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Schattenfresser

von

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Barbarellas Spickzettel

VIII. Barbarellas Spickzettel
 

Was denn nur? Für strapaziertes Haar? Nee… Getönt? Nee… Schuppig? Er kam da nicht nach Mama…Lang? Ja, das kam hin. Die Pulle war ja total winzig. Für wie viel reichte das? Eine Wäsche vielleicht. Besser mal alle mitnehmen, die da waren.
 

Seife. Dove? Da waren Tauben drin? Igitt, Luftratten, das kam ihm nicht auf die Haut, da war er eigen. Oh, hier gab es auch Duschgel, cool. Das hatte er noch nie gehabt. Vanille? Arabische Träume? Für echt Männer? Für echte Männer roch total nach künstlichem Sandelholz, was ein Widersinn… Lollipop? Lutscher mochte er. Das roch lecker… wie Maoam. Hatte Maoam eigentlich was mit diesem chinesischen Kommunisten Mao zu tun? Gehörte dem das? Aber wie passte Fruchtgummi zu Kommunismus?! Egal, weiter.
 

Deo. Lennard hatte sich nach dem Sportunterricht total damit ein gedieselt. Mit dem für Männer. Gehörte wohl dazu. „Discoqueen“ roch definitiv besser.
 

Handcreme? Hatte er noch nie benutzt. Hatte Herr Wiesenblum aber nach gefragt. Musste wohl sein zur Tarnung. Anti Aging? Dazu konnte er sich wahrscheinlich auch auf die Finger pinkeln. Nee… Einfach das Rosane, das passte farblich zum Rest.
 

Zahnpasta. Wie viele Sorten gab es bitte?! Kein Fischgeschmack. Minze. Bäh. Da gab’s was mit Frucht, halleluja!
 

Nagellack? Brauchte er das? Ein paar von den Fernsehstars trugen welchen, aber war wohl eher für Frauen. Notfalls besser was haben. Schwarz hatten die immer, okay.
 

Parfüm? Hey, es gab das von Britney Spears! Toll.
 

Kondome mit Geschmack?! Wozu sollte das denn gut sein? Die aß man doch nicht, das wusste selbst er! Aber von menschlicher Sexualität verstand er anscheinend wirklich nichts. Die Dinger waren gegen Schwangerschaft – okay, so lief das bei denen. Und Krankheiten. Bekam er nicht. Das konnte er sich so oder so sparen, außerdem waren das auch seine eigene Art betreffend fremde Welten.

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„Tada!“ sagte Morgana.
 

In der Einfahrt stand etwas, von einem dunklen Tuch bedeckt. Skia hatte ein leicht mulmiges Gefühl in der Bauchgegend. Es gab doch überhaupt nichts zu feiern, oder hatte er da was verpasst? „Was… was ist denn das?“ fragte er vorsichtig. Es war Samstag, außer Hausaufgaben nichts zu tun. Konnte er eben mehr schreiben und ordentlich büffeln. Dieser Maiose-Mitose-Kram aus Bio leuchtete ihm gar nicht ein. Die Natur wuchs – wozu der Aufstand? Die restlichen Tage der Woche hatte er ganz gut hinter sich gebracht. Mary Sue hatte ihm Frisurtipps gegeben, die er allerdings kaum in die Praxis würde umsetzen können, da er sich schon allein wegen seiner Essgewohnheiten nicht das Haar mit Haarspray verkleben konnte. Lennard hatte ihn für „okay“ befunden. Max hatte versucht, mehr in Geschichte zu wissen als er – aber ätsch! Fünfzig Jahre Fernsehen konnte der so schnell nicht toppen, außerdem war er ein Zeitzeuge. Für seine Stillarbeit hatte er eine Drei – keine Sechs! - bekommen. Ein richtiges Lehrerkürzel hatte darunter gestanden. Wb. Wiesenblum. Herr Wiesenblum war vorsichtshalber ziemlich auf Distanz geblieben, die Allergie, klar, hatte er gegoogelt. Musste echt scheiße sein. Armer Herr Wiesenblum. Er hatte in der Drogerie noch eine kleine Karte mit „Gute Besserung“ und ein paar Blumen drauf gekauft, „wünscht Skia“ drunter geschrieben und sie Herrn Wiesenblum diskret nach der letzten Stunde am Freitag überreicht. Das machte man doch so? Zumindest hatte er „Danke“ gesagt, na ja „Öh…danke…“, aber das war ja dasselbe. Hoffentlich half das. Für Heilungsprozesse spielte ja angeblich auch die Psyche eine Rolle.
 

„Na, was ist?“ trieb ihn Morgana an. Sie trug mindestens zehn Zentimeter hohe, knallgelbe Stilettos aus Schlangenleder. Oder irgendeiner anderen Echse. Garantiert kein Drachen.
 

„Okay…“, erwiderte Skiaphagos und bemühte sich um ein begeistert-neugieriges Grinsen, obwohl ihm nichts Gutes schwante. „Dann schau ich mal…“ Er trat vor und zupfte vorsichtig an dem Tuch. Und glotzte.
 

„Na, was ist, jeder Neunzehnjährige würde jetzt ausflippen vor Freude?“ ging ihn Morgana breit lächelnd an.
 

„Ich… äh… danke, Tante Morgana… für den tollen Roller“, erwiderte er etwas lahm. Oh Gott! Er sollte dieses… Ding! fahren…
 

Der Rolle war knallrot und niegelnagelneu, ein wirklich schickes Modell, aber er sah sich darauf irgendwie noch nicht oberlässig durch die Gegend kurven.
 

„Aber… äh… Ich habe doch gar keinen Führerschein!“ versuchte er sein Schicksal noch etwas hinaus zu zögern.
 

„Jetzt schon“, meinte Morgana nur trocken. „Haben sich Urgroßonkel Rumpel und Stilzchen drum gekümmert – ohne Zauberei, ganz klassisch gut gefälscht.“
 

Rumpel und Stilzchen waren bis zu dieser leidigen Episode mit dieser unfähigen Tussnelda und ihrem raffgierigen Prinzen siamesische Zwillinge gewesen, an der Hüfte zusammen gewachsen. Sie hatten sich den Familienerzählungen zufolge vor Frust über diese Sache in einem fürchterlichen Tobsuchtsanfall auseinander gerissen, hatte wehgetan wie die Hölle. Wie auch immer, im Fälschen waren sie erste Klasse, sollte man auch sein, wenn man sich von Gier ernährte. Der Führerschein würde hieb- und stichfest sein, genauso wie sein Personalausweis auf den Namen „Skia Holgerson“, der auch aus ihrer Feder stammte. Verdammt.
 

„Nun mach schon! Rauf mit dir da!“ kommandierte Morgana und drückte ihm die Schlüssel in die Hand.
 

„Äh… aber ich kann doch gar nicht fahren…“, protestierte Skiaphagos, von seiner resoluten Tante vorwärts geschoben.
 

„Jetzt zier dich mal nicht so“, erwiderte sie unbeeindruckt und trat ihm, wahrscheinlich unabsichtlich, vielleicht aber auch nicht, mit ihrem Stiletto in die Hacken. „Deine Koordination ist doch tausendmal besser als die eines Menschen, wenn du dich ranhältst. Schließlich kannst du auch deine Mähne lenken, dagegen ist so ein Roller ein Kinderspiel. Außerdem – was soll schon groß passieren? Dir jedenfalls nichts, alles, was du lernen musst, ist die Sterblichen nicht über den Haufen zu fahren. Drinnen liegt ein Buch über die Verkehrsregeln, die lernst du und fertig. Und jetzt kannst du erstmal hier im Wald ein wenig antesten, auf den Wegen hier fährt fast nie jemand, ideales Übungsterrain.“
 

„Okay, okay“, gab Skiaphagos nach und schwang sich auf den Sitz. Nun gut, so übel war das gar nicht. Schon irgendwie ganz cool. Aber… „Was mache ich mit meinen Haaren?“ wollte er wissen. Er hatte sie heute, an seinem freien Tag, nur locker zu einem Pferdeschwanz gebunden, der jetzt als riesige Kaskade über das Heck des Rollers hinab wallte und den Boden darum herum bedeckte. Das war wenig praktikabel.
 

„Hier!“ meinte Morgana, schob einen Teil seiner Haare zurück und deutete auf zwei links und rechts angebaute Gepäckfächer, in die armdicke Öffnungen eingelassen waren, deren Ränder mit Gummi abgedichtet waren. Perfekte Passform für seine Zöpfe.
 

„Sonderanfertigung“, grinste sie. „Nicht ganz billig, aber wer zahlt, wird auch nicht mit blöden Fragen gelöchert. Rein da!“
 

Er stopfte, so gut es ging, bis er ein wenig so aussah, als würde der Roller ihn an die Zügel nehmen und nicht anders herum. Aber so dürfte es gehen, durch die Gummiränder hielt es, ohne völlig unflexibel zu sein.
 

„Und los!“ meinte Morgana. Er drehte innerlich ein wenig schluckend den Zündschlüssel herum, probierte unter ihrer Anleitung ein wenig alles aus, bis er wusste, welcher Hebel für was gut war, dann drückte er vorsichtig aufs Gas. Ein wenig schlingernd kam er in Fahrt und eierte die Auffahrt hinunter. Sein Herz klopfte, es war schrecklich ungewohnt, nicht zu laufen oder zu schwimmen oder meinetwegen auch zu fliegen, sondern zu fahren. Der Motor brummelte unter ihm, er fühlte sich leicht durchgeschüttelt, konzentrierte sich auf den Weg, dann kam er langsam in Fahrt und der Wald rauschte an ihm vorbei, während die Eichhörnchen nur so flohen.
 

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Fassungslos starrte Kai am Montagmorgen durch das Fenster seines etwas in die Jahre gekommenen, kackbraunen Opels, als vor ihm etwas über den Schulparkplatz gurkte, das ein wenig aussah wie ein Wesen vom andern Stern.
 

Skia Holgerson war unter die Rollerfahrer gegangen. Ein sehr schicker roter Roller, das musste man ihm lassen. Und jetzt saß dieses lange Elend mit stolzgeschwellter Brust darauf wie der Affe auf dem Schleifstein. Seine Zöpfe hatte er in einer wahnwitzigen Konstruktion in den Seitentaschen verstaut, aber die Krönung war der Helm. Rot, wie der Roller, mit einer Auslassung am Hinterkopf, durch die seine Haarflut nach außen drang. Wo bitteschön gab es denn so etwas zu kaufen? Bei den Hells Angels Bombay? Er sah aus wie eine Figur aus einem 60er Jahre Comic. In dem Aufzug hätte er bei „Barbarella“ mitspielen können.
 

Skia parkte in der Reihe mit den anderen Rollern, Mopeds und Motorrädern, befreite sich unter argem Gestrampel aus den Seitentaschen und vom Helm. Dann langte er hektisch nach seiner Schultasche, die im mittigen Transportfach untergebracht war.
 

Kai linste auf die Uhr. Es war halb neun. Er hatte heute zur zweiten Stunde – aber Skia hatte es nicht. Er kannte den Plan seiner Klasse. Skia hatte jetzt Bio – und nicht Rollerfahren.
 

Entschlossen stieg er aus und lief zu ihm hinüber, einen gewissen Sicherheitsabstand wahrend. Am Wochenende war er zunehmend genesen, auch war es davor nicht mehr allzu schlimm gewesen, da er sich den potentiellen Allergieschocker vom Leibe gehalten hatte. Diese komischen Linien auf seiner Rückseite waren kaum noch zu sehen, auch juckte es ihn nicht mehr, obwohl Dr. Taube seinen halben Rücken mit irgendwelchen Proben voll gepflastert hatte. Aber davon schien nichts ein Volltreffer zu sein, er spürte jedenfalls gar nichts. Dennoch hatte er sich am Wochenende ein wenig hängen gelassen, hatte sich die neuste DVD-Box „Dr. House“ besorgt und sich gemeinsam mit Floffi darüber königlich amüsiert. Okay, Floffis Humor war es nicht gerade gewesen, aber der brauchte auch keinen besonderen Anlass, um sich zu freuen wie blöde. Und im Verhältnis zu Dr. Houses Patienten hing bei ihm ja durchaus der Himmel voller Geigen, sehr beruhigend. Und dann noch Skias komische Genesungskarte… Schon wieder so eine merkwürdige naive, aber völlig aufrichtig gemeinte Wahnsinnsaktion. Welcher Schüler jenseits der vierten Klasse machte so etwas? Antwort: Skia Holgerson. Aber vielleicht war Skia gar nicht so wahnsinnig, zumindest nicht in Hinsicht auf die Karte, vielleicht war er selbst lediglich ein wenig zu zynisch, um hinter so etwas nicht gleich Verrat oder Beknacktheit zu vermuten. Was hätte Dr. House wohl dazu gesagt…? Aber er war nicht Dr. House. Und irgendwie war diese Blümchenkarte auch irgendwie anrührend gewesen, auch wenn er in ihr kontaminiertes Terrain vermutete.
 

Apropos Blümchen… Je näher er Skia kam, desto merkwürdiger roch es. Skia roch… wie Minni Mouse. Oder eine neunte Klasse voller pubertierender Mädchen. Oder eine Bonbonfabrik. Ihm wurde leicht schwindelig, obwohl sie draußen standen.
 

„Guten Morgen, Herr Wiesenblum!“ grüßte Skia mit schuldbewusster Miene. Aha, der wusste also haargenau, dass er zu spät war.
 

„Guten Morgen, Skia – dir ist schon bewusst, dass du zu spät bist?“ fragte er ihn streng.
 

Skia ließ den Kopf hängen, seine Zöpfe dippten in den Staub. Eine weitere Woge synthetischer niedlich-Gerüche traf Kai. Der Junge hatte doch sonst Geschmack…? Oder war das jetzt in, von wegen metrosexuelles Styling? Ich bin ein Kerl, aber ich dufte nach Himbeere? Und Zuckerwatte? Und rosa Rose? Irgendetwas Karamelliges war auch darin.
 

„Ich weiß“, murmelte er. „Es tut mir leid, Herr Wiesenblum…“
 

Irgendwie kam gar keine Ausrede. Hallo? Du bist ein Schüler, du hast doch eine Ausrede…? Wecker kaputt? Stau? Tante/Busfahrer/Welt im allgemeinen hat…, obwohl ich…, und deswegen bin ich natürlich völlig schuldlos?! Nichts kam. Da musste er wohl selber ran. „Und weshalb bist du zu spät?“ fragte er.
 

„Die Polizei hat mich angehalten wegen meiner Zopflösung“, erwiderte Skia und sah ihn an. Seine Augen hatten ein merkwürdig fahles Grau, jetzt in der Morgensonne noch deutlicher hervortretend als sonst. Diese Erklärung war durchaus plausibel.
 

„Aha – und was haben sie gesagt?“ hakte Kai nach, ein wenig neugierig war er schon, wie andere deutsche Beamte auf Skia so reagierten.
 

„Sie haben mich verwarnt und meinten, ich brauche eine Sondergenehmigung für den Helm und so“, beichtete Skia. „Aber sie haben mich fahren gelassen, weil ich es ihnen versprochen habe und doch zur Schule musste!“
 

„Das ist… sehr löblich. Aber verwarnen muss ich dich jetzt leider auch. Darum hättest du dich früher kümmern müssen, jetzt bist du zu spät. Fünf Strafpunkte für je zehn Minuten, damit kommst du auf weitere fünfzehn, fünfundfünfzig jetzt insgesamt. Skia, ich weiß, dass das für dich alles sehr ungewohnt ist, und dass du deswegen Fehler machst. Aber du willst doch behandelt werden, wie jeder andere auch?“ fragte Kai nachsichtig.
 

Skia nickte, obwohl seine Augen kugelrund geworden waren. „Sicher“, sagte er tapfer. „Ich will ein Schüler sein wie alle anderen hier auch.“
 

„Na, dann komm, vielleicht bekommst du dann wenigstens noch die Biohausaufgaben mit“, meinte Kai und wandte sich zum Gehen. Skia schloss sich ihm an, die Schultasche unter dem Arm, den merkwürdigen Helm in der Hand, gefolgt von seinen Haaren und seiner Duftwolke.
 

„Geht es Ihnen besser?“ fragte er Kai.
 

„Mmm, ja danke“, murmelte er und machte vorsichtshalber noch einen Schritt zur Seite, um das bloß nicht zu ändern.
 

„Ist es besser…so?“ wollte Skia wissen und gestikulierte kreisförmig durch die Luft.
 

„Was meinst du?“ fragte Kai verblüfft.
 

„Na, die anderen Kosmetika, Deo und so – damit Sie nicht allergisch auf mich sind“, erklärte Skia aufrichtig.
 

Also deswegen… Aber warum dann unbedingt dieses Blümcheninferno…? „Skia, du musst wegen mir wirklich nicht so einen Aufstand machen. Wir wissen ja noch gar nicht, woran es liegt. Du musst dir wegen mir echt nichts neu kaufen“, protestierte Kai halbherzig. Aber es war wieder typisch Skia, tat sonst etwas beim kleinsten Anlass und übertrieb da maßlos, ohne es zu bemerken. Aber irgendwie nett war es schon, obwohl Kai sich ziemlich seltsam davon fühlte, dass ein Schüler sich wegen ihm mit neuen Pflegeartikeln eindeckte – aber es ging ja um seine Gesundheit, da war diese Geste vielleicht sogar wirklich nicht nur symbolisch, sondern wirklich hilfreich.
 

„Ach, macht nichts“, winkte Skia ab, als sie die kühle Eingangshalle betraten, „hat Spaß gebracht. Was es da nicht alles gibt… und diese Verpackungen… Wirklich kein Problem, Herr Wiesenblum.“
 

Verpackungen? Hatte er alles gekauft, was schön bunt war? Er war doch nicht zwölf… aber manchmal schon, irgendwie, auch wenn er nicht so aussah. „Na dann – danke Skia. Und… schicker Roller“, meinte Kai, irgendwie das Gefühl habend, sich revangieren zu müssen.
 

Ein Lächeln breitete sich über Skias bleiche Zügen aus. Er hatte sehr weiße, gerade Zähne, der Traum eines jeden Dentisten – um damit Werbung für Bleaching und kosmetische Zahnkorrekturen zu machen. „Vielen Dank, Herr Wiesenblum!“ strahlte er.
 

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„Mary Sue?“
 

„Heidepark!“ schlug sie vor. Es war die sechste Stunde, es galt den nahen Wandertag zu planen, da wurde die Belegschaft doch gleich entgegen ihres normalen Zustandes zu dieser Uhrzeit wieder munter.
 

„Also… äh… andere Vorschläge?“ fragte Kai hoffnungsvoll. Museum? Stadtführung? Hafenrundfahrt? Irgendetwas mit Bildungsanspruch im allgemeinen?
 

„Lennard?“
 

„Hansapark!“ In den Mienen des allergrößten Teils der Klasse stand sture Beharrlichkeit. Max hatte abgeschaltet, er wollte sich nicht unbeliebt machen. Skia bewegte die Lippen, als wolle er sich die komischen Begriffe einprägen. Vielleicht kannte er so etwas nicht aus Indien?
 

„Äh… aber in der Speicherstadt hat ein neues Museum…“, hob er an. Die Klasse schüttelte geschlossen die Köpfe, Skia setzte etwas zu spät ein, beugte sich dann aber brav dem Gruppenzwang.
 

Mary Sue meldete sich wieder, was hirnlose Freizeitaktivitäten anging, war ihrem Engagement keine Grenze gesetzt. „Ja?“
 

„Herr Wiesenblum! Ich hatte Sie schon in der neunten Klasse. Und da haben sie auch schon gesagt, dass wir doch besser ins Museum gingen. In der zehnten auch. Und in der elften. Jetzt reicht’s. Wir wollen nicht schon wieder ins Museum! Wir wollen in den Heidepark – oder meinetwegen Hansapark. Sie haben uns doch beigebracht, was „Demokratie“ bedeutet. Wir sind das Volk! Und wir wollen in den Heidepark!“ schloss sie schwungvoll und funkelte ihn wild entschlossen an.
 

Das war natürlich ein Punkt… Auch wenn das nicht ganz korrekt war, an diesem Ort hatte er nach wie vor das Sagen. Aber sein pädagogischer Auftrag war es, sie zu aufrechten Bürgern zu erziehen, da wäre es unklug, hier jetzt den Despoten heraus hängen zu lassen. Aber Heidepark?! Gnade, er hasste diese geistlosen Rummelplätze!
 

„Vielleicht… eine Kanutour…“, versuchte er einen Kompromiss zu erzielen.
 

„Nein! Heidepark! Hansapark!“ erscholl es von überall her.
 

„Muss das sein?“ stöhnte er.
 

„Oh ja! Nun schauen Sie doch nicht so, Herr Wiesenblum! Das bringt Spaß! Sie waren doch auch mal jung!“ heiterte ihn Mary Sue auf.
 

Kai biss die Zähne zusammen. Waren? Okay, aus deren Froschperspektive war jeder über zwanzig ein Greis. Aber er war kein alter Sack, der sich nur aufgrund von Senilitätsschüben an seine ferne Jugend auf dem Rügenwalder Mühlenfest erinnerte! Aber das würden sie schon noch früh genug am eigenen Leibe erfahren…
 

„Na gut“, gab er sich geschlagen. „Heidepark. Aber nächstes Halbjahr gibt es wieder Museum!“
 

Den letzteren Einwurf verdrängten sie natürlich sofort. Heidepark! Juhu! Loopingbahn! Karusselle für Masochisten! Essen für künftige Diabetiker! Kai konnte sich kaum halten vor Glück. Sein Blick fiel auf Skia. Ach weh… mit seiner Frisur konnte der doch in keine dieser Mördermaschinen… wenn er denn wollte… aber da war er sich recht sicher, dass das der Fall sein dürfte. Knappe vier Meter Mega-Zöpfe kopfüber aus der Idiotenschleuder, da war ein ziemlich unappetitliches Unglück vorprogrammiert. Aber das müsste ihm in Hinsicht auf seine Roller-Konstruktion durchaus klar sein.
 

Es klingelte und die Klasse verabschiedete sich, wild über künftige Instant-Abenteuer debattierend. Und er durfte das jetzt organisieren… oh Jubel.
 

„Sie müssen aber auch mit machen!“ forderte Mary Sue beim Hinausgehen vergnügt. Nicht aus Sadismus, das ahnte er, sondern weil der liebe Lehrer ja Teil ihrer Gruppe war.
 

„Wenn du mindestens neun Punkte in der Klausur morgen schreibst, geh ich ein Mal in so ein Ding deiner Wahl“, verband er das Unangenehme mit dem Nützlichen. Sie würde sich anstrengen wie wild, vielleicht auch auf Dauer etwas lernen, wie üblich sechs Punkte schreiben – und er wäre fein raus.
 

Skias Duftwolke kam vorbei gewabert, die seine Mitschüler irgendwie gar nicht zu irritieren schien – aber sonderlich geschmackssicher waren die ja auch nicht gerade. „Schönen Nachmittag, Herr Wiesenblum!“ verabschiedete er sich winkend, mit Schultasche und Helm herum jonglierend.
 

Kai packte gemächlich seine Sachen und setzte sich in Richtung des Parkplatzes in Bewegung. Skia schnürte und stopfte dort wie ein Besengter an seinen Zöpfen herum, was nicht ganz einfach war, weil er ja zunächst seinen Helm hatte aufsetzen müssen. Da würden die Polizisten etwas Interessantes zu tun bekommen. Dann fiel Skia auf, dass seine Schultasche noch immer neben ihm auf dem Boden stand, was ein erneutes wildes Herumwürgen zur Folge hatte. Aus einem Seitenfach fiel ein Zettel.
 

„Skia! Du hasst da etwas verloren“, rief er, doch der Angesprochene hörte ihn nicht, der Roller ratterte laut und überdröhnte ihn. Skia kullerte vom Parkplatz Richtung Polizei oder Heimat, was auch immer. Wenn Kai sich recht an die Unterlagen entsann, wohnte Skia ziemlich weit draußen, irgendwo im Osten Hamburgs, warum auch immer er nicht die dortigen Gymnasien mit seiner Gegenwart beehrte.
 

Er lief über den Sand des Parkplatzes und bückte sich. Der Zettel war ganz schön zerknittert, wahrscheinlich irgendwelcher Müll. Er wollte ihn gerade einstecken, um ihn Morgen Skia geben zu können, da blieb sein Blick an den Worten hängen, die in Skias Handschrift ganz oben standen.
 

Du hast Angst vor Tigern! Iss nicht die Fische aus dem Schulaquarium!
 

Was zur Hölle…?!
 

Es war nun wirklich nicht seine Art, in anderer Leute Sachen herum zu stöbern, aber Skia war sein Schüler, er trug für ihn Verantwortung… Und außerdem konnte er nicht anders, als fassungslos weiter zu lesen.
 

Du bist neunzehn! Wirf nicht die Kugelstoßerkugel wie einen Lederball! Spring nicht höher als 1 Meter 70! Lauf nicht schneller als Lennard! Nenn Herrn Wiesenblum nicht Killer-Kai, Klassenlehrer, Studienrat oder Pädagoge! Nazis sind böse, halten sich aber für gut! Es gibt die Schwerkraft! In Fruchtzwergen sind keine Zwerge, und die Verpackung ist nicht essbar! Vergiss niemals zu frühstücken vor der Schule! Lass Lennard nicht abschreiben, sonst gibt es Strafpunkte! Sing falsch im Musikunterricht! Rede mit niemandem über Sex! Haarspray tut weh! Blinken nicht vergessen! Du hast eine Beerenallergie! Deo gehört unter die Achseln, nicht in den Mund! Behalte deine Schuhe an! Halt die Haare still! Pornos sind kein Bildungsfernsehen! Gib Herrn Wiesenblum nicht die Hand! Sei pünktlich, mach die Hausaufgaben und nichts kaputt! Falle nicht auf!

Es gibt uns nicht!!!

Fragen:

Warum gibt es Kondome mit Geschmack?

Warum hat Herr Wiesenblum Allergien?

Was ist ein Heidepark?

Nicht vergessen:

Bei Rumpel und Stilzchen bedanken. Leviathan Brekkies kaufen.
 

Okay… Jetzt war es amtlich. Skia Holgerson war verrückt. Irgendeine völlig durchgedrehte Psychose, aber offensichtlich nichts gemeingefährliches. Von Amoklauf oder Axtmord stand da nichts. Aber vielleicht Schizophrenie? Kaspar Hauser-Syndrom? Er schien sich ja anpassen zu wollen… Aber die meisten Dinge, an die er sich hier zu mahnen schien, waren von einer derartigen Selbstverständlichkeit, kein Mensch brauchte da einen Spickzettel! Oder war das Fiktion, wollte Skia ein Buch schreiben oder so?! Auch möglich. Die Tigersache war erstunken und erlogen, er hatte es ja geahnt… oder? Vielleicht stimmte sie auch, aber Skia wusste, dass er darauf anders reagieren müsste als er es tat…? Fische aus dem Schulaquarium essen?! Er war doch kein Japaner, wer kam denn auf so etwas? Und wieso musste sich Skia beim Sport Grenzen setzen? Hielt er sich für Superman? Aber das mit der Kugel hatte er wirklich getan… Er wollte nicht auffallen, das wurde klar. Aber wie wollte er denn bitte noch auffälliger werden, als er es sowieso schon war?! Okay, die Skala war gewiss nach oben offen, wenn man das hier las… Warum tat ihm Haarspray weh, warum sprühte er sich Deo in den Mund?! Waren seine Eltern vielleicht in irgendeiner verrückten Sekte gewesen, die alle Wonnen der Zivilisation ablehnte, dass er das schlichtweg nicht wusste, dass er sogar sein Alter nicht recht kannte? Aber warum war er dann derart modisch gekleidet? Zog ihn seine Tante an? Kannte die sich mit Jugendkleidung aus? Und woher hatte er dann einen Rollerführerschein? Von Sexualität schien er auch nicht den geringsten Dunst zu haben – in seinem Alter… jünger als neunzehn konnte er kaum sein, so wie er aussah?! Das spräche eventuell für eine ihn isolierende Erziehung, die er noch nicht verarbeitet hatte?! Und offensichtlich legte Skia viel Wert auf ihn, bei den ganzen Herr-Wiesenblum-Tipps – ob das so gut war? Nein, er vertraute ihm wohl, das war gut, aber er würde sich darum kümmern müssen, vielleicht professionelle Hilfe…? Aber auf welcher Grundlage? Vielleicht war dieser Zettel auch völlig unbedeutend, eine kleine Spinnerei, aber er passte so verflucht gut. Außerdem hatte Skia eigentlich gar nichts getan und deprimiert wirkte er auch nicht, eher ganz im Gegenteil – manische Phase…?! Halte die Haare still?! Es gibt uns nicht?! Bildete er sich ein, ein Tentakelmonster zu sein? Aber das war kaum strafbar, solange er niemanden mit seinen Zöpfen strangulierte.
 

Und was sollte das mit Rumpel und Stilzchen und Leviathan? Waren das irgendwelche Spitznamen? Wahrscheinlich. Und Leviathan – seine Katze?
 

Aber es las sich schon irgendwie wie das Pamphlet eines Irren. Eines gut gelaunten, sehr eifrigen Irren.
 

Abwarten… vielleicht ist das doch nur Blödsinn, eine Krakelei.
 

Aber Kai konnte sich der Ahnung nicht erwehren, dass mit Skia Holgerson deutlich mehr daneben hing, als er bisher vermutet hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  eden-los
2011-07-19T18:52:41+00:00 19.07.2011 20:52
Also der spickzettel is wirklich wie von ´nem beknackten geschrieben xD.
nur muss ich leider gestehen ich raff den zusammenhang zuim titelnamen nich.... kann auch sein, dass ich mich wieder viel zu doof anstelle XD

lg eden ^^


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