LESTARD (II): »Gehen wir ein Stück?«
Walking down deserted roads
I take one step for every thought.
I know the ground under my feet
And step by step my thoughts will lead me to …
Die Georgiana Street hatte schon bessere Zeiten gesehen. Wo sich vor der Reihe aus braunen Backsteinhäusern einmal sorgsam gehegte Vorgärten befunden haben mochten, griff nun eine dreckige Verwahrlosung um sich, die den gefrorenen Schneematsch ausbeulte.
Urian Adlard zog den Kopf gegen die Kälte ein und nahm einen tiefen Atemzug. Ein frischer, süßlicher Geruch hatte sich über die Straße hinabgesenkt; es würde wieder neuen Schnee geben.
In dem Haus, auf das er zusteuerte, war das Licht gelöscht. Heute, in der Silvesternacht, war seine Vermieterin nicht zu Hause. Und wäre sie es gewesen, so wäre sie sicherlich bereits zu Bett gegangen. Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte Urian fest, dass »bereits« kein besonders adäquater Ausdruck war – in wenigen Stunden würde es dämmern.
Schlagartig kroch ihm die Müdigkeit in die Knochen. Sein resignierender Seufzer ging dem leisen Knarzen der Türscharniere voraus, als er sich in den Flur schleppte. Das unbefriedigende Ende einer Suche, die bis auf Lestards Botschaft an Charlotte fruchtlos geblieben war.
Aus dem Hausflur wallte ihm der altbekannte Atem des Hauses entgegen; ein Duftgemisch aus Teppichstaub, Ofenkohle, frischem Flapjack, einem Hauch Schneegeruch vom letzten Lüften und einer schweren Note, wie sie ein Mensch hinterlässt, dessen Körper über den Geist hinaus gealtert ist. Die nächtliche Stille umfing ihn wie ein Tuch. Nicht einmal das Ticken der schweren Standuhr in Mrs Hughes’ Wohnzimmer war zu hören; das Pendel musste wieder einmal stehen geblieben sein. Darum würde er sich später kümmern, wenn Mrs Hughes nicht schneller war. Man sah ihr die Schmerzen an, die ihr körperliche Arbeit mittlerweile bereitete, doch bevor er überhaupt Hand anlegen durfte, musste sie erst an die Grenzen ihrer verbliebenen Agilität stoßen.
Urian sank rücklings gegen die Haustür. Er spürte, wie sie unter seinem Gewicht sanft ins Schloss glitt, und streckte seine Sinne aus.
Die erwartete Fülle blieb aus – er war allein mit sich. Das Antidot, das er genommen hatte, wirkte noch. Irritiert schüttelte er den Kopf. Es war, als sei er mit Blindheit geschlagen, als ertaste er seine Umgebung durch Handschuhe hindurch. Er hasste diese Tabletten. Ohne sie löste er sich auf – und mit ihnen die Umwelt.
Urian streifte die Schuhe ab, hob seine Post auf, die Mrs Hughes ihm auf die Stufen gelegt hatte, und tappte auf Socken die Treppe hinauf. Ein Ablauf, den er sich schnell angewöhnt hatte. Wenn Mrs Hughes im Hause war, pflegte sie zu einer Stunde aufzustehen, zu der manch anderer sich nach durchzechter Nacht zu Bett begab. Sobald ihre letzten sechzig Minuten Schlaf anbrachen, schärften sich ihre Sinne und sie war imstande, jede kleine Veränderung im Haus zu bemerken. Vor seinem geistigen Auge sah er sie bereits am Fuß der Treppe stehen, eine Hand auf dem Geländer ruhend, wie sie kopfschüttelnd zu ihm hochschaute und sich innerlich fragte, ob sie ihm wegen seiner nächtlichen Ausflüge Vorwürfe machen oder sich lieber stillschweigend sorgen sollte, weil er letzten Endes ja doch ein unbelehrbarer Sturkopf war.
Ein wehmütiges Lächeln flackerte über Urians Gesicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihn im Treppenhaus empfing, wenn er übernächtigt zurückkehrte. Heute würde es bei der bloßen Vorstellung bleiben, denn seine Vermieterin verbrachte den Jahreswechsel bei ihrer Tochter.
Urian drückte den Wohnungsschlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum, nur um festzustellen, dass das erwartete Klicken ausblieb. Stattdessen ließ sich das Schloss weit nach rechts überdrehen. Wieder einmal. Stöhnend sackte Urian gegen den Türrahmen. Er wollte das verdammte Ding seit drei Wochen reparieren lassen. Im Takt der Drehbewegungen kreisten entnervte Flüche in seinem Kopf, und es kamen einige zusammen, bis die Tür endlich aufsprang.
Urian stieß sie unsanft hinter sich ins Schloss zurück und ließ die Post auf die Arbeitsplatte seiner Küchenzeile fallen. Auf das kleine Häufchen ungeöffneter Briefe aus der letzten halben Woche, das Mrs Hughes ihm hingelegt haben musste. Dass er daneben einen Teller mit Flapjack entdeckte, überraschte ihn nicht im Geringsten. Nicht mehr. Das Gefühl der Rührung schien jedoch mit jedem Mal zuzunehmen. Mrs Hughes hatte das Gebäck in Folie eingeschlagen, damit es nicht austrocknete. Sie kannte ihn und wusste, dass er mitunter ganze Tage und Nächte über außer Haus blieb. Die drei Zimmer im Obergeschoss, von denen er zwei bewohnte, hatten Mrs Hughes und ihr Mann ursprünglich für ihre beiden Kinder als Wohngemeinschaft angelegt. »Zum Üben«, hatte Mrs Hughes gesagt. Urian hatte sie kennen gelernt, als sie bereits ausgezogen waren und nach dem Tod des Vaters einen verlässlichen Untermieter gesucht hatten – entsprechend der Erklärung ihrer Mutter, ihr Haus nicht aufzugeben. Fürsorgliche Leute waren sie, und ständige Gäste und Gastgeber für Mrs Hughes. Sogar für ihn. Urians Finger streiften über das glatte Porzellan des Tellers. Mrs Hughes hielt die Familie zusammen.
Das Kuvert, das auf der anderen Seite an der Mikrowelle lehnte, sah er erst Sekunden später. Es war an ihn adressiert, in derselben geschwungenen Handschrift, in der auch die Nachricht für Charlotte geschrieben worden war. Er wollte danach greifen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.
Zu weit abseits. Nicht Mrs Hughes hatte den Umschlag dort hingelegt.
Urian schloss die Augen und krallte die Finger um die Kante der Arbeitsplatte, bis ihm die Handmuskeln schmerzten.
»Willst du gar nicht wissen, was drin ist?«
Urian wirbelte auf dem Absatz herum, als Lestard zu sprechen anhob. Der Princeps ragte wie aus dem Boden geschossen vor ihm im Türrahmen auf, ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen. Er trug seinen Mantel und seinen Hut; die Hände ruhten gelassen auf dem Knauf eines Spazierstocks.
Urian schluckte. »Hast du dich selbst hereingelassen?«
»Die Hausherrin war bei meiner Ankunft nicht mehr zu sprechen, also habe ich auf dich gewartet.«
Urian hob fordernd die Augenbrauen. »Wie lange bist du schon hier?«
»Oh, im Haus seit ein paar Sekunden.« Lestard zwinkerte ihm zu. »Auf dem altbewährten Wege. Niemand konnte ahnen, dass du in zwei Tagen kein Mal zu Hause vorbeischauen würdest. Tatsache ist, dass ich keine Antwort auf meinen Brief erhalten habe. Da fand ich, es wäre an der Zeit, sich abzusichern.«
Urian wartete schweigend, doch Lestard schien vorerst nichts mehr zu sagen zu haben. Stattdessen strich er mit einer Hand über den Türrahmen und unterzog die schwach erleuchtete Wohnküche einer genauen Musterung. Kahl war es hier. Der einzige Gegenstand, dem man Gebrauchsspuren ansah, war ein mit braunem Stoff bespannter Ohrensessel, der die Fensterseite des Raumes für sich beanspruchte. Kein Stück passte zu den anderen; alles wirkte wie nach Bedarf zusammengesucht. Urian besaß nicht viel und erst recht keine Hingucker. Das hatte er noch nie. Keine Couch, und sei sie noch so klein. Kein Festnetztelefon, keinen Fernseher. Nur ein Radio. Und ein Mobiltelefon, normalerweise. Es war offenkundig, dass er seine Wohnung kaum nutzte.
Mit einem Seufzer fasste Lestard ihn ins Auge. »Zehn Jahre – und du bist immer noch nicht hier angekommen.«
Urian ertappte sich dabei, dass seine Fingerspitzen nervös auf die Arbeitsplatte tippten, und presste die Handfläche flach auf das Holz; das war ein hervorragender Stabilisator. »Was willst du?«
Lestard schüttelte den Kopf über ihn und nahm den Hut ab. »Hast du ein paar Minuten?«
Zur Antwort deutete Urian auf einen der zwei Stühle, die zu beiden Seiten eines kleinen Esstisches standen. Er beobachtete wortlos, wie der Princeps sich auf dem angebotenen Platz niederließ und den Spazierstock gegen die Tischkante lehnte. Der Knauf war aus Silber gefertigt und stellte – wie Urian plötzlich erkannte – eine exakte Kopie von Lord Eustace Belzacs Kopf dar.
Urian sog zischend die Luft ein. Lestard, der seinen geschockten Blick richtig deutete, unterdrückte ein Lachen.
»Ein unvollendetes Meisterwerk«, erklärte er schelmisch und fuhr mit dem Fingernagel vorsichtig eine der Falten in dem Metallgesicht nach. »Es wird Zeit, das alte Bild ein wenig aufzufrischen.«
Urian starrte auf die Karikatur herunter, die mit ihrem festgemeißelten Grinsen zurückstierte. Er schaffte es nicht ganz, sein entgleistes Lächeln zu richten. »Das passt zu dir.«
Sein Gegenüber nickte bedächtig, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. »Ich verbiege mich nicht gern, wie du weißt.«
»Du hast um ein paar Minuten gebeten«, rief Urian ihm ins Gedächtnis. Endlich gelang es ihm, den Blick von dem Stabknauf abzuwenden.
Lestard fuhr sich durchs Haar und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Urian kannte ihn gut genug, um den bitteren Zug an seinem Lächeln zu bemerken.
»Ich war überrascht, als ich hörte, dass du immer noch in London bist«, sagte der Princeps. »Bevor wir das letzte Mal auseinandergegangen sind, hast du mir noch versichert, dass dein Ausreiseantrag dieses Mal angenommen würde. Du scheinst dich geirrt zu haben, was?«
Urian biss die Zähne zusammen.
»Ich habe gehört, dass Charlotte dich kontaktiert hat.« Lestard nickte zu dem Kuvert herüber, das noch immer bei der Mikrowelle lag. »Seitdem wartet mein Briefchen auf dich. Eine Antwort bekam ich nicht von dir, also habe ich mal nachgehakt, was du so treibst. Der Zweite Sekretär scheint dich momentan ja gut zu beschäftigen. Wie viel zahlt er dir für deine Dienste? Oder bist du immer noch sein Gelegenheitsschnüffler? Wie nennt ihr das – ›im Sold‹?«
»Komm zum Punkt«, knurrte Urian.
»Keine Widerworte?« Lestard schüttelte abermals den Kopf. »Du hängst also immer noch in der Schwebe. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, aber der ist hinfällig, seit du angefangen hast, dich zu mir durchzufragen. Sag, wie hat der gute Eustace die Neuigkeiten aufgenommen?«
»Er hört sich um, ob Atlantis dir den Rücken stärkt.« Urian ließ die Arbeitsplatte los. »Oder Charlotte und ich.«
»Charlotte tut, was sie für richtig hält«, erwiderte Lestard. »Ich hätte gern, dass du ein Auge auf die Sache hast und sie von irgendwelchen Dummheiten abhältst.«
Urian verschränkte die Arme. »Darum musst du mich nicht bitten.«
»Das freut mich. Dann kommen wir jetzt zu dir.«
Urian wandte das Gesicht ab. »Ich stehe nicht zur Verfügung«, sagte er.
Lestards weiches Lachen trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Er hörte das leise Schaben von Stuhlbeinen auf den Dielen und das dumpfe Tappen von Schuhsohlen.
»Nicht zur Verfügung«, wiederholte Lestard nachdenklich. »Wenn du nicht für den Rest deines Lebens hier im Süden versauern willst, solltest du dich in nächster Zeit von meiner Schwester und Jean fernhalten. Und von Phinæus. Gib Eustace keinen Grund, sich an deine Fersen zu heften.«
Urian wirbelte herum, kaum fähig, die Worte zurückzuhalten. Als er in Lestards Gesicht blickte, war es dem seinen so nahe, dass er die feinen Hautrisse zwischen den Narben sehen konnte. Urian wich zurück und stieß gegen die Arbeitsplatte.
»Eustace ist es gleich, ob du das für Charlotte tust oder für mich«, raunte Lestard väterlich. »Er hat den Köder geschluckt. Es geht ihm nicht um Charlotte oder um den Schlüssel. Er will an mich heran. Und wenn er den Eindruck gewinnt, dass du seine Operation behinderst, schafft er dich vorsorglich aus dem Weg, ohne lange nach deinen Beweggründen zu fragen.«
Urian schreckte davor zurück, die Bedeutung von Lestards Worten ganz an sich heranzulassen. Das würde ihn um seine Kühnheit und um seinen Verstand bringen.
»Natürlich nur vorübergehend«, fügte der Princeps hinzu.
Urian schob sich seitlich an ihm vorbei und erwiderte den Blick, mit dem Lestard jeder seiner Bewegungen folgte. »Gehen wir davon mal aus«, stieß er hervor. »Sollte Lord Belzac derselbe Gedanke bei Charlotte kommen – was wirst du dann tun?«
»Nichts werde ich tun«, erklärte Lestard. »Sie hat genug Gelegenheit, alle Initiative an die Congregatio abzutreten. Eustace über sie zu kontaktieren, war eine Einladung, mehr nicht. Das weiß er.«
»Und du denkst, Lord Belzac lässt sich die Chance durch die Lappen gehen?« Urian hielt seine Stimme nur mit Mühe im Zaum. »Du hast kalte Füße, Princeps. Deshalb bist du hier.«
Lestard schenkte ihm ein Lächeln, das wohl eins von der gewinnenden Sorte hatte werden sollen, doch es zerbröckelte an den Narben. Das entging auch ihm selbst nicht, und mit einem belegten Räuspern sank seine Statur in sich zusammen.
»Eustace hat angespannter reagiert, als ich es erwartet habe«, gab er zu.
»Du hast ihn vor dem Senat bloßgestellt, das vergisst er dir nicht«, entgegnete Urian. »Vielleicht solltest lieber du dich mit ihm an den Verhandlungstisch setzen. Damit du ihm erklären kannst, dass Charlotte im Grunde völlig uninteressant ist.«
Lestard verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. »Wir sind damals schon im Guten nicht auf einen Nenner gekommen.«
»Also denkst du dir, es wäre sinnvoll, den Keil noch weiter zu treiben, indem du einfach mal den Blick auf Charlotte und mich lenkst?«
Lestard hob die Brauen. »Du hast dich ganz allein da reingeritten.«
»– und jetzt stehst du hier, weil du siehst, dass es nicht funktioniert hat«, fuhr Urian fort. Er spürte, wie er zu zittern begann. Er durfte sich nicht gehen lassen. Je eher er diese Unterhaltung beendete, desto besser.
»Und du schaffst es nicht, mich hinauszuwerfen«, bemerkte Lestard in dem Moment. Amüsement mischte sich in seine Miene. »Hoffst du darauf, dass ich mich verplappere?«
Urian konnte den entsetzten Blick nicht unterdrücken. Als er seiner Empörung Herr geworden war, hatte Lestard sie bereits gedeutet, dessen war er sich sicher. Und nicht zwangsläufig zum Besten.
»Ich warte immer noch darauf, dass du mir sagst, was du eigentlich hier willst«, gab er stimmlos zurück.
»Mein Freund«, schnurrte Lestard. »Ist meine Warnung etwa auf taube Ohren gestoßen?«
Urian nahm einen tiefen Atemzug. »Jede weitere ist Verschwendung.«
Lestard wandte das Gesicht ab und fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Weißt du«, sagte er, »eigentlich ist deine Position längst festgelegt. Du kannst bloß entscheiden, ob du allein kämpfen willst oder mit meiner Rückendeckung.«
»Ich habe nicht vor, zu kämpfen.«
Lestard wirkte erstaunt ob so viel Trotz. »Seit du angefangen hast, nach mir zu suchen, liegt das nicht mehr in deiner Hand.«
Urian rümpfte die Nase. »Ich denke, ich soll mich vom Schlachtfeld fernhalten?«
»Allerdings. Bloß kann man das jetzt bestenfalls noch als späten Rückzug bezeichnen«, grollte Lestard. »In meinem Brief habe ich dich gebeten, dich nicht einzumischen. Du hattest nicht die Zeit, ihn zu lesen, weshalb, geht mich nichts an. Jetzt komme ich zu dir und rate dir an, deine Erkundungen einzustellen. Der Moment, in dem du dich als harmlos herausstellst, gibt Charlotte Luft zum Atmen. Ich meine es gut, Urian. Du hast kein Ass im Ärmel. Setz nicht noch einmal alles aufs Spiel.«
Urian schnaubte. »Für wen stehst du eigentlich ein? Für mich? Für Atlantis? Für Charlotte? Du riskierst, dass Lord Belzac sie auseinandernimmt. Was erhoffst du dir von ihr?«
»Dass sie zu ihrer Entscheidung steht. Dann wird Eustace sie in Ruhe lassen. Ich stehe ein für mich«, antwortete Lestard bedächtig. »Und für alle, die ich vertrete. Das weiß er. Leider gehörst du nicht mehr dazu, mein Freund. Aber das scheint er nicht zu wissen.«
Urian musterte ihn eine Weile mit schiefgelegtem Kopf. »Agierst du allein?«
Lestard lächelte ihm zu. Es war nicht zu übersehen, wie sehr er seinen kleinen Spannungsmoment genoss.
»Nein«, flüsterte er verschwörerisch.
Kurz standen sie sich direkt gegenüber, einander mit den Blicken messend. Dann wandte Urian sich ab. Das Geräusch seiner Schritte auf dem stumpfen Dielenboden war unerträglich laut, als er sich zum Fenster schleppte. Vor der Glasscheibe war die Luft kälter und wohltuend. Urians Blick folgte seinem Schatten, der in den Raum zurückfiel und nicht an Lestards Standort heranreichte.
»Geh«, brachte er hinter trockenen Lippen hervor.
Lestard stand unbeweglich. Urians Blick flog über die Silhouette des Princeps hinweg und mied dessen Augen.
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Obwohl Lestard nicht laut gesprochen hatte, dröhnten seine Worte in Urians Ohren. Der Princeps erwartete eine Antwort. Urian schluckte und wandte sich erneut der Fensterscheibe zu. Sein Blick war trüb; die Außenwelt lag verschwommen hinter dem Glas.
»Das ist alles«, antwortete er.
Er hörte, wie Lestard an ihn herantrat. »Die Nacht war lang, Urian. Du solltest dir ein wenig Ruhe gönnen. Mal drüber schlafen.«
Der Princeps musste direkt hinter ihm stehen; Urian spürte seinen Atem am Ohr.
»Ich brauche keine Bedenkzeit«, erwiderte er.
»Du bist nicht gegen mich, nicht wahr?«
Urian reagierte nicht.
Lestard seufzte schwer.
»Wie du willst«, sagte er ernüchtert. »Leider habe ich das gleiche Problem wie der gute Eustace. Und weniger Zeit als er.«
Urian verstand nicht sofort. Im selben Moment, da ihn die Erleuchtung traf, krallte sich eine Hand in sein Haar und schmetterte seine Stirn gegen die Scheibe. Funken stoben vor seinen Augen auf. Die Knie gaben ihm nach. Beim zweiten Schlag verlor er jedes Raumgefühl; seine Sicht verkehrte sich. Sein letzter Gedanke galt der verwirrenden Beobachtung, dass die Dielenbretter auf ihn zurasten.
Lestard hatte die Georgiana Street fast hinter sich gelassen, als er den Wagenmotor hörte. Das Automobil musste aus seiner Richtung kommen, noch mehrere Straßenzüge entfernt. Es fuhr zu schnell und in niedrigem Gang. Und es näherte sich.
Spaßeshalber verlangsamte Lestard seinen Schritt. Noch drei Blocks. Der Idiot würde vielleicht hier vorbeikommen.
Noch ein Block. Lestard lächelte; sein Gehör trog ihn selten.
Da brach der schwarze Wagen um die Kurve, in einer Geschwindigkeit, die ihn auf die Gegenfahrbahn trug. Kurz flackerte das Scheinwerferlicht über Lestards Gesicht und offenbarte den verdutzten Ausdruck. Er kannte den Wagen. Sehr gut sogar.
Mit einer Mischung aus Bangen und Faszination beobachtete er, wie das Auto mitten auf der Straße zum Stehen kam, gut fünfzig Meter von ihm entfernt, vor ebenjenem Haus, das er gerade erst verlassen hatte.
Beim Anblick der Frau, die mit dem Mobiltelefon am Ohr aus dem Wagen schlüpfte, stahl sich ein schwermütiges Lächeln auf sein Gesicht. Das Geräusch der zuschlagenden Autotür hallte zwischen den Häuserreihen wider. Charlotte Furlong warf den Kopf in den Nacken, fluchte auf ihr Handy ein, weil niemand ihre Anrufe entgegennahm, und spurtete auf die Haustür zu.
Bedächtig, die Hände in den Manteltaschen vergraben, trat Lestard den Rückweg an. Er hatte knapp die halbe Strecke zurückgelegt, da stellte Charlotte mit einem unterdrückten Fluch die Anrufe ein und hämmerte stattdessen mit der Handfläche auf die Klingel von Urian Adlards Wohnung. Lestard konnte hören, wie sie auf die Tür einredete, Urian möge ihr öffnen, und wie ihr herrischer Tonfall sich darüber in ein flehendes Wimmern verwandelte.
Als er sie fast erreicht hatte, gab sie es auf. Einen Moment lang verharrte ihr Blick auf der unteren Schelle. Sie hob die Hand, um ihr Glück mit der Erdgeschosswohnung zu versuchen, brach jedoch mitten in der Bewegung ab und fuhr sich stattdessen durchs Gesicht.
Ihre Haut war von Sorge zerknittert. Die Kälte hatte ihr Wangen und Nasenspitze gerötet, was in Verbindung mit ihren dunkel unterlaufenen Augen eher einem Krankheitssymptom glich. Ihr Blick suchte die oberen Fenster ab. Tränen hatten sich in ihren Wimpern verfangen und färbten ihre Augenränder rot.
Mit einem erstickten Schluchzen sackte sie auf dem Treppenabsatz zusammen. In dieser Haltung erschien es Lestard, als sei sie in den vergangenen zehn Jahren um keinen Tag gealtert.
Am Rand des Grundstücks achtete er nicht mehr auf Lautlosigkeit. Leise summend trat er vor sie hin. Er sah, wie ihr Blick seine Schuhe streifte und sie die Augen niederschlug. Sie hatte seine Stimme erkannt, dessen war er sich sicher.
»Der Winter ist kalt dieses Jahr«, bemerkte er und bot ihr seine Hand an.
Charlotte zog die Jacke fester um sich und ignorierte ihn, bis er sich ein Stück weit zurückzog. Erst da warf sie ihm einen stechenden Blick zu.
»Man merkt das Klima«, sagte er leise und fuhr sich mit den Fingern über die Narben.
Charlotte sog zischend den Atem ein; die kalte Luft brannte ihr in den Nasenhöhlen.
»Das verzeihe ich dir nicht«, flüsterte sie.
»Das verlange ich auch nicht.« Lestard schenkte ihr ein Lächeln und breitete die Arme zu einer ausladenden Geste aus.
»Gehen wir ein Stück?«