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Perlmutt

von

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LESTARD (I): »Ich für meinen Teil fühle mich schon sehr ausgiebig geprellt!«

Unter dem klaren Himmel war die Nacht bitterkalt geworden.

Die Hand am Türknauf erstarrt, stand ich auf der obersten Treppenstufe. Raureif hatte das Metall überzogen. Die Kälte brannte mir auf der Haut, aber ich war unfähig, die Hand wegzuziehen. Die Laterne an der Hauswand war längst erloschen und die Einfahrt in eine vom Schnee durchbrochene, schummrige Dunkelheit getaucht. Zahlreiche Spuren hatten den Weg zum Haus zerwühlt, seit ich heute Vormittag gegangen war. Adlards. Meine. Die der Congregatiobeamten. Letztlich auch die meiner Mutter. Unschlüssig betrachtete ich Mums Silhouette, die sich scharf gegen den weißen Grund abzeichnete. Sie stand halb von mir abgewandt am Ende des Grundstücks und blickte die Straße hinunter. Das Ende ihrer Zigarette glomm bei jedem Zug auf und tauchte ihre Nasenspitze in ein rotes Leuchten. Der dünne Rauchfaden ringelte sich um ihren Kopf. Aus der Ferne strich der vielstimmige Kanon der Silvesterfeiern zu uns herüber.

Breca war in der Wohnung zurückgeblieben. Mum hatte ihn bearbeiten müssen, damit er sich zum Ausruhen an den Esstisch setzte und auf uns wartete, bevor sie mit mir vor die Tür gegangen war. Das Memorium, das er bei sich gehabt hatte, war bestimmt das für Lestard gewesen. Wie lange hatte er wohl dafür gebraucht, es zu füllen? Falls das überhaupt ein passender Ausdruck war. Hatte er schon angefangen, als Belzac und Park noch dagewesen waren? Die Erinnerung an den trüben Blick meines Großvaters ließ mich erschauern. Bei Park am Nachmittag hatte es doch so einfach ausgesehen!

Bisher hatte ich geschwiegen, in der Hoffnung, Mum würde das Wort ergreifen. Doch sie schien sich im Echo der Feste verloren zu haben. Ich wartete, bis ich den Zigarettenstummel in den Schnee fallen und unter dem Druck von Mums Schuhspitze verlöschen sah, und stapfte zu ihr hinüber.

»Weshalb mussten wir nach draußen gehen?«, fragte ich, noch bevor ich sie erreicht hatte.

Beim Klang meiner Stimme erwachte Mum mit einem Frösteln aus ihren Gedanken. Als sie die Jacke enger um ihre Schultern zog, tat es mir fast Leid, sie angesprochen zu haben, denn sie schüttelte sich bestimmt nicht der Kälte wegen.

»Du warst keine Viertelstunde weg, da hat Belzacs Garde angefangen, unsere Wohnung mit Kameras und Abhörgeräten auszustatten. Falls Atlantis noch einmal Leute vorbeischicken sollte.«

»Die Garde?«, echote ich. Dann hatten sie sich die ganze Zeit über in der Nähe unseres Hauses aufgehalten.

»Lord Belzac will auf Nummer Sicher gehen«, sagte Mum ironisch. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Später haben Breca und ich sechs Wanzen gefunden, die zu erwähnen er offenbar vergessen hatte.«

Ich sog zischend den Atem ein. Reflexartig griff ich mir an die eigene Jacke und tastete sie hektisch ab. Dann fiel mir wieder ein, dass ich sie während meines gesamten Aufenthalts im Beisein der Congregatiobeamten nicht ausgezogen hatte. Außerdem hatten weder der Sekretär, noch Park oder der Gardist in ihrem Schlepptau mich nach dem Händeschütteln wieder berührt.

Ich ließ die Arme sinken.

»Sicherlich gibt es noch mehr davon«, fügte Mum mit fester Stimme hinzu. »Die Garde hört alles, was in unserer Wohnung gesprochen wird. Und sie verfolgt jede unserer Bewegungen.«

»Aber du hast doch vorhin noch mit Adlard geredet«, warf ich ein, bemerkte meinen Fehltritt und korrigierte mich: »Mr Adlard.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Urian war vielleicht für fünf Minuten hier. Wir haben kein Wort darüber verloren.«

Natürlich nicht, weil du ihn bestimmt sofort gewarnt hast.

Ich vergrub die Hände in den Jackentaschen, damit Mum nicht sah, wie sie sich zu Fäusten ballten. Ob Adlard deshalb so schnell wieder aufgebrochen war? Ich ächzte bloß. Immerhin hieß das, ich hatte gut in der Zeit gelegen. Ein schwacher Trost.

Was Belzac wohl von meinem überraschenden Auftritt in der Küche halten wird?, schoss es mir durch den Kopf.

»Das heißt, Mr Park und der Sekretär haben alles mitbekommen, was ich eben gesagt habe?«

Mum zuckte die Achseln. »Man wird es an sie weiterleiten. Das lässt sich nicht ändern.«

Ich zögerte kurz. »Denkst du nicht, es wäre schlauer, wieder rein zu gehen?«, schlug ich dann vor.

Mums Blick ließ mich schlucken. Sie stieß einen Laut aus, von dem ich nicht sagen konnte, ob er ein Lachen oder ein Knurren darstellen sollte.

»Ich habe die Sender zerstört, die wir entdeckt haben«, erklärte sie. »Ihnen ist klar, dass wir Bescheid wissen. Ihr heutiger Besuch wird nicht der letzte gewesen sein, bevor Lestards Frist abgelaufen ist. Sie sollen wissen, dass wir uns nicht zu ihrem Spielball machen lassen.«

»Also, ich für meinen Teil fühle mich schon sehr ausgiebig geprellt!«, gab ich barsch zurück.

Mums Blick bohrte sich in meinen. Innerlich wappnete ich mich für den Gegenschuss.

»Was du hören willst, lässt sich nicht eben zwischen Tür und Angel sagen«, erwiderte sie ruhig. Sie nickte zu unserer Wohnung hinüber, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Schon gar nicht dort drinnen.«

Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen. Irgendetwas war mit ihr passiert; ich hatte das Gefühl, sie sähe die Dinge plötzlich viel klarer.

»Lestard ist für die Congregatio ein rotes Tuch«, fuhr sie fort. »Ich bin in ein paar Dinge eingeweiht, die nicht öffentlich breitgetreten wurden. Wenn wir gleich wieder hineingehen, erzähle ich dir alles, was ich guten Gewissens weitergeben kann.«

Ich meinte, von einer frostigen Böe erfasst zu werden, und zog den Kopf ein. Die ganze Zeit über hatte ich doch nichts Anderes gewollt. Aber das Ausmaß ihrer Worte traf mich völlig unvorbereitet.

»Dann … gehen wir«, sagte ich kleinlaut. »Oder?«

Ich wandte mich ab, doch sie fasste nach meiner Schulter und ich blieb stehen, ohne dass sie wirklich zupacken musste.

»Eins noch.«

Ich wartete angespannt. Die Worte kamen langsam über ihre Lippen, als kostete sie jedes einzelne große Überwindung.

»Du weißt, ich hatte Urian gebeten, sich für mich umzuhören.«

Ich nickte bloß, damit sie fortfuhr.

»Lestard hat das herausbekommen. Er hat für Urian eine Nachricht hinterlegen lassen, damit er sie mir überbringt.«

Ich spürte fast, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich.

»Heißt das, er war im Deutschen Viertel?«, stieß ich hervor. Ich glaubte, dass sich der Boden unter mir zu drehen begann. War Lestard tatsächlich in Camden gewesen? Nur wenige Meter von mir entfernt im Schankraum des Lokals, während ich Adlard hinterhergeschlichen war?

»Zu Silvester auf der Straße herumzulaufen, ist für ihn viel zu riskant. Die Congregatio hat überall ihre Späher.« Mum ließ ein verächtliches Zischen hören und wandte sich ab. »Im Deutschen Viertel treiben sich genug Leute herum, die ihre Finger im Spiel haben könnten.«

Ich glaube bis heute, dass sie sich nicht darüber im Klaren war, dass sie ihre letzten Worte laut gesagt hatte. Vor meinem geistigen Auge blitzten einzelne Gesichter aus der Menge wieder auf. Jeder von ihnen hätte Atlantiner sein können. Ich musste an die Frau denken, die auf dem Gang mit Adlard gesprochen hatte.

»Deshalb warst du so erschrocken, als ich dir gesagt habe, wo wir waren«, murmelte ich.

Mum zuckte zusammen, fasste mich an beiden Schultern und drehte mich ganz zu sich herum.

»Versprich mir etwas«, verlangte sie.

»Noch etwas?«

Ein Blick auf ihr verhärmtes Gesicht sagte mir, dass ich mir diesen Kommentar besser verkniffen hätte.

»Geh da nicht noch einmal hin.«

Die Forderung kam überraschend direkt. Eigentlich hatte ich eine Rüge erwartet.

Ich erwiderte ihren forschenden Blick.

»Wenn ich das vorher gewusst hätte …«, setzte ich an.

Mum lachte spöttisch auf – ein Laut, der mich auf der Stelle verstummen ließ.

»Versuch doch nicht, mir weiszumachen, dass du das Deutsche Viertel dann gemieden hättest«, sagte sie trocken. Ihre Hände ließen von meinen Schultern ab und legten sich auf meine Wangen. Ich schaute in ihr Gesicht wie durch einen Tunnelblick. Ihre eisigen Finger strichen zärtlich über meine Schläfen. Plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich sie mit meinem eigenmächtigen Handeln enttäuscht haben musste.

»Versprich es mir«, bat sie. »Und halte dein Versprechen.«

Ich senkte den Kopf und nickte abermals.

Sie beugte sich zu mir vor. Ihre Stirn berührte meine. Ihr Atem streifte mein Gesicht.

»Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie plötzlich.

Ich stutzte und zog mich zurück. Mums verunsicherter Blick suchte meinen. Sie meinte nicht nur die Gefahr, die von Lestard oder Belzac ausgehen mochte. Sie meinte das, was die letzten zwei Tage aus uns gemacht hatten.

Ich legte meine Hände auf ihre und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Mum – warum solltest du?«

Sie erwiderte mein Lächeln traurig.

»Wenn du mich so charmant anlügst, siehst du genauso aus wie dein Vater«, murmelte sie entrückt.

Unwillkürlich verkrampfte ich mich. Mum nahm dies zum Zeichen, dass sie mich loslassen sollte. Verstört ob ihrer eigenen Worte wandte sie sich ab, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ich betrachtete ihren Rücken. Sie hatte meinen Vater und mich nur selten in einem Atemzug genannt. Ich war mir nicht sicher, ob es mich wirklich störte. Es war bloß ungewohnt.

Meine Gedanken kehrten zurück zu dem Ich, das nur vierundzwanzig Stunden zuvor in einer Nachtbahn gesessen hatte, überrumpelt von nie gekannten Ängsten. Plötzlich erschien es mir viel jünger. Mit dem Unterschied, dass die Angst immer noch da war.

Ich trat an Mum heran, bis meine Schulter ihren Arm berührte.

»Mein Vater«, sagte ich bedächtig. »Hat es etwas mit ihm zu tun, dass Lestard den Schlüssel von Breca haben wollte?«

Oder das Memorium, wie mein Großvater präzisiert hatte.

Ich sah, wie Mum die Lippen zusammenpresste.

Volltreffer.

»Darf ich es wissen?«, fragte ich. Damit wollte ich es ihr einfach machen, aber sie versteifte sich nur noch mehr. Ihre Antwort ließ auf sich warten, und ich befürchtete schon fast, sie würde überhaupt nichts dazu sagen, als sie endlich sprach.

»Dein Vater hatte etwas übrig … für Atlantis.«

Die Worte kamen so leise über ihre Lippen, dass ich sie kaum verstehen konnte.

»Ich habe nach seinem Tod ein Schweigegelübde leisten müssen«, sagte sie. »Seitdem existiert er in der Akte der Congregatio nicht mehr. Sie haben alle Daten vernichtet.«

Sie drehte sich so abrupt zu mir um, dass ich zurückwich.

»Sie haben ihn einfach so ausgelöscht. Es hat ihn nie gegeben, Yuriy.«
 

Danach sagten wir beide nichts mehr. Ich weiß nicht, wie lange wir noch da draußen in der Kälte standen und gemeinsam zu verdauen versuchten, was Mum mir offenbart hatte.

Als wir in die Wohnung zurückkehrten, wartete Breca in der Küchentür. Er schien wieder recht gut beieinander zu sein, doch ein Blick in unsere Gesichter genügte, damit er Bescheid wusste, und seine Statur sank erneut in sich zusammen.

Ich wandte den Blick ab. Warum konnten sie sich nicht einfach ein bisschen besser zusammenreißen? Ich schloss meine Zimmertür hinter mir ab, und sie ließen mich in Frieden.

Meine Finger kramten fahrig das Handy aus meiner Hosentasche und stöpselten die Kopfhörer ein. In meiner Kleidung legte ich mich aufs Bett und ließ die Playlist durchlaufen. Ich hörte, wie Mum in irgendeinem Zimmer lauthals anfing zu schluchzen, und drehte die Musik bis zum Anschlag auf. Aber das Echo ihrer Stimme konnte der Bass nicht aus meinen Gedanken hämmern.
 

Ich wusste, dass ich gleich aufwachen würde.

Irgendein unangenehmes Gefühl hatte meinen Körper aufhorchen lassen. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber es wurde immer aufdringlicher. Irgendwann begriff ich, dass ich nicht durch die Nase atmen konnte, und wischte mit der Hand darüber. Nur nicht vollends wachwerden, nahm ich mir vor. Ich hatte zu lange gebraucht, um endlich Ruhe zu finden.

Da ertasteten meine Finger die Nässe.

Warme Nässe.

Nein!

Schlagartig saß ich aufrecht im Bett. Mein Kreislauf dankte es mir, indem er einen Schmerz durch meinen Schädel jagte, als hätte mir jemand mit einem schweren Gegenstand eins übergebraten. Meine Augenlider verkrampften und ich sackte stöhnend aufs Kissen zurück. Meine Wange berührte feuchten Stoff, während ich versuchte, mit den Händen das Blutrinnsal aufzuhalten, das mir aus der Nase floss.

Das darf doch nicht wahr sein, durchfuhr es mich. Den Satz sagte ich mir gleich mehrmals laut vor. Manchmal soll es ja helfen, die Angst zu ersticken, wenn man sich Verständnislosigkeit einredet.

Als ich die Augen wieder öffnen konnte, knipste ich das Nachtlicht an und schälte mich aus der Bettdecke. Wo ich mit dem Gesicht auf dem Kissen gelegen hatte, war der Bezug blutdurchnässt. Ich schwindelte bei dem Anblick. Fantastische Saugwirkung. Der Federkern war restlos hinüber.

Wie sollte ich Mum das erklären?

Apropos …

Zwischen Kinn und Handkante hatte sich das Rinnsal ein Schlupfloch gesucht und tropfte nun auch auf das Laken und mein Shirt. Ich stand schwankend auf und taumelte auf die Zimmertür zu, so schnell und leise wie möglich. Als ich gegen die verschlossene Tür stieß, war ich für einen Moment verwirrt, bis mir wieder einfiel, dass ich sie hinter mir abgesperrt hatte. Den dünnen Schlüsselschaft konnte ich kaum greifen, als ich aufschloss. Auf der Schwelle knickten meine Beine zum ersten Mal ein. Ich unterdrückte den Impuls, die verschmierten Hände auch noch nach dem weißen Türrahmen auszustrecken. Stattdessen fing meine Schulter den Schwung ab, sodass ich vom Drall ungelenk gegen die Flurwand taumelte. Mein Gehirn fühlte sich an, als hätte es sich überschlagen, und meine Sicht verschwamm.

Ich wartete ein paar Sekunden, bis die Schwäche nachgelassen hatte. In der Zwischenzeit versuchte ich das kitzelnde Gefühl zu ignorieren, mit dem mir das Blut zwischen den Fingern hindurch in den Ärmel floss. Allein die Vorstellung, wie es dort hineinlief … Mein Körper schlotterte unter Schauerkrämpfen. Ich redete mir ein, sie würden einzig und allein darauf gründen, dass ich mein eigenes Blut nicht sehen könnte.

Sei nicht so ein Weichei!

Ich atmete ein paar Male tief durch den Mund und sondierte die Lage. Bis zum Badezimmer musste ich den halben Flur durchqueren. Schräg gegenüber von mir war die Garderobe an der Wand angebracht. Ich fasste meine Jacke ins Auge – ich musste zuerst an die Kapseln kommen. Unbedingt.

Ich machte zwei schnelle Schritte auf die Garderobe zu. Hinter meinen Schläfen pulsierte der Schmerz, sobald ich mich bewegte. Beim dritten Schritt versagten mir die Beine den Dienst. Ich griff noch im Sturz nach meiner Jacke und zog den Kopf ein, um ihn vor dem Aufprall zu schützen.

Doch der blieb aus.

Als meine Sinne zurückkehrten, lag ich lang ausgestreckt auf den Fliesen. An der Wange spürte ich die Wärme der Fußbodenheizung. In meinem Ellenbogen und meinem Unterkiefer pochte es schmerzhaft; ich musste sie mir angeschlagen haben. Meine Hand hatte sich in die Jacke gekrallt, die mich halb verdeckte. Über mir hörte ich, wie der Kleiderbügel scheppernd gegen das Metall der Garderobenstange schlug.

»Verdammt«, keuchte ich.

Im selben Moment sah ich unter den Türen von Mums und Brecas Zimmern hindurch zwei schmale Lichtstreifen in den Flur sickern.

Ich wühlte die Jacke von meinem Rücken und stemmte mich auf Knie und Hände hoch, gerade bevor Mum aus ihrem Zimmer stürmte. Nur einen Sekundenbruchteil später stand auch Breca im Flur. Als sie dort vor den Lichtkegeln aufragten, die Augen im Schreck aufgerissen, glomm das irisierende Leuchten blank gegen den Schatten ihrer Augenhöhlen an. Ein unterdrückter Fluch lag auf Mums Lippen, als sie die ganze Situation erkannte.

Ich wandte den Blick ab.

»Mum ... es ist nichts.«

Ich stammelte den Satz in Bröckchen hervor. Noch bevor ich fertig war, hatte sie mich erreicht und zog mich behutsam auf die Beine, mit einer Leichtigkeit, die über meinen Verstand ging. Breca schaltete das Deckenlicht ein, damit sie mich besser sehen konnten. Nach einer schnellen Einschätzung der Lage stürzte er zum Bad, um einen Lappen oder Papier zu holen. Irgendetwas, das die Blutung stillen würde.

Mum trug mich eher hinter ihm her, als dass ich selbst lief. Woher sie die Kraft nahm, konnte ich mir nicht erklären. Genauso wenig, wie ich verhindern konnte, dass mein Kopf auf ihre Schulter sank.

»Entschuldige«, murmelte ich.

Mums Brustkorb hob sich in einem rasselnden Atemzug.

Ich unternahm einen weiteren erfolglosen Versuch, die letzten Schritte zum Badezimmer aus eigener Kraft zu gehen.

Mum zog mich wieder an sich. Ich würde nicht umfallen, dafür sorgte sie.

»Ich blute dich voll«, protestierte ich schwächlich.

»Es gibt Waschmittel«, gab sie zurück. Ihre Stimme zitterte. Sie würde sich nie verzeihen, dass es mit mir soweit gekommen war, bis sie etwas gemerkt hatte.

»Ich habe versucht, es vor dir geheim zu halten«, krächzte ich. »Hab ich doch gut hinbekommen.«

Mum schluckte. Die Bemerkung hatte eindeutig den falschen Nerv getroffen.

»Das sollte ein Scherz –«

Mitten in der Erläuterung brach ich ab. Was auch immer ich sagte, würde es nur noch schlimmer machen.

An der Tür nahm Breca mich ihr ab und setzte mich auf den Toilettendeckel, um mir das Gesicht zu säubern.

»Halt dir die Nase zu«, wies er mich an. Der gefasste Klang seiner Stimme beruhigte mich augenblicklich. »Und drück den drauf.«

Er reichte mir einen eiskalten, nassen Lappen. Ich tat wie geheißen, während er mir einen zweiten Lappen in den Nacken legte. Mum stand in der offenen Tür, die rechte Hand vor den Mund gepresst, die linke umklammerte den anderen Ellenbogen. Ich wünschte, ich hätte ihren glasigen Blick ausblenden können.

»Das Nasenbluten ist das Wenigste, das hört gleich wieder auf«, sagte Breca. »Hast du Medizin?«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass nicht Mum gemeint war, sondern ich.

»In meiner Jackentasche«, näselte ich.

»Du wusstest es?« Mum verschluckte sich fast an ihrer eigenen Stimme. Ihr Blick ruhte auf Breca, niedergeschmettert.

Mein Großvater schaute sie überhaupt nicht an. Seine Miene hätte gar nicht barmherzig genug sein können, um Mum ihre Last zu erleichtern. Ich erinnerte mich, dass sie vor Jahren schon einmal so vor ihm gestanden hatte. Damals war Sehnsucht nach meinem Vater über sie gekommen und sie war tagelang verschwunden, ohne eine Nachricht. Bei ihrer Rückkehr hatte sie genauso elend ausgesehen wie jetzt hier im Badezimmer. Breca hatte nichts gesagt, als sie plötzlich wieder vor ihm gestanden hatte. Er hatte sie einfach eintreten lassen, die Wohnungstür geschlossen und Mum umarmt.

Diesmal hatte er beide Arme in Gebrauch.

Mir wurde speiübel.

»Charlotte, bring mir bitte die Tabletten«, ordnete mein Großvater an, während er mich mit der freien Hand im Sitzen hielt. Als Mum auf den Flur hinausstürzte, warf er ihr einen kurzen Blick nach. Sie sinnvoll zu beschäftigen, war alles, was er im Moment für sie tun konnte. Er würde ihr später ins Gewissen reden. Jetzt stand ich für ihn an erster Stelle.

Mum war unglaublich flink.

Breca streckte die Hand aus, als sie mit den zwei verbliebenen Kapseln zurückkehrte, doch sie zögerte.

»Yuriy.«

Mein Name kam fast stimmlos.

Mum schüttelte sachte die Faust. Die darin verborgenen Kapseln schlugen mit einem leisen Klacken gegeneinander. Wäre Mums Blick aus Fleisch und Blut gewesen, hätte er mich in den Boden stampfen können.

»Wo hast du die her?«

Ich schluckte und schwieg.

»Zeig sie mir bitte«, sagte Breca zu Mum.

Ihre Miene stand unentschlossen zwischen Argwohn und Fassungslosigkeit, als sie die Kapseln in seine offene Handfläche rollen ließ.

»Das sind keine Tabletten, die man zur Umstellung bekommt«, stellte er fest, nachdem er sie genau gemustert hatte. »In der Firma hat einer mal so welche genommen, weil sein Kreislauf nicht mehr mitmachen wollte.«

»Urian nimmt sie«, erklärte Mum schroff. Während sie mich fordernd anstarrte, blinzelte sie kein einziges Mal.

»Also …«, setzte ich an.

Ihre ganze Haltung warnte mich, sie ja nicht anzulügen.

»Ja, ich hab sie von ihm bekommen«, nuschelte ich in meinen Lappen.

»Wann?« Ihre Stimme war einschneidend.

»Heute – gestern, als Mr Park mich entlassen hat«, korrigierte ich mich selbst und nahm den Lappen aus dem Gesicht. Ich wischte mir vorsichtig damit über die Kieferpartie und unter der Nase entlang. Als kein Blut nachfloss, ließ ich die Hände sinken. Breca nahm mir wortlos den Lappen ab und ließ mich Atem schöpfen. Ich wagte nicht, seinem Blick zu begegnen.

»Als wir vor zwei Tagen zusammengestoßen sind«, sagte ich und setzte neu an. »Das ist wegen des Leuchtens passiert.«

Mum nickte nur; offenbar war ihr das »Leuchten« ein Begriff.

»Ich bin auf der Straße zusammengebrochen«, gestand ich. »Seitdem wusste er es. Und als er gemerkt hat, dass ich dir nichts erzählt habe, hat er mir die Kapseln zugesteckt.«

Mum fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, als wollte sie die Neuigkeit am liebsten aus ihrer Erinnerung streichen. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Urian …«, murmelte sie, mehrmals hintereinander. Mit jedem Mal klang sie fassungsloser.

»Er wollte mir helfen«, sagte ich schnell – und biss mir auf die Zunge.

Mum fasste mich wieder ins Auge. Alle Verzweiflung war von ihr abgefallen. Sie wirkte völlig ruhig.

»Du wirst diese Tabletten nicht nehmen«, befahl sie. Tonlos. Endgültig.

Sie fasste nach Brecas Arm.

»Hast du ein Auge auf ihn?«

»Soll das ein Witz sein?«, bejahte er brüsk.

Ich konnte mir nicht erklären, woher Mums plötzliche Abgeklärtheit kam. Mir ging das viel zu schnell. Ich wollte aufspringen, aber Breca reagierte blitzartig und drückte mich sanft in die sitzende Position zurück.

Das schien Mum zufrieden zu stellen. Sie warf sich auf dem Absatz herum und verschwand im Flur. Wir hörten Stoffrascheln und ein metallisches Klappern, als sie ihre Jacke und ihren Schal von der Garderobe angelte, dann das Klirren ihres Hausschlüssels, der von der Kommode genommen wurde, und alles kontinuierlich untermalt vom Geräusch ihrer Schritte.

Breca lugte in den Flur hinaus.

»Wohin gehst du?« In seiner Stimme schwang Wut mit. Und Sorge. Vor allem Sorge.

»Ein paar Dinge zurechtrücken«, hörte ich Mum sagen. Der Entfernung ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie bereits an der Wohnungstür angelangt.

Breca verließ den Raum. Ich sah nur noch seine Hand auf dem Türrahmen liegen.

»Du weißt, was Lord Belzac gesagt hat«, meinte er halblaut.

Mum schnaubte nur.

»Willst du nicht wenigstens noch ein bisschen warten?«, fragte er. »Bis eine christlichere Stunde angebrochen ist?«

»Es gibt keine unchristlichen Stunden.«

Ein schwungvolles Knarren kündigte an, wie vehement die Wohnungstür aufgerissen wurde. Ich wartete auf den Knall, mit dem sie zufallen würde, doch zu meiner Überraschung glitt sie mit einem kontrollierten Klicken ins Schloss. Dann hörte ich, wie in regelmäßigen Zügen der Schlüssel von außen gedreht wurde.

Einige Sekunden lang stand Breca wie erstarrt im Flur. Erst, nachdem auch die Haustür im Treppenhaus wieder zugefallen war, kehrte er zu mir zurück.

»Wo will sie hin?«, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte. Mir war bloß die Stille unerträglich. »Was hat Lord Belzac gesagt?«

Breca schenkte mir ein Lächeln, das all seinen Gram spiegelte. Die Falten gruben tiefe Schatten in sein Gesicht.

»Mein lieber Enkelsohn. Habe ich dir eigentlich schon ein frohes neues Jahr gewünscht?«



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  SakuraxChazz
2011-07-14T16:32:11+00:00 14.07.2011 18:32
Breca am Ende ist einfach genial... Total am Ablenken. xDD
Da bin ich ja mal auf das nächste Kapitel gespannt.

Und wie sein Vater existiert nicht? Aber Yuriy ist doch da.. Also muss er ja mal existiert haben. Er wurde doch eigentlich nur aus dem Register gelöscht. Alle die ihn kannten, werden ihn doch noch in Erinnerung haben.. Hoffe ich zumindest irgendwie.. Das ist doch traurig.. Einfach gelöscht aus dem Register, nur weil man mit einer anderen Organisation besser klar kam und sich dafür interessiert hat... Die Congregatio ist mir ja wirklich ein starkes Stück.. Alles was nicht passt, wird einfach 'aussortiert' wie schrecklich.. Bin ich total dagegen. Aber ich finde es schön, das Charlotte jetzt darüber gesprochen hat.
Und das mit den Tabletten ist ja eine ganz tolle Kiste.. Nicht zur Umstellung.. Hmm.. Tja..
Vielleicht wäre Yuriy doch besser zum Arzt und hätte sich da die Tabletten geben lassen. Dann hätte seine Mum jetzt eine Sorge weniger. Aber ich als Mutter würde sowas auch nicht erleben wollen. Ganz bestimmt nicht.
Und das ist zwar albern, aber ich stand halb vorm weinen, als Charlotte meinte, das sie Yuriy nicht auch noch verlieren will. Das muss am Wetter liegen, das ich so nah am Wasser gebaut bin. Wenn es Regnet, neige ich immer schnell zum weinen.. Aber es ist ultimativ tolles Wetter um diese Story zu lesen. Passt irgendwie zur Stimmung.

LG Saku^^
Von:  -Zoria-
2011-04-08T19:29:29+00:00 08.04.2011 21:29
"Breca sagte immer augenzwinkernd, ich hätte das gute Aussehen von meiner Mutter geerbt und das freche Schandmaul von meinem Vater. Wenn ich als Kind für meinen Unsinn einen Denkzettel erhalten hatte und mich weinend an Mum hängte, lachte sie mich aus und sagte, ich wäre genau wie er: Ich schrie nicht vor Schmerz, sondern weil ich um ihr Mitleid buhlte. »Aber dir konnte ich das noch austreiben, ihm nicht mehr«, scherzte sie später."

Oben steht aber, dass sie ihn nie direkt mit ihm verglichen hätte.
Ich will nicht pedantisch sein, ja? Du wolltest nur auf Fehler hingewiesen werden. Ansonsten hätte mich das nicht besonders gestört.


Von: abgemeldet
2011-01-04T15:36:58+00:00 04.01.2011 16:36
Naaaaahhh... weiterschreiben, nicht nur rumändern. -o-
DAS musste jetzt doch mal gesagt werden. XD
Von: abgemeldet
2010-11-30T18:37:42+00:00 30.11.2010 19:37
Ich habe das Bedürfnis Breca das Memorium wegzunehmen. Der kann sich nicht einmal mehr an den Esstisch setzen? Der stirbt da sicher noch dran... schrecklich...
*sfz*
Nein... daran mag ich nicht denken. Der wird das schon schaffen. Er muss. Der ist einer, der nicht sterben soll.
Charlotte darf auch nichts passieren. Die erinnert mich an das Warrior-Babe aus dem Buch 'Der törichte Engel' von Christopher Moore. *nick*
Zerhackt Wanzen. Die müssen ja groß sein... oder sie ist einfach sehr präzise.
Vertrauen scheint sie jedenfalls keins zu genießen. Von den Atlanten, aber nicht von der Congregatio... (ja, das war im Grunde schon klar, aber durch diese Installation des ganzen Abhörungsschnickschnacks wird es noch einmal deutlicher)

„Was du hören willst, lässt sich nicht eben zwischen Tür und Angel sagen“, erwiderte sie ruhig. Sie nickte zu unserer Wohnung hinüber, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Schon gar nicht dort drin.“

Im Grunde ist vor der Haustür stehen auch so ne Sache zwischen Tür und Angel. Wieso setzen sie sich nicht ins Auto oder gehen in irgendeine Kneipe? Zu Silvester dürfte doch überall genug los sein, um nicht weiter aufzufallen... schon wegen dem Lärmpegel.
Aber gut... nicht zwischen Tür und Angel - is klar. Charlotte ist wirklich angespannt...

Den kurzen intensiven Moment zwischen den beiden mag ich sehr. Man hatte die ganze Zeit den Eindruck, dass die beiden nur diese distanzierte Nähe pflegen, aber als sie so ihre Stirnen aneinander legen... ich habe eine Gänsehaut. Ein richtiger Mutter-Sohn-Moment. So ist es perfekt, aber leider ein Zustand, den sie nicht aufrecht halten können werden.
Und dann kommt die Sprache auf den Vater.
Da ist meine Neugier gleich geweckt, weil... der ist ja der große Unbekannte, über den man auch noch so gut wie gar nichts weiß. Und Yu scheint es da ähnlich zu gehen. Der hat ja auch keinen Schimmer von ihm wie es aussieht.
Auch egal.
Ich red so viel Blödsinn und ohne Zusammenhang, aber ich dachte, ich schreib endlich mal. Bin so in Verzug.

Ähm... weiter im Text.
Die Szene im Bad.
Charlotte ist doch so begeistert von Urian und eng mit ihm verbunden, bla, bla... warum traut sie ihm wegen den Kapseln nicht? Nun ja... ich dachte mir schon, dass die wohl dazu dienen, Yu auf irgendeine Seite zu ziehen. *sfz* Das will Charlotte wohl nicht. Ist ja klar. Aber der braucht die ja.
Nun ja... mal sehen.
Der arme Urian tut mir jetzt schon leid.
Ein kleines bisschen.
Also dann... bis zum nächsten Mal. Auf dass es Yu dann wieder ein wenig besser geht.

*wusel*
Von:  SamAzo
2010-11-25T13:23:34+00:00 25.11.2010 14:23
Sie hat die Wanzen geschlachtet?
Was das grad für ein Bild vor meinem inneren Auge erschaffen hat.
Charlotte mit einem mini Hackebeil...

Ich finde ja, das 'etwas übrig haben' überhaupt nichts schlechtes ist.
(Was garantiert nicht daran liegt, das ... ach du kannst es dir denken)
Aber jetzt wüsste ich schon gerne mehr über den nicht existierenden Vater. Was ist da passiert?

So wie Yuriy da aufwacht, ist es mir auch schon einige Male passiert.
Sogar mit den hämmernden Kopfschmerzen, was nichts heißt, denn die habe ich ja dauernd.
Warum soll Yuriy die Tabletten nicht nehmen?
Das sie nicht für Yuriys Zwecke da sind, is ja schon durchgesickert, aber ist es nicht besser, das er so eine nimmt, als weiter halb kaputt durch die Wohnung zu torkeln?

Apropo.. mein Bett ruft...
Man liest sich.


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