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Schattenfresser

von

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Absolut kein Heidenspaß

IX. Absolut kein Heidenspaß
 

Kai starrte aus dem Fenster des Busses. Ein wunderschön sonniger Tag, keine Wolke am blauen Himmel, perfekt für einen Ausflug. Heidepark… Sie fuhren in den Heidepark. Die Stimmung im Bus war euphorisch, wenn man von ihm und dem Fahrer mal absah. Sie waren früh aufgebrochen, viel früher als der normale Schulbeginn – aber nicht der Anflug eines Protestes hatte sich geregt, schließlich wollte man punktgenau zur Öffnung des Parks da sein. Zehn bis siebzehn Uhr… viele, viele, viele Stunden in diesem hirnlosen Spaßland. Zu allem Überfluss hatte es Mary Sue doch irgendwie hin bekommen, neun Punkte zu schreiben. Wie auch immer sie das hinbekommen hatte! Unfassbar! Das hatte sie in ihrer ganzen Laufbahn nicht einmal hingekriegt, aber ausgerechnet bei dieser Klausur war spontan ein Tropfen Hirn vom Himmel gefallen und hatte sie erwischt, oh unfassbare Zufälligkeit des Schicksals! Oder hatten seine Bemühungen endlich mal zum Erfolg geführt? Gelernt hatte sie ja wie eine Wilde, damit sie ihn heute in irgendeine Höllenschleuder ihrer Wahl stopfen konnte – weniger aus Sadismus als aus Missionsbewusstsein, damit er auch mal in den Genuss wahren Spaßes kam. Normalerweise brachte das dennoch nichts – aber dieses eine Mal schon, juhu! Vielleicht sollte er ihr vor dem Abi versprechen, dass er ins Hamburg Dungeon, auf den Dom und ins Musical gehen werde, wenn sie halbwegs manierlich bestand… Pädagogik von der ganz neuen Sorte, der Lehrer als Berufsmasochist…
 

Auch Skia war nicht unvorbereitet angetreten. Seine beiden Zopfmonster hatte er kunstvoll um seinen Oberkörper geknotet und um die Taille wie einen dicken Gürtel geschlungen, von mehreren fingerdicken Gummis fixiert. Das sah zwar… abstrakt aus, aber so würde er sich immerhin nicht in irgendeiner Schiffsschaukel skalpieren – oder seinem Nebenmann die Nase brechen, wenn der mit voller Wucht von einem der Seile getroffen würde. Er plapperte bester Dinge mit Nathalie über irgendeine Fernsehserie für pubertierende Mädchen, verpestete den Bus mit seinem Bonbon-Gedufte und war genauso fröhlich aufgeregt wie der Rest.
 

Kai hatte ihn nicht auf seinen obskuren Spickzettel angesprochen, nicht die Pferde wild machen, ohne dass es wirklich nötig war – und auch Skia hatte ein Recht darauf, dass man seinen privaten Wahnsinn respektierte. Dennoch musste er ein Auge auf ihn haben, damit er nicht abglitt. Vielleicht verscheißerte Skia ihn auch ungewollt, auch kein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest hielt er sich einigermaßen, solange Skia ihm vom Leibe blieb. Die Allergietests hatten rein gar nichts gebracht, aber Dr. Taube ließ nicht locker und klebte ihn weiterhin fröhlich mit irgendwelchen Proben voll als sei sein Rücken eine Pinnwand. Die roten Linien waren noch da, nur zu erahnen zwar, aber dennoch nicht verschwunden. In der Schule wurde es etwas schlimmer, gerade wenn er sich in Skias Umgebung aufhielt, nachmittags und am Wochenende verblassten sie. Gelegentlich juckte es ihn, aber schmerzhaft war es nicht. Sehr, sehr merkwürdig… aber seine Werte stimmten, das hatte Taube überprüft, er stand offensichtlich nicht kurz vorm Verrecken.
 

Kurz vor zehn bremste der Bus ab. Die schmale Straße war bereits voll gestopft mit ähnlichen Spaßkommandos wie dem ihren, überall jauchzende, aufgedrehte Schüler aus allen Ecken des Landes – und schicksalsergebene wie ähnlich grenzdebil grinsende Lehrer. Letztere waren Sportlehrer, garantiert. Seine persönliche Meute war schneller raus aus dem Bus als der Blitz, fast als wäre gerade die letzte Stunde vor den Ferien abgeklingelt worden. Er kraxelte hinterher. Vor ihm erhob sich eine Kulisse wie aus den Drogenträumen eines geschmacksverirrten Selbstmörders. Kai wurde etwas flau. Da sollte er rein?! Geschätzt zehn Kilometer freier Fall in einem violetten Ding in Untertassenform?! Kopfüber in diesem hammerförmigen Dingsda?! Wie viele Loopings hatte diese Mordmaschine da denn um Gottes Willen?! Scheiß-neun Punkte!
 

Er drängelte sich an den Schalter für die Gruppentickets, während seine Gruppe wild vor sich hin hibbelnd neben dem Eingangstor wartete. Skia wurde gelegentlich begafft, aber das scherte ihn nicht sonderlich. Die Integration in die Klasse hatte ja eigentlich ganz gut geklappt, nur Max konnte ihn nicht leiden, wahrscheinlich weil er ihm seinen Platz als Alleswisser streitig machte. Aber Max war reflektiert und dachte logisch – letzteres konnte man von Skia nun nur bedingt behaupten, obwohl er Fortschritte machte, bildete sich Kai ein. Ihn zu benoten war dennoch die Hölle – erst einmal begreifen, was er überhaupt meinen mochte, dann die Spreu vom Weizen trennen und dann noch dieses irre Faktenwissen… Aber jeder Mensch hatte seine Besonderheiten, einige allerdings ein paar mehr als andere. Die Sonne schien auf Skias Zopfkonstruktion, dass sie fast golden leuchte, und er beinahe so aussah, wie zur Ausstattung des Freizeitparks gehörig. Eine zum Leben erwachte Märchenfigur…
 

Er schnappte sich die Eintrittkarten, verteilte sie und schärfte ihnen Verhaltensregeln und Treffpunkte ein, dann stoben sie davon. Kai schlurfte hinterher. Im Eingangsbereich befand sich ein pseudo-mittelalterliches Dörfchen, dessen Pappmaschee-Häuser Buden mit überteuertem Krempel und Fressstationen beherbergtem. Es roch aufdringlich nach Frittiertem und Zuckerzeug. Erstmal ein Kaffee…
 

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„Die Märchenbahn ist was für Kinder!“ protestierte Lennard.
 

„Macht nichts, ich will alles einmal ausprobieren!“ bestand Skia. Wirklich witzig hier, echt ein Super-Ausflug, da hatte Mary Sue schon absolut recht gehabt mit ihrem Vorschlag. Die Karusselle… fast wie fliegen. Konnten Menschen ja nicht, eben nur in Maschinen. Er genau genommen auch nicht, aber Großonkel Vlad hatte ihn mal mitgenommen. Hamburg bei Nacht von oben… das war schon recht cool gewesen. Fast hätte er auch gerne solche Fledermausflügel gehabt, aber daran hätten sich seine Haare wahrscheinlich immer verheddert.
 

„Na gut“, gab Lennard nach. „Aber danach ist die Holzachterbahn dran!“
 

„Okay“, nickte Skia. Die Märchenbahn hatte den Vorteil, dass man nicht anstehen musste. Kleine Kinder waren an einem Wochentag hier kaum unterwegs, die kamen eher am Wochenende mit den Familienausflügen. Er schwang sich neben Lennard in ein Gefährt auf Schienen, das wohl eine Kutsche darstellen sollte. Ohne Pferde… wie unlogisch, aber na ja. Das war „Fantasie“ schon kapiert – oder ein Mangel an Pferdefiguren. Lennard mampfte auf einem Kaugummi, das im Stiel seines Eises verborgen gewesen war. Ruckelnd setzte sich der Wagen in Bewegung.
 

Mit offenem Mund starrte Skia hinaus. So sahen die sie?! Der Froschkönig – ein Märchenprinz? Von wegen… der hatte denen das Blaue vom Himmel herunter versprochen und wenn sie ihn dann geküsst hatten, hatte er sie mit seinem Biss gelähmt und ausgelutscht… Der war heutzutage auch nicht mehr so gut drauf. Aschenputtel… eine elende Betrügerin… Rapunzel… was die Prinzen wohl gedacht hatten, als sie auf halber Höhe des Turms langsam erdrosselt wurden? Nichts Gutes auf jeden Fall. Loreley… wuhaha… als hätte seine Mutter einen Muschelbikini im Schrank! Hänsel und Gretel… so sah doch kein Pfefferkuchenhaus aus! Arme Tante Morgana, gut dass sie das hier nicht sah. Schneewittchen… eine verlogene Despotin, aber Zwerge waren auch leichte Beute – Urgroßtante Walburga hatte echt nichts als Ärger mit ihr gehabt. Da hatte man ein Königreich am Hacken, führte Wirtschaftsreformen durch, ließ Straßen bauen, regulierte die Zünfte, und so ein arrogantes Gör funkte einem dazwischen. Undank war der Welten Lohn… Gott sei Dank war er noch so jung, dass man ihn bisher in keiner dieser Stories verwurstet hatte. Er käme da garantiert auch nicht gut weg. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Hoffentlich schubste ihn niemand in einen Ofen oder schmiedete ihm glühende Schuhe an oder so etwas – und hielt das dann für völlig gerechtfertig, da er ja „böse“ sei. Er war nicht böse. Er war bloß kein Mensch. Aber das langte wahrscheinlich auch.
 

Der Wagen hielt, sie stiegen wieder aus, Lennard gähnte. „Okay… oh, Skia, ich glaube, du hast was mit den Augen? Fahrtwind vom „Hammer“? Sind irgendwie gerötet?“ fragte er und sah ihn besorgt an.
 

Uff… Zeit fürs Mittagessen! Er hatte heute so früh raus gemusst, dass er nicht wie üblich bis zwei Uhr etwa durchhalten konnte. Er brauchte Nachschub – aber er war vorbereitet.
 

„Oh“, erwiderte er. „Dann werde ich mal aufs Klo, ich habe Augentropfen dabei… habe da immer wieder Probleme… Allergie… Beeren… vielleicht war da was im Eis?“
 

„Könnte sein“, grübelte Lennard. „Sieht jedenfalls witzig aus, fast als hättest du rosa Augen wie sone Manga-Figur! Soll ich warten?“
 

„Ne, lass mal – geh ruhig schon zur Achterbahn, ich komm dann nach und treffe dich am Ausgang. Kann ja nachher noch damit fahren“, wehrte Skia ab.
 

„In Ordnung“, erwiderte Lennard. „Aber danach sollten wir etwas essen. Ich habe jetzt schon richtig Kohldampf. Pommes und Wurst oder so – richtig was Nahrhaftes, da bringt das Kotzen im Looping doppelt Spaß!“
 

„Äh, okay, ja, Essen ist gut!“ nickte Skia. Dann sah er zu, dass er sich sputete, das Unterfangen war ja nicht ganz unkompliziert.
 

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Nach vier Tassen Kaffee im Zwergendorf meldete sich Kais Blase mit Inbrunst. Musste er wohl mal für kleine Studienräte… hoffentlich waren hier zumindest die Klos normal, der Pilzstuhl von eben war schon ziemlich grenzwertig gewesen. Ein Klo in Form eines den Rachen aufreißenden Kitsch-Gnoms, das hätte ihm jetzt noch gefehlt. Aber er war angenehm überrascht. Alles sauber, kein Dekoterror, eine wahre Oase. Das sollte genutzt werden… Er huschte in eine der Kabinen, verrammelte sie und machte es sich gemütlich. Einfach nur sitzen… schön ruhig hier… das Gekreische aus den Bahnen und das Gedudel der Fröhlich-Musik war hier kaum zu hören. Herrlich.
 

Jemand trat ein und verschwand in der benachbarten Kabine. Kai ließ die Seele baumeln. Gleich musste er wieder daraus, Mary Sue erwartete ihn um zwei… oh weh… keine Chance auf Entkommen, wenn er sich nicht völlig unglaubwürdig machen wollte.
 

Was…? Aus der benachbarten Kabine kam ein Geräusch, dass er so nicht an einem Ort wie diesem erwartet hätte. Das… das hörte sich an, als blase jemand einen Luftballon auf…? Aber okay, nicht seine Sache, die Menschheit steckte voll Irrsinn, wenn jemand das gerne auf dem Klo tat… er hing ja auch hier rum und nutzte das Kabuff als Entspannungsdomizil. Es tat einen merkwürdig weichen Schlag, als etwas zu Boden fiel. Was…? Kurz hielt Kai inne, fühlte sich etwas dumm, dann folgte er dem Impuls und schielte, sich bückend, vorsichtig unter der etwa zehn Zentimeter weiten Lücke am Boden der Abtrennung durch.
 

Zopf. Das war Skias Zopf gewesen, der da zu Boden geplumpst war. Daneben auf dem Fußboden zeichnete sich in der Tat der scharfe Schatten eines Luftballons ab. Das gab das Licht hier aber gar nicht her… da war ein Ausleuchtungskranz drum herum… eine Taschenlampe?! Saß Skia auf dem Lokus, puste Luftballons auf und strahlte sie dann an…?! Eigentlich ging ihn das ja gar nichts an, aber sein… äh, Forschergeist… öh, pädagogische Faszination… ließen ihn nicht los. Der Zopf wurde hoch gezogen, dann kam er wieder runter, Skia hatte das Gummi gelöst. Was denn nun? Wollte der hier ein wenig sauber machen? Mit seiner Frisur? Und einem Luftballon und einer Taschenlampe?!
 

Die Strähnen des Zopfes fielen auseinander als würden sie sich von allein bewegen, Mann musste der gesunde Haare bis in die Spitzen haben, so eine Spannkraft… dann bewegten sie sich in Richtung des Luftballonschattens.
 

Moment mal! Was ging hier ab?! Skias Haar kroch über den Boden, als sei es eine angriffslustige Armee Tausendfüssler. Oh Gott… hatte ihm eins dieser hier enthemmt rumrasenden Gören Ecxtasy in seinen Kaffee geschmissen?! Er halluzinierte doch! Kai merkte, wie sein Unterkiefer gelähmt herab hing, konnte sich aber ums Verrecken nicht regen. Die Haarflut stürzte sich auf den Schatten, schien zu wabern wie eine brodelnde Fuhre Lava, dann zog sie sich zurück. Hätte eigentlich nur noch ein Rülpser gefehlt. Der Schatten des Ballons war weg. Quatsch, Skia hatte den Ballon fort genommen… das Licht der Taschenlampe war noch da… aber der Schatten war weg.
 

Oh Gott! Oh Gott! Er war verrückt geworden! Oder der da… Was trieb der da?! Das war doch… Ein leise pfeifendes Geräusch war zu hören, als würde Luft aus einem Ballon gelassen, dann begann Skia erneut zu pusten, der Schatten eines länglichen Ballons erschien. Erneut wuselten die Haare los… und fraßen den Schatten auf. Nein… sie… Kai blinzelte mit tränenden Augen… er konnte es sehen, staubkorngroße schwarze Bröckchen lösten sich und sausten wie von einem Magneten angezogen in die Richtung, in der Skia sitzen musste. Nein, das war doch nicht wahr! Skia fraß Schatten… Gudrun… Blödsinn! So etwas gab es doch nicht! Aber Gudrun… Comic-Gudrun… Oh Gott! Aber warum sollte Skia so etwas tun, er war doch überhaupt nicht… aber wer steckte schon in den Menschen… wenn er Hunger gehabt hatte… aber das… kein Mensch… Er hatte begonnen zu spinnen! Oh mein Gott – und noch so lange bis zur Rente! Er wollte nicht ins „Sanatorium“! Nicht jetzt schon! Und Hundehaltung war da gewiss verboten! Er durfte nicht durchdrehen, Floffi, die Schüler, seine Eltern brauchten ihn doch!
 

Taumelnd raffte er sich auf, während nebenan ein weiterer Ballon aufgeblasen wurde.
 

Skia Holgerson… Tigertrauma-Inderschwede? Mitnichten… Skia Holgerson war irgendetwas Anderes… Harmloser Wahnsinn? Aber die Haare hatten sich bewegt, ganz von alleine… nein, das hatte er sich eingebildet… nein, er hatte es doch gesehen… oh Gott!
 

Er musste hier raus, wieder zurück unter Menschen… irgendwo… Realität… oh Gott, Mary Sue, komm und rette mich!
 

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Sie tat ihm den Gefallen. Völlig willenlos ließ er sich in Richtung der höchsten, schnellsten, angsteinflößensten Dummbatzen-Schleuder schleifen, einer Loopingbahn von irrwitziger Höhe, unendlich vielen Verknotungen und Zahlfleischbluten verursachender Geschwindigkeit. Es war ihm völlig schnuppe, die Wirklichkeit spielte sowieso total verrückt, was sollte er sich da noch aufregen? Alles schien so normal, seine breit grinsenden Schüler, die ihn feixend in die erste Reihe beförderten, die Sonne am Himmel, der Geruch nach Pommes.
 

Etwas Weiches, hatte Gudrun gesagt… Haare! Blödsinn! Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn! Skia…
 

Oh Gott! Nicht auch noch das! Skia kam angeflitzt, dann hopste er auf den letzten Drücker auf den einzig noch leeren Platz in der Bahn. Den neben ihm. Nein! Nein, nicht jetzt, er musste erst wieder klar denken können!
 

„Huch, Herr Wiesenblum!“ entfuhr es Skia, als er ihn bemerkte. „Soll ich wieder raus, wegen der Allergie?“
 

„Ja, das wäre…“, erwiderte Kai schwach – aber es war zu spät, die Sicherheitsbügel gingen runter, sie saßen fest. Aus dem Augenwinkel musterte er Skia, das bleiche, freundlich lächelnde Gesicht, die zarte, etwas spitze Nase, den breiten Mund und diese merkwürdigen farblosen Augen. Apart… aber doch nicht unmenschlich. Aber wer hatte denn solche Haare von Natur aus? Wer erzählte solche Geschichte? Wer wusste zwischen Realität und Fiktion nur unter Schwierigkeiten zu unterscheiden und rätselte über moralische Standarts, als habe er noch nie davon gehört? Und wer löste so seltsame Reaktionen bei ihm aus… was stellte der mit ihm an?! Wer war der?!
 

Die Bahn raste los, Kai krallte sich am Handgriff fest, scheiße, ihm war schlecht, zu schnell zu viel… Sie segelten in die erste Kurve, er wurde nach vorn geschleudert, irgendetwas klackte. Sein Blut verwandelte sich in Eis. Fassungslos griff er nach vorne. Der Brustbügel war locker, oh Gott!
 

„Hilfe, Scheiße, haltet das beschissene Ding sofort an!“ schrie er panisch auf, jede zurückhaltende Ausdrucksweise völlig vergessend. Aber niemand hörte ihm in dem Gebraus, erst recht niemand, der es ernsthaft hätte stoppen können. Niemand – außer Skia. Ein weißer Arm schoss zur Seite und legte sich vor seine Brust. Das war zwar nett gemeint – aber das half leider gar nichts! Er würde draufgehn, einfach rausplumpsen aus dieser überflüssigen, beschissenen Idiotenbahn, sich den Schädel brechen – für nichts und wieder nichts! Die würden in der Bildzeitung über ihn schreiben! Gnade! Mary Sue würde als Klassensprecherin eine Grabrede auf ihn halten – und aus dem Jenseits konnte er ihr dafür nicht einmal mehr null Punkte geben! Nein! Er dachte es nicht nur, er schrie wie am Spieß. Sie rasten abwärts, vor ihnen eine Spirale und dann die Loopings – ein paar Sekunden nur, dann hieße es freier Fall und vorbei. Warum war er bloß Lehrer geworden und nicht Büroschnarchsack?! Dann läge jetzt noch ein langes, ödes Leben vor ihm… Oh Gott… mach dich bereit, gleich bin ich bei dir…
 

Sie brausten aufwärts, die Welt kippte, Kai betete wie ein Irrer, plötzlich zum Glauben zurück gefunden habend, den er intellektuell eigentlich längst abgehakt zu haben meinte. Aber jetzt gab’s nichts anderes mehr… außer Gott und Skias Arm vor seiner Brust, von der aus Schmerzwellen durch seinen Körper tobten. Aber das war jetzt auch egal. Sie erreichten den Gipfel… und abwärts ging es wieder. Zitternd blickte Kai an sich herab. Was…? Er saß noch…? Skia… hielt ihn fest. Das ging nicht, nicht bei seinem Gewicht und dieser Beschleunigung. Aber er tat es – mit einem Arm und ohne sichtliche Anstrengung. Als sei Kai aus Watte und nicht aus Fleisch und Blut. Der nächste Looping donnerte heran. Skias Arm blieb und hielt ihn. Einfach so. Fassungslos starrte Kai an sich herab, vor seinen Augen tanzten Farben, er stand wahrscheinlich unter Schock. Nicht die Kugelstoßerkugel werfen als sei sie ein Lederball… Wer zur Hölle war Skia?! Der Sohn des Herkules?! Er konnte ihn doch nicht einfach festhalten…
 

Irgendwann hörte es auf. Kai krabbelte mit letzter Kraft aus seinem Sitz, sein Herz raste, ihm war heiß, ihm war kalt, alles stand auch ohne Looping total Kopf, aber immerhin lebte er noch. Skia hielt ihm am Oberarm fest, während er wankte. Er hörte noch ein besorgtes, etwas ängstliches: „Herr Wiesenblum?“, dann fiel er um, und es wurde schwarz.
 

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Als Kai wieder zu sich kam, war er im Krankenhaus. Er war mehrere Stunden lang ohnmächtig gewesen. Nach Auskunft der Ärzte hatte er einen Schock erlitten, außerdem habe er Fieber und einen merkwürdigen Ausschlag auf dem Rücken – der schmerzte wie die Hölle.
 

Seine verstörte Klasse hatte den Notarzt informiert, dann waren sie nach Rücksprache mit der Schulleitung heimwärts gefahren. Sie hatten sogar noch geschafft, ihm eine Genesungskarte mit all ihren Unterschriften zukommen zu lassen. Eine Diddelmaus mit Lutscher, die „Gute Besserung“ wünschte. Und so etwas unterrichtete er in Kunst! Schon wieder eine Genesungskarte… er war echt im Arsch… was war mit ihm los?!
 

Es musste schon vorher angefangen haben… Halluzinationen… Skia auf dem Klo beim Luftballonschattenfressen… nein… dann die Loopingbahnfahrt des Fast-Todes… Aber der Bügel war wirklich locker gewesen, das hatte man ihm bestätigt – die würde er verklagen, bis ihnen ganz anders wurde! Von dem Schmerzensgeld würde er sich ein Ferienhaus am Meer kaufen! Und nicht auf Malle! Vielleicht würde er die Kohle auch gut brauchen, wenn er arbeitsunfähig würde… Oh Gott… er musste dringend Veronika anrufen, sie hatte seinen Notfall-Wohnungsschlüssel, Floffi war garantiert schon am Durchdrehen!
 

Kai starrte die Decke an. Was stimmte mit ihm nicht? Er fühlte eine Woge der Verzweiflung. Er hatte eine ominöse Krankheit, das ließ sich nicht wegleugnen – und er verlor langsam den Verstand. Skia… hatte im doch eigentlich gar nichts getan… war immer nur freundlich und nervtötend bemüht… und er war drauf und dran, ihn für ein Fantasy-Gruselmonster zu halten, weil er langsam durchknallte… das hatte Skia doch echt nicht verdient…
 

Die Welt war doch total irre geworden! Er dachte an Gudrun. Sie war doch auch immer ganz nüchtern und vernünftig gewesen – und dann das. War er jetzt an der Reihe? Er hatte da genauso wenig Antworten drauf wie sie, aber es musste doch welche geben!
 

Skia Holgerson mochte einen Knall haben und komische Geschichten erzählen, vielleicht hatte er auch wirklich Schlimmes erdulden müssen, dafür hielt er sich ganz gut… Aber er war ein Mensch, kein… Schattenfresser.
 

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„Tante Morgana? Ich habe Mist gebaut“, beichtete Skiaphagos mit hängendem Kopf und hängenden Zöpfen.
 

Sie sprang vom Sofa auf, wo sie sich gerade unter Zuhilfenahme des Couchtisches die Zehennägel rot lackiert hatte. „Was?!“ pfiff sie ihn an. „Hast du etwa noch wen entschattet, du blöder…“
 

„Nein!“ sträubte er sich. Er hätte darauf wetten können, dass Leviathan auf seiner Stange ihn hämisch angrinste. Fiese kleine Möchtegern-Echse… Der konnte von Glück reden, dass Drachentöten außer Mode gekommen war… Bei dem hätte allerdings auch eine Stiefelsohle gereicht… „Ich… ich… also…“, stammelte er los.
 

Sie baute sich vor ihm auf und starrte ihn mit funkelnden Augen an. „Spuck’s aus!“ fauchte sie.
 

Er atmete tief durch. „Also… Ich saß neben Herrn Wiesenblum in der Loopingbahn, und dann hat sein Haltebügel nicht funktioniert. Er wäre rausgeflogen – und das überleben Menschen doch nicht? Ich hab’ ihn festgehalten… nur ein klein wenig… so dass er nicht stirbt… Und jetzt hat er einen Schock und Fieber und seine Allergien und liegt im Krankenhaus. Mary Sue hat ihm eine Karte geka…“
 

„Was hast du dir dabei gedacht!“ fuhr sie ihn an.
 

Skia sah sie trotzig an. „Ich wollte nicht, dass er raus fällt! Ich mag Herrn Wiesenblum! Er ist mein Klassenlehrer!“ erwiderte er stur und faltete die Arme vor der Brust. Eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem Vater kam durch.
 

„Du sollst doch nicht auffallen, dass wer drauf kommen könnte, dass du kein Mensch bist! Denk an das, was dir blüht, wenn du versagst!“ giftete sie ihn aufgeregt an.
 

„Ich weiß!“ gab Skiaphagos zu und breitete die Arme aus. „Aber ich konnt’s nicht. Ich konnte ihn nicht sterben lassen…“
 

Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann meinte sie, wieder etwas ruhiger: „Skiaphagos, du bist ein guter Mensch – und das ist kein Kompliment, weil du nämlich leider kein Mensch bist! Menschen sterben ständig an allem Möglichen! Das ist nicht unsere Welt, wir betreten sie zwar, aber wir gehören nicht dazu. Du wirst wahnsinnig, wenn du die Grenze nicht ziehen kannst. Denk an Deine Cousine dritten Grades, Ariell, hat sich in diesen Menschenmacker verknallt, so weich war die im Hirn – der sie nicht mal wollte. Dennoch musste sie zusehen, wie er langsam alterte und schließlich verreckte an der Seite einer Menschenfrau, dämliche Masochistin. Das hat ihr den Rest gegeben, das war’s dann mit ihr. So etwas passiert, wenn man so blöde ist, die Grenze wirklich zu überschreiten! Da ist kein Platz für uns! Und für sie nicht bei uns! Auch wenn du deinen Lehrer magst – wenn seine Zeit gekommen ist, dann ist sie gekommen. Früher oder später wird das sowieso passieren, das kannst du nicht verhindern. Dein Herr Wiesenblum, Mary Sue, Lennard, der blöde Max… das ist ihr Los. Aber nicht deines. Du kannst sie nicht retten – und das darfst du auch nicht, sonst erfahren sie von uns! Du magst als Probe den Menschen spielen müssen, aber du bist und bleibst Skiaphagos, Schattenfresser. Du magst dich gerade freuen wie der letzte Doofmann, weil du eine zwei in der Geschichtsklausur geschrieben hast – aber das ändert gar nichts daran, dass das für dich keine wirkliche Rolle spielt! Du brauchst kein Abitur! Du wirst nie arbeiten müssen, um dich zu ernähren! Du alterst nicht wie ein Mensch! Du stirbst nicht gegen deinen Willen! Du bist unendlich viel stärker, schneller und geschickter als ein Mensch! Hat Herr Wiesenblum begriffen, was du getan hast, hat er einen Verdacht?!“ fragte sie angespannt.
 

Skiaphagos sah sie aus großen rosa Augen an, die Luftballonschatten hatten nicht lange vorgehalten – aber sehr patent, großer Schatten, wenig Gepäck, gut zu entsorgen… Es stimmte ja, er war kein Mensch. Aber Herrn Wiesenblum einfach so stürzen lassen…? Er hatte solche Angst gehabt… Okay, Angst war lecker für einige von ihnen, aber sein Geschmack war sie nicht. Er hatte nicht lange nachgedacht, es einfach getan, das war sein Problem. Zu menschlich… oh Gott, wenn seine Eltern das hörten! Wie peinlich! „Ich weiß nicht“, antwortete er zögerlich. „Er war ziemlich am Schreien, hat gebetet und so… vielleicht nicht…“
 

Morgana biss sich in die Unterlippe und ging zu Leviathan hinüber, um ihn zur – eigenen – Beruhigung ein wenig zu kraulen. „Wir müssen das raus bekommen. Wahrheitstrank… Vergessenstrank… damit überschreite ich meine Befugnisse… aber du hast ja nicht noch wen entschattet, immerhin… wehe dir, wenn du es noch Mal so verbockst! Noch mal rette ich dir nicht den Arsch und halte dabei den Kopf für dich hin! Ich werde echt altersmilde… Scheiß-Kindergartenpädagogik, das macht mich langsam wohl ganz morsch… Wie machen wir das am besten…“
 

„Danke, Tante! Danke! Ich will nicht zu den Fischen… Und Herrn Wiesenblum die Tränke unterjubeln… In der Schule ist’s schlecht“, grübelte Skiaphagos mit und ließ sich, sichtlich erleichtert über den Beistand, in einen der für ihn viel zu zierlichen Sessel fallen.
 

„Mmm… wie kriegen wir ihn geschnappt, möglichst allein und so, dass es keiner mitkriegt…“, murmelte Morgana.
 

Plötzlich erhellte sich Skiaphagos Gesicht. „Ich hab’s!“ verkündete er entzückt. „Die Strafpunkte! Ab hundert Strafpunkte besucht einen Herr Wiesenblum zu Hause, um ein ernstes Gespräch zu führen!“
 

„Dazu musst du dich doch vorbei benehmen“, wandte Morgana mit zusammen gezogenen Brauen ein und drehte sich zu ihm um.
 

„Ja! Aber auf Menschenart! Ich kann sagen der Drachen habe meine Hausaufgaben verbr… äh, der Hund habe sie gefressen! Kaugummi kauen! Zu spät kommen! Oh Gott… ich will das aber gar nicht…“, machte er eine hundertachtzig Grad Wendung.
 

„Du brauchst keine guten Noten um Himmels Willen, du Weichei! Aber das könnte klappen… Okay“, gab sie zu, schwang sich auf die Couch und musterte verdrossen ihren zermatschten Nagellack.
 

„Aber“, gab Skiaphagos zu Bedenken, „was machen wir mit der Villa? Leviathan? Deinem Zauber-Krempel? Dem Pfefferkuchenhaus?“
 

„Bisschen umdekorieren… Großes Tuch über den Pfefferkuchen… Dein Drogerie-Kram ins Gäste WC… Leviathan bekommt einen Tarnzauber notfalls… Das kriegen wir schon hin… beziehungsweise ich kriege das hin, und du schleppst. Vielleicht bekommen wir ja bei der Sache auch heraus, was es mit Wiesenblums komischen Allergien auf sich hat – falls die wirklich was mit dir zu tun haben sollten, vielleicht ist der Kerl auch ein Hypochonder. Aber momentan liegt er ja noch im Krankenhaus?“ fragte sie.
 

„Ja. In Heide“, bestätigte Skiaphagos.
 

„Hoffentlich plappert er nicht irgendetwas, bevor wir ihn zu fassen kriegen. Gott sei Dank tendieren die Menschen ja dazu, derartigem Gerede nicht zu glauben, aber man kann nie wissen, wenn die Beweise sich häufen… – aber so wie du Herrn Wiesenblum beschrieben hast, will der doch auch nicht als Idiot dastehen, auch wenn er gerade durch den Wind sein sollte. Die Tränke dauern eine Weile, der Vergessenstrank muss etwa eine Woche ziehen, bevor er richtig wirkt und nicht versehentlich das ganze Gedächtnis löscht statt der Teile, auf die es ankommt. Und das wäre ja auch ziemlich ungut, wenn Herr Wiesenblum beim Hausbesuch bei uns eine Totalamnesie bekommt, so etwas fällt dann auch wieder auf. Wir müssen raus bekommen, was er meint zu wissen und mit wem er darüber geredet hat – und dann den Trank modifizieren und weg damit aus seiner Birne. Notfalls Mitwisser schnappen, Schadensbegrenzung betreiben. Hier geht das ja noch – bei deiner Entschattungsaktion war das nur bedingt möglich, das Ergebnis lag bereits klar auf der Hand, bevor der Rat handeln konnte. Und statt sich darum zu kümmern, haben die lieber erst einmal über deine Bestrafung debattiert, diese cholerischen Flachbirnen. Na ja“, arbeitete Morgana ihren Plan weiter aus.
 

„Okay“, nickte Skiaphagos. „Ich warte, bis Herr Wiesenblum wieder in der Schule ist – und dann lege ich den Schulversager hin?“
 

„Schulversager, Rebellen, Chaoten, was auch immer. Aber schaff Herrn Wiesenblum ran!“ orderte sie und griff nach dem Nagellackentferner.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  eden-los
2011-07-21T11:40:24+00:00 21.07.2011 13:40
skia nascht luftballonschatten? das is ja mal richtig ulkig. XD
armer Kai, der muss mit den nerven ja völlig alle sein.
freu mich schon aufs nächste kapi.

lg eden ^^


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