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Rewind And Reflect

[Caleb x Cornelia | canon-sequel | enemies to lovers]
von

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Back To Normality


 

… I gripped your hand tightly in mine,

Just like an innocent child …
 

S I E B Z E H N
 

Cornelia sank erschöpft vom bloßen Zusehen auf die Knie. Ihr Blick wurde leer, Tränen überwältigten sie, ihr Körper begann leicht zu zittern. Caleb war der einzige, der nicht damit beschäftigt war, nach den Verletzten zu sehen, oder vielleicht war er auch der einzige, der sich mehr um Cornelias geistigen Zustand sorgte als um den körperlichen der anderen, denn er war auch der einzige, der sofort alles stehen und liegen ließ, um ihr Beistand zu leisten. Beruhigend kniete er sich neben sie, um sie in seine Arme zu schließen. Cornelia umfasste zwar seinen Unterarm, doch so richtig mitbekommen tat sie seine Berührung nicht.

"Shht", machte Caleb. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. "Es ist vorbei. Wir haben es überstanden."

"Ja. Ja, du hast Recht", presste sie mit belegter Stimme hervor. Ihr Blick war aber immer noch ins Leere gerichtet. "Ich dachte nur nicht, dass es so furchtbar ist, zusehen zu müssen und zu wissen, dass man nichts tun kann."

"Jetzt ist es zu Ende. Du bist nicht mehr hilflos." Sachte zog er sie auf, stützte sie aber weiterhin. "Kannst du alleine stehen?"

"Ja?" Der unsichere Unterton veranlasste Caleb aber dennoch dazu, nicht loszulassen. Sie sah noch etwas wackelig auf den Beinen aus.

"Du solltest dich um die anderen kümmern. Mir geht es gut. Ich werde lieber nach Will sehen." Cornelia sah ihn ernst an. Langsam, aber bestimmt, löste sie sich von seinem Griff, um ebenso langsam, aber bestimmt, zu der bewusstlosen Will hinüber zu gehen.
 

Inzwischen war der Regen zu einem leichten Nieseln verkommen, das durch die schwach scheinende Sonne kaum spürbar war. Das neue Wetter verlieh der Nachkriegssituation eine gedrückte Stimmung. Ebenso gedrückt war auch Matts Stimmung. Er hielt Wills lädierten Körper noch immer umfasst. Nur mit viel Überredungskunst gelang es Cornelia schließlich, sie ihm abzunehmen. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Will endlich wieder das Bewusstsein erlangt hatte und nachdem sie sich auf den neuesten Stand bringen hatte lassen, erklärte sie sich sogar dazu einverstanden, sich von Cornelia und Matt, dem im Endeffekt nichts Gröberes als ein klein wenig Blut fehlte, zu Calebs Zelt bringen zu lassen, in dem das Verbandszeug gelagert war.

Es dauerte auch nicht lange, bis alle Verletzten vor dieses Zelt gebracht waren, allerdings fiel die Bilanz erschreckend aus. Drake und Aldarn, beide noch nicht bei Bewusstsein, hatten nicht nur sehr viel Blut verloren, sondern auch schwere Kopfverletzungen, weswegen sie auch nicht so schnell wieder fit sein würden.

"Wir sollten sie in ein Krankenhaus bringen", schlug Will vor, deren Wunden inzwischen notdürftig versorgt waren.

"Derartiges gibt es in Meridian nicht", meinte Caleb trocken. "Das einzige, das wir tun können, ist, sie in das nächste Dorf zu bringen und der Pflege einer Familie zu unterstellen."

"Und wo ist das nächste Dorf?"

"Eine halbe Tagesreise von hier entfernt, schätze ich." Er überlegte. "Mit zwei Ohnmächtigen vermutlich eine ganze Tagesreise, wenn nicht sogar mehr."

"Dann bringen wir sie dort hin", befahl Will entschlossen. "Wir haben ohnehin keine neuen Anhaltspunkte, wo Phoebe sich aufhält, also sollten wir zurück in die Hauptstadt gehen und mit Elyon reden. Derzeit können wir nichts weiter tun. Immerhin haben wir Cornelias Kräfte wieder."

"Ah, richtig", erinnerte sich Hay Lin überschwänglich. Sie zog aus ihrer Hosentasche den Flakon, der Cornelia so viel Unannehmlichkeiten beschert hatte. Mit übertriebener Ehrfurcht kniete sie sich vor ihr nieder und hielt die flache Hand mit dem Behälter hoch. "Ein wenig Erde, Milady."

"Denkst du, ich kann es einfach aufmachen?" Skeptisch betrachtete Cornelia das gläserne Gefäß von allen Seiten. "Vielleicht verschwindet die Kraft dann einfach in der Luft…"

"Wir haben keine andere Möglichkeit, als das einzige auszuprobieren, was uns möglich ist", beschloss Will ernst. "Schlag es einfach auf den Boden. Wird schon klappen."

"Ich bin mir da nicht ganz so sicher wie du", zögerte Cornelia. Sie ließ die Phiole an der Kette baumeln. "Ich habe nämlich wirklich keine Lust, die ganze Zeit machtlos daneben zu stehen, während ihr Kopf und Kragen riskiert."

"Mach endlich!" Irma riss ihr den Flakon aus der Hand, holte aus und warf es kräftig auf einen der nahegelegenen Felsen.
 

Was dann geschah war zwar nicht unbedingt übermäßig eindrucksvoll, aber hatte doch einen bewegenden Beigeschmack. Das hellgrün leuchtende träge Gas entwich dem Glas in einer gewaltigen Wolke, die sich aufplusterte und urplötzlich wieder zusammenzog. Sie quetschte sich zusammen, bis sie eine Art Blase war und schwebte wie in Zeitlupe auf Cornelia zu, der ein erster Stein vom Herzen fiel. Die Blase stoppte kurz vor ihrem Oberkörper und verpuffte dann mit einem leisen Zischen. Gespannt warteten alle, was nun passieren würde, doch alles blieb ruhig. Ebenso gespannt und mit einem großen Teil Furcht, richtete Cornelia eine Handfläche sanft auf die Erde am Rand der Lichtung. Wenige Momente später spross eine winzige grüne Pflanze zwischen den Grashalmen hervor. Im Freudentaumel vergaß Cornelia beinahe zu atmen, so erleichtert war sie. Endlich fühlte sie sich nicht mehr schwach!

"Dann können wir jetzt ja so richtig loslegen, nicht wahr?", eiferte sie strahlend.

"Nicht so schnell", gebot Will ihr Einhalt. "Erst einmal müssen wir Aldarn und Drake versorgen. Sie können auf keinen Fall mit uns kommen, das wäre ihr Tod. Andererseits dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen irgendetwas tun."

"Sehen wir es ein", unterbrach Cornelia sie. "Wir können nichts tun."

"Das Beste wäre, wieder auf die Erde zurückzukehren und abzuwarten. Nun, da wir wieder W.I.T.C.H. sind und nicht mehr nur W.I.T.H., haben wir wenigstens eine Chance."

"Du willst damit sagen, wir haben unser Leben Zuhause für ein paar Wochen lahm gelegt, nur um jetzt nach lächerlichen vier Tagen wieder zurückzukehren?", fragte Cornelia ungläubig. Sie rechnete nach. "Oder zumindest nach acht Tagen, denn bis wir wieder bei Elyon sind brauchen wir sicherlich genauso lange wie wir hergebraucht haben!"

"Wir reisen sofort", korrigierte Will. "Immerhin haben wir das Herz von Kandrakar."

Den anderen Mädchen schlief das Gesicht ein. "Eine kurze Frage, Frau Anführerin", knurrte Irma. "Wieso haben wir einen anstrengenden Fußmarsch auf uns genommen, wenn wir sofort mit dem Juwel reisen hätten können?" Ihr Blick verfinsterte sich. An diese Möglichkeit hatte niemand gedacht, außer Will, und die hatte anfangs keine allzu gute Erklärung.

"Ich dachte mir, es wäre womöglich eine tolle Erfahrung? Mädels, tötet mich nicht gleich, lasst mich erst erklären!", sie hob abwehrend die Hände. "Ich habe es versucht! Ich habe es wirklich versucht! In der Nacht bevor wir aufbrachen, wollte ich ein Portal kreieren, das uns an den Ort bringt, den Caleb sich vorgestellt hat. Ich dachte, es würde so funktionieren wie bei der Suche nach dem Buch, aber es ging nicht. Es öffnete sich nicht einmal so etwas Ähnliches wie ein Portal."

"Natürlich nicht, das haben wir doch bereits geklärt", mischte Taranee sich ein. Den funkelnden Blick Irmas nahm sie gerne in Kauf. "Wenn Will sich nichts unter dem Ort vorstellen kann, an den sie möchte, kann sie auch kein Portal kreieren."

"Außerdem liegt es an dem Spirit", erklärte Caleb beschwichtigend, ehe Irma auf ihre Freundinnen einprügeln konnte. "Diese Portale bestehen aus reiner mobilisierter Energie. Wo keine Energie ist, kann sich auch keine mobilisieren. Nur an Stellen wo hohe Konzentrationen herrschen können Portale geöffnet werden."

"Also nützt es gar nichts, dass ich heute weiß, wo ich mein nächstes Portal hinhaben will?"

"Korrekt. Wir müssen erst ein paar Kilometer außerhalb des Rings gehen. Ich schlage vor, Vathek und Tristan bringen unsere Kampfunfähigen in das nächste Dorf. Sobald sie genesen sind, kommt ihr zurück in den Palast. Lilith, danke für deine Hilfe. Du kannst gerne bei Königin Elyon in den Dienst treten, das weißt du, aber ich vermute, du wirst dich wieder deinen Wanderungen hingeben." Er wandte sich an Will. "Ich bringe euch zu einem Ort, von wo aus ihr zurück zur Erde könnt. Anschließend werde ich auf direktem Wege zu Königin Elyon reisen, um zusammen mit den Spähtruppen Phoebe zu suchen. Sobald etwas von Belangen passiert, werde ich euch informieren. Mehr können wir derzeit wirklich nicht tun."
 

"Wir haben ein großes Problem."

Dr. Harvey Blight, demütig und lädiert, kniete vor einem Thron nieder, der aus einer Felsformation in einer verschneiten Höhle gemeißelt worden war. Auf dem kalten Stein saß eine schlanke Frau, großgewachsen mit platinblondem Haar, das ihr in langen Wellen beinahe bis zum Boden die Rückseite hinab fiel. Ihren grazilen Körper umgab ein Mantel aus dunkelbraunem Fell, ihren Kopf zierte eine goldene Dornenkrone mit schwarzen Kristallrosen zwischen den Stacheln.

"Das sehe ich", hauchte ihre kalte Stimme. Sie hallte finster an den kahlen Kalkwänden wider. Neben ihrem ranghöchsten Untertan hatten sich Ophra und Collin unterwürfig auf den Boden gelegt. "Was ist deine Entschuldigung, Odin?"

Blight alias Odin wagte nicht, aufzusehen. "Ich habe keine, meine Königin. Sie waren in der Überzahl. Das Mädchen der Erde hat ihre Kräfte wieder."

"Dann müssen wir handeln. Du hast mich enttäuscht, Odin. Ich erwäge, dein Versagen zu bestrafen. Was hältst du von einem ehrlosen Freitod?"

"Herrin, ich bitte Euch, ich kann noch von Nutzen sein! Lasst mich am Leben, dann werde ich Euch zum Sieg verhelfen. Ich habe einen Plan."

Phoebe schnippte mit den Fingern. Aus dem Nichts erschien ein Kelch, randvoll mit Wein. Sie trank ihn in einem Zug leer. "Tu, was dir beliebt. Mehr enttäuschen als jetzt kannst du mich ohnehin nicht. Erläutere deinen Plan, dann werden wir sehen, ob ich dich am Leben lasse."

"Wir müssen Meridian angreifen. An seinem stärksten Punkt. Sobald wir das Schloss eingenommen und die unrechtmäßige Königin Elyon gestürzt haben, wird das Reich uns zu Füßen liegen."

"Hm." Phoebe ließ gelangweilt die Hand kreisen. "Wieso mit dem Schwachen anfangen, wenn man alles auf ein einziges Mal mit Einnahme des Zentrums unterwerfen kann? Ich gebe zu, die Idee gefällt mir. Aber sage mir, wie willst du mit zwei Gefolgsleuten gegen fünf Wächterinnen, eine Königin und ein Heer voller Soldaten und Söldnern ankommen?"

"Ich werde Kreaturen finden, die Euch zu dienen als eine Ehre empfinden werden und nicht geblendet sind vom Lug und Trug der jetzigen Königin, die Euer Recht mit Füßen trat. In den Sumpfgegenden gibt es viele mächtige Schatten, die nur darauf warten, eine Chance zu bekommen. Ihr erinnert Euch an Audrey, meine Sprechstundenhilfe? Auch sie hat Kontakte in die tiefsten Winkel, wo die verachteten Monster nur darauf warten, Euch zugehörig zu sein."

Phoebe befahl ihm, sich zu erheben. "Sag mir nur eines, Odin, treuer Diener, was hast du mit dem blonden Mädchen bezweckt? Du hast Zeit damit verschwendet, sie zu manipulieren, ihre Träume auszuhorchen und wofür? Alleine für diese Torheit sollte ich dir den Kopf abschlagen."

Odin fiel wieder demütig zu Boden. Seine Stimme war jedoch so fest und überzeugt wie selten. "Ich gestehe, mein Vorhaben verlief nicht so, wie es hätte verlaufen sollen. Doch, erlaubt mir, das zu sagen, ich tat es aus Vorsorge. Für den Fall, dass mein Plan scheiterte, hatte ich zu den Ihalla ein paar Samen der Sachimpflanze hinzugefügt. Die Macht der Gefühle ist nicht zu unterschätzen, meine Königin. Jede Kette braucht ihr schwächstes Glied. Wenn es nicht existiert, dann muss es eben geschaffen werden. Cornelia Hale empfindet sehr viel für den jungen Rebellen. Aus diesem Grund habe ich ihre Gefühle systematisch umgekehrt. Aus Liebe wurde Hass. Sobald ihre Kräfte geraubt worden waren, fiel die Wirkung ab, denn Sachim wirkt nur auf magischer Ebene. Nun hat sie ihre Kräfte wieder und wird ihn ganz automatisch wieder hassen. Das wird Zweifel hervorrufen, Zweifel und Verwirrung. In genau diesem Zustand werden wir sie töten."

"Ich hoffe für dich, dass du Recht behältst. Nun geh und verschaffe mir die Armee, die du mir so groß versprochen hast!"
 

In Heatherfield vergingen viele Tage, an denen nichts geschah. Cornelia und Will nahmen ihr Studium wieder auf, was recht schwierig war. Dauernd hofften und bangten sie, eine Nachricht von Caleb zu bekommen. Ihre Konzentration war also nicht gerade auf dem Höhepunkt, dennoch mussten sie eine Menge lernen, um die Ende Jänner kommenden Prüfungen zu bestehen. Nun war bereits der elfte Jänner und sie hatten noch recht wenig für ihr Wissen getan. Taranee hatte ähnliche Probleme. Ihre Prüfungen fanden bereits diese Woche statt, weswegen sie so schnell als möglich nach London fliegen musste. Auch Irma war aufgrund ihres Arbeitsvertrages dazu gezwungen, sich wieder einmal im Supermarkt blicken zu lassen. So blieb also bloß noch Hay Lin über, die jedoch durch eine spontane Reise ihrer Eltern plötzlich die gesamte Verantwortung für das Silver Dragon hatte.

So rannten die Tage dahin, ohne besondere Ereignisse zu bringen. Taranee bestand ihre Prüfungen in organischer Chemie mit voller Punktezahl, Irma durfte ihren Job behalten, das Silver Dragon hielt wacker seinen Umsatz und die beiden Heatherfieldstudentinnen pumpten ihr Gehirn in jeder freien Minute mit Wissen voll. Das Spannendste, das man erwarten durfte, waren ein paar Nichtgenügend auf die Semesterprüfungen.
 

"Kannst du mir bitte noch mal erklären, wieso wir sie nicht im März nachholen?", maulte Will. Genervt warf sie ihr zentnerschweres Buch in die Ecke hinter den Kühlschrank. "Wenn wir sie am Anfang des Sommersemesters parallel zu den ersten Teilen der Ringvorlesungen machen, dann müsste das doch zu schaffen sein!"

"Weil ich für meinen Teil endlich diese uninteressante Theorie des wissenschaftlichen Arbeitens hinter mir haben will. Außerdem kannst du deine Prüfungen verschieben, aber ich habe ab Februar Proseminare mit Anwesenheitspflicht, die füllen mich komplett aus."

"Und wieso muss ich dann lernen?"

"Weil du mit mir leiden musst", sagte Cornelia trocken, die Nase in einen grünen Wälzer gesteckt. "Aber wieso?", murmelte sie leise vor sich hin. "Wenn Modelle aus Hypothesen bestehen, wie können sich dann verschiedene Hypothesen gegenseitig im selben Modell widerlegen? Verflixt und zugenäht, ich dreh gleich durch!" Nun klappte auch sie das Buch zu. "Mir brummt der Schädel! Ich musste sogar meinen Namen vergessen, um mir zu merken, welche entwicklungstheoretischen Ansätze es gibt!"

"Sieh es positiv, im Gegensatz zu deinem Namen kannst du damit jemanden beeindrucken", tröstete Will sie.

"Und wenn sie eine Dokumentation über mein beeindruckendes Wissen drehen wollen, dann wissen sie nicht mal, wie ich heißt. Tolle Aussichten." Sie sah mit müden Augen auf die Uhr. "Samstagabend, acht Uhr. Wir sollten ausgehen und Spaß haben, stattdessen versauern wir hier mit unseren Büchern. Was ist denn das für ein Studentenleben? Als Hochschüler muss man jeden Morgen einen Kater haben!"

Aufmunternd tätschelte Will ihr die Schulter. "Mach dir nichts draus, du bist mit deinem Elend immerhin nicht alleine. Heute ist doch der zweiundzwanzigste, nicht wahr? Im Clapp ist heute Malibu Night. Wir könnten doch Hay Lin fragen, ob sie Lust hat, mit uns dort ein wenig abzuspannen."

"Eine grandiose Idee!"
 

Hay Lin hatte zwar Zeit, doch keine Lust. Ihre Lebenskraft war vom Restaurant völlig ausgesaugt worden, sodass sie nicht einmal die Kraft hatte, den Hörer des Telefons selbstständig zu halten. Soweit die anderen beiden es mitbekommen hatten, hatte sie ihn nicht in der Hand, sondern lag darauf. Wie dem auch sein mochte, die nur sekundenlange andauernde Euphorie ebbte sofort ab. Schließlich fanden sich die jungen Frauen vor ihrem Fernseher wieder, bewaffnet mit Tiefkühlpizza, Salzgebäck und Cola.
 

Auf genau diese deprimierende Art klangen alle Tage aus, bis der große Tag da war. Mittwoch, der sechsundzwanzigste Jänner. Er begann mit sanften Sonnenstrahlen, die nicht wärmten, glatten Straßen, die nicht befahren werden konnten, und einem Wecker, der nicht klingelte.
 

Es wurde acht Uhr morgens in Heatherfield. Der Großteil der Stadt war bereits auf dem Weg zur Arbeit, Schule oder um Besorgungen zu erledigen. Wer schlief, hatte entweder nichts zu tun oder unheimlich seltsames Pech, so wie im Fall von Cornelia und Will. Der Witz an der Sache war nämlich, dass beide Weckgeräte funktionierten und dennoch ihren Sinn nicht erfüllten.

Wills Handy ging um halb acht los, doch es befand sich zwischen den schmutzigen Socken in ihrem Reiserucksack, den auszuräumen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte. Umso mehr hätte sie gehofft, wäre sie wach gewesen, dass Cornelia ihren Radiowecker hörte, aber diese Alternativlösung war ihnen nicht vergönnt gewesen. In der Nacht auf den großen Tag hatte es nämlich einen Stromausfall gegeben. Wie allgemein bekannt, wurden dabei die korrekten Uhrzeit aller Elektrogeräte auf null Uhr gesetzt. Unglücklicherweise war der Stromausfall nicht um Mitternacht passiert, sondern um vier Uhr früh, weswegen das verfluchte Gerät auch noch fast vier weitere Stunden brauchen würde, bis es endlich anfangen würde zu piepsen. So weit kam es dann aber glücklicherweise doch nicht.
 

"Will!"

Die Angesprochene drehte sich schnarchend um.

"Will!"

Sie öffnete mühsam ein Auge, als sie jedoch niemanden erblickte, schlief sie wieder ein.

"Will!"

Erneut aufzusehen war ihr zu dumm, vermutlich träumte sie noch. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, also hatte sie noch Zeit, um weiterzuschlafen.

"Will! Piep! Piep! Piep!"

"Herrschaftszeiten, was ist hier los?", fauchte sie, die Decke verärgert aus dem Bett tretend. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um, doch da war niemand. "Spinn ich?" Irritiert fuhr sie sich durch die Haare. Plötzlich kam ihr die Stimme vertraut vor – das metallische Echo, das Klirren im Ton, das Rauschen. Mit hochgezogener Augenbraue beugte sie sich zu ihrer Digitalkamera hinunter. "Was machst du denn hier?"

"Du hast mich vor einem Monat genau hier fallen lassen!", beschwerte sich die Kamera. "Und wieso genau machst du 'Piep'? Das hört sich nicht mal an wie ein richtiges Piepen. Wenn du schon rumalbern musst, dann tu das wenigstens, wenn ich nicht schlafe! Ich schreibe heute nämlich eine wichtige Arbeit. Also geh da wieder rein und sei ruhig." Sie warf die unliebsame Kamera achtlos in eine Schublade. Mit finsterem Blick wollte sie gerade wieder schlafen gehen, als ihr die seltsame Helligkeit auffiel. "Wie komisch…", murmelte sie überlegend. Dann fiel ihr Blick auf die Funkwanduhr, die eine furchtbare Zeit anzeigte.
 

Was folgte war ein langer, lauter, kraftvoller Panikschrei, der Cornelia im anderen Zimmer aufweckte. Wütend kam Letztere aus ihrem Schlafzimmer gestapft. "Was zur Hölle ist denn los? Ich möchte schlafen!"

"Die Uhr!", kreischte Will, auf die unheilvollen Zeiger deutend. In ihrer Hektik warf sie die Uhr weg, die sie so schockiert hatte. Das Gerät zerschellte an der Tischkante des Wohnzimmertisches mit einem schmerzvollen Schrei. Das Klirren des Glases war das Signal für sämtliche Ausnahmezustände, die für die nächste halbe Stunde herrschten. Sie begannen mit einer brutalen Prügelei um den Vorrang im Badezimmer, in dem auch gut Platz für beide gewesen wäre. Die Zeit lief unerbittlich weiter. Während die siegreiche Will also das Waschbecken besetze, versuchte Cornelia in dem Durcheinander ihres Kleiderschrankes irgendetwas zu finden, das halbwegs passabel war, denn ihre Eitelkeit wich auch angesichts der drohenden Katastrophe nicht. Die Wahl war schnell getroffen, doch gerade als sie sich den grünen Strickpullover überstreifen wollte, klingelte es an der Türe. Sie überlegte hin und her – anziehen oder an die Türe gehen? Es könnte ja etwas Wichtiges sein…; dass sie lediglich Unterwäsche anhatte, die wohlgemerkt nicht gerade dem Standard ihrer sonstigen Eleganz entsprach, war ihr in ihrer Panik gar nicht erst bewusst. Unüberlegt stürmte sie also zur Eingangstüre, riss sie auf und stockte.
 

"Caleb?"

Ihr Gegenüber ließ unwillkürlich seinen Blick über ihren Körper wandern – wer konnte es ihm verdenken? –, ehe er anstandshalber übertrieben fest die Augen zusammenkniff. Cornelia konnte dem eigentümlichen Verhalten erst gar nichts abgewinnen, ehe sie begriff, wieso sie die Kälte des Flures so traf. Der Schock klärte ihre Gedanken mit einem Schlag. Sie errötete zwar leicht, ließ sich jedoch nichts anmerken. "Komm rein", befahl sie nüchtern, während sie Caleb auch schon am Handgelenk hineinzerrte. "Warte hier." In angemessen zügigem Schritt kehrte sie zu ihrem Kleiderschrank zurück, vor dessen Spiegel ihr das volle Ausmaß der Peinlichkeiten bewusst wurde. Aber nun war nicht die Zeit für Schamhaftigkeiten, denn sie hatte eine Prüfung zu schreiben!

Will war indes fertig gewaschen in Shirt und Unterhose aus dem Badezimmer getreten. "Hallo, Caleb. Wie geht's?" Sie ließ ihm jedoch keine Zeit zum Antworten, denn die eiligen Schritte führten sie zu ihrer Kleidung. Wenige Minuten später waren die beiden Bewohnerinnen aus der Wohnung gerannt.

"Schließ ab, wenn du gehst!", rief Cornelia dem völlig verdutzten Caleb nach, der ihnen ratlos nachsah, als sie die Räumlichkeiten verließen.
 

"Er hat mich in Unterhose gesehen!", brüskierte sich Will, als sie in dem langsamsten Bus saßen, den Heatherfield jemals gesehen hatte. Sie mussten in das Universitätsviertel und zwar innerhalb einer viertel Stunde, denn um genau elf Uhr begannen sämtliche Prüfungen des Wintersemesters.

"Er hat mich in Unterwäsche gesehen!", trumpfte Cornelia neben ihr auf. "Ich werd verrückt, geht das vielleicht noch langsamer?!" Sie hob drohend die Faust in Richtung Busfahrer. "Wenn wir ein Portal kreieren, wären wir schneller!"

"Das bringt uns jetzt auch nichts mehr. Bis wir ausgestiegen und unbeobachtet sind, sind wir auch schon auf der Uni! Reg dich ab und sag lieber, was Caleb wollte."

"Keine Ahnung, ich dachte du hast ihn gefragt." Sie zuckte die Schultern.

"Was meinst du 'keine Ahnung'? Du hast ihn doch rein gelassen."

"Und das ist meine Verpflichtung, ihn nach seinem Anliegen zu fragen?"

"Normalerweise schon", seufzte Will. Sie schenkte ihrer Sitznachbarin einen tadelnden Blick. "Ich kann mir nur eines denken: Sie haben Phoebe gefunden oder sind irgendwie in Schwierigkeiten."

"Dann hätte er es doch gesagt", erklärte Cornelia mit wegwerfender Handbewegung.

"Er sieht zwei halbnackte Frauen vor seinen Augen herum hüpfen, wovon eine seine Exfreundin ist, die nebenbei bemerkt auch noch unglaublich gut aussieht. Nun nenn du mir den Mann, der in so einer Situation an die Arbeit denkt!"

"Caleb", erwiderte sie schnell. "Für ihn gibt es ja nichts anderes als seine zweckfrei gewordene Rebellion. Er interessiert sich nicht für solche Dinge."

"Ja. Klar", meinte Will vor Sarkasmus triefend.

"Jedenfalls wird er schon damit rausrücken, wenn wir nach Hause kommen. Wir haben immerhin jetzt eine wichtigere Aufgabe zu erledigen!"
 

In Meridian herrschte zu diesem Zeitpunkt eine ähnlich angespannte Stimmung vor, wenn auch aus anderen Gründen.

"Hoheit, eine zweite Nachricht ist eingetroffen!" Ein Bote kniete vor Elyon nieder. Auf seinen dreckigen Handflächen lag ein zusammengerolltes Schriftstück. "Einer der Wächter fand ihn mitten in der ersten Vorhalle. Er lag auf dem Boden, als sei er drapiert worden, königliche Hoheit."

"Reicht ihn mir." In Elyons sonst so milder Stimme zeichnete sich eine ungewohnte Härte ab, die sich auch auf ihr ernstes Gesicht auswirkte. Ihre Augen flitzten angestrengt über das Papier. "Die Lage ist noch prekärer als ich annahm. Schickt nach meinem Beraterstab. Sie sollen sich umgehend in diesen Hallen einfinden." Sie las den Brief erneut durch, dann ließ sie sich auf ihrem Thron nieder. Das reglose Sitzen fühlte sich an, als hätte sie auf glühenden Kohlen Platz genommen.
 

Die Verlangten kamen umgehend. Es dauerte keine zehn Minuten, da waren die violett gekleideten Berater vor ihrer Königin versammelt. Elyons Beraterstab bestand aus vier Leuten; drei Männern und einer Frau. Die Männer, zwei braunhaarig, der andere mit Glatze, waren um die fünfzig Jahre alt. Die einzige Frau hatte silbriges Haar, obwohl sie erst in den Zwanzigern war.

"Ihr ließet uns rufen, königliche Hoheit?", fragte die Frau.

Elyon nickte. "Wir haben Neuigkeiten erfahren, Eris. Leider sind sie, wie angenommen, nicht allzu erfreulich."

"Die Spähtrupps sind also erfolgreich zurückgekehrt?"

"Ja und nein", erwiderte Elyon mit finsterem Blick. "Sie kamen ohne verwertbare Informationen Heim. Jene Neuigkeiten, die ich zu erzählen habe, kommen von den Gegnern selbst. Seht." Sie hob zwei vergilbte Papiere hoch. "Der erste Brief kam heute in den frühen Morgenstunden. Er ist sehr kurz." Elyon räusperte sich. "An die Königin Meridians gerichtet möchte ich der Gerechtigkeit halber jene Worte an das Reich richten, welche ich zu sagen den ersten Anspruch erhebe. Der Herrscherin selbst muss bewusst sein, wie elend man sich fühlt, seinen zugewiesenen Platz als unrechtmäßig zu empfinden, wenn als Prinzessin geboren, man jahrelang als Bauerntochter leben muss. Aus diesem Grund fordere ich auf diesem Weg mein Recht als älteste Schwester ein, den Thron fortan zu besetzen, der mir ebendiesem Recht zuwider verwehrt worden war. Nur eine offizielle Übergabe an die rechtmäßige Königin vermag das Blutbad zu verhindern, welches andernfalls all jene Kreaturen überkommen wird, die sich der unrechtmäßigen Königin zugehörig fühlen."

"Phoebe fordert den Thron ein, das war zu erwarten", erklärte Eris überlegend. "Doch was ist mit dem zweiten Schriftstück?"

"Nachdem ich den ersten Brief erhielt – er wurde genau hier vor diesem Thron gefunden – schickte ich sofort nach einem Boten, der die Wächterinnen so schnell als möglich zusammenrufen soll. Er muss bald wieder hier sein. Indes, besser gesagt: Vor wenigen Minuten erreichte mich eine zweite Mittelung, welche die Lage als heikler entlarvt, als ich befürchtet hatte. Bisweilen hatte ich dummerweise auf eine diskrete Lösung gehofft. Phoebe zu töten, während sie auf eine Antwort wartet, war mein erster Gedanke, doch indes kam dies: Inzwischen sollte die unrechtmäßige Königin meine Aufforderung gelesen habe. Meiner Herkunft entsprechend verfüge ich allerdings über einen so scharfen Verstand, dass ich die Antwort ihrer bereits kenne, ehe sie selbst mächtig war, sie in ihrem Kopf zu formulieren. Das erste Schreiben enthielt die Forderung, nun lege ich die Drohung bei, die ersterer mit Sicherheit ein wenig Nachdruck verleiht:

Egal, wie sich die unrechtmäßige Königin entscheiden mag, in einem fairen Kampf erobert wird Meridian mit all seinen Seiten ohnehin mein sein. Mit einem rechtmäßig errungenen Sieg muss fortan auch sein Volk anerkennen, wer seine wahre Königin ist. Betrachtet dieses Schreiben als offizielle Kriegserklärung. Fortan wird Meridian Kriegsgebiet sein, ehe es am Ende des Krieges das meinige sein wird. Versteht ihr nun die Lage?"

"Sie ist äußerst geschickt, das muss man ihr zugestehen", bemerkte der haarlose Mann. "Rein rechtlich gesehen, hat sie tatsächlich den größeren Anspruch auf den Thron. Doch in magischen Welten gehen die Regeln nicht immer den Weg der Legislative."

"Erst fordert sie mich auf, ihr das ihr Zustehende zu übergeben", unterbrach Elyon. "Damit stellt sie sicher, dass sie im Recht ist. Danach erklärt sie Meridian den Krieg, um es auf diesem Weg das ihre werden zu lassen. Damit wäre sie doppelt abgesichert. Im Prinzip gehört Meridian ihr. In diesem Krieg sind wir die Gesetzesbrecher."

"Und dennoch", sagte Eris mit Nachdruck. "Wir sind gezwungen, Meridian vor ihrer Herrschaft zu schützen – legal oder nicht, es muss etwas getan werden. Phoebe hat gewiss noch kein schlagkräftiges Heer auf die Beine gestellt. Nun liegt es an uns, alles zu mobilisieren, was kampffähig ist."

"Du hast Recht, liebste Eris", meinte Elyon. "Gebt folgende Kunde an das Volk weiter: die Zwillingsschwester Phobos' ist im Begriff, Meridian einzunehmen. Alle Männer zwischen fünfzehn und fünfzig sollen sich in der Kaserne beim Palast melden. Die Generäle sollen sie zu Einheiten formen und diese in Bereitschaft halten. Und sagt Folgendes mit Nachdruck: Ein Krieg um den Thron hat begonnen."



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Veronika
2011-05-12T21:10:15+00:00 12.05.2011 23:10
Mal wieder ein super Kapitel.

Conrnelia hat ihre Kräfte wieder und wird jetzt wieder anfangen Caleb zu hassen? Die Bösen haben es auf sie als schwächstes Glied abgesehen? Ich bin echt super gespannt, wie es weiter geht. Du machst es echt spannend ;)

LG <3
Von:  fahnm
2011-05-05T01:01:50+00:00 05.05.2011 03:01
^Super Kapi^^


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