerrwelt stabil blieben, aber in meinen Augen seid ihr überflüssig. Die Legendären werden für Stabilität sorgen, wenn es euch nicht mehr gibt.“

„Das wird nicht funktionieren“, erwiderte nun Leo und Finn nickte zustimmend. „Kyurem hat Cassandra ebenso auserwählt wie dich. Du kannst das Problem nicht lösen, indem du deine eigene kleine Schwester aus dem Weg räumst.“

„Ach nein?“ Nun hob der Prinz eine Augenbraue und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Und warum nicht?“

„Weil du damit nichts an der Tatsache änderst, dass Kyurem die Macht zwischen euch geteilt hat und dich alleine nicht für würdig befindet“, sagte Grace, deren Gesicht noch immer gerötet und fleckig war.

Melik starrte sie an und die Gleichgültigkeit in seinem Blick wich blanker Wut. „Ich bin würdig!“, schrie er. Zekrom reagierte auf seine veränderte Stimmung und breitete seine schwarzen Flügel aus, während es sein Maul noch weiter öffnete und die Luft um seinen Körper zu knistern begann. „Ich habe dieses Königreich alleine regiert, nachdem meine Mutter gestorben und mein Vater verschollen war! Ich habe die Vorratskammern des Kristallpalasts öffnen lassen, als eine Dürre die Ernten meines Volkes bedrohte! Ich habe die Unruhen der Drachenpokémon beendet, nachdem die alten Wächter ihre Macht verloren haben und die Pokémon spürten, dass diese Welt ungeschützt ist! Cassandra hat nie etwas für die Zerrwelt getan! Ihr einziger Verdienst ist der, dass sie meine eigenen Reihen spaltete, meine Minister an mir zweifeln ließ und die Wächter gegen mich aufbrachte, als ich sie als Störfaktor beseitigen wollte!“

Cassandra begann zu weinen. Zuerst liefen ihre Tränen stumm ihre porzellanartigen Wangen herunter, dann begann sie zu schluchzen und zu zittern und klammerte sich an Lyra fest. „Das habe ich doch alles nie gewollt!“, stieß sie zwischen einzelnen Schluchzern hervor. „Ich war acht Jahre alt, als du mich aus meinem Zuhause vertrieben hast, Melik. Ich war ein Kind! Zwar kann ich mich an diese Zeit nicht mehr erinnern, aber ich bin mir sicher, dass ich dir nie im Weg sein wollte! Ich habe nie darum gebeten, dass Kyurem mich als Herrscherin zeichnet und wenn du willst, verzichte ich offiziell auf jegliche Ansprüche, aber bitte beende diesen Wahnsinn hier endlich und lass uns einfach gehen!“

„Ja, beenden werde ich es.“

Die Elektrizität, die Zekrom angesammelt hatte, breitete sich auf einen Schlag aus. Blaue Blitze vereinten sich zu einem großen Blitzschlag, als die Attacke Kreuzdonner direkt in die Mitte der Wächter einschlug.

Lyra hatte das Gefühl, als würde ihre Haut durch die Hitze verbrennen, außerdem stolperte ihr Herz, dann setzte der Schmerz ein. Sie hatte, so wie die anderen, keinen direkten Treffer erlitten, dennoch fiel ihr das Atmen für einige Sekunden schwer und erst da bemerkte sie, dass die Wucht des Kreuzdonners sie einfach umgestoßen hatte. Cassandra lag direkt auf ihr und war damit eindeutig weicher gelandet. Ein paar Meter weiter hielt Leo Grace im Arm, die unnatürlich blass war, aber die Augen offen hielt. Am schlimmsten hatte es Finn und Rosi erwischt. Rosis Flügel waren versengt, ihr Körper zuckte unkontrolliert und Finns linker Arm war geschwärzt. Hätte Rosi ihren Trainer nicht mit ihrem Körper abgeschirmt, wäre es wohl noch schlimmer gekommen. Dennoch krümmte Finn sich unter den Schmerzen und sank auf die Knie.

Meliks Atem ging schneller und stoßweise, auch er hatte die Kraft des Legendären gespürt, auch wenn er nicht verletzt worden war. „Ihr seht, ihr habt keine Chance.“

Cassie stand mit wackeligen Beinen wieder auf. „Nein, Melik. Wenn Zekrom uns hätte töten wollen, dann hätte es diese Attacke nicht zwischen uns niedergehen lassen, sondern direkt in unsere Körper. Das hier muss nicht so enden.“

„Es gibt die Prophezeiung, Cassandra.“

„Die kann sich irren. Oder du irrst dich.“

„Ausgeschlossen. Zekrom, beende es. Jetzt!“

Cassie zitterte vor Angst, als sie direkt in die Augen des Legendären blickte. „Zekrom, tu es nicht. Ich bitte dich, verschone uns. Ich mag zwar die vermutlich schlechteste Prinzessin sein, die die Zerrwelt je hatte, aber ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, um diese Welt und Lyra und die anderen zu retten.“

„Zekrom, wieso zögerst du? Vernichte sie!“

„Bitte …“ Cassie hielt Zekroms Blick stand und es kam ihr vor, als würde das Legendäre durch ihre Augen mitten in ihre Seele blicken – doch was immer es dort gesehen hatte, schien ihm nicht zu genügen. Zekrom brüllte auf und dieses Mal war seine Stimme so laut und erschütternd, dass selbst Melik von dem Legendären weg hechtete.

Der Kreuzdonner sammelte sich um Zekroms Körper, die Spannung in der Luft wurde wieder stärker.

Cassie sah zu Lyra, die noch immer am Boden lag. Sie hatte versprochen zu kämpfen. Sie würde nicht kampflos aufgeben. Ein letztes Mal sah sie zu Zekrom und brüllte gegen die Stimme des Pokémon an: „Ich bin die von Kyurem auserwählte Herrscherin der Zerrwelt! Hör auf!

Der blaue Kreuzdonner schoss auf sie zu. Zeitgleich schnellte aus den dichten Wolken eine kugelförmige Flamme herunter, durchbrach den Kreuzdonner und als sich die Attacken gegenseitig neutralisierten, entstand eine Druckwelle, die alle Anwesenden zu Boden drückte und einen tiefen Krater zurückließ.

„Woher …?“ Lyra, Cassie und die anderen machten große Augen, als weiß wie ein Engel Reshiram der Flamme folgte und sich vor Zekrom niederließ. Diese Feuerkugel war die Kreuzflamme gewesen, Reshirams Attacke, und es hatte Cassandra beschützt.

Zekrom brüllte auf, Reshiram tat es ihm gleich und beide Pokémon umkreisten sich wie zwei alte Rivalen, die zu einer neuen Runde in einem immerwährenden Kampf gerufen worden waren.

„Nein!“ Melik war zuerst wieder auf den Beinen. „Nein, das kann nicht sein! Wieso erkennt Reshiram dich als Herrscherin an und nicht mich?“

Finn grinste vage. „Das haben wir dir doch bereits erklärt. Du kannst die Macht nicht einfach an dich reißen, indem du Cassandra tötest. Damit änderst du nicht die Meinung der Legendären. Es sieht ganz danach aus, als würde Zekrom dir zwar gehorchen, aber Reshiram steht auf Cassies Seite. Du kannst so nicht gewinnen.“

Man konnte Melik nicht ansehen, was er dachte, aber er schien die Situation neu zu überdenken, denn er schwieg und seine Gesichtszüge waren verbissen.

Währenddessen fuhren Zekrom und Reshiram mit ihrem Kräftemessen fort und erhoben sich in den Himmel, wo sie zunächst weiter ihr Brüllen austauschten, kurz darauf prallten aber wieder ihre Attacken aufeinander. Blitze und Flammen hellten die Nacht auf. Querschläger und Ausläufer ihrer Angriffe erreichten immer wieder den Boden und selbst Melik schien auf einmal der Ansicht zu sein, dass es besser war sich zurück zu ziehen, denn er gab seinem Golgantes ein Zeichen und zusammen mit den beiden Ministern und den verletzten Wachen bildete er eine Menschentraube.

Die Wachen sahen einfach nur blass und ängstlich aus. Sie tuschelten aufgeregt miteinander und hielten die Aprikokobälle mit ihren besiegten Pokémon fest in den Händen. Minister Eyvan hatte die große Streitaxt geschultert und blickte missmutig in den Himmel, wobei sein Schnurrbart immer wieder leicht zuckte. Ministerin Katleen sah aus, als würde sie gerne irgendwem etwas brechen, doch ihr Schwert war sicher verstaut in der Schwertscheide. Sie schien zu wissen, dass sie gegen ein Legendäres ohnehin nichts ausrichten konnte.

„Wir sollten Eilboten zu den anderen fünf Ministern schicken“, schlug ein junger Wachposten vor, der kaum älter als Sarin oder Finn sein konnte. Die anderen Wachen nickten verhalten.

„Als ob das jetzt etwas bringen würde“, fuhr Katleen sie an und richtete dann ihren Blick auf Cassie. „Die Prinzessin hat Reshiram gerufen, es wird so lange kämpfen, wie nötig, um sie zu beschützen.“

„Dann sollten wir die Prinzessin fortbringen“, schlug ein anderer Wachmann vor. Er gehörte zu jenen, die Finn mit bloßen Fäusten bekämpft hatte. Sein rechtes Auge war zugeschwollen und ihm schien ein Zahn zu fehlen, bei dem man nicht sagen konnte, ob er kürzlich ausgeschlagen worden war oder bereits länger fehlte, da die Mundwinkel blutverschmiert waren. Auch er erntete zögerliches Nicken der anderen, die froh zu sein schienen, dass sie nichts entscheiden mussten.

„So ein Unsinn.“ Prinz Melik brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. „Es gibt nur einen richtigen Weg, es hat schon immer nur diesen einen Weg gegeben.“

„Dann musst du an uns vorbei, Mistkerl.“ Finn stöhnte noch immer vor Schmerzen, aber er stand wieder gerade auf beiden Beinen und stellte sich schützend zwischen Melik und Cassandra. „Du hast deinen Vorteil verspielt und alleine machst du dir die Hände nicht schmutzig, nicht wahr?“

Leo und Lyra bezogen neben Finn Stellung, dann folgte auch Grace. Cassie folgte ihrem Beispiel und reckte tapfer das Kinn nach vorne. So starrten sich alle Anwesenden einige Sekunden lang an, bis über ihnen ein lauter Knall ertönte und zehn Meter weiter ein Kreuzdonner einschlug. Alle zuckten zusammen und suchten den Himmel ab.

Reshiram und Zekrom hatten sich ineinander verbissen, rissen sich voneinander los und bekämpften sich weiter. Das war kein gewöhnlicher Kampf; es war Krieg – und um sie herum begann die Luft zu flimmern. Sie wurde unscharf, die Wolken sogen sich selbst in Strudeln ein und ein warmer Wind wehte von den Bergen heran.

„Wir müssen den Kampf stoppen.“

„Sarin!“ Grace wirbelte herum, stürmte die wenigen Schritte auf Sarin zu und musterte ihn besorgt von den Fußspitzen bis zum Scheitel. „Wann bist du aufgewacht? Hast du Schmerzen? Du solltest nicht laufen, sondern dich ausruhen!“

Er bedachte Grace kurz mit einem milden Lächeln und ließ sich von ihr stützten, als er sich an die Anwesenden wandte. „Melik, Bruder, wir müssen den Kampf stoppen und das weißt du. Die Zerrwelt ist sehr empfindlich und nur stabil, weil ein Herrscher die wilden Drachenpokémon zähmt und die Legendären ihm in Frieden dienen. Zekrom und Reshiram haben sich auf verschiedene Seiten geschlagen, bald werden es ihnen die wilden Pokémon nachmachen, das wird unsere Welt nicht überstehen.“

Melik knirschte mit den Zähnen. „Dann hätte Kyurem sie niemals mit den Silberhaaren zeichnen dürfen. Es ist nicht meine Schuld, dass es gekommen ist. Ich bereinige lediglich den Fehler, den Kyurem begangen hat.“

Sarin atmete tief ein und aus, dann deutete er in den Himmel zu den kämpfenden Legendären. „Nein, wir können das nur noch beenden, wenn wir zusammenarbeiten und Frieden schließen. Jetzt. Sieh hin, Melik! Der Himmel beginnt bereits seine Struktur zu ändern, die Zerrwelt wird instabil! Wenn Reshiram und Zekrom noch länger kämpfen, wird unsere Welt das nicht überstehen!“

„Die Prophezeiung sagt, dass Cassandra die Vernichtung bringt! Mit ihrem Tod werden wir die Zerrwelt retten.“

„Der Seherin Unheil bringt die Vernichtung“, informierte Grace Sarin. „So ist der genaue Wortlaut.“

„Und woher willst du wissen, dass damit nicht gemeint ist, dass die Zerrwelt vernichtet wird, weil der Seherin Unheil widerfährt? Dass du mit deinen Handlungen das Unheil bringst?“ Sarin funkelte seinen Bruder wütend an. „Komm zur Vernunft! Kyurem hat euch beide gesegnet, nur gemeinsam könnt ihr diese instabile Welt noch retten!“

Reshirams Flammen und Zekroms Blitze wurden von dem Strudel verschluckt, der sich zwischen den Wolken gebildet hatte. Das Donnern hallte über das ganze Land, als sich Flammen und Blitze durch den Himmel fraßen und die Erde zu beben begann. Die Zerrwelt war nicht nur instabil geworden, sie begann in sich zusammenzufallen.

Kyurem

Jeder sah, was sich hoch oben am Himmel abspielte, aber nur langsam begriffen sie nacheinander, was es war. Melik klammerte sich vollkommen geschockt an Golgantes fest und sein Gesicht war beinahe so silberweiß wie seine Haare. „Das ist unmöglich, die Zerrwelt kann durch ein paar Attacken der Legendären nicht instabil werden.“

„Offensichtlich ist sie nicht mehr so stabil, wie wir alle dachten“, fügte Sarin hinzu, doch seine Stimme war noch immer leise und gepresst. Grace wich keinen Millimeter von seiner Seite und stützte ihn, aber das änderte nichts daran, dass er Schmerzen hatte und so erschöpft war, dass er an Ort und Stelle einschlafen könnte.

Die Panik brach zuerst in den Reihen der Wachen aus, die ihren Herrscher alleine zurück ließen und schreiend zum Kristallpalast liefen, doch die Hoffnung, dass sie dort sicher wären, wurde ihnen genommen, als sich auch dort Strudel am Himmel bildeten, die langsam aber sicher alles in sich einsogen.

Reshiram und Zekrom bekämpften sich ungeachtet dessen weiter und jedes Mal, wenn Kreuzdonner oder Kreuzflamme nicht den jeweils anderen trafen, sondern irgendwo in den Untiefen der Zerrwelt verliefen, schienen sich die Strudel ein Stück weiter auszubreiten. Von irgendwo tief unter ihnen rollte ein erstes Erdbeben heran, das den Boden an einigen Stellen aufplatzen ließ.

Lyra und Cassandra stützten sich gegenseitig, um nicht zu fallen, doch als sich genau unter ihnen die Erde abrupt um einige Zentimeter nach oben verschob und ein Riss entstand, sprangen sie zu den anderen Wächtern, die ebenso machtlos waren wie sie. „Je länger die beiden Legendären kämpfen, desto schneller schreitet die Zerstörung voran“, sagte Lyra.

„Du …!“ Melik wirbelte zu Cassie herum, kam aber nicht mehr hinter seinem Golgantes hervor. „Ich habe von Anfang an gewusst, dass dein Auftauchen die Zerstörung und Vernichtung bringt. Habe ich es nicht schon immer gesagt?“

Die beiden Minister nickten zögerlich, doch auch sie schienen ratlos zu sein und wenn man genau hinsah, konnte man Angst in ihren Blicken erkennen. „Ja, Hoheit, aber was sollen wir nun tun? Wir müssen die Legendären irgendwie stoppen und wir …“

„Und ihr was?“, bellte Melik sofort und funkelte die beiden vor wenigen Minuten noch so treuen Untergebenen an.

„Wir sind uns nicht mehr sicher, ob wir Prinzessin Cassandra wirklich töten sollten. Das könnte Reshiram und womöglich einige andere Legendäre noch weiter anstacheln und die endgültige Vernichtung unserer Welt bedeuten“, beendete Eyvan den Satz, den Katleen zuvor begonnen hatte. „Vielleicht …“ Sein Blick wanderte zu Lyra und den anderen Wächtern. „Vielleicht müssen wir uns auf die alten Werte besinnen und die Wächter um Hilfe bitten. Sie haben die Grenzen dieser Welt schon seit Generationen beschützt, womöglich können sie etwas tun.“

„Elende Verräter und Deserteure“, fauchte der Prinz ungehalten, doch noch immer rührte er sich nicht.

Meliks Verhalten verriet den Wächtern, dass er nicht mehr weiter wusste und die aktuelle Entwicklung keinesfalls geplant war. Lyra schaute zuerst Grace und dann Sarin an. „Du hast gesagt, dass die Zerrwelt nicht mehr so stabil ist, wie du dachtest. Was meinst du damit?“

Sarin schaute auf. „In der Geschichte der Zerrwelt kam es hin und wieder zu Aufständen oder kleinen Auseinandersetzungen zwischen den Pokémon oder den Legendären, aber es gibt keine einzige Schrift, die davon erzählt, dass es so schnell solche Folgen hatte. Die Geschwindigkeit, mit der die Zerrwelt gerade ihre Stabilität verliert, deutet darauf hin, dass sie auch vorher schon sehr instabil war.“

Einen Moment lang dachte Lyra darüber nach. „Also bedeutet das, dass Cassie gar nichts damit zu tun hat?“

„Genau, das vermute ich. Diese Prophezeiung … Sie sagt zwar, dass Cassandra irgendetwas auslöst, aber vielleicht …“

„Was denkst du, Sarin? Sag schon.“

„Bedränge ihn nicht so! Du siehst doch, wie schwach er ist“, griff Grace Lyra sofort von der Seite an und schmiegte sich dabei noch enger an Sarin.

Der junge Adelige schüttelte leicht seinen Kopf und stöhnte leise vor Schmerzen. „Vielleicht ist das Schicksal der Zerrwelt ohnehin schon besiegelt. Es liegt in der Natur der Zerrwelt, dass sie sich immer wieder verändert und eine eigene Dimension bildet. Dass dieser Teil über lange Zeit so stabil war, dass wir hier leben konnten, ist an sich schon etwas ganz Besonderes. Vielleicht ist unsere Zeit einfach abgelaufen und die Prophezeiung hätte uns richtig darauf vorbereiten können.“

„Das ist Unsinn!“, rief Melik ihnen sogleich zu und warf dabei immer wieder nervöse Blicke nach oben. Mittlerweile bedeckten die Wirbel schon den halben Nachthimmel und pulsierten dabei tief aus ihrem Inneren. Es sah beinahe so aus, als könnten sie einen Blick in den instabilen Teil der Zerrwelt erhaschen, in dem Giratina lebte.

„Eure Hoheit, mit Verlaub, aber Prinz Sarins Worte scheinen nicht aus der Luft gegriffen zu sein, auch wenn das bedeutet, dass wir alle sterben werden.“ Eyvan und Katleen schauten sich dabei lange an, dann gingen sie zu den Wächtern herüber und knieten vor ihnen nieder. „Ehrenwerte Wächter, bitte verzeiht uns unser Handeln. Wenn es noch nicht zu spät ist, werden wir euch mit allem unterstützten, was wir zu bieten haben“, sprach Eyvan und Katleen nickte dabei, dann ergänzte sie: „Wir hätten die Wächter niemals verstoßen dürfen.“

Zunächst kamen aus Meliks Mund eine Reihe von undefinierbaren Flüchen, aus denen man nur teilweise Worte verstehen konnte wie „undankbarer Sohn eines Camerupt“ oder „stur wie ein Zebritz“, doch dann verstummte er allmählich, ließ die Schultern hängen und schien sich der Niederlage zu ergeben, die er erlitten hatte.

Fünf Wächter, gesegnet mit der Kraft der Sterne, werden kommen und die zweigeteilte Macht wird wieder geeint.

Unsicher schaute Lyra die anderen an. „Gibt es etwas, das wir tun können?“

Leo schaute zu Boden, Grace blickte zu Sarin, der lediglich seufzte. Finn mahlte mit den Zähnen und sah aus, als würde er lieber jetzt als gleich etwas ändern, aber auch ihm fiel nichts ein. „Die Wächter waren immer dafür da, um zwischen den Welten zu wechseln und diese Wege zu nutzen, um Energien in der Zerrwelt auszugleichen. Wir sind nicht stark genug, um sie zu retten.“

Tränen traten in Cassies Augen, als sie das hörte. „Aber wir können doch nicht einfach auf unser Ende warten! Wenn dieser Teil der Zerrwelt vernichtet wird, dann werden unzählige Pokémon und tausende Menschen sterben!“ Sie schluchzte, dann sank sie auf die Knie und ergab sich der Verzweiflung.

Lyra schaute hinab auf die bebenden Schultern ihrer besten Freundin. „Nein, Cassie hat recht. Wir müssen irgendetwas versuchen. Das ist besser als uns einer blöden Prophezeiung zu ergeben, von der wir nicht einmal wissen, wie sie zu deuten ist. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand außer mir selbst mein Schicksal bestimmt. Wir sind die Wächter dieser kaputten Welt, also lasst uns endlich etwas unternehmen!“ Sie zog Cassie zurück auf die Beine, gab Finn einen Klaps auf den Rücken und blickte sie dann nacheinander mit festem Blick an. Niemand zweifelte daran, dass Lyra in diesem Augenblick zu ihrer Anführerin geworden war.

Leier leuchtet hell,

„Aber was sollen wir tun, Lyra? Was?“ Grace‘ Mund war leicht geöffnet.

Lyra überlegte fieberhaft. „Wenn der Teleportationsmechanismus, den wir nutzen können, von den Energien der Legendären gespeist wird und gleichzeitig als Ventil für die Zerrwelt dient …“, überlegte sie laut und auf einmal hellte sich ihr Gesicht auf. „Das ist es!“

Finn konnte ihren Gedanken sofort folgen. „Verdammt, ja, das könnte funktionieren! Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?“

„Könnt ihr uns bitte aufklären?“ Leo verschränkte die Arme vor dem Körper.

„Die Zerrwelt ist instabil und wird zusammenbrechen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Instabilität auf einem Ungleichgewicht der Energien basiert, ist es uns vielleicht möglich, dass wir diese Energien ausgleichen können, indem wir die Tore zu unserer Welt öffnen. Wie bei Diffusion. Dort, wo zu viel von einer Energie ist, wird sie durch die geöffneten Tore in die andere Welt fließen, um sich eigenständig auszugleichen – und umgekehrt.“

Niemand hatte bemerkt, dass Melik auf einmal direkt hinter ihnen stand. „Das ist viel zu riskant.“ Bei seinen Worten zuckten sie alle zusammen und wandten sich zu ihm um. Seine Körperhaltung war die eines geschlagenen Mannes, doch in seinem Blick funkelte noch immer etwas von der fehlgeleiteten Leidenschaft, mit der er seine Welt retten wollte, und mit beiden Händen fest umklammert hielt er das Schwert, das zuvor schon Sarin verwundet hatte. „Wenn ihr die Tore achtlos öffnet, wird die Menge an Energie den Teleportationsmechanismus zerstören. Ihr werdet nie wieder in der Lage sein zwischen der Zerrwelt und der richtigen Welt zu wechseln. Damit gleicht ihr vielleicht die aktuelle Krise aus, aber solange die Legendären nicht wieder an einem Strang ziehen, wird es wieder passieren – und was dann?“

„Wir haben keine Zeit, um uns darüber Gedanken zu machen, Bruder.“ Sarin versuchte sich an einem matten Lächeln, bekam jedoch nur eine Grimasse zustande. „Wenn wir nichts versuchen, sterben wir sowieso alle.“

„Dann macht es doch keinen Unterschied, wenn wir meinen Weg gehen?“ Melik hob ein letztes Mal das Schwert und ließ es direkt in Cassandras Richtung schwingen.

Blut spritzte, dazu ein Schmerzenslaut. Leo hatte Cassie zur Seite gestoßen und das Schwert für sie abgefangen, dessen Klinge sich in seinen Oberschenkel geschlagen hatte. Im Fall hatte er Melik ebenfalls zu Boden gerissen und diesem einen letzten, blutigen Kinnhaken verpasst, der ihn ohnmächtig zusammensinken ließ.

Löwe ist der unscheinbare Beschützer,

„Leo!“ Lyra kniete neben ihm nieder, doch Leo stieß sie von sich und biss die Zähne zusammen, während er die Hand fest auf sein Bein drückte. „Ist nur ‘ne Fleischwunde“, nuschelte er und keuchte, als er sich aufsetzte. „Wir dürfen trotzdem keine Zeit verlieren.“

Katleen kontrollierte Melik, dann legte sie ihn in die stabile Seitenlage und nickte den Wächtern zu. „Wir werden euch unsere schnellsten Panzaeron geben. Mit denen werdet ihr die Höhle in einer halben Stunde erreicht haben. Mehr können wir nicht für euch tun, Wächter. Viel Glück.“

Eyvan händigte ihnen verschiedene Aprikokobälle aus und sogleich entließen sie sechs stattliche Panzaeron, deren glänzende Körper sich kalt anfühlten. Auf ihren Rücken waren Sättel angebracht, die aus einem dünnen, leichten Material waren.

Bei der Erinnerung an ihren ersten und einzigen Panzaeron-Flug wurde Cassie zwar flau im Magen – nicht zuletzt, weil sie damals eine Gefangene war. Dennoch stieg sie sofort auf den Rücken eines Panzaeron und winkte den anderen zu es ihr gleichzutun.

„Bist du sicher, dass du mit uns kommen willst?“ Finn musterte die Prinzessin skeptisch. „Wir wissen nicht, wie gefährlich es wird.“

„Das ist mir egal“, entgegnete Cassie prompt. „Ich lasse Lyra ganz sicher nicht alleine – euch alle nicht. Wir stehen das gemeinsam durch oder gar nicht.“

„Also gut.“ Finn gab sich geschlagen, zuckte mit den Schultern und stieg ebenfalls auf den Rücken eines Panzaeron. Das Pokémon schnaubte und wiegte seinen Kopf sanft hin und her.

Grace, die sich bis dahin zurückgehalten hatte, half Sarin auf sein Panzaeron, dann musterte sie ihn ganz besorgt. „Bist du sicher, dass du fliegen kannst?“

„Ich bin zwar ziemlich angeschlagen, aber das kriege ich noch hin.“ Er brachte sogar die Kraft auf zu lächeln und ihr zuzuzwinkern.

Grace nickte, stieg dann selbst auf, wirkte aber noch immer wie ein Häufchen Elend. Jeder hatte gesehen, wie sehr ihr Sarins Verletzung zugesetzt hatte. Als sie gedachte hatte, dass er sterben würde, war etwas in ihr zerbrochen und Lyra vermutete ganz stark, dass es Grace‘ Herz gewesen war.

Gleichzeitig erhoben sie sich alle auf den Rücken der Panzaeron in die Luft. Die Pokémon brauchten einen Moment, um mit dem Gewicht ihrer Reiter abzuheben, dann schraubten sie sich in größeren und kleineren Kreisen immer weiter in die Höhe. Unter ihnen wurden Melik und die beiden Minister immer kleiner und ein erneutes Erdbeben zog weitere Risse durch den Boden, wobei es sich dieses Mal nicht mehr nur auf ihre direkte Umgebung bezog.

Unter lautem Grollen brachen die ersten Stücke aus den Felsklippen und als die Wächter und Cassandra den Bergkamm überquerten, hörten sie aus der Ferne das Krachen einer Turmspitze des Kristallpalasts, die zu Boden stürzte und den halben Garten unter sich begrub.

Die Panzaeron waren schnell, aber schon nach den ersten zehn Minuten wurden sie langsamer, weil sie nicht auf Ausdauer, sondern auf Tempo flogen. Überall auf der Erde knickten Bäume um und die Strudel am Himmel hatten sich über das gesamte Land ausgebreitet.

Nach einer Viertelstunde überquerten sie das Fischerdorf am See, in dem Yegor und Leia lebten. Die Oberfläche des Sees kräuselte sich sehr stark und einzelne Häuser stürzten bereits in sich zusammen. Wenigstens drangen die panischen Schreie und Rufe der Menschen kaum bis zu ihnen nach oben.

„Wir schaffen das“, murmelte Lyra immer wieder vor sich hin. Es war ein Wettlauf mit der Zeit und die Panzaeron verlangsamten schon wieder ihr Tempo, breiteten dann ihre Flügel ganz aus, brachten sie in eine waagerechte Position und begannen zu gleiten. „Wir schaffen das!“ Dieses Mal rief sie laut genug, damit die anderen sie hören konnten.

Grace, die zwischen Sarin und Lyra flog, nickte schwach und auf einmal schien ein Schalter in ihrem Inneren umgelegt zu werden. „Wir schaffen das!“, erwiderte sie. „Bei Arceus, wir kriegen das hin! Ich werde Sarin kein zweites Mal verlieren!“ Das Leuchten in ihren Augen kehrte zurück und unter Grace‘ Antreiben mobilisierten die Panzaeron noch einmal ihre letzten Kräfte.

Kranich steigt wie Phönix aus der Asche,

Der Vorsprung vor der Höhle war zu schmal zum Landen, daher mussten die Panzaeron eines nach dem anderen dicht über dem Vorsprung schweben und ihre Reiter abspringen. Lyra sprang zuerst und auch wenn es nur gut eineinhalb Meter waren, klopfte ihr Herz wie verrückt. Sollte sie beim Aufprall falsch aufkommen und über die Kante rollen, wäre es das gewesen. Aller Ängste zum Trotz landetet sie perfekt, zog das erschöpfte Panzaeron in den Aprikokoball zurück und ging in den Höhleneingang, um Finn Platz zu machen. Gemeinsam lotsten sie Leos Panzaeron möglichst nah an den Boden heran. Leo presste bei der Landung die Lippen fest aufeinander und ihm stiegen Schmerzenstränen in die Augen, doch er gab keinen Laut von sich und humpelte ebenfalls in die Höhle. Gemeinsam schafften sie es dann irgendwie Sarin zu helfen und zuletzt kam Grace.

Von dem Eingang der Höhle aus bot sich ihnen ein weiter Blick über das Tal. Die Bergspitzen waren noch immer mit Schnee bedeckt, obwohl es mittlerweile Mai war. Eigentlich war es ein ziemlich idyllischer Anblick, doch wenn man genau hinsah, breiteten sich die Risse im Himmel und der Erde immer weiter und tiefer aus. Immer wieder zerrissen Erdbeben die nächtliche Stille und irgendwo unter ihnen flatterten Vogelpokémon orientierungslos umher.

Dann ein weiteres Beben, dieses Mal ganz in der Nähe. Felsen lösten sich aus den Bergen, polterten den Abhang herunter und schlugen dabei direkt auf dem Vorsprung auf, auf dem sie kurz zuvor gestanden hatten.

Lyra und die anderen lösten sich vom Anblick des Himmels, der aus sich heraus violett und rötlich zu leuchten schien. „Schnell.“ Lyras Anmerkung war überflüssig, denn sie alle wussten, dass die nächsten Minuten entscheidend waren.

Auf halbem Weg zum Höhleninneren riss ein Erdbeben sie von den Füßen und Steine rieselten von den Wänden und der Decke auf sie herab.

Sie rannten weiter so schnell sie konnten, erreichten dann den Raum, in dem sie vor einer gefühlten Ewigkeit aufgewacht waren. Grace‘ Arkani entzündete die Fackeln an den Wänden und sträubte knurrend sein Fell, doch Grace zog es gleich wieder in seinen Pokéball zurück.

„Stellen wir uns im Kreis auf. Cassie, du bleibst hinter uns.“ Sarin wies jedem eine Position zu, dann nahmen sie sich an den Händen und schlossen die Augen. Nur durch Sarins Stimme geleitet konzentrierten sie sich und spürten, wie sich in ihrer Mitte das Tor öffnete. Zunächst war es ein schwacher Windhauch, dann drang Licht durch ihre Augenlider hindurch.

Als Lyra die Augen öffnete, sah sie, dass auch die anderen zu dem Licht in ihrer Mitte schauten, das sich vom Boden bis zur Höhlendecke wie eine Säule ausgebreitet hatte. Direkt aus dieser Lichtsäule wehte ein warmer Wind, der ihre Haut prickeln ließ. „Wenn man es so macht, wirkt es gar nicht mehr so bedrohlich wie beim letzten Mal.“ Oder wie damals in der Turmruine in Teak City, als Cassandra verschwunden war.

Sarin nickte. „Konzentration ist alles. Ich weiß nicht, ob wir alle Pfade auf einmal anzapfen können, aber wir müssen es versuchen. Stellt euch vor, wie euer Geist durch diese Lichtsäule in alle Regionen wandert und lasst diesen Weg hinter euch nicht abreißen.“

Es war leichter gesagt als getan, aber nach einigen Minuten verstärkte sich der Wind und das Licht breitete sich in der gesamten Höhle aus. Sie mussten sich fester an den Händen packen, denn jedes Mal, wenn ein Windstoß voller Energie aus ihrer Mitte nach draußen drang, wurden sie mitgerissen.

Plötzlich und vollkommen unvorbereitet wurden sie von einem riesigen Knall auseinander gerissen. Lyra spürte, wie sie an die Höhlenwand geschleudert wurde. Irgendwo gegenüber von ihr schrie Leo schmerzerfüllt auf und auch Sarins Stimme klang gequält. Finn und Grace halfen ihr auf die Beine, aber sie mussten die Augen gegen Lichtblitze abschirmen und der Wind drückte sie so stark nach hinten, dass sie ihren ganzen Körper dagegen stemmen mussten.

„Was ist passiert?“ Leos Stimme von gegenüber.

„Ich weiß nicht genau“, antwortete Sarin hustend. „Wir haben die Kontrolle verloren!“

Sie alle kämpften sich vorwärts und versammelten sich bei Cassandra, die auf ihrer Unterlippe kaute. „Also hat es nicht funktioniert?“

Die Erde hob und senkte sich und tief aus dem Inneren des Berges grollte es so tief, dass kein Zweifel daran bestand, dass sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr bestanden. Zenterschwere Felsen brachen einfach aus der Decke herunter und es war pures Glück, dass die Wächter verfehlt wurden.

„Der Berg“, keuchte Cassie panisch. „Der Berg bricht zusammen!“

„Wir müssen das Tor wieder versiegeln!“, rief Sarin über den Lärm hinweg und griff dabei nach Grace‘ Hand. „Cassandra, versuche irgendwie die Legendären zu erreichen und wir kümmern uns darum, dass die Zerrwelt versiegelt wird!“

Mit Mühe und Not nahmen sie sich wieder an den Händen und jeder von ihnen versuchte die Lichtsäule durch Gedankenkraft wieder einzudämmen, während um sie herum alles in Chaos und Zerstörung verschwand.

Lyra sah Bilder vor ihrem inneren Auge aufblitzen: Die Turmruine in Teak City, der Schrein der Ernte in Einall, das Feld der Besinnung im Ewigenwald und weitere Orte, die sie nicht erkannte, aber wusste, dass es sich um mögliche Teleportationsziele handelte. Alles verschwamm zu einer einzigen bunten Masse, dann riss die Höhlendecke ein.

„Passt auf!“ Finn sprang nach vorne, mitten in das Zentrum der Lichtsäule hinein. Einen Moment lang sah es so aus als würde sein Körper in der Luft schweben, dann drang das Licht durch ihn hindurch und der Wind, der an seinem Körper gebrochen wurde, schleuderte einen riesigen Felsbrocken, der sie beinahe erschlagen hätte, nach draußen. Keine Sekunde später wurde Finns Körper vom Licht geschluckt.

Delphin rettet die Todgeweihten,

Aus dem Licht heraus formte sich der Schatten eines Wesens, das inmitten des Chaos wie ein Ruhepol wirkte. Lyra sah in die gelben Augen von Kyurem, das die Wächter und Cassandra betrachtete und sein Maul leicht geöffnet hatte. Es sah irgendwie … traurig aus.

„Kyurem, hilf uns!“, rief Cassandra dem Legendären zu, doch dieses legte nur leicht seinen Kopf schief. „Die Zerrwelt bricht zusammen!“ Kyurems Kopf wechselte die Position zurück in den Normalzustand, dann zog es sich wieder tiefer ins Licht zurück. „Nein, geh nicht, wir brauchen dich!“

Kyurem gurrte und dieses eine, sanfte Geräusch wischte die Ängste mit einem Mal weg. Kyurem war traurig, aber es schien ihnen nicht schaden zu wollen. Es berührte ihre Herzen und die Bilder der Zerstörung, die sie gesehen hatten, verwandelten sich in Visionen einer Zerrwelt, die ganz alleine Giratina gehörte, so wie es schon immer sein sollte. Die Legendären zerstörten diese Welt nicht, sie reinigten sie.

Lyra sah die anderen an. Was sollten sie tun?

„Ich vertraue Kyurem.“ Alle schauten zu Sarin, als er diese Worte aussprach. „Ich glaube fest daran, dass die Legendären uns helfen. Wir müssen das Tor versiegeln, Kyurem wird uns helfen.“

Herkules kniet nieder.

Kyurem gurrte erneut zur Bestätigung, dann löste es sich wieder im Lichtschein auf. Ein anderer, kälterer Wind ergriff von ihnen Besitz. Leo, der der Lichtsäule am nächsten war, wurde einfach eingesogen, dann folgte der Rest.

Lyra ruderte mit den Armen in der Schwerelosigkeit und erhaschte einen Blick auf ihre Begleiter. Sie alle schwebten in einem unendlichen Raum aus Licht, über ihnen Kyurem, das schützend seine Flügel über sie hielt. So schnell, wie die Schwerelosigkeit gekommen war, so schnell wurden sie auseinander gezogen. Leo schleuderte es in die eine Richtung und sein Körper verschwand im Nichts, Finn zog es in die entgegengesetzte Richtung.

Grace ergriff Sarins Hände, dann zog eine unsichtbare Macht auch sie auseinander, doch sie wollte ihn einfach nicht loslassen. „Sarin, lass mich nicht alleine!“

„Wir müssen Kyurem vertrauen. Ich glaube, es bringt uns an den Ort zurück, an den wir gehören.“ Oder in die Welt? Er sah so unendlich traurig aus und ein weiterer Ruck sorgte dafür, dass sie sich nur noch an den Fingern berührten.

Grace begann zu weinen. „Ich möchte dich nicht verlieren!“

Sarin zog sich näher zu ihr heran und ihre Lippen berührten sich in einem flüchtigen Kuss, dann wurden sie beide fortgeschleudert – Sarin in Finns Richtung, Grace in eine andere.

Lyra wusste, dass nun sie und Cassie an der Reihe waren. „Cassie, es tut mir leid …“

Cassie schüttelte leicht den Kopf. „Egal wo du bist, ich werde dich finden, Lyra. Beste Freundinnen für immer, schon vergessen?“ Sie lächelte ihr zu.

Lyra erwiderte dieses Lächeln. Sarin hatte recht, sie mussten Kyurem vertrauen. „Beste Freundinnen für immer.“ Das Licht umfing sie, warf ihren Körper in die Ungewissheit. Sie wehrte sich nicht dagegen, sah einen Moment lang unter sich die Zerrwelt kollabieren, dann wurde es still. Der Wind ließ nach und Lyra schloss die Augen. Das letzte, was sie sah, war Kyurems gütiger Blick, bevor warme Sonnenstrahlen ihre Haut kitzelten und die eisige Kälte vertrieben, die das Legendäre Pokémon umgab.

Der Glücksstern des Königs überlebt die Flut, der Seherin Unheil bringt die Vernichtung.

Epilog

Sehr verehrte Damen und Herren, wir unterbrechen die aktuelle Sendung für einen Sonderbericht. Vor wenigen Minuten haben uns erste Meldungen erreicht, dass sich im Meer vor Einall eine Inselgruppe aufgetan hat. Wir werden Sie sofort informieren, wenn wir mehr Informationen haben.
 

Sally, was kannst du uns sagen?

Ja, Simon, wie wir bereits berichtet haben, hat sich vor Einall eine Inselgruppe gebildet, die quasi aus dem Nichts heraus entstanden ist. Luftaufnahmen zeigen kleine Gebirgszüge auf der Hauptinsel und eine Seenplatte auf einer der kleineren Inseln. Auf der Nordseite der Hauptinsel befindet sich zudem ein türkisfarbenes Kristallgebilde, das wir im Moment noch nicht näher definieren können. Eine Forschergruppe um Professor Lind aus Johto und Professor Esche aus Einall wird noch im Laufe des Tages aufbrechen, um Flora und Fauna zu untersuchen.

Das klingt wirklich aufregend, Sally. Liebe Zuschauer, wir halten Sie auf dem Laufenden, also bleiben Sie dran bei Kalos TV!
 

Eine Forschungsgruppe um die Professoren Lind und Esche ist in der Nacht von der Inselgruppe zurückgekehrt, die sich plötzlich vor Einall gebildet hat. Nur hier bei Hoenn Television gibt es jetzt das erste Exklusivinterview. Professor Lind, was können Sie uns sagen?

Im Moment wissen wir noch nichts über den genauen Ursprung der Inselgruppe, aber auffällig ist, dass sich verschiedene Landschaftszüge aus den unterschiedlichen Regionen wiederfinden. Soweit wir das beurteilen können, scheinen auf allen Inseln Pokémon aller Regionen zu leben, was eine wirklich außergewöhnliche Neuigkeit ist. Wir glauben zudem Spuren eines zerstörten Dorfes gefunden zu haben, doch von den Bewohnern fehlt im Moment noch jede Spur. Morgen früh werden wir erneut aufbrechen und dann hoffentlich mehr erfahren.
 

Sally, bist du so aufgeregt wie ich?

Natürlich, Simon, wer wäre das nicht? Bei der gestrigen Expedition haben Professor Lind und Professor Esche die Bewohner der mysteriösen Inselgruppe gefunden, die von Experten aufgrund des seltenen Kristallvorkommens bereits „Crystal Islands“ getauft wurde. Offensichtlich handelt es sich bei der Inselgruppe um Bruchstücke der Zerrwelt, ist das zu glauben?

Nein, Sally, das klingt wie aus einem Roman! Ein Team aus Ärzten und einer Rocky-Spezialeinheit hat sich auf der Hauptinsel niedergelassen, um die lokale Bevölkerung mit Medizin und Nahrungsmitteln zu versorgen. Liebe Zuschauer, verpassen Sie nicht die Sondersendung zum Thema „Giratinas Zerrwelt“, die heute Abend hier bei Kalos TV läuft.
 

Das Meer war hier viel sanfter als in der Zerrwelt. Salziger Wind wehte über das Land. Melik ließ die Beine über den Rand der Klippe baumeln und schaute in den blauen, wolkigen Himmel hinauf. Er hatte überlebt. Sie alle hatten überlebt. Wie hatte er sich nur so irren können? Nun verstand er es und er schämte sich für das, was er getan hatte. Die Zerrwelt hatte ihnen ein Zuhause gegeben, aber es war immer nur ein Zuhause auf Zeit gewesen. Die Zerrwelt war nicht für Menschen und Pokémon gemacht, sie war einzig und allein Giratinas Reich. Lange hatte die Kraft der Legendären ihnen Frieden und Sicherheit geschenkt, doch als die Welt vor ihrem Ende stand, hatte er geglaubt, dass er Cassandra, seine eigene Schwester, töten müsste, um zu überleben. Dabei war die Lösung schon immer vorgegeben gewesen. Die Legendären hatten ihre stabile Zerrwelt zerstört, um ihnen ein neues Zuhause in der richtigen Welt zu schenken. Ein Zuhause, in dem sie für immer bleiben konnten. Melik schloss die Augen und legte sich auf das weiche, grüne, saftige Gras. Wenn er ihr jemals wieder unter die Augen treten konnte, würde er sich bei Cassie und den Wächtern entschuldigen müssen.
 

Lyra schaltete den Fernseher aus und ging zurück zu Josephine, die vor dem Pokémoncenter auf sie gewartet hatte. So wie auch Lyra war sie nun als Wächterin überflüssig. Die Zerrwelt gab es nicht mehr, alles hatte endlich seinen Platz bekommen und Frieden gefunden. „Ich muss gehen.“

„Ich weiß.“ Josephine zog sie in eine mütterliche Umarmung. „Du wirst sie finden.“

„Natürlich werde ich das.“ Lyra lächelte und entließ das Panzaeron aus seinem Aprikokoball. „Wir werden uns immer finden, denn wir sind beste Freundinnen und die halten zusammen.“ Panzaeron erhob sich in die Luft, drehte eine Runde über dem Pokémoncenter und setzte seinen Kurs auf die Crystal Islands.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, wie hat euch das Kapitel gefallen? Was glaubt ihr, welches Pokémon Sarin besitzt? Komplett anzeigen

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Von:  L-San
2015-09-14T15:02:41+00:00 14.09.2015 17:02




Bonds




Hallo, Kalliope!


Vielen Dank für die Teilnahme am Wettbewerb Bonds.
Wie der Titel des Wettbewerbs vermuten lässt, geht es hauptsächlich darum, eine Geschichte zu schreiben, in der das Band zwischen Pokémon und Mensch oder nur zwischen den Pokémon ausführlich dargestellt wird.
Ob du diese Aufgabe erfüllen konntest, werde ich dir im Folgenden verkünden.
Vorab will ich dir hier – um unnötigen Stress und Ärger zu vermeiden – nur noch sagen, dass mein folgender Review weder darauf abzielt, dich zu verletzen, noch dein Werk in den Dreck zu ziehen.
Falls du noch offene Fragen hast oder etwas erklären möchtest, dann wäre es schön, du wendest dich an mich.
Nachdem dies gesagt ist, komme ich nun zur Auswertung deiner FF.
Die für die Bewertung relevante Kritik erfolgt in verschiedenen Blöcken:
Kurzbeschreibung | Inhalt | Charaktere | Rechtschreibung/Grammatik | Schreibstil | Fazit


Kurzbeschreibung: |10 von 10 Punkten|
In diesem Bereich wird geschaut, inwiefern der Autor Aufmerksamkeit erregt.

Die Kurzbeschreibungsseite ist schön kurz und knapp und informiert den Leser über das Wichtigste. Nebenbei bemerkt, schöne Formatierung im Charakter-Profil!


Inhalt: |20 von 30 Punkten|
In diesem Bereich wird geschaut, ob die Geschichte an sich logisch und stimmig aufgebaut ist, ob sie durch Kreativität oder Details oder dem besonderen Etwas hervorsticht, was Pluspunkte gäbe, oder ob sie den Leser emotional erreicht.

Deine Geschichte hat so einige Schwächen. Es fehlt ihr des Öfteren an Tiefgang, was man durch mehr Introspektion lösen könnte. Denn ich tue mir von Zeit zu zeit sehr schwer, mich in die Charaktere hineinzuversetzen oder bestimmte Aktionen oder Stimmungen richtig nachzuvollziehen.
So kam mir die Versöhnung der beiden Mädchen zu abrupt vor, stellenweise hat es mir an mehr Lebendigkeit und Nähe gefehlt, beispielsweise hätte man den Moment, wo sie sich überlegen, welche Pokémon zu ihren Kolleginnen passen könnten, detaillierter ausführen können.
Die Problematik der Konflikte wird eher schnell abgetan, was ich schade fand. Also auch da hätte man mehr Tiefgang zeigen können.
Ansonsten hast du hier eine sehr interessante Idee, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass deine Geschichte sich gut als Kinofilm vermarkten lässt. Titel und Plot schreien ja geradezu danach.


Charaktere: |16 von 20 Punkten|
In diesem Bereich wird geschaut, ob die Charaktere IC sind oder doch ein wenig abweichen, und wenn ja, warum.
Des weiteren wird die Konstellation der Figuren betrachtet.

Ich sehe, dass deine Charaktere langsam eine Entwicklung durchmachen, aber die ist manchmal nicht stark spürbar, was am Mangel an Tiefgang liegt. Die Charaktere setzen sich nicht wirklich richtig mit ihren Problemen auseinander, und mit Problemen meine ich eben die Makel in der Freundschaft der beiden Mädchen.


Rechtschreibung/Grammatik: |09 von 10 Punkten|
Du verfügst über sehr gute Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse, dir sind so gut wie fast keine Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Die Kommasetzung ist nahezu perfekt.
Im Folgenden werde ich dir einen typischen Fehler aufzeigen.
„Es war ein Traum, nur ein dummer Traum…
→ die Auslassungspunkte stehen in der Regel immer getrennt von den Wörtern, da sie wie als ein Wort betrachtet werden, Ausnahme nur, wenn ein Wort nicht fertig ausgesprochen wird, Beispiel: „Du Arschl… du!“


Schreibstil: |24 von 30 Punkten|
In diesem Bereich wird geschaut, wie gut das Ausdrucksvermögen ist.
Ist er abwechslungsreich, einigermaßen flüssig und leicht verständlich?
Sticht er durch den besonderen Stil des Autors aus?
Es ist schwer, bei diesem Punkt objektiv zu bleiben, da der Schreibstil eigentlich immer ein subjektives Empfinden ist, doch will ich versuchen, mein Bestes zu geben.

Du hast einen sauberen und kontinuierlich guten Schreibstil, bei dem ich noch viel Luft nach oben sehe. In einer deiner anderen FFs hast du mehr Können gezeigt, von daher gibt es hier nur 24 von 30 Punkten.


Fazit: |79 von 100 Punkten|
Du hast die Aufgabenstellung erfüllt.
Ich war ein wenig am Hadern, weil Thema meines Wettbewerbs ist, stark auf die Beziehung zwischen Pokémon und Mensch oder nur zwischen den Pokémon einzugehen. Ich hätte mir mehr davon erhofft, aber du hast zumindest das Minimum erreicht.
Ich denke, ein wenig an der FF schleifen, lässt sie richtig schön glänzen.
Wenn ich mich nicht verrechnet habe, dann hast du insgesamt 79 von 100 Punkten erreicht, was nach meinem Bewertungsskala eine 2 wäre.
Ich hoffe, ich habe dich mit meinem Review nicht allzu sehr an den Kopf gestoßen.
Bedenken, dass der Kommentar nur meinen Eindruck wiedergibt, denn es kann ja sein, dass andere Leser anderer Meinung sind.
Für offene Fragen stehe ich dir jederzeit zur Verfügung.


LG
L-San




Antwort von:  Kalliope
14.09.2015 17:06
Vielen Dank für den langen, ausführlichen Kommentar :) Mach dir keine Sorgen, dass du mich mit den Kritikpunkten irgendwie verletzt hast, dem ist nicht so. Ich bin für jede Kritik dankbar, solange sie begründet ist, dann kann sie auch ruhig negativ ausfallen. (Nicht, dass ich das so aufgefasst hätte, du hast es ja sehr sachlich erläutert.)
Von:  JoMarch
2015-06-06T12:34:32+00:00 06.06.2015 14:34
Eine interessante Geschichte.
 
Cassandra hat in Neumondnächte immer wieder den gleichen Traum: Das sie immer wieder im Schnee läuft und Angst hat. Das sie nicht weiß was das bedeutet macht sie unsicher aber sie weiß in ihrem inneren das es bestimmt von Bedeutung ist. Sie lebt in einem Weisenhaus und sie weiß nicht woher sie kommt noch wer ihre Eltern sind. Es ist für sie nicht leicht aber Dank ihrer Freundin Lyra, die auch im Weisenhaus lebt, hat sie jemanden der ihr Halt gibt. Die beiden lieben Pokémons und wissen dass sie später auch mal ein Pokémontrainer werden wollen. Um wieder einen klaren gedanken zu bekommen gehen beide draußen Spatzieren und als ein Blitz in der Nähe einschlägt finden sie an der Stelle ein Pokémonei und nehmen sie es mit um es in Sicherheit zu bringen und, wenn es Schlüpft, zu helfen.
 
Der Anfang ist gut geschrieben und man kann sich beim Lesen alles detailliert vorstellen. Vor allem ist fängt es interessant an und hat auch eine Spur Geheimnisvolles.
 
Ich denke das auf die beiden was Spannendes zukommen wird. Man möchte
gerne wissen was für ein Pokémon sich im Ei befindet und welches Geheimnis Cassandra umgibt.
 

Antwort von:  Kalliope
06.06.2015 14:47
Danke für deinen Kommentar :)
Dein Nickname ist toll, ich finde "Eine fröhliche Familie" so schön <3
Von:  fahnm
2015-05-18T20:52:13+00:00 18.05.2015 22:52
Vorbei?
Schade.
War eine Super geschichte.
Antwort von:  Kalliope
18.05.2015 22:53
Dankeschön :)
Von:  fahnm
2015-05-18T20:51:22+00:00 18.05.2015 22:51
Spitzen Kapitel
Von:  yazumi-chan
2015-05-17T12:13:01+00:00 17.05.2015 14:13
Und so geht doch alles gut aus. Wo sind die ganzen Bewohner denn gelandet? Waren die irgendwo auf der Insel versteckt?
Die einzige Frage, die sich für mich noch stellt, wäre, wo jetzt jeder ausgekommen ist. An ihrem Geburtsort?
Antwort von:  Kalliope
17.05.2015 14:23
Genau, jeder ist in der Region gelandet, in die er gehört. Lyra war wieder in Johto, Leo in Sinnoh, Grace in Kanto, Sarin auf der Insel und Finn ebenfalls auf der Insel.
Die Bewohner waren im Zentrum der Insel und auf die kleineren Inseln verteilt, deshalb hat man sie nicht sofort gesehen, als man ans Ufer gegangen ist. Denen ist aber am Ende nichts passiert :)
Von:  yazumi-chan
2015-05-17T12:09:05+00:00 17.05.2015 14:09
Und noch ein Cliffhanger, so kurz vor Schluss! Gemein >.<
Ich weiß jetzt gar nichts mehr xD Cassie ist ja technisch gesehen kein Unheil zugestoßen, wird die Zerrwelt trotzdem vernichtet oder hätte es noch schlimmer kommen können? Ich habe das Gefühl, dass jeder der sechs aus einem der Portale geschmissen wird, aber das wird sich hoffentlich alles im Epilog aufklären. Sehr spannend geschrieben, in jedem Fall. Die Art, wie du die einzelnen Prophezeiungsteile eingebracht hast, hat sehr gut zu der Stimmung gepasst.
Antwort von:  Kalliope
17.05.2015 14:21
Die Zerrwelt, also der bewohnte Teil, wurde vernichtet, ja. Diese Vernichtung wäre aber so oder so gekommen und wurde angestoßen, weil Melik Cassie Unheil zugefügt hat.
Von:  Yurippe
2015-05-17T11:40:13+00:00 17.05.2015 13:40
Und jetzt ist es vorbei. ;_; Ich hätte mir einen längeren Epilog gewünscht und mehr zu den restlichen Wächtern. Ich werde sie alle vermissen?

Müsste es nicht auch einen Tsunami geben, wenn die Inseln plötzlich so viel Wasser auf dem Meer verdrängen?
Antwort von:  Kalliope
17.05.2015 13:50
Ja, jetzt ist es fertig :/ Meinst du mit den restlichen Wächtern Grace, Leo, Sarin und Finn oder auch die Generation davor mit Nero und Co?

Eigentlich schon, aber da Kyurem, Reshiram und Zekrom ihre "Finger" im Spiel hatten, beschließe ich jetzt einfach mal, dass das alles reibungslos funktioniert hat xD
Antwort von:  Yurippe
17.05.2015 13:52
Vor allem die jetzige Generation.
Von:  Yurippe
2015-05-17T11:36:56+00:00 17.05.2015 13:36
O.o Gut, dass es schon den Epilog gibt.
Ich fand, dass am Ende alles sehr schnell ging und daher etwas gehetzt wirkte. Trotzdem natürlich wunderbar und extrem spannend.

"auch Sarins Stimme klang qualvoll" → Ich bin mir nicht sicher, ob eine Stimme qualvoll klingen kann...
Antwort von:  Kalliope
17.05.2015 13:51
Hm vielleicht lieber gequält?
Antwort von:  Yurippe
17.05.2015 13:51
Ja, das klingt besser, finde ich.
Von:  fahnm
2015-05-14T20:37:11+00:00 14.05.2015 22:37
Klasse Kapitel
Von:  Yurippe
2015-05-14T09:50:52+00:00 14.05.2015 11:50
Ich hatte recht. :D Und Melik ist eben doch nur ein machtgieriger Fiesling. Oder wenn nicht dann zumindest ziemlich gestört. Von seinem Lese- oder Hörverständnis bezüglich der Prophezeiung ganz zu schweigen.
Ich bin schon sehr gespannt, wie alles ausgeht, und hoffe, dass Grace und Sarin sich nicht trennen müssen.
Antwort von:  Kalliope
14.05.2015 16:46
Jep, du hattest den richtigen Riecher :) Melik ist nicht böse, um einfach böse zu sein, er sieht einfach keinen anderen Ausweg. Trotzdem muss man nicht darüber diskutieren, dass er den falschen Weg geht, das stimmt. Noch ein Kapitel, dann ist TCP fertig.
Antwort von:  Yurippe
14.05.2015 18:00
Na ja, auch fehlgeleitete Intentionen, die jemanden zum Töten bringen, finde ich böse. Ich meine, sonst würden ja einige Mörder aufgrund ihrer seltsamen Motive freikommen.
Antwort von:  Kalliope
14.05.2015 18:12
Ja, ich meinte damit auch eher, dass es in manchen Geschichten ja Bösewichte gibt, die einfach ohne irgendeinen Hintergrund böse sind. Melik hat wenigstens einen Grund für sein Handeln, auch wenn er sein Handeln ruhig mal überdenken könnte.


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