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Schattenfresser

von

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Kai will kein Balisto

XI. Kai will kein Balisto
 

Blinzelnd öffnete Kai die Augen. Weiche Laken unter ihm… Seide? Elfenbeinfarbene Seide… Wo war er…im Puff? Ne… so etwas besuchte er nicht, kannte er nur aus dem Fernsehen… Luxushotel? Er war doch nicht verreist… oder? One Night Stand? Für so etwas hatte er keine Zeit… außerdem lief man da in Gefahr abgeschlachtet oder mit widerlichen Geschlechtskrankheiten angesteckt zu werden, die das Genital dann so aussehen ließen wie die eine sehr alte Ananas.
 

Er lag auf dem Bauch, im Zimmer war es hell. Er fühlte Floffis plüschigen Körper gegen seine nackte Taille drücken. Wo… wo nur…? Er versuchte sich aufzurappeln, stellte aber dann fest, dass er nicht konnte. Er war an Handgelenken und Fesseln ans Bettgestell gekettet. Nicht gebunden, gekettet. Ach du Schande! War er irgendeinem Sadomaso-Heini auf den Leim gegangen?! Da stand er doch gar nicht drauf! Aber die fesselten einen doch auch nicht einfach völlig ungefragt… Oder ein Psychopath? War er entführt worden? Bei ihm gab es doch gar nichts zu holen! Und dann auf Seidenlaken…? Diese Ketten sahen ja aus wie aus einem pseudo-mittelalterlichen Folterkeller zur Touristenbelustigung! Aber sie waren scheiß-echt! Und hatten irgendwelche gruseligen Symbole eingraviert, die ihm überhaupt nicht geläufig waren! Sie sahen aus wie eine von einem Grundschulkind erdachte Hierogylphenschrift!
 

Irgendwie fühlte er sich merkwürdig. Seine Jeans hatte er noch an, nur sein Oberkörper lag frei. Und da war etwas komisch mit seinem Rücken… Gewicht… lag irgendetwas auf ihm…? Floffi war es nicht, der pennte selig am Rande seines Blickfeldes neben ihm. Okay, den Hund hatte man ihm gelassen… gutes Zeichen. Und Floffi war ganz entspannt… okay, das bedeutete erst einmal gar nichts.
 

Irgendetwas zog auch an seiner Kopfhaut? Antennen? Hatte man ihn verkabelt und trieb irgendwelche Experimente mit seinem Hirn? Apropos Hirn… die Bilder, die ihm sein Denkorgan als „Erinnerungen“ unterjubeln wollten, gaben in der Tat nicht viel Sinn.
 

Floffi hatte sich aufgeregt… ein Wellensittich… der Feuer spuckte… Oh Gott! Wie ein Hammerschlag kam es über ihn. Skia und seine Tante hatten ihn niedergerungen und ihm irgendetwas eingeflößt! Die waren wahnsinnig! Die hatten ihn gefangen genommen! Von wegen er sei meschugge – die waren das! Das war Freiheitsberaubung der übelsten Sorte!
 

Aber… wer waren die… das stimmte doch alles hinten und vorne nicht… Seine Chancen, dass Floffi ihm den Kerkerschlüssel bringen oder seine Ketten einfach durchnagen würde, schätze er auf nicht existent ein. Und es war Freitag, kein Mensch erwartete ihn, bis Montag würde niemandem in den Sinn kommen, dass er fehlte! Oh Gott… ganz ruhig…
 

Was um Gottes willen wollten die von ihm! Er war doch nur ein etwas unheiterer, schwuler Lehrer, der immer seine Pflicht getan hatte! Aber es waren schon Leute aus geringerem Anlass umgebracht worden… Irgendetwas wollten die doch… Was war das auf seinem Rücken?! Es zog irgendwie… Waren das wirklich irre Wissenschaftler, die irgendwelche Experimente mit ihm durchführten? Die Erklärung hatte er schon Gudrun geliefert, da hatte sie nicht recht überzeugen können. Und was war mit seinem Kopf? Aber immerhin tat es nicht weh, sondern fühlte sich nur merkwürdig an.
 

Er hörte, wie die Tür sich öffnete und spannte sich.
 

„Herr Wiesenblum?“ hörte er Skias zaghafte Stimme. Dieser elende Verräter! Wahnsinniger! Der konnte doch nicht einfach seinen Klassenlehrer kidnappen und ans Bett ketten! Offensichtlich war er da anderer Meinung… oder steckte seine Tante dahinter? „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ fragte Skia, als sei er nur gerade ein wenig über eine Bananenschale ausgerutscht. Aber das hier war kein Slapstick, sondern bitterer Ernst.
 

„Ja, Skia, alles ganz super, genauso, wie es seien sollte“, zischte er. „Glaubst du etwa, ihr kommt mit dieser Nummer durch?!“
 

„Das geschieht nur zu Ihrem Besten!“ protestierte Skia im Brustton der Überzeugung.
 

„Ja, ja, das behaupten sie alle! Das Beste wäre, wenn du mich los machen würdest und dich dann freiwillig der Polizei stellen würdest!“ empfahl Kai, um seine strengste Lehrer-Stimme bemüht.
 

„Nein“, erwiderte Skia aufrecht, „das wäre nicht das Beste. Für keinen von uns. Sie werden verstehen… Aber… Haben Sie Hunger? Ich weiß ja nicht, was Sie essen – aber ein Balisto tut es vorerst vielleicht auch, dazu brauchen Sie auch Ihre Hände nicht.“
 

Es raschelte, dann landete der Schokoriegel auf dem Laken direkt vor Kais Nase. Sollte er das jetzt einfach so wegschlabbern?! Anscheinend. Frechheit. Sein Magen knurrte gehörig, aber er würde nicht vor Skias Nase ein Ballisto wegmampfen, als sei er ein Hund – ein richtiger Hund, nicht Floffi – mit einem freundlich zugeworfenen Knochen!
 

„Skia!“ fuhr er ihn an. „Was zur Hölle geht hier vor! Was passiert mit mir!“
 

„Ich…“, zögerte Skia. „Wir erklären es Ihnen, versprochen! Aber wir wissen auch nicht so recht… Meine Tante ist an der Sache dran – aber sie kommt gleich…“
 

„Skia“, setzte er erneut an und beschloss fürs Erste die unlogische Deutung des Erlebten zu verfolgen, da es an einer logischen arg mangelte, „du bist… kein Mensch…?“
 

Skia schwieg kurz, als denke er nach, dann sagte er nur: „Nein. Ich bin kein Mensch.“
 

„Was… wer bist du dann?“ fragte Kai. Gemeinsamkeit, Vertrauen schaffen mit den Entführern… oder einfach die Wahrheit erfahren? Nein… das war doch kompletter Oberschwachsinn!
 

„Ich bin Skiaphagos, Schattenfresser“, erwiderte der andere ruhig.
 

Ach so, na dann. „Hast du… den Schatten meiner Kollegin gefressen?“ bohrte Kai nach, einfach mal akzeptierend, dass das die Logik war, die in diesen hehren Hallen so herrschte.
 

„Ja“, gestand Skia, „ich hatte mich verspätet… und war so schrecklich hungrig… da ist es mit mir durchgegangen… immer nur Bäume und Felsen und… Dinge eben… ich hatte einen Aussetzer. Wie ein Mensch, der auf Diät ist und dann zu MacDo rennt und sich vollstopft wahrscheinlich… Nur noch schlimmer. Aber es ist trotzdem meine Schuld!“
 

„Deswegen… gehst du zur Schule… an der Gudrun unterrichtet hat?“ fragte Kai weiter, sehr versucht, doch in sein Balisto zu beißen. Der Schokoduft drang verführerisch in seine Nase. Er hatte Freitagmittag in der Schulkantine das letzte Mal etwas gegessen. Verkochte Spaghetti mit labberiger Tomatensoße, wie sie Kinder gerne mochten. Wie lange mochte das her sein? Draußen schien es dunkel zu sein. War es Freitagnacht? Oder fehlte ihm noch mehr Zeit?
 

„Ja… damit ich beweise, dass ich mich kontrollieren kann. Ich bin auf Bewährung deswegen, gewissermaßen“, erklärte Skia und kniete sich neben ihn. Seine Augen waren rosa. Nicht wie Mary Sues Federtasche, sondern eher pink, ein sehr kräftiger Tonfall. Er sah verblüffend anders aus, jetzt, da Iris nicht mehr so farblos war, als sähe er viel schärfer, sei viel mehr… da. Und er sah auch gar nicht mehr so latent vertrottelt aus…
 

„Du stammst also nicht aus Indien“, folgerte Kai und bemühte sich darum, diese neuste Absonderlichkeit erst einmal zu schlucken. Den Eindruck hatte er doch schon ein paar Mal gehabt und ihn aufs Licht geschoben, dass sich Skias Augen am Ende eines langen Schultages ins rosige veränderten. Er hatte es aufs Licht und seine zerrütteten Nerven geschoben. Aber das hier war kein sanftes Rosa mehr, sondern ein echter Schocker von Augenfarbe.
 

„Nein…“, gestand Skia.
 

„Dachte ich es mir doch! Woher dann?“ wollte Kai wissen. Vom Planeten Dideldumm? Aus seiner durchgedrehten Fantasie? Aus Atlantis?
 

„Das… das ist schwierig… ich habe bei meinen Eltern gewohnt… erkläre ich später, das ist ganz schön kompliziert…“, druckste Skia herum. Er roch irgendwie nach Veilchen. Neues Girlie-Parfüm? Oder war das sein natürlicher Körpergeruch? Nicht auszuschließen bei jemandem mit pinken Augen.
 

„Und warum sind deine Augen jetzt… so?“ bohrte Kai weiter. Immer schön im Gespräch bleiben… alles herausfinden… Aber wenn das hier „alles“ war, dann wollte er das eigentlich gar nicht wissen. Aber in seiner Situation war es wohl klüger, Informationen zu sammeln. Aber was für Scheiß-Informationen waren das bitteschön? Er war weder Psychologe noch Exorzist!
 

„Sie verfärben sich, wenn ich hungrig werde“, schilderte Skia. „Das Blut schimmert durch. Und wenn sie rot sind, dann wird’s gefährlich, dann kann ich mich kaum noch beherrschen…“
 

„Und dann… frisst du Schatten?“ wiederholte Kai brav. Floffi wachte kurz auf, Kai hörte ihn gähnen, dann quietschte er fröhlich und fiel absolut skrupellos schwanzwedelnd über Skia her, dieser elende Verräter. Aus dem Augenwinkel sah Kai, wie Floffis Schatten dabei reflexartig abdrehte, schön von Skia weg. Das war wahrscheinlich das Klügste, das Floffi je zustande gebracht hatte… oder ging das nur, wenn man so doof war wie Floffi?
 

Skia nickte. „Ich ernähre mich hauptsächlich von Schatten, der Rest ist… Dessert“, meinte er und kraulte den sich vor Glück beinahe überschlagenen Hund.
 

„Und bin ich jetzt hier, weil du meinen Schatten fressen willst oder was?“ fragte Kai. „Oder weil ich zu viel von diesem Wahnsinn mitbekommen habe?!“
 

„Ich will Ihren Schatten nicht fressen! Auf gar keinen Fall!“ empörte sich Skia entsetzt. „Uns das andere… anfänglich ja…“
 

„Aber?!“ bohrte Kai in bester Lehrer-Manier.
 

Skia sah ihn hilflos an. „Tja…“, murmelte, Floffis Puschelöhrlein streichelnd, der dabei verliebt jaulte, „das ist das Problem. Wir wissen nicht ganz, was hier vor sich geht.“
 

„Wie schön! Dann geht es uns ja allen so! Und wie soll das jetzt weitergehen hier? Wollt ihr mich hier ewig festhalten und mit Ballistos durchfüttern?! Man wird euch auf die Schliche kommen, das garantiere ich!“ drohte Kai. Die ganze Klasse hatte mitbekommen, dass Skia einen Lehrerbesuch kassiert hatte. Wenn er nicht wieder auftauchte, würde das schon raus kommen, und Skias Adresse war in der Schuldatenbank. Hoffentlich zählte da einer eins und eins zusammen und zwar flott! Leider erst frühestens am Montag…
 

„Nein! Aber… und außerdem können Sie nicht nur Ballisto essen…“, antworte Skia eifrig den Kopf schüttelnd, ohne auch nur den Anflug von Sorge darüber zeigend, dass man ihm und seiner Tante zu Leibe rücken könnte.
 

„Spiele ich diesen Blödsinn mal mit. Du bist also ein Schattenfresser…“, holte Kai aus.
 

„Nicht einer! Der! Jeder von uns ist einzigartig!“ korrigierte Skia.
 

„Okay… uns wer ist „uns“?“, hakte Kai nach.
 

„Wir sind wir… Die Menschen nennen und Märchenwesen, Sagengestalten, Fantasy-Figuren… Wir haben kein Wort für uns. Es gibt uns – und die Menschen eben“, erklärte Skia, dazu übergehend Floffis schlampig dargebotenen Bauch zu bearbeiten.
 

„Aha. Und deine Tante ist…?“ machte Kai weiter.
 

„Die Menschen halten sie für eine Hexe“, erwiderte Skia ungerührt. „Die von „Hänsel und Gretel“ – obwohl das so nicht gelaufen ist wie in der Geschichte“, stellte er klar.
 

„Na dann… und der Sittich, wer ist der? Aschenputtel?“ fragte Kai. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Rücken komisch pulsierte.
 

„Nein, Aschenputtel war… ach egal. Nein, Leviathan ist ein Lindwurm“, erklärte Skia.
 

„Ein Lindwurm?! Ein Drachen?! Ist er dafür nicht eine Nummer zu klein?!“ fragte Kai entgeistert. Das wurde ja immer blödsinniger selbst in dieser auf den Kopf gedrehten Welt.
 

„Meine Rede!“ nickte Skia düster. „Er ist ein Zwerglindwurm. Er ist Tante Morganas Haustier – was spricht eigentlich gegen Katzen? Oder Kröten? Oder Meerschweinchen?“
 

„Äh…“, hob Kai an, doch bevor er sich eine passende Antwort ausdenken konnte, trat die „Hexe“ Höchstselbst ein. Sie trug dieselbe Kleidung wie bei seinem Eintritt, genau wie Skia. Eventuell war er nicht allzu lange k.o. gewesen. Allerdings war er sich nicht recht sicher, ob das nun gut oder schlecht war.
 

„Wie geht es Ihnen, Herr Wiesenblum?“ fragte sie freundlich, als säßen sie immer noch gemütlich im Wohnzimmer.
 

Wütend kniff er die Lippen zusammen. „Sie sind über mich hergefallen, haben mich an ein Bett gekettet, und Ihr Neffe erzählt mir wahnsinnige Geschichten – wie bitte denken Sie, dass es mir geht!“ fauchte er.
 

„Ich gebe zu, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen ist das alles sehr verwirrend“, gestand sie ihm zu.
 

„Ich bin ein Mensch, was erwarten Sie!“ giftete Kai.
 

„Mmm“, meinte sie. „Das ist wohl das Problem.“
 

„Dass ich ein Mensch bin? Was zur Hölle denken sie sich überhaupt! Dass Sie eine Hexe sind?!“ tobte Kai hilflos. Das Ganze hatte mehr als einen Logiksprung, es bestand nur so aus Logiggehacktem – es sei denn… Nein. Er hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Kein Wunder. Aber mit einem längeren Kuraufenthalt, einer lustigen Therapie und ein paar bunten Psychopharmaka ließ sich das gewiss wieder hin bekommen… oder vielleicht waren Hunde in der Klapse erlaubt? Dann könnte er auf Kosten des Gesundheitswesens, in das er bisher so brav eingezahlt hatte, endlich über byzantinische Mariendarstellungen aus der Zeit vor dem Ikonoklasmus promovieren? Das würde der Hauptteil der Menschheit sowieso für die Tat eines Wahnsinnigen halten, Existenz gesichert…
 

„Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht so genau, was ich davon halten soll. Ich habe den Rat informiert, die melden sich, sobald sie etwas haben. Allerdings brauchen diese Affen leider immer eine Weile, Effizienz ist etwas anderes, aber die sind es ja nicht gewöhnt, sich zu beeilen oder sinnvolle Prioritäten zu setzen… egal. Und was das mit dem Menschsein angeht… äh… nun ja…“, druckste sie herum.
 

„Was bitte?“ erwiderte Kai schwach. „Wollen Sie mir jetzt auch noch zu allem Überfluss klar machen, ich sei kein Mensch…?“
 

„Wie soll ich sagen? Sieht irgendwie nicht so aus, als seien Sie einer“, murmelte sie.
 

Irgendetwas zog plötzlich über seinen Rücken, nicht schmerzhaft, ein Gefühl tiefster Entspannung machte sich in ihm breit. Ein komisches ploppendes Geräusch erklang.
 

„Huch!“ kommentierte Skia. Floffi machte erschrocken einen Satz rückwärts, wedelte aber einfach weiter. Kein gutes Zeichen.
 

Alle drei starrten ihn an.
 

„Na sowas!“ sagte Frau Müller-Mayer trocken, obwohl Kai ernsthafte Zweifel hatte, dass sie wirklich so hieß.
 

„Krass!“ kommentierte Skia. Das musste er sich von Mary Sue abgeguckt haben. Oder von Lennard… Die schienen gerade Lichtjahre entfernt, genauso wie die Schule, sein Zuhause, sein Leben…
 

Floffi jaulte den Mond an.
 

„Was ist hier los?!“ schrie Kai auf. Das wurde ja immer schlimmer hier… „Was passiert mit mir?!“
 

„Öh…“
 

„Ähm…“
 

„Tja…“
 

„Na ja…“
 

Kai stierte seine Kidnapper an. Beiden stand der Mund leicht auf, sie glotzen an einen Punkt über seinem Rücken.
 

Skia fasste sich als erster. „Ich glaube, er hat Hunger?“ fragte er seine Tante.
 

„Ich will kein Balisto!“ brüllte Kai. „Was ist hier los?!“
 

„Glaube ich auch, dass Sie kein Balisto wollen…“, murmelte Skias Tante.
 

„Lassen Sie mich los! Was soll das alles! Ich will hier raus! Ich kann nicht mehr!“ bekam Kai einen hysterischen Anfall. Derselbe wie vorhin? Oder ein neuer? Wer zählte da schon, wenn man einmal damit angefangen hatte…
 

„Herr Wiesenblum!“ fuhr ihn Skias Tante resolut an. „Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Aber kriegen Sie sich bitte ein! Sie sind doch ein vernünftiger Mann!“
 

„Dachte ich auch immer…“, keuchte Kai. „Aber das hier ist alles überhaupt nicht vernünftig… kein Stück… alles völlig irre geworden…“
 

„Nein. Es gibt bestimmt eine logische Erklärung dafür!“ brachte ihn Müller-Mayer auf Kurs.
 

Kai hatte das Gefühl, als stünde die Welt Kopf. Jetzt kam die ihm mit Logik! Die! „Wofür denn überhaupt?“ schnaufte er.
 

Sie schnappte sich einen Hocker und rutschte neben Skia an sein Kopfende, ihn beruhigend anlächelnd, während Skia ihn immer noch wortlos anstarrte. Was um Himmels Willen war mit ihm los, dass selbst Herr Haarmonster Holgerson ihn so begaffte?!
 

„Herr Wiesenblum“, wandte sich Müller-Mayer an ihn im Tonfall einer Kindergärtnerin, die sich an ein trotziges Blag wandte. „Sie sind gewohnt, sich selbst als Mensch wahrzunehmen. Aber das scheint ein grundsätzlicher Irrtum zu sein, deswegen kommt es Ihnen jetzt leider so vor, als sei die ganze Welt wahnsinnig geworden. Das Problem ist wohl eher, dass sie in einer Logik denken, die Ihrer nicht angemessen ist.“
 

„Ganz toll, jetzt liegt es an mir!“ grollte Kai. „Und warum bitteschön sollte ich jetzt kein Mensch sein, sondern… was hat Skia erzählt… ach ja, vielleicht ein Zauberer! Oder ein Zwerg? Oder ein Zentaur? Oder sonstwas?“
 

„Ob Sie zaubern können, wissen wir nicht“, mischte sich Skia ein. „Die meisten von uns können das mehr oder weniger gut… Für einen Zwerg sind sie zu schlau! Und für einen Zentauren fehlt Ihnen der Pferdearsch!“
 

„Das ist… tröstlich“, murmelte Kai. „Und was soll ich dann bitteschön sein?“
 

„Das sind alles Menschenbezeichnungen“, warnte Müller-Mayer. „kommt drauf an, wie Sie sich selbst sehen. Jeder von uns ist einzigartig…“
 

„Schön, wahre Individualisten also. Könnten Sie mir dann dennoch freundlicherweise erklären, warum ich jetzt plötzlich kein Mensch mehr sein soll?“ fragte Kai erschöpft.
 

„Die gute Nachricht ist: Sie haben keine Allergie!“ begann Müller-Mayer versöhnlich.
 

„Und die schlechte…?“ murmelte Kai misstrauisch.
 

„Ist aus unserer Warte auch keine, aber für Sie wahrscheinlich nicht so einfach…“, meinte Müller-Mayer und sah ihn nachdenklich an. Skia gaffte schon wieder auf seinen Rücken, seinen Kopf.
 

„Ich will’s wissen. Bin ich irgendwie mutiert oder was?“ fragte Kai irgendwo zwischen völlig hinüber und schicksalsergeben.
 

„Genau!“ freute sich Skia. „Sie sind mutiert! Das ist doch eine logische Erklärung aus Menschensicht! Und sie sind definitiv kein Zwerg!“
 

„Juhu…“, würgte Kai hinaus. „Und zu was bin ich mutiert? Das, was ich von mir sehe, sieht ja aus wie immer… aber es ist was mit meinem Rücken… nicht wahr? Bin ich jetzt Quasimodo? Ach ne…“
 

Müller-Mayer sah ihn sinnend an. „Ich bin mir nicht sicher… Sie sind ziemlich von der Rolle… ob Sie das verkraften…“
 

„Wird es besser, wenn ich warte und dabei fröhlich noch beknackter werde als ohnehin schon?“ fragte Kai und starrte das Ballisto an. Wenigstens das war hier noch real.
 

„Wahrscheinlich nicht“, erwiderte Skias Tante zögerlich. „Aber Sie dürfen auf keinen Fall versuchen, so davon zu laufen, wenn ich Sie los mache! Damit setzen Sie nicht nur Ihre eigene Existenz aufs Spiel, sondern auch die vieler anderer. Hören Sie, wir wollen Ihnen nicht schaden, Ihnen nicht weh tun. Und ich weiß auch nicht, wie das hier passieren konnte.“
 

„Wie kann ich Ihnen das versprechen?“ murmelte Kai. „Sie halten mich hier gegen meinen Willen fest.“
 

„Schwurstein!“ sagte Skia lakonisch.
 

„Gute Idee, Neffe!“ lobte ihn Müller-Mayer anerkennend. Skia lächelte stolz, trabte los und kam kurz darauf wieder mit etwas zurück. Müller-Mayer drückte es Kai in die Hand. Ein bläulich leuchtender, merkwürdig warmer Stein.
 

„Was… wird das…?“ wollte Kai wissen.
 

„Eine Sicherheitsmaßnahme zu unserem und Ihrem Schutz. Sprechen Sie mir nach, dann mache ich Sie los, in Ordnung?“ fragte Sie.
 

„O… okay“, stammelte Kai, die letzte Schaufel voll Erde in das Grab seines Verstandes schippend.
 

„Ich, Kai Wiesenblum, schwöre, die Grenzen dieses Grundstückes nicht zu übertreten, es sei denn, die Besitzerin dieses Steins erlaubt es oder entlässt mich aus dem Schwur. Sollte ich dem zuwider handeln, werde ich mich für jeweils zwei Stunden in Stein verwandeln“, soufflierte sie.
 

Kai wiederholte ihre Worte brav. In Stein verwandeln… jaja. Wenn die das glauben wollten… Hauptsache, sie machten ihn los.
 

„Gut, das reicht. Kröte hätte es auch getan, aber dann frisst sie noch ein Storch, das wäre unangenehm. So gehen Sie im Zweifelsfall auch als Gartendeko durch. Aber zu empfehlen ist es dennoch nicht. Dann wollen wir mal. Ganz ruhig, Herr Wiesenblum… das wird nicht leicht… aber Sie schaffen das“, baute sie ihn auf. Dann machte sie eine rasche Bewegung mit der Hand und murmelte irgendetwas Gutturales. Die Fesseln öffneten sich mit einem metallischen Geräusch, Floffi quietschte mit, inzwischen wieder eng an Skia gekuschelt. Hatte sie eine Fernbedienung für die Dinger? Das war ja wie in einem total blöden Agenten-Thriller. Immerhin war er nicht im Inneren eines Vulkans über einem Becken voller Piranhas gekettet gewesen. Ein geringer Trost. Schnaufend robbte er an die Kante des Bettes, seine Zwangsgastgeber traten krampfhaft freundlich lächelnd einen Schritt zurück, als er sich aufwärts schwang. Er kreischte überrascht auf, als irgendetwas ihn abrupt nach hinten zog. Mit einem blitzartigen Schritt war Skia bei ihm und hielt ihn am Handgelenk gepackt. Wie war der so schnell gewesen…? Schwindelnd hing Kai diagonal über dem Bett. Er war rückwärts umgefallen, dennoch nicht wieder auf der Matratze gelandet. Etwas war da zwischen ihm und dem Bett… und es war kein Fremdkörper… er konnte das Seidenlaken fühlen… an… was… da war er doch längst zuende… Bevor er fertig denken konnte, hatte Skia ihn schon auf die Füße gezerrt. Die Berührungen taten nicht mehr weh, überhaupt nicht, war sogar recht angenehm. Sollte er sich jetzt darüber freuen? Oder wäre das verzweifelt? Er torkelte hinter dem jungen Mann her über den gepflegten, weichen Teppichboden hinüber zur Wand neben dem weiten Fenster, vor dem sich ein mondbeschienener Wald erstreckte. Hierher hatte er von seiner Position auf dem Bett aus nicht blicken können. Floffi dackelte treuherzig hinter ihm her.
 

An der Wand hing ein Bild. Von ihm. Wie krank war das denn?! Hatte Mary Sue das gemalt? Ne… dazu konnte sie zu schlecht zeichnen. Aber jemand wie Mary Sue. Skia? Skia war begabt, sicher, aber so einen miesen Geschmack hatte er bisher nicht an den Tag gelegt. Aber in jedem lauerten Abgründe, auch was die Stilsicherheit anging. Eigentlich hatte man ihn ganz gut getroffen, sein Gesicht, sein Körper, seine Jeans… ein wenig geschmeichelt, aber das war zu ertragen. Aber der Rest… also wirklich… wer dachte sich denn so etwas aus? Und warum zeigten die ihm das, ihn so komisch erwartungsvoll anstarrend?
 

„Äh, was?“ fragte er verwirrt. Das Bild bewegte sich mit ihm. Er starrte es erneut an. Dann hob er zitterig die Hand und winkte. Das Bild winkte zurück. War das etwa ein Zauberbild wie bei Harry Potter…
 

„Ist doch toll, Herr Wiesenblum!“ redete Skia ihm gut zu, ihn treuherzig aus seinen Gruselaugen anschauend. „Sie können bestimmt fliegen!“
 

Er trat einen Schritt näher an die Glasfläche und streckte die Zunge raus. Das Bild ätschte zurück. Das war kein Bild. Das war kein verficktes Bild.
 

Das war ein Spiegel.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  eden-los
2011-07-23T13:06:28+00:00 23.07.2011 15:06
hahaha... jetzt isser selber irgendso´n flattermann. is das geil. xD
bin ja mal gespannt was genau er ist.

lg eden ^^


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