Wie Eines zum Anderen kommt
Gern wüsste ich, wer diese Dokumente einmal finden wird... doch kann ich mit Sicherheit sagen, dass es mir nie vergönnt sein wird, das zu erfahren.
Geschichten gehen stets ihren eigenen Weg.
Deswegen, werte Leser, wer immer ihr auch sein mögt - lasst Vorsicht walten, wenn ihr dies hier lest, denn ihr haltet in Händen, was einst nur der Wunsch eines kleinen Jungen war...
Wer ich bin? Ah, das spielt keine Rolle. Ich will euch nicht mit der Beschreibung eines alten Mannes langweilen.
Was ich bin?
Das ist schon sehr viel interessanter.
Oh, nicht wenige Menschen nennen mich bloß einen Träumer, einen Fantast, dem Realität fremd ist, gefangen in den Welten, die er erfindet.
Andere nennen mich einen Gaukler, Schwindler oder gar Vagabund, doch die Wahrheit ist, dass sie nur neidisch sind auf die Freiheit, die ich habe, auf meinen Wegen durch das Land.
Gutmütige Zungen nennen mich einen Geschichtenerzähler, doch obwohl es mir schmeichelt, ist es ebenso wenig korrekt, wie all die anderen Namen, die ich trage. Säße ich hier vor euch in dem Versuch, eine Geschichte zu erzählen – die Worte würden mir nicht mehr gehorchen. Widerspenstige kleine Biester, diese Worte. Zu einem Zeitpunkt reihen sie sich wie die süßen Klänge einer lebhaften Melodie aneinander, zu einem anderen drehen sie sich auf deiner Zunge herum und entschlüpfen deinem Mund mit den unsinnigsten Bedeutungen. Nein, ein Geschichtenerzähler bin ich wahrlich nicht. Vielmehr bin ich ein Sammler, ein Forscher... ich ziehe durch die Welt und lausche den Erzählungen Anderer. Gefällt mir ein Satz, schreibe ich ihn auf, um ihn für später zu verwahren. Dann, wenn eine Geschichte ihn braucht, baue ich ihn ein.
Ja, ihr habt mich schon richtig verstanden – wenn eine Geschichte ihn braucht. Dachtet ihr wirklich, eine Geschichte müsse erfunden und erst niedergeschrieben werden? Nein, nein. Sie schreiben sich selbst. Das haben sie immer schon getan. Alles, was sie brauchen, ist jemand, der sie zu hören vermag... einen Geschichtenerzähler.
Oder jemanden wie mich: Einen Schreiberling. Ich höre ihnen zu – und manchmal, da kommt es vor, dass sie sich entschließen, durch meine Finger, meine Feder, auf das Papier zu fließen. Nur ab und an helfe ich ein wenig nach... ein Satz hier, eine unerwartete Wendung dort... doch stets ist es die Geschichte selbst, die das Geschehen weiterführt. Sie lebt sich selbst. Und ich bin bloß der Erzähler.
Wie – ihr glaubt mir nicht? Nun, vielleicht sollte ich einfach von vorn beginnen...
Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem Dorf, das heute auf keiner Karte mehr verzeichnet ist, ein Junge mit dem Namen Fynn Perrigan. Damals wusste er noch nichts von dem Abenteuer, das ihm bevorstand, doch schon zu diesem Zeitpunkt war er fasziniert von Geschichten. Schon früh hatte er die kleine Dorfbibliothek gelesen und begann, selbst Texte zu schreiben. Mit mäßigem Erfolg, freilich. Wie kam es, frage er sich, dass manche Menschen es schafften, mehrere Bücher mit langen Erzählungen zu füllen, während er selbst schon im Ansatz scheiterte? Seine Freunde wussten mit seinem Problem nichts anzufangen, manche verhöhnten ihn sogar, und selbst die Ältesten wussten keine Antwort, die ihn zufrieden stellen konnte. Seine Eltern versuchten stets, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, doch da sie mit seinen sechs Brüdern und Schwestern vollauf beschäftigt waren, konnte er auch von ihnen nicht allzuviel Hilfe erwarten.
Unterstützung kam schließlich von einer Seite, von der er es am wenigsten erwartet hätte. Ein Mädchen, zwei Jahre älter als er selbst, sah ihn eines Morgens auf dem Schulhof über ein Blatt Papier gebeugt sitzen...
„Was tust du da?“
Mit einem überraschten Quieken sprang Fynn auf die Beine und presste seinen wertvollen Papierstapel an die Brust. Dann erst blinzelte er in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Ein Mädchen stand vor ihm, die linke Hand erhoben, um ihre Augen vor dem Licht der morgendlichen Sonne zu schützen. Pechschwarzes, leicht lockiges Haar fiel ihr wirr um das recht bleiche Gesicht, aus dem ihm Augen der gleichen düsteren Farbe fragend entgegen blickten.
Das Hexenmädchen.
Er erkannte sie sofort. Aber das war auch kein Wunder. Jeder kannte sie.
Sie besuchte ebenfalls die kleine Dorfschule, so weit er wusste, zwei Jahrgangsstufen über ihm. Damit würde sie im nächsten Jahr die neunte und letzte Klasse besuchen. Sie war hoch intelligent, wie es hieß, doch nichtsdestotrotz ein seltsames Mädel. Stets trug sie Kleidung, die ihr drei Größen zu groß war, in den unterschiedlichsten Farben. Heute hatte sie sich in einen grün-weiß gestreiften Pulli, die viel zu langen Ärmel großzügig nach oben gekrempelt, und in eine ebenfalls zu lange, karmesinrote Leinenhose gehüllt. Schwarz-weiße Turnschuhe ragten unter ihrer Hose hervor und schienen das einzige zu sein, das ihr nicht zu groß war.
Hastig sah sich Fynn nach allen Seiten um. Was sollte er sagen, wenn ihn jemand mit dem Hexenmädchen sah? Tatsächlich begegnete er mehreren neugierigen Blicken, die sich jedoch alle schnell wieder abwandten, wenn er in ihre Richtung sah.
„Hey, seh' ich so gefährlich aus, dass es dir die Sprache verschlagen hat?“
Wieder fuhr Fynn bei dem Klang ihrer Stimme zusammen. Schnell drehte er sich zu ihr um und setzte zu einer Antwort an. „Ah... ich...“ Nicht zum ersten Mal verfluchte er sich dafür, dass er vor Nervosität zu stottern begann. Hätte es nicht so lächerlich geklungen, er hätte behauptet, die Worte würden ihm willentlich entweichen, bevor er sie zu fassen bekam. Oh, und sie amüsierten sich natürlich schrecklich darüber, wie er sich ohne ihren Beistand blamierte. „Ich …habe geschrieben.“, brachte er schließlich hervor.
Sie hob eine fein geschwungene Augenbraue und legte den Kopf schief. „Geschrieben? So so... darf ich es lesen?“ Fynn glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Er musste auch ziemlich verdutzt dreingeblickt haben, denn sie lachte leise. Doch zur Bekräftigung ihrer Worte streckte sie die Hand auffordernd in seine Richtung aus. „Komm schon. Ich beiße nicht.“
Fynn warf einen unsicheren Blick auf seine Papiersammlung, die er noch immer fest umklammert hielt. „Ich... nein, nein. Das ist etwas persönliches.“ Noch nie zuvor hatte jemand seine Notizen lesen wollen. Das heißt – einmal hatte sein Freund Sando sie gelesen. Und er hatte noch sehr gut in Erinnerung, wie dieser sie kurz darauf achtlos hatte auf den Boden fallen lassen. „Unnützes Zeug“, hatte er erklärt. „Wozu soll es gut sein, so eine Geschichte zu schreiben? Es gibt keine Drachen, und auch keine Ritter, die aufbrechen, um sie zu bezwingen.“ Seltsamerweise war Sando der erste, wenn es darum ging, das Holzschwert zu ergreifen und eben jenes Szenario nachzuspielen. Aber gewiss war es auch kein Zufall, dass er die Worte seiner Eltern gebraucht hatte, die ihn nur deshalb zur Schule schickten, um lesen und schreiben zu lernen, weil es Pflicht war. Unnützes Zeug...
„Ach, stell dich nicht so an. Ich will es doch nur lesen.“ Das Hexenmädchen blickte ihn stirnrunzelnd an.
Was konnte es schon schaden, wenn sie seine Texte las? Er seufzte und blickte auf seine Zettel hinab. Mehr als eine abfällige Antwort würde er auch von ihr kaum zu erwarten haben. Vorsichtig zog er das vorderste Blatt aus seinem Stapel und hielt ihn ihr hin. „Hier... aber sei vorsichtig damit.“
„Ja ja...“ Mit zwei Fingern nahm sie es entgegen und ließ ihre Augen über seine krakelige Schrift fliegen. Je mehr sie las, desto tiefer runzelte sie die Stirn, und Fynn begann daran zu zweifeln, dass es eine gute Idee gewesen war, ihr den Zettel zu überreichen. Umso überraschter war er über ihre Worte, als sie ihm sein Werk zurückreichte. „Das ist gut. Wirklich gut.“
Ungläubig blickte er von ihrem Gesicht auf das eng beschriebene Blatt in seiner Hand und wieder zurück. Ihre Züge waren ernst, nüchtern. Sie wirkte weder missbilligend, noch lachte sie ihn aus. Sie fand es nicht unnütz. Im Gegenteil... sie fand es gut. „Meinst du das ernst?“, fragte er zögerlich und sah erneut zu ihr auf, ein beinahe hoffnungsvolles Glitzern in den Augen.
„Todernst.“, nickte sie, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht entsprach genau ihren Worten. „Wenn du noch mehr geschrieben hast... ich werde auch das lesen.“
Mit einem neuerlichen Zögern, aber einem vor ungläubiger Aufregung hüpfenden Herzen in der Brust, gab Fynn seine Zustimmung. Sie nickte zufrieden und wandte sich ab. Ohne ein weiteres Wort lies sie ihn stehen und verschwand ihm Schulgebäude.
„Was hast du mit dem Hexenmädchen zu schaffen?“, frage Sando, als Fynn sich gerade auf seine Schulbank sinken ließ. Er hatte sich über die Lehne seines Stuhles in seine Richtung gelehnt, sodass ihm das aschblonde Haar über sein sommersprossiges Gesicht fiel.
„Nicht so laut...“, zischte Fynn genervt, als sich ein paar ihrer Klassenkameraden neugierig zu ihnen umwandten. In Sandos blauen Augen blitzte es, doch er senkte dennoch seine Stimme. „Nun sag schon... bald weiß ohnehin die ganze Schulde, dass man dich mit ihr zusammen gesehen hat.“
Nicht nur die ganze Schule, dachte Fynn mit einem innerlichen Seufzen. Es hatte Nachteile, in einem solch kleinen Ort zu leben... „Ich weiß wirklich nicht, was so schlimm an ihr sein soll.“, reagierte er etwas gereizt auf die Worte seines Freundes.
Der seufzte enttäuscht, als hätte er auf etwas gehofft, dass es wert war, weitererzählt zu werden. „Du kennst doch die Geschichten“, antwortete er. „Sie ist die Tochter einer Hexe.“
Fynn warf ihm einen nicht wenig skeptischen Blick zu. Natürlich kannte er die Geschichten... „Und es sind vermutlich auch nicht mehr als Geschichten.“, erwiderte er. Obwohl sie ihm natürlich auch ein wenig seltsam vorkam. Man sah sie stets alleine, wie sie auf der Mauer saß und Löcher in den Himmel starrte. Oder am Ende der Treppe stand und mit konzentrierten Blick auf das Treiben der Menschen hinunter sah.
Und ihre Mutter... nun, abergläubisch, wie die Leute waren, bezeichneten sie sie als Hexe. Dennoch kamen sie sofort zu ihr gelaufen, wenn sie krank oder verletzt waren. Und sie half den Leuten, mit Kräutern oder Tränken. So verdiente sie ihr Geld. Aber es brachte ihr mehr als nur einen misstrauischen Blick ein. Sie und ihre Tochter waren erst seit ein paar Jahren hier, und trotz der kleinen Gemeinschaft noch immer kaum mehr als Fremde.
Oh, es gab natürlich Gerüchte. Es hieß, in manchen Nächten könne man Stimmen, Gesänge aus ihrer Hütte hören. Seltsam, manchmal sogar vielstimmig, obwohl sie keinen Besuch hatte. Andere behaupteten, sie hätte Zaubersprüche über die Tränke gemurmelt, die sie ihnen verschrieb. Gewirkt hätten sie, sicherlich, darüber waren sich alle einig, doch sehr viel schneller, als es möglich hätte sein sollen. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen, behaupteten die Leute. Und wer weiß... vielleicht hatten sie ja Recht?
Nichtsdestotrotz entwickelte sich von diesem Tag an eine seltsame Beziehung zwischen Fynn und dem Hexenmädchen. Am nächsten Tag brachte er andere selbstgeschriebene Texte mit, wie er ihr versprochen hatte. Sie wartete bereits am Tor zum Schulhof, wo sie an der Mauer lehnte und ihre zu groß geratene Kleidung im Wind flatterte. Schweigend nahm sie seine Geschichten entgegen, las sie, lobte sie und verbesserte sogar Fehler, wenn sie welche fand. Abgesehen davon sprachen sie nicht viel miteinander. Am Tag darauf, und auch an den folgenden, brachte er immer mehr seiner Notizen mit zur Schule. Sie las jeden einzelnen Text mit Interesse, zumindest glaubte er, das aus ihrem Gesicht herauszulesen.
Bis er eines Tages mit leeren Händen vor ihr stand.
„Du hast nichts mehr? Was soll das heißen?“
Fynn scharrte nervös mit seinen Füßen über den Boden und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. „Na... das, was es eben heißt. Ich habe nichts mehr, dass ich dir zu lesen geben könnte.“
Das Mädchen starrte ihn ungläubig an. „Aber warum schreibst du denn dann nicht weiter?“ Sie schien das für selbstverständlich zu halten. Aber so einfach war das nun mal nicht.... aber wie sollte er ihr das erklären?
Erneut wich Fynn dem ungewöhnlich intensiven Blick ihrer dunklen Augen aus und scharrte mit den Füßen. „Es... ach, weißt du... es geht nicht.“ Er wagte es, den Kopf zu heben, aber als sie ihn immer noch mit verständnislos gerunzelter Stirn musterte, sprudelte es aus ihm hervor: „Ich kann nichts mehr schreiben. Egal, wie ich die Sache angehe – es scheitert, bevor es überhaupt begonnen hat. Es ist beinahe...“ Erst da hielt er inne. Wenn er ihr auf die Nase band, was er wirklich glaubte, würde sie ihn sicherlich für verrüctk halten.
Zu seinem Erstaunen war sie es, die den Satz mit seinen Worten beendete. „... als würden die Worte sich weigern, eine Geschichte zu erzählen.“ Verdutzt sah er sie an. Dass sein Unterkiefer nach unten geklappt war, fiel ihm gar nicht auf. Sie legte auf ihre typische Art und Weise den Kopf schief. „Das wolltest du doch sagen, oder nicht?“
Fynn brauchte einen Moment, bis er sich gefangen hatte. „Woher... weißt du das?“ Seine Stimme zitterte kaum merklich. Nicht zum ersten Mal, dafür aber wesentlich eindringlicher, fragte er sich, ob an dem Hexengerede über sie und ihre Mutter nicht doch etwas dran war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, lachte sie.
„Ach, hältst du mich etwa auch für eine Hexe?“ Sie kicherte und strich sich eine verirrte Locke aus der Stirn. „Glaub' mir, es ist gar nicht nötig, Zauberei zu beherrschen. Man kann dir deine Gedanken ohne Mühe vom Gesicht ablesen.“ Vermutlich blickte Fynn nach diesen Worten noch dümmer drein, wenn das überhaupt möglich war. Aber er musste sich wohl eingestehen, dass sie Recht hatte. Sie unterdrückte einen Lachanfall, indem sie sich eine Hand vor den Mund hielt und sich mit dem weiten Ärmel ihres Pullovers die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Also, wenn bloß das Weiterschreiben dein Problem ist... was hältst du davon, wenn wir es zusammen versuchen?“ Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab. „Am Fluss unten gibt es einen Ort, an dem wir ungestört sind. Bring dein Schreibzeug mit... ich warte dort nach der Schule auf dich. Dann wandte sie sich um, um so schnell zu verschwinden, wie sie es jedes Mal tat.
An diesem Tag allerdings hielt sie noch einmal inne. „Ach ja...“ Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Ich bin Elly.“
In Ermangelung einer besseren Antwort murmelte Fynn ein „Freut mich, dich kennen zu lernen...“ Wenngleich das ob ihrer früheren Treffen wohl etwas verspätet kam. Dann wollte er noch ein „Ich bin...“ anfügen, wurde jedoch von ihr unterbrochen.
„Fynn Perrigan. Ich weiß.“ Sie grinste ihn verschmitzt an – das war das erste Mal, dass er diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah – und wandte sich um, um ihren Weg fortzusetzen.