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Schattenfresser

von

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Kai hat keine Killer-Würmer

VII. Kai hat keine Killer-Würmer
 

„Maoam! Maoam!“ sang Skiaphagos heiter vor sich hin, während er den gerade auf den Wohnzimmerteppich ausgekippten Inhalt der Schultüte durchwühlte. Süßkram! Der aus er Werbung! Buntstifte! Die Guten! Haargummis mit Extrahalt! Misstrauisch beäugte er Leviathan, der auf seiner Stange im Wohnzimmer hockte und seines Erachtens viel zu interessiert seine Beute beäugte. Versuch’s doch, du halbe Portion… dann schmier ich dir Chili-Pulver an die Stelle, an der du am liebsten kackst… Aber dann würde ihn Tante Morgana wahrscheinlich in eine Kröte verwandeln… Und entgegen aller Theorien küsste die keiner freiwillig.
 

Morgana hatte es sich mit hoch gelegten Füßen auf ihrer Couch gemütlich gemacht und nippte an einem selbst gebrauten Kräutertee, der angeblich eine tolle Haut machen sollte. Wer’s glaubte… „Na, erzähl schon, wie war’s?“ forderte sie und pustete ein wenig.
 

„Super!“ strahlte Skia. „Okay, einiges war vielleicht noch nicht ganz so… aber es ist trotzdem gelaufen. Ich habe ganz viel gelernt und habe keine Sechs bekommen!“
 

„Du bist da, um dich zu bewähren – und nicht um eine Eins Plus mit Sternchen zu bekommen“, erwiderte Morgana ungerührt.
 

„Ja, sicher… aber Herr Wiesenblum ist total toll!“ schwärmte Skiaphagos. „Er ist ein ganz junger Lehrer. Ich habe ihn in Kunst und Geschichte, mein Klassenlehrer. Er ist angenehm anzuschauen, aber er sieht immer so… traurig?... aus. Vielleicht ist er auch in die Englischlehrerin mit den kurzen Röcken verliebt, die ich aber noch nicht gesehen habe. Er ist streng, aber gerecht. Ich habe schon dreißig Strafpunkte!“
 

„Was?!“ fragte Morgana alarmiert und stellte den Tee ab. „Was hast du angestellt?“
 

„Äh… Sport. Ich wusste nicht, dass man die Eisenkugeln nicht so wirft wie die aus Leder… Habe mich extra dumm angestellt, aber ein Loch in den Platz geschmissen“ gestand Skiaphagos und bekam auch leichte Bedenken.
 

„Kugelstoßen… nicht Kugelwerfen! Oh Mann! Du hast dich hoffentlich zurück gehalten…“, wollte Morgana wissen und setzte sich auf.
 

„Ja! Aber Sportlehrer Häring denkt jetzt, dass ich voll das Sportgenie bin…“ beichtete Skia, während er das Maoam aus der Verpackung pulte.
 

„Pass auf, bloß nicht auffallen – mehr als nicht verhinderbar!“ warnte ihn Morgana und schlürfte von dem muffenden Gebräu in ihrer Tasse.
 

„Ich weiß! Ich gebe mein Bestes… Aber sage mal – was ist Gut und Böse?“ wollte er wissen, hielt inne und sah sie fragend an.
 

Seufzend ließ sich Morgana wieder in die Polster fallen. "Das ist echt nicht so einfach zu erklären. Frage hundert Menschen, und du wirst hundert verschiedene Antworten bekommen. Frage tausend, und... na ja, das kannst du dir auch denken. Darüber zerbrechen die sich die Köpfe, seit es sie gibt. Meistens ist es so, dass sie "gut" finden, was ihnen nützt, und "böse", was ihnen schadet."
 

"Meistens...?" fragte Skia, den Mund voll Maoam.
 

"Ja... Manchmal finden sie auch das "gut", was ihnen schadet, weil sie sich selbst für "böse" halten", erklärte Morgana.
 

"Mmm... das ist ja echt merkwürdig... also die Nazis waren böse, sie selbst fanden sich aber gut?!" schlussfolgerte er grübelnd.
 

"Haargenau!" bestätigte Morgana. Leviathan hatte begonnen, in seiner Futterschale voll Käferaugen zu wühlen, und beförderte beim Essen die Hälfte ungeniert zu Boden. Für so einen kleinen Kerl konnte er verflucht laut schmatzen. Aber Skia konnte die Sauerei zusammen mit seinem Bonbonpapier nachher gefälligst wegräumen.
 

"Aber ein Nazi, der gemerkt hat, dass Nazis böse sind - ist der dann gut?!" bohrte Skia nach.
 

"Kommt drauf an - nicht wenn er sich dazu entschlossen hat, weiterhin Nazi zu bleiben", folgte Morgana dem Gedankengang. Leviathan rülpste in der Lautstärke eines Zuchtschweins und stieß dabei eine kleine Stichflamme aus, so dass ihre letzten Worte fast untergingen. Das war das Problem mit Drachen... in Hinblick auf Tischmanieren war bei ihnen nicht viel zu holen.
 

"Dann ist er doppelt böse? Weil er sich ja anders hätte entscheiden können?" fragte Skiaphagos und warf Leviathan einen finsteren Blick zu. Wahrscheinlich dachte er daran, was sie ihm erzählen würde, wenn er sich so daneben benähme. Aber er war schließlich kein Tier, da herrschten andere Spielregeln.
 

"Ja, so ist das wohl. Das mit dem Entscheiden ist wichtig", nickte sie.
 

"Aber was ist dann mit uns? Ich meine, wir ernähren uns ja von den Menschen, sind wir dann böse?" fragte er, während er begann seine neuen Stifte nach Farbtönen zu sortieren.
 

"In ihren Augen wohl ja. Denk an diese Hänsel und Gretel-Geschichte, da komme ich nicht besonders gut weg. Da sieht es aus, als sei es völlig okay, jemanden in den Ofen zu schubsen, wenn man denn "gut" sei. Und diese beiden kleinen Mistkröten waren... egal, lassen wir das", unterbrach sie sich und verkniff sich eine Schimpftirade auf die beiden Rotznasen von anno Schnee. Die waren längst Asche, sie hingegen lag gemütlich auf dem Sofa und sah so gut aus wie selten.
 

"Aber wir haben uns ja entschieden, sie nicht mehr zu fressen wie früher... sind wir dann jetzt gut?!" rätselte Skia. Sein Zopfgummi stand kurz vor der Explosion, lange würde das nicht mehr machen. Aber die Packung mit den Verschlussgummis für Einmachgläser war sowieso nicht die optimalste Lösung gewesen, da waren die neuen Profibänder besser.
 

"Na ja", murmelte Morgana, stand auf und trat hinüber zu Leviathan, der sich eitel für sie aufplusterte. "Wir haben's ja nicht getan, weil wir den Menschen etwas Gutes wollten oder weil wir denken, wir seien böse - es ist nun einmal unsere Natur, von ihnen zu essen. Nachdem die sich so irre ausgebreitet und begonnen haben, überall ihre Nasen rein zu stecken, ist unsere Nische ziemlich geschrumpft. Weiß der Himmel, was das Max Planck-Institut oder die Nasa oder die Amis oder sonstwer mit uns anstellen würde, wenn sie von uns wüssten... Wahrscheinlich würden sie uns zur bemannten Raumfahrt zum Pluto nötigen, weil wir ja Zeit haben und nicht immer gleich drauf gehen... wie oberöde! Oder aus unserem Urin Antifaltencreme herstellen... wer weiß. Auf jeden Fall würden sie uns nicht in Ruhe lassen, und vernünftig fürchten wohl auch nicht mehr so. Die denken ja, sie hätten alles im Griff mit ihrer Drecks-Wissenschaft und ihrem aufgeklärten Denken - pah!"
 

"Unser Urin ist gut gegen Falten?" fragte Skia und rümpfte die Nase.
 

"Was weiß ich! War nur ein Beispiel! Ich habe es nicht getestet und habe auch nicht vor, in irgendeinem Altersheim einzufallen und den Omas ins Gesicht zu pinkeln! Und du lässt das auch schön bleiben!" stellte sie klar und kraulte Leviathan die Nackenschuppen, dass der wohlig knurrte.
 

"Jaja, schon gut! Also: Die Menschen würden uns für böse halten, weil wir von ihnen essen - und dann wieder für gut, weil wir uns dagegen entschieden haben - und dann wieder für böse, weil wir es nicht deswegen tun, weil wir das Von-Menschen-Fressen ablehnen, sondern um unsere Ruhe zu haben... Uns hingegen ist das weitestgehend egal, weil wir keine Menschen sind - richtig?!" folgerte Skia und stand aus seinem Bonbonhaufen auf. Das Zopfgummi krachte auseinander und verfehlte den Drachen knapp, der entsetzt aufkrächzte und fast von der Stange fiel. Skias Zöpfe lösten sich im Affenzahn auf und begannen, das Bonbonpapier einzusammeln - um die Käferaugen machte es allerdings einen großen Bogen.
 

"Pass gefälligst auf deine Haare auf, mein armer Drachen! Aber - so im Groben wohl ja", gab Morgana zu, während sie versuchte, den hysterischen Leviathan zu beruhigen. So würden er und Skia nicht die allerbesten Freude werden...
 

"Da kriegt man ja echt Kopfschmerzen von", seufzte Skiaphagos. "Tut mir leid, Leviathan - aber ich wusste nicht, dass Lindwürmer so empfindlich auf Haushaltsgummis reagieren - früher waren es eher acht Meter lange Silberlanzen, aber die Zeiten haben sich ja geändert", fügte er scheinheilig hinzu.
 

"Putz die Käferaugen weg!" knurrte Morgana.
 

„Aber ich muss noch Hausaufgaben machen!“ protestierte Skiaphagos halbherzig.
 

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Kai streckte sich wohlig. Das mit dem Arzt konnte er sich schenken, ihm ging es bestens.
 

Schon auf dem Rückweg von der Schule nach Hause hatte der Schmerz nachgelassen, wahrscheinlich war es wirklich nur ein Stress-Syndrom gewesen. Er hatte sich im Badezimmerspiegel beäugt. Zwei blass rosa Streifen zeichneten sich noch immer kaum erkennbar auf seinem Rücken ab, aber was immer es war, es schien auf dem Rückmarsch zu sein.
 

Skia Holgerson hatte ihn schon etwas aus dem Konzept gebracht, das war wohl kaum zu leugnen, zu sehr wich er von dem ab, was er gewöhnt war oder zumindest in der Theorie kannte. Der hatte sich echt gefreut wie blöde, einen Tiger malen zu dürfen, obwohl ihn das nun nicht gerade in die allerbeste Stimmung hätte versetzen sollen. Es war wichtig, sich mit den eigenen Ängsten auseinander zu setzten, ihnen Form und Ausdruck verleihen zu können, auch wenn es ein sensibles Thema war. Aber Skias Reaktion war doch ziemlich irritierend gewesen. Und dann dieser Feuereifer, die Fragen, die Sache mit dem Kugelstoßen, diese merkwürdige Mischung aus Wissen und Naivität – und dann natürlich diese Zöpfe. Das war wahrscheinlich einfach ein wenig too much für sein Lehrerhirn gewesen. Aber immerhin konnte er sich nicht über eine öde Berufsroutine beschweren.
 

Floffi lag an seinen Oberschenkel gekuschelt neben ihm auf dem Sofa und quiekte leise, während er seine Hundeträume träumte. Zumindest für den war die Welt vollständig in Ordnung.
 

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Bestens gelaunt trällerte Skia vor sich hin, während er mithilfe eines seine Zinken nach und nach einbüßenden Kamms sein Haar in Form brachte. Mehr als eine Anwendung überlebte kein Kamm bei ihm, da hieß es stets einen Vorrat bereithalten. Zwar konnte er sie auch willentlich bewegen, aber das war nicht ganz unanstrengend so früh am Morgen. Abertausende Einzelhaare zu koordinieren erforderte ziemliche Konzentration, außerdem tendierten sie, erst mal in Bewegung gesetzt, dazu, sich zu verselbständigen und nach dem nächst besten Schatten zu angeln. Er befestigte sie mit einem seiner neuen Haargummis am Hinterkopf, dann begann er zu flechten.
 

Er saß auf einem Holzstuhl auf der kleinen Veranda vor der Küche, Haarpflege drinnen hatte ihm Tante Morgana ja untersagt. Es war kurz nach sechs, aber der Wald war schon erwacht, die Vögel spektakelten, im Unterholz knirschte es. Und er war pappsatt. Nachdem ihm Wagner begann langweilig zu werden, wechselte er: „I like big butts and I can not lie. You other brothers can’t deny…”
 

“Skiaphagos!” brüllte Morgana durch das angelehnte Küchenfenster. „Was zur Hölle singst du da?!“
 

„Irgendetwas mit fetten Ärschen?“ erwiderte er und sah zu ihr herüber.
 

„Was soll die Sauerei?!“ wollte sie wissen. Da sie ihn fahren musste, war sie auch in aller Herrgottsfrühe – nach ihrer Definition – aufgestanden, was ihre Laune nicht unbedingt verbesserte. Sie war definitiv kein Morgenmensch. Wahrscheinlich würde sie ihn früher oder später zum Selberfahren nötigen, ach weh. Eher früher als später vermutlich.
 

„Sauerei? Hat das was mit Sex zu tun?“ rief er zurück.
 

„Ja! Hat es! Himmel!“ erwiderte sie und rollte mit den Augen.
 

„Und das ist jetzt schlimm oder wie? Was ist denn mit der sexuellen Revolution und so…?“ wollte er wissen.
 

„Ja, ja, ja… Aber dieses Lied ist nun wirklich keine Ausgeburt der Intellektualität, der Emanzipation – und des guten Geschmacks! Also halt den Schnabel oder sing wieder Wagner, auch wenn Walkürengesänge um viertel nach sechs vor der ersten Tasse Kaffee auch nicht gerade ein Hochgenuss sind“, grollte sie.
 

„Aber…“, ließ er nicht locker, während er den lädierten Kamm in seiner Hand beäugte. Grüne Tonne? Gelber Sack? Restmüll?
 

„Was denn nun schon wieder?“ sagte sie, während sie wild entschlossen die Kaffeemaschine befüllte.
 

„Warum eigentlich Ärsche?“ fragte er sie interessiert.
 

„Schlüsselreiz im menschlichen Fortpflanzungsstreben. Du weißt doch, die haben’s eilig – und ein dicker, runder Hintern scheint da ein Argument zu sein. Das ist aber kein Thema, das man einfach nur so rausblaht, die Menschen sind da teilweise ziemlich empfindlich. Also tu mir den Gefallen und frage das nicht Herrn Wiesenblum in der ersten Stunde“, orderte sie und öffnete den Kühlschrank.
 

„Wir pflanzen uns doch auch fort“, ließ er nicht locker. „Aber Ärsche mögen wir nicht?“
 

Sie trat wieder zurück zum Fenster. „Doch. Schon. Einige mehr, einige weniger, da ist jeder anders – das ist wie mit dem Fressen. Wirst du auch noch feststellen, wenn du soweit bist. Bist du offensichtlich aber noch nicht, die Menschen sind da – im Verhältnis gesehen – ja deutlich schneller bei der Sache. Kaum Pubertät und schon geht’s ab… na ja, nicht unser Problem. Aber bitte meide deswegen und aus diversen anderen Gründen der Vorsicht Wortäußerungen zu dieser Thematik. Davon hast du wirklich null Ahnung, und das würde ziemlich auffallen bei jemandem, der behauptet neunzehn zu sein in Zeiten des Internets. Also kein Wort über dicke Ärsche, geile Titten und Rumgeficke – kapiert?“
 

„Okay, okay. Ich halte die Klappe, ich versprech’s. Aber im Fernsehen…“, versuchte sich Skia.
 

„Nix! Das war alles Fiktion – will ich mal hoffen. Oder hast du etwa einen ausländischen Pornokanal angezapft?“ hielt sie entgegen und nahm ihn wieder durch das Fenster ins Visier. Sie wackelte mit der bunten Froot-Loops-Packung als sei er ein Hund, der Fressi bekommen solle. Schicksalsergeben rappelte er sich auf, befestigte den zweiten Zopf an der Spitze, dann trat er durch die Terrassentür ein.
 

„Nein, warum sollte ich?“ fragte er verwundert. „Aber aus Gründen der Information…“
 

„Vergiss es. Pornos sind kein Aufklärungsfernsehen und keine sachliche Informationsquelle zu menschlichem Verhalten. Du machst das wie jeder junge Mann und findest das in zivilisierten Bahnen heraus, wenn es Not tut. Außerdem können wir beide ja gar nicht wissen, worauf das bei dir einmal hinaus laufen wird. Was ist, wenn du dich plötzlich für Leila die Sphinx erwärmst? Da wird dir Menschenwissen gar nichts bringen“, machte ihm klar, während er sich an den Frühstückstisch setzte.
 

„Leila – igitt. Die mufft immer so nach Puma…“ protestierte er und schnappte sich das Nutellaglas. Enttäuscht musterte er es. Den Schatten hatte er gestern schon verdrückt, er Vielfraß.
 

„Kann man nie wissen. Aber ich würde dir abgöttisch dankbar sein, wenn du diese Seite deiner selbst erst für dich entdeckst, wenn du kein Dauergast hier mehr bist. Treibe damit bitte deine Eltern in den Wahnsinn und nicht mich – die haben dich schließlich auch zu verantworten aus eben diesen Gründen. Und jetzt beeil dich mal, wir müssen los“, schloss sie und nahm ihm das leere, entschattete Glas ab.
 

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Kai hielt sich ächzend den Rücken und erlaubte sich, Grimassen zu schneiden, während er ein Aufstöhnen unterdrückte. Er hatte sich in das Materialkabuff des Kunstraums verdrückt, als wolle er etwas holen oder sortieren, um es ganz kurz unbeobachtet rauslassen zu können, bevor er durchdrehte.
 

Von wegen, es war weg! Es war viel schlimmer geworden! Gestern Nachmittag hätte er Bäume ausreißen können, er hatte sogar mit Floffi Stöckchenholen gespielt, was bedeutete, dass er das Stöcken warf und anschließend, begleitet von einem sich planlos freuenden Hund, wieder holte. Er hatte sich also gebückt wie ein Weltmeister in der stoischen Hoffnung, dass Floffi doch irgendwann zu seinen Instinkten zurückfinden möge, und nichts hatte auch nur gezwackt. In der ersten Stunde war die Welt auch noch völlig in Ordnung gewesen, aber dann war der 12. Jahrgang hier einmarschiert und Skia Holgerson hatte ihn schon wieder mit so einer Handschüttelattacke angegangen. Er hatte ihm noch nicht mal sagen können, dass er das bleiben lassen solle, da die plötzliche Welle des Schmerzes ihn fast hatte umfallen lassen. Erst Skias aufdringlich besorgte Nachfragen hatten ihn wieder zu sich kommen lassen. Irgendwie hatte er sich auf seinen Lehrersessel geschleppt, die Klasse angewiesen, selbständig ihre Bilder fertig zu stellen und zu fixieren, während er in einem dumpfen Tal der Qual vor sich hin hockte. Sein Rücken brannte, als habe ihn jemand mit zwei Schwertstreichen erwischt, es zog und drückte, dass es kaum auszuhalten war. Drei Aspirin ließen sich Zeit mit der Wirkung, erst am Ende der Stunde war er wieder halbwegs klar geworden und Skia dabei erwischt, wie er Lennards Bild fertig zeichnete. Für diese Schummelei hatte er beiden zehn Strafpunkte verpasst.
 

In der Geschichtsstunde hatte er ihnen eine Stillarbeit aufgegeben. Sie waren sehr dafür gewesen, dass er doch lieber zum Arzt gehen solle, er sehe doch total scheiße aus – und Geschichte könne auch ruhig mal ausfallen. Er hatte sich an seinen Tisch gekrallt, ihnen gesagt, dass ihnen das wohl so passen könnte und dass sie besser mal anfangen sollten, er werde die Sachen einsammeln. Während sie mosernd über sein dämliches Pflichtgefühl losgelegt hatte, hatte er einfach stumpf vor sich hin gestarrt. Skia in der ersten Reihe hatte wie ein Besengter geschrieben, den Kopf dabei seitlich auf einem Turm aus ineinander gewickelten Zöpfen gelegt. Kai hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sich eines dieser Taue zu schnappen, um sich damit überkreuz den Rücke zu kratzen, der ihn jetzt mit wildem Gekribbel in den Wahnsinn trieb. Das wäre ja was… Disziplinarstrafe, weil er sich an der Frisur eines Schülers vergangen hatte… Warum juckte es nur so! Hatte er sich obendrein noch Flöhe gefangen? Floffi war flohfrei! Aber die Biester konnten ja springen… eine von diesen Schülerinnen, die ständig im Reitstall bei diesen verweichlichten Mädchenpferden rum hingen, über die ein mittelalterliches Schlachtross nur gelacht hätte?
 

Skias Abschiedsgeschüttel war er ziemlich wehrlos ausgeliefert gewesen. Eine weitere Woge kochenden Schmerzes hatte sich über ihn ergossen.
 

Jetzt saß da draußen eine sechste Klasse und malte Marsmännchen in Komplementärfarben, während ihr Lehrer in seinem Kämmerlein kurz vorm Heulen stand. Was war mit ihm los?! War er etwa allergisch auf Skia Holgerson?! Auf irgendetwas an ihm – vielleicht sein Shampoo? Davon müssten Liter in seinen Haaren lauern. Eine psychische Abwehrreaktion war es nicht, Skia war schon extravagant, aber das trieb ihn auch nicht ernsthaft an die Grenzen eines Nervenzusammenbruchs. Es musste etwas Physisches sein. War er auf Inder allergisch?! Er hatte noch nie etwas mit einem persönlich zu tun gehabt… Aber man konnte doch nicht körperlich auf Inder allergisch sein! Das war doch kompletter Schwachsinn, den sein gebeuteltes Hirn da von sich gab. Er musste zum Arzt. Dringend. Das hier durchhalten, Taxi rufen und nichts wie hin!
 

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„Mmm“, sagte Dr. Taube im Tonfall aller Ärzte, die absolut keine Ahnung hatten, was da vor sich ging. „Seit wann haben sie das schon?“
 

„Gestern Morgen. Zwischenzeitlich war es fast weg, aber heute ging es wieder los, nur schlimmer“, erklärte Kai, mit entblößtem Oberkörper bäuchlings auf der Untersuchungsbank liegend.
 

„Mmm“, wiederholte Dr. Taube und tastete Kai mit seinen dicken Wurstfingern ab. „Tut das weh?“
 

„Geht so“, erwiderte Kai mit zusammen gebissenen Zähnen dem korpulenten Privatarzt. „Es ist schon wieder weniger geworden, genau wie gestern. Aber ich trau dem Braten nicht. Jucken tut es obendrein.“
 

„Sieht wie eine allergische Reaktion oder eine Verätzung aus… Sind Sie in letzter Zeit mit etwas Ungewöhnlichem in Kontakt gekommen?“ wollte er wissen, während er eifrig weiter pfriemelte.
 

„Ich hab’ nen neuen Schüler, auf den trifft diese Beschreibung zu – aber ansonsten, nein, nichts“, schilderte Kai unter den unangenehmen Berührungen der Gummihandschuhe.
 

„Na na, Herr Wiesenblum, Schüler-Allergie wird staatlich nicht anerkannt. Aber vielleicht hat er irgendetwas an sich, was das auslöst, Parfüm zum Beispiel, das gibt es manchmal. Sind Sie Ihrem Schüler körperlich irgendwie näher gekommen?“ wollte Dr. Taube wissen.
 

„Was soll das denn bitteschön heißen? Ich hoffe, Sie meinen das ganz unschuldig, denn ansonsten muss ich leider wirklich böse werden. Wir haben uns die Hände gegeben und basta!“ fuhr Kai empört auf. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass ihm Tatscherei unterstellt wurde. Seine Schüler waren absolute Tabuzone, nicht nur rechtlich gesehen, sondern weil es seiner Auffassung von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis gänzlich widersprach. Er war für sie verantwortlich, da hieß es die Grenzen von Nähe und Distanz genau zu beachten. Skia Holgerson war nüchtern betrachtet ein hübscher junger Mann, gewiss, ziemlich außergewöhnlich und diese Haare waren schon irgendwie zutiefst beeindruckend – aber er traf ihn nicht in der Schwulendisco, die er sowieso nicht besuchte, sondern im Klassenraum.
 

„Nun regen Sie sich doch nicht gleich so auf, ich unterstelle Ihnen doch gar nichts!“ beschwichtigte ihn Dr. Taube und begann unter seinen Schulterblättern herum zu kneten. „Ich will nur Informationen zu möglichen Quellen!“
 

„Schon gut“, murmelte Kai unwirsch und starrte auf seinen Oberarm vor ihm auf dem Möchtegernkissen.
 

„Mmm. Hier sind Verhärtungen“, informierte ihn der Arzt und piekte ihn beidseitig an den Stellen an, die er zuletzt in der Mangel gehabt hatte. „Irgendetwas in der Haut…?“
 

„Was, bitte?“ fragte Kai alarmiert. Er hatte Parasiten! Skia hatte irgendwelche Killer-Würmer aus Indien eingeschleppt, die unter der Haut nisteten und einen von innen leer lutschten! Schwachsinn… Nicht hysterisch werden, das war doch wirklich völlig bekloppt. Zu viel Wahnsinn in letzter Zeit und dann die Schmerzen… Killer-Würmer, also wirklich… Im Hirn höchstens!
 

„Wir machen besser mal einen Allergietest auf die üblichen Verdächtigen. Dass es wirklich an einem einzelnen Schüler liegt, halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber wenn Sie wollen, berücksichtige ich das. Sie müssten ihn allerdings fragen, welche Handcreme oder sonstige Produkte er verwendet“, schloss Dr. Taube und ließ ihn sich wieder aufrichten. Ganz klasse… sag doch mal Skia, was ist denn das für eine tolle Creme, deine Hände sind so kuschelweich… Er würde es bestimmt freudestrahlend beantworten, aber diese Vorgehensweise um die Ecke war Kai etwas zuwider. Besser ihn sich schnappen und reinen Wein einschenken und dann zur Verschwiegenheit verdonnern, musste ja nicht jeder wissen in dieser Tratschfabrik. Skia würde Herrn Wiesenblum durch simplen Verrat bestimmt nicht verärgern wollen. Oder… besser anrufen, dann würde er im Falle des Falles nicht das Risiko eingehen, noch eine Ladung von dem abzubekommen, das Skia eventuell ausdünstete. Wenn es denn an ihm liegen sollte.
 

Aber irgendetwas in Kai war der festen Überzeugung, dass er das hier Skia Holgerson zu verdanken hatte. War doch auch irgendwie logisch…
 

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„Skiaph…. Skia!“ schrie Morgana durch die Zimmertür.
 

„Was?!“ fuhr er auf. Er war gerade mit den Hausaufgaben beschäftigt. Herr Wiesenblum wollte einen Aufsatz über Herrmann Göring – und den sollte er auch bekommen! Wie viel war angemessen? Zehn Seiten? Zwanzig?
 

„Dein Lehrer Herr Wiesenblum ist am Telefon“, entgegnete Morgana mit einem leicht bedrohlichen Unterton in der Stimme.
 

Etwas erschrocken fuhr Skia zusammen. Hatte er noch etwas angestellt, ohne es zu bemerken? Noch mehr Strafpunkte? Oder mehr Hausaufgaben? Oder wollte Herr Wiesenblum nur wissen, ob er sie auch artig erledigte? Oder fiel morgen etwas aus? Hoffentlich Sport… es war irre anstrengend, so zu tun, als würde man sich anstrengen, während man versuchte eine Makrele zu unterbieten.
 

Morgana hielt ihm mit strengem Blick den Hörer vor die Nase, als er ihr öffnete. Sie sah nicht so aus, als habe sie vor zu weichen.
 

„Skia Holgerson“, meldete er sich etwas zitterig.
 

„Wiesenblum hier, hallo Skia, tut mir leid, wenn ich dich störe“, antwortete sein Lehrer.
 

„Sie stören mich nicht!“ beteuerte Skia. „Was soll ich tun?“
 

„Öhm… Also ich habe ein Problem… und das wollte ich persönlich mit dir besprechen“, eröffnete ihm Herr Wiesenblum. „Mir ging es heute Morgen ja nicht so gut. Mein Arzt sagt, dass es wahrscheinlich eine Allergie sei. Damit der Allergietest etwas findet, wäre es gut, die möglichen Quellen einzuschränken. Als du mir die Hand gegeben hast – was du übrigens lassen kannst, ein „Guten Morgen“ wie jeder andere reicht – da wurde es besonders schlimm, daher… daher wollte ich dich bitten, mir zu sagen, welche Handcreme du benutzt, Seife, Shampoo… für die Tests. Ich weiß, dass ist ziemlich persönlich, aber…“
 

„Moment! Ich… ähm… ich geh mal ins Bad…“, antwortete Skia. Was sollte daran denn persönlich sein? Egal. Morgana klebte auf seinen Hacken. Er musterte das voll gestopfte Regal. Nix L’Oreal. Alles selber angerührt. „Öh… Naturkosmetik?“ versuchte er es. Froschgalle war doch etwas Natürliches. Seine Mutter hatte daraus immer ein super Mundwasser gemacht, das auch den letzten Essensrest weg brannte. War bei seinem Vater auch echt nötig, zwischen den Zahnreihen verfing sich immer so schnell was.
 

„Welche Firma?“ wollte Herr Wiesenblum wissen. Er klang irgendwie nicht so erfreut. Aber Skia war schon immer eine Niete im Tränkebrauen gewesen, weiß der Himmel, was in der Seife alles drin war.
 

„Selber gemacht. Meine Tante ist ein… Öko“, erklärte er und fühlte Morgana ihre spitze Finger in seine Seiten jagen. „Ich gebe Sie Ihnen besser.“
 

Morgana schnappte sich das Telefon. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen hörte sie sich das Problem an. „Aha. Haben Sie einen Stift? Okay. Ringelblume. Kiefernharz. Löwenzahn. Veilchen….“, zählte sie auf. Dann erwiderte er irgendetwas, sie wünschte ihm eine gute Besserung, verabschiedete sich und legte auf.
 

„Wollen wir hoffen, dass es nicht der Schneckentran oder der Amseldreck ist, die habe ich mal unterschlagen“, meinte sie. „Hast du irgendetwas mit Herrn Wiesenblum angestellt?“ fragte sie mit höchst misstrauischer Miene.
 

„Nein! Hand aufs Herz! Gar nichts!“ schwor Skia und sträubte sich entsetzt.
 

„Menschen kriegen ja so schnell alles Mögliche. Vielleicht ist er ja wirklich auf etwas von den Sachen hier allergisch. Kann nicht schaden, wenn du dich stattdessen in der Drogerie eindeckst, ehe dein Herr Lehrer noch schlapp macht. Die sind teilweise so allergisch auf die Natur, dass sie nur noch diesen künstlichen Mist aushalten“, nickte sie nicht völlig überzeugt.
 

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Kai lag auf seinem Sofa, Floffi lag auf seinem Kai und Skia Holgersons Geschichtsheft lag auf Floffi. Vorsichtshalber hatte er sich Hygienehandschuhe angezogen, falls da zu viel von Skia an den Seiten klebte.
 

Skia hatte eine kleine, sehr exakte Schrift, aus der hin und wieder ein altmodisch anmutender Kringel hervorlugte, der besser zu Sütterlin gepasst hätte. Akribische Beschreibungen von Sachverhalten wurden flankiert von glasklaren Schlussfolgerungen, unter denen sich immer wieder sehr merkwürdig anmutende Gedankengänge mischten. Er erfasste komplexe Zusammenhänge, aber die zugrunde liegenden Konzepte schienen ihm teilweise nicht klar zu sein. Auf der Bewertungsebene kam er so völlig ins Schlingern. Insgesamt erschien es, als würde Skia Holgerson so manche Grundannahme menschlichen Miteinanders in einer sich zivilisiert schimpfenden Welt nicht kennen. Dummheit oder Naivität schien es nicht zu sein, das schloss die Qualität des Restes aus. Wo war er aufgewachsen – auf dem Mond? So weltfremd war doch auch kein Inder. Oder hing was in seiner Birne schief? Wie sollte man das benoten? Er fiel durch sämtliche Raster.
 

Und seine Tante, bei der er lebte, mixte sogar die Kosmetika selbst aus irgendwelchen Kräutern…
 

Seinem Rücken ging es wieder besser. Und morgen würde hoffentlich Skia nicht schon wieder seine Hand schütteln wollen. Wenn es daran lag, würde er so den Tag schon durchstehen.
 

Aber wirklich komisch, sehr komisch…
 


 

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Wer Lust auf mehr hat: Ich habe zwei kleine One Shots aus dem Skia-Universum getrennt hiervon hochgeladen. Zum einen erzählt Morgana ihre Version von "Hänsel und Gretel", zum anderen bekommt des der lebensmüde Viktor mit Skias Verwandten Charys zu tun, der ihm zeigt, was "Spaß" bedeutet.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  eden-los
2011-07-18T20:25:01+00:00 18.07.2011 22:25
hach mensch, ich hatte nur eine story von dir abonniert und seh jetzt, dass ich bei den anderen total hinterher hänge. also eine klasse story und beim vorletzten kapitel hab ich mir fast in die hose gepieselt.
oder der teil mit dem: i like big butt´s..... xD hab mich gekugelt.

lg eden ^^


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