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Nimm mich an der Hand und geh mit mir ins Licht

...denn ich weiß, dass du die Richtige bist.
von

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___ Tränen

„Entschuldige. Ich bin wirklich ungeschickt!“

„Hmm…“, der Junge bückte sich und hob einige der Bücher auf, die sich durch ihren Zusammenstoß auf dem kalten Steinboden verteilt hatten. „Schon okay.“, ein kaum hörbares Nuscheln. Erst als er den Kopf anhob und sich aufrichtete, fielen ihm ihre dunkelblauen Augen auf. „Hier.“, meinte er knapp, verharrte für einen Moment. Auch sie schien für einige Sekunden bewegungsunfähig, als sie in seine grauen Augen blickte, ehe die Realität sie wieder einzuholen schien und sie aufschreckte, die Bücher mit einer raschen Bewegung entgegennahm und schwach schmunzelte.

„Danke.“, so verschwand sie in Richtung Treppenhaus. Der hagere Junge, zu diesem Zeitpunkt knapp 16 Jahre alt, blieb inmitten der riesigen Halle zurück und hatte für einen Moment in ihre Richtung geblickt, gedankenverloren. Wieso war sie ihm bislang eigentlich nie aufgefallen? Sie ging doch eigentlich in seine Klasse?
 

„Kevin? Kevin?“, sein Blick glitt zur Seite. Das braunhaarige Mädchen blinzelte kurz unschlüssig, fast ein wenig verwirrt über die seltsame Reaktion ihres Bruders.

„Was ist, Liv?“

„Kommst du dann? Oder willst du weiterhin…“

„Nein.“

„Wieso? Ich weiß, dass es schwer ist, seit Ethan...“, ihre Stimme schien für einen Moment zu verzagen und doch dauerte es nur ein paar Sekunden, ehe sie die Stimme wieder hob und fortsetzte, als wäre nichts gewesen. “Mum macht sich Vorwürfe. Sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Und Dad ist auch nicht mehr da. Sie… bitte Kevin… Nimm ihr nicht auch noch…“

„Was?“

„Dich.“

Ein starker Windstoß durchstieß das halb geöffnete Fenster. Ein lauter Knall ertönte, als das Holz des Fensterrahmens an die kahle Wand stieß. Olivia zuckte zusammen, ehe sie ihren großen Bruder anblickte. Sie meinte es ernst – kein Zweifel. Und Kevin hätte früher alles getan, für sie und für seine Mutter. Aber heute…?

„Richte ihr aus, dass ich bei meiner Entscheidung bleibe.“, eine kurze Pause, „Fürs erste.“

„O-okay.“

„Und Liv?“

„Was ist?“

„Hör auf damit.“

„Nicht, solange du so verbohrt und stur bleibst. Naja, ich muss los. Richte Sethmin schöne Grüße aus. Ich bewundere sie dafür, dass sie es so lange mit dir ausgehalten hat.“ Wäre er nicht Kommentare dieser Art seit Jahren gewöhnt, hätte er wohl zumindest gezuckt oder die Nase gerümpft. Aber es war wie immer. Liv kam, versuchte ihn dazu zu bringen, endlich wieder einen normalen Umgang mit seiner Mutter zu pflegen, bis sie merkte, dass ihr Versuch vergebens war. Und dann? Dann verschwand sie so schnell wie sie gekommen war. Trotzdem hatte er ihr dieses Verhalten nie übel genommen, es vielmehr akzeptiert. Erklärte das die Tatsache, wieso er ihr nichts nachrief oder gar daran dachte, ihr zu folgen?

„Liv, willst du zum Essen…“, Sethmin hielt inne, als sie kurzzeitig das Vorzimmer betrat und nur noch Kevin sah – nicht aber Liv. „Ist sie…“

„Mhm.“
 

* * * * * * * * *
 

Der Regen prasselte mit einer unerbittlichen Stärke auf das große, abgeschiedene Haus nieder. Der Wind fegte fast schon sturmartig, bog die umstehenden Bäume stark zur Seite, sodass man schon fast den Eindruck hatte, sie würden jeden Moment wie Zahnstocher unter dem Druck brechen. Der Himmel war in dunkelste Grautöne gefärbt, die man nur erkennen konnte, wenn man genau hinsah: Es war so dunkel, dass man den einzelnen Stern, der am Firmament strahlte, deutlich erkennen konnte. Und auch das war nur für einen kurzen Moment möglich, denn schon bald schob sich die dicke Wolkendecke vor den scheinbar letzten Funken. Obwohl Caddie bereits durch den starken Regen vollkommen durchnässt war, stand er dennoch aufrecht, in seiner vollen Größe inmitten des Walds und starrte ununterbrochen nach vorne an eine Stelle.

„Komm zurück.“, flüsterte er, doch die schwache Stimme ging in dem lauten Prasseln vollkommen unter – fast so, als ob der Ton verschluckt würde. „Bitte.“, beinahe wäre er auf die Knie gesunken, doch sein Körper war für einige Minuten lang nicht in der Lage, sich zu bewegen. Es war als wäre er erstarrt zu einer steinernen Statue, die unentwegt in eine Richtung blickte und sehnsüchtig wartete. Aber egal wie lange er auch warten würde – ihm war bewusst, dass es umsonst sein würde. Sie war ja doch weg und würde nicht mehr zurückkehren. Nicht, solange er sie weiterhin so sehr verletzte, wie er es tat. Wieder tauchten die unliebsamen Bilder vor seinem inneren Auge auf. Sethmin, wie sie erschrocken den Teller fallen gelassen hatte und ihn einen Moment lang starr angeblickt hatte. Wie lange das darauffolgende Schweigen gedauert hatte, war wohl fraglich. Es hatte sich für beide wie eine Ewigkeit angefühlt – höchstwahrscheinlich waren es aber nicht mehr als zwei Minuten gewesen, in denen die zuvor gesagten Worte wie dichte Nebelschwaden in der Luft hingen und beiden die Sicht trübten.

„Vielleicht war das alles auch einfach ein Fehler.“

Waren seine bisherigen Entscheidungen vielleicht doch nicht so gut gewesen, wie er immer geglaubt hatte? Was, wenn es nicht richtig gewesen war, einen derartigen Lebenswandel zu vollziehen, der nicht nur seinem Zwillingsbruder das Leben gekostet hatte, sondern ihn gleichzeitig nahezu alles gekostet hatte. Was, wenn er einfach überstürzt gehandelt hatte? Überstürzt und einfach unreif?
 

„Kevin? Ich weiß, dass es einfach unmöglich von mir war, wie ich mich verhalten habe. Dass ich dir…“, sie biss sich kurzzeitig auf die Unterlippe, „…dich geohrfeigt hab… Das war nicht okay. Ich war einfach in Rage. Ich…“, sie brach ab und senkte den Blick. Wenn es um Entschuldigungen ging, konnte man sich sicher sein, dass Anabella vielleicht niemand war, der sofort auf andere zuging, aber nach einiger Bedenkzeit fand sie doch die richtigen Worte. „Es tut mir leid.“

„Mhm.“

„Du ehm… bist nicht mehr sauer?“

„Nein.“

Man sah ihr die chronische Unzufriedenheit an. Ihr bester Freund war noch nie jemand der großen Worte gewesen. Seit Jahren war er der introvertierte Blondschopf, der von vielen heimlich für seine selbstbewusste, aber doch ruhige Ausstrahlung bekannt war und der gleichermaßen sportlich und intelligent war. Natürlich – er hatte seine Vorzüge, aber eben auch eine riesige Achillesferse: Seine Schweigsamkeit. Kevin war noch nie fähig gewesen, die Dinge auszusprechen, die ihn beschäftigten, die ihn wütend machten oder freuten. Er wirkte dadurch oft emotionslos, so als ob ihm Gott und die Welt egal wäre. Aber nachdem sich die beiden nun seit knapp zwei Wochen nicht mehr richtig unterhalten hatten, eher schweigend aneinander vorbeigegangen waren, wenn sie sich im Korridor über den Weg gelaufen waren, hätte man zumindest ein Lächeln auf den Gesichtszügen des schlaksigen Jungen erwarten können.

„Ich ehm, muss langsam los. Wollte noch in die Bibliothek.“

„W-Warte.“

„Was?“

„Bist du sicher, dass da nichts mehr ist, was du mir sagen willst?“

Er zögerte einen Moment, blickte in das Gesicht des braunhaarigen Mädchens, ehe er die Schultern zuckte. „Nein.“
 

Ein lautes Donnergrollen holte ihn aus seiner Erinnerung zurück in die Realität. Fast automatisch setzten sich seine Beine wieder in Bewegung, als unliebsame Bilder, die sich über die Jahre hinweg in sein Gedächtnis gebrannt haben, vor seinem inneren Auge auftauchten. Vielleicht hatte sie der Regen schon komplett durchnässt und ihr war kalt? Oder schlimmer, sie wusste nicht mehr, wo sie war und irrte alleine durch das Dickicht? Instinktiv blieb er für einen Moment an einer älteren Tanne stehen und wartete einen Moment. Wenn sie in der Nähe war, konnte er sie vielleicht hören, wenngleich das rauschende Geräusch, das den gesamten Wald durchflutete, alles andere nur noch dumpf und leise anhören ließ. Es schien nichts zu bringen, er hörte nichts als das Prasseln. Schließlich setzte er seinen Weg fort. Auch, wenn er nicht genau wusste, wohin er gehen sollte, geschweige denn wo er sie finden würde, so vertraute er einfach seinem Gefühl, das ihn unentwegt in eine bestimmte Richtung trieb. Vielleicht war es deshalb auch mehr Glück und weniger Verstand, das ihn zu ihr geführt hatte, über die vollkommen durchweichte Erde und das klatschnasse Gras. Dass er selbst bereits vollkommen durchnässt war, spürte er kaum noch, lediglich, wenn ein Regentropfen ihn erwischte, spürte er dessen leichten Druck auf seinem Körper. Aber selbst der verblasste mit der Zeit.
 

Ihr Körper bebte. Nicht besonders stark, aber immer noch so stark, dass er es von der Ferne aus bemerkt hatte. Zögerlich trat er ein paar Schritte näher heran, blieb aber gut fünf Meter entfernt von ihr stehen. Ihr Anblick war schier armselig. Wie sie dasaß, auf einem kleinen Fels und wie hypnotisiert in eine Richtung starrte. Ihre sonst so blonden Haare waren vollkommen durchnässt und schienen nun vollkommen dunkel. Sie hatten sich durch den Regen leicht gewellt. Und trotzdem sah sie nach wie vor wunderschön aus.

Das stille Beobachten fand jäh sein Ende, als Sethmin sich aufrichtete und sich offenbar zum Gehen umgewandte. Ihre Blicke blieben aneinander hängen und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass es wirklich nur der Regen war, der ihre Wangen hinunterlief.

„Dir muss kalt sein.“, brummte er schließlich in die aufgekommene Stille. Der Junge wandte den Kopf zur Seite und musterte die naheliegende Umgebung – wie immer, wenn er mit einer Person sprach. Liv hatte ihm einmal gesagt, es wäre eine schlechte Angewohnheit, seinen Gesprächspartner nicht anzusehen. Aber egal wie sehr er sich auch bemüht hatte, diese Angewohnheit abzulegen, es hatte nie wirklich funktioniert, selbst wenn er sich selbst dazu gezwungen hatte, den Blick nach vorne und nicht zur Seite zu richten. Es hatte Jahre gedauert, bis ihm bewusst wurde, wieso er es nie geschafft hatte, diese Angewohnheit abzulegen: Seinen einzigen Schutzmechanismus konnte er schwer ablegen ohne befürchten zu müssen, dass er sich am Ende selbst damit schadete.

„Es geht schon.“, eine kurze Pause entstand, aber als Kevin keine Antwort dazu einfiel, setzte sie an, „Ich gehe.“

„Nein. Bleib.“

„Wieso?“

„Weil es ein Fehler war. Mein Fehler.“

„Es ist okay.“

Das sagte sie immer, obwohl beide wussten, dass es nicht okay war. So naiv wie am Beginn war er nun aber nicht mehr, dass er sich durch diese Worte abspeisen ließ.

„Ich hab das einfach aus den Gedanken heraus gesagt. Ich will nicht, dass du gehst.“

„Wenn ich das Gefühl hätte, du würdest wollen, dass ich gehe, wäre ich schon längst zurück nach London gekehrt. Stattdessen stehe ich hier im Regen und frage mich, ob es damals nicht doch vielleicht… unklug war, mich so schnell auf alles einzulassen. Aber egal wie sehr ich mir wünschen würde, alles zu bereuen, ich kann’s nicht. Aber genauso wenig kann ich immer…“, ihre Stimme brach ab.

„Ich wünschte, ich wäre dazu auch in der Lage.“

„Wozu?“

„Nicht alles zu bereuen, was nicht gut gelaufen ist damals. Aber egal wie viel Mühe ich mir gebe, es hilft nichts. Das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, bestimmte Dinge nicht zu tun, bleibt.“

„Hättest du sie wirklich heiraten wollen?“

Kevins Blick schweifte in ihre Richtung und blieb einige Momente stumm an ihr hängen. „Vielleicht. Vielleicht hätte es alle Probleme beseitigt, ehe sie überhaupt aufgetaucht sind?“

„Natürlich. Du willst alle Probleme immer lösen, ehe sie überhaupt aufgetaucht sind… Wie konnte ich das vergessen? Ich schätze, dass es wohl einfach deshalb nicht funktioniert.“

„Was?“

„Alles. Oder glaubst du, es macht mir Spaß, dich jeden Tag so zu sehen, in der Hoffnung, am nächsten Tag würde die Welt anders aussehen?“

Darauf wusste er nichts mehr zu sagen und das, obwohl er genau wusste, wie schlecht es ihr die letzten Wochen über gegangen sein musste. Und trotzdem war sie so stark geblieben. Kevin trat ein wenig näher, konnte jedoch nur mitansehen, wie Sethmin sich abwandte. Er fasste nach ihrer Hand, wollte sie zu sich ziehen, aber sie drückte sich von ihm weg und stolperte schnaufend ein paar Schritte zur Seite. Die vorerst letzten, von ihr geflüsterten Worte hörte er kaum, im lautstarken Regen gingen sie unter. „Machs gut.“
 

„Ein blauer Fleck? Hast du dich gestoßen?“

„Nein das… das kommt nicht, weil ich mich gestoßen hab. Das ist von ihm.“

Ihm. Ihrem Vater. In ihm stieg die Wut hoch, geballt, viel zu rasch und unkontrolliert. Er biss die Zähne aufeinander und blinzelte. Es fiel ihm sichtlich schwer, niemanden zu verurteilen, obwohl ihm klar war, wie wenig er eigentlich von der Situation wusste. Mit einer knappen Bewegung wandte er sich von ihr ab und entfernte sich einige Schritte von ihr – eine eher unbewusste Reaktion auf dieses unerwartete Geständnis. Er neigte den Kopf zur Seite, stützte sich an der nebenstehenden Wand. Sie hatte unterdes geschwiegen, ehe sie jedoch zittrig fortfuhr. „Ich wollte nur ehrlich sein. Bislang weiß niemand davon, aber vielleicht hätte ich besser nicht…“

„Natürlich. Und einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert, richtig?“

Keine Antwort. Stattdessen war sie einfach weggelaufen und hatte ihn zurückgelassen. Alleine. Ihre Worte gingen ihm immer und immer wieder durch den Kopf, aber selbst nach Minuten war er nicht in der Lage, sie nachvollziehen zu können. Er wusste ja, was all das hieß, wenngleich sie ihm sicherlich noch lange nicht alles erzählt hatte. Aber er konnte nichts tun, gar nichts – und genau diese Hilflosigkeit war wie eine schwere Last, ein Felsbrocken auf seinen Schultern, der ihn zu Boden drückte. Kevin schlug aus, traf die nebenstehende Wand. Seine Hand pochte daraufhin, aber es tat nicht weh.
 

Wieso hatte er sie damals einfach gehen lassen? Sein Blick huschte hinauf zu den Baumkronen, doch es war zu dunkel um wirklich viel zu erkennen.



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